Epidemiologisches Bulletin 17 2021 - RKI
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AKTUELLE DATEN UND INFORMATIONEN ZU INFEKTIONSKRANKHEITEN UND PUBLIC HEALTH 17 Epidemiologisches 2021 Bulletin 29. April 2021 Internationaler Tag der Händehygiene | COVID-19-Diagnostik: Antigentests und Spektrum geeigneter diagnostischer Proben
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 2 Inhalt Die Händewaschung als effektive Maßnahme der Alltagshygiene 3 Der „Internationale Tag der Händehygiene“ lenkt alljährlich die Aufmerksamkeit auf die Händehygiene vor allem in medizinischen und pflegerischen Einrichtungen. Im Rahmen der COVID-19-Pandemie ist sie nun auch als ein wichtiger Bestandteil der Alltagshygiene in den Fokus gerückt. Quo vadis Händedesinfektionsmittel: Arzneimittel oder Biozidprodukt? 5 Die Anwendung von Händedesinfektionsmitteln am Menschen erfordert hohe Standards für die Zulassung, welche bisher durch das Arzneimittelgesetz geregelt wurde. Die Änderung der Rechtsgrundlage hin zum Bio- zidrecht markiert daher erhebliche Veränderungen bei der Zulassung. Antigentests als ergänzendes Instrument in der Pandemiebekämpfung 14 Mit Beginn der dritten Infektionswelle ist ein Großteil der Bevölkerung noch nicht gegen SARS-CoV-2 geimpft. Nicht-pharmazeutische Maßnahmen bleiben daher wichtige Bausteine zur Kontrolle des Infektionsgesche- hens. Eine breite Testung symptomfreier Personen kann Infektionsketten frühzeitig unterbrechen. (Dieser Beitrag erschien online vorab am 1. April 2021.) Spektrum diagnostischer Proben zum Nachweis von SARS-CoV-2 26 Proben zum Nachweis von SARS-CoV-2 können von Patient*innen selbst abgenommen werden. Der Beitrag gibt einen Überblick über die zur Verfügung stehenden Probenahmeorte und -modi und vergleicht vom Fach- personal und selbst abgenommene Proben in Hinblick auf Praktikabilität und Akzeptanz. (Dieser Beitrag erschien online vorab am 19. April 2021.) Aktuelle Statistik meldepflichtiger Infektionskrankheiten: 16. Woche 2021 38 Europäische Impfwoche vom 26. April bis 2. Mai 2021: Vaccines Bring Us Closer 41 Impressum Herausgeber Allgemeine Hinweise/Nachdruck Robert Koch-Institut Die Ausgaben ab 1996 stehen im Internet zur Verfügung: Nordufer 20, 13353 Berlin www.rki.de/epidbull Telefon 030 18754 – 0 Inhalte externer Beiträge spiegeln nicht notwendigerweise Redaktion die Meinung des Robert Koch-Instituts wider. Dr. med. Jamela Seedat Dr. med. Maren Winkler (Vertretung) Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Telefon: 030 18754 – 23 24 Namensnennung 4.0 International Lizenz. E-Mail: SeedatJ@rki.de Nadja Harendt (Redaktionsassistenz) Telefon: 030 18754 – 24 55 Claudia Paape, Judith Petschelt (Vertretung) ISSN 2569-5266 E-Mail: EpiBull@rki.de Das Robert Koch-Institut ist ein Bundesinstitut im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit.
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 3 Die Händewaschung als effektive Maßnahme der Alltagshygiene Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 2009 abgetrocknet und ggf. mit einer Creme gepflegt wer- initiierte „Internationale Tag der Händehygiene“ soll den, um Hautschäden vorzubeugen. alljährlich die Aufmerksamkeit auf die Händehygiene vor allem in medizinischen und pflegerischen Einrich- Die Händedesinfektion dient primär der Inaktivie- tungen lenken. In der WHO-Kampagne wird besonders rung von Mikroorganismen und ist im medizini- die Händedesinfektion als die wirksamste Einzelmaß- schen Bereich wichtig für die Verhinderung der nahme zur Unterbrechung von Infektionsketten im Ge- Übertragung von Mikroorganismen zwischen Pati- sundheitswesen hervorgehoben. entInnen durch die Hände des medizinischen Per- sonals. Die Desinfektion ist allerdings nur auf sau- Im Rahmen der Coronavirus Disease 2019- beren Händen voll wirksam. Bakterielle Sporen, (COVID-19-)Pandemie ist die Händehygiene als ein z. B. von Erregern wie Clostridioides difficile, werden wichtiger Bestandteil der Alltagshygiene und Teil durch Alkohol-basierte Händedesinfektionsmittel der AHA+L Regel verstärkt in den Fokus gerückt. nicht inaktiviert. Auch bei Anschmutzung, d. h. Desinfektionsmittel in vielerlei Zusammensetzung wenn Erreger z. B. in respiratorischem Sekret einge- und Darreichungsformen (z. B. als Flüssigkeit, Gel bettet sind, sinkt die Wirksamkeit von Desinfek oder Schaum) aber auch Einmalhandschuhe finden tionsmitteln.2 Gerade auch im Alltagsleben nimmt seit Beginn der Pandemie auch außerhalb des Ge- die Händewaschung eine eigenständige Bedeutung sundheitswesens in unterschiedlichsten Situatio- zur Prävention der Übertragung von Wurmerkran- nen vermehrt Verwendung. Dies ist teilweise auch kungen ein, weil auch Würmer und Wurmeier nicht darauf zurückzuführen, dass die Händewaschung durch Alkohole abgetötet werden. subjektiv als nicht ausreichend für den Schutz vor Infektionen im Alltag empfunden wird. Die Händedesinfektion erfolgt mit Mitteln, welche biozide Eigenschaften aufweisen; dies ist notwendig Dabei spielt die Händewaschung mit Wasser und für die Wirksamkeit, kann aber bei unsachgemäßer Seife auch im Kontext des Gesundheitswesens eine Anwendung negative Wirkungen entfalten. Daher wichtige Rolle. Sie entfernt Schmutz und auch einen sollte der Einsatz von Desinfektionsmitteln mög- Großteil der Mikroorganismen auf der Haut. Sie ist lichst nur von geschulten Personen oder nach sorg- für Mitarbeiter im Gesundheitswesen gleich zu Ar- fältiger Anleitung erfolgen. Dabei ist zu vermitteln, beitsbeginn indiziert, um Schmutz und Bakterien- dass die Einhaltung der Einwirkzeit und die korrek- sporen zu entfernen. Grundsätzlich sollte sie auch te Durchführung notwendig für eine zuverlässige vor der Essenzubereitung und -verteilung, nach der Inaktivierung von Mikroorganismen sind. Weiter- Toilettennutzung und nach dem Naseputzen sowie hin ist zu beachten, dass manchen Desinfektions- nach sichtbarer Kontamination der Haut durchge- mitteln weitere Zusatzstoffe beigefügt werden, wie führt werden. Anstelle fester Seifen ist in medizini- z. B. Duftstoffe, welche zu einer Sensibilisierung der schen Einrichtungen der Einsatz flüssiger Seifen zu Haut führen können. empfehlen, da erstere häufig kontaminiert waren und nach Einführung flüssiger Seife die Rate von no- Von grundlegender Bedeutung für die Vermeidung sokomialen Infektionen abfiel.1 Die Verwendung der Erreger-Übertragungen über die Hände, sei es von Einmalflaschen ist zu empfehlen, weil Aufberei- im Alltag oder auch im Gesundheitswesen, ist die tung und Nachfüllen mit Kontaminationsrisiken ver- indikationsgerechte und korrekte Durchführung der bunden sind. Flüssigseifen müssen frei von Krank- Händehygiene – also das „wann“ und „wie“. Im Ge- heitserregern sein. Zur Erhöhung der Hautverträg- sundheitswesen ist die hygienische Händedesinfek- lichkeit sollte der pH-Wert neutral oder schwach sau- tion entsprechend der „5 Indikationen zur Hände er sein. Nach dem Waschen muss die Haut gründlich hygiene“ der WHO durchzuführen.2,3 Die korrekte
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 4 Umsetzung bedarf fortwährender Schulung des Gesicht, die ebenfalls zu Übertragungen führen Personals und steht im Mittelpunkt von gezielten können, häufig statt. Aktionen wie z. B. der „Aktion Saubere Hände“ (www.aktion-sauberehaende.de). Im Alltag dient die Händewaschung nicht allein dem Schutz vor Infektionserregern. Auch andere Im Alltag führen oft unbewusste Berührungen des Substanzen wie z. B. Pestizide oder andere Schad- Gesichtes bzw. von Mund und Nase zur Übertra- stoffe, mit denen man beim Berühren von Obst gung von Infektionserregern, z. B. Erreger von res- oder Gemüse bzw. Gegenständen in Kontakt kom- piratorischen oder gastrointestinalen Infektionen. men kann, können dadurch entfernt werden. Eine einfach nur möglichst oft, aber ungezielt durchgeführte Händewaschung erzielt daher nicht Zusammenfassend ist die Händewaschung eine ef- zwangsläufig einen günstigen infektionsverhin- fiziente, leicht zu erlernende und umweltverträg dernden Effekt. Es sollte vielmehr verstärkt darauf liche Methode, die in Deutschland grundsätzlich geachtet werden, dass die Hände immer zu be- flächendeckend zur Verfügung steht und bei richti- stimmten Gelegenheiten gewaschen werden z. B. ger Anwendung im Alltag einen effektiven Schutz nach dem Betreten der Wohnung, vor dem Essen vor Übertragung von Infektionserregern nach Kon- oder nach dem Toilettenbesuch, und dass das Ge- takt mit verunreinigten Oberflächen bietet. Weitere sicht möglichst nicht mit kontaminierten Händen Informationen, Anleitungen und Hilfestellungen berührt wird. zu den richtigen Indikationen der Händewaschung und korrekten Durchführung als Maßnahme der Auch bei Verwendung von Einmalhandschuhen fin- Alltagshygiene sind auf den Seiten der Bundeszen- den diese unbewussten Berührungen mit der be- trale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zu fin- handschuhten Hand an der Kleidung oder auch im den (www.infektionschutz.de). Literatur a) 1 Senol G, Cakan A, Özacar R: Bacterial colonization Robert Koch-Institut, Abt. 1, FG 14 Angewandte of bar soaps and liquid soaps in hospital environ- Infektions- und Krankenhaushygiene b) ments. Near East Med J 2011;1(2):53-9 http://nemj. Institut für Hygiene und Umweltmedizin, neu.edu.tr/en/hastanade-kullanilan-kalip-sa- Universitätsklinikum Greifswald bun-ve-sivi-sabunlarin-bakteriyel-kolonizasyonu/ [Stand 12.12.2014] Korrespondenz: BrunkeM@rki.de 2 Kommission für Krankenhaushygiene und Infek tionsprävention beim Robert Koch-Institut Vorgeschlagene Zitierweise (KRINKO): Händehygiene in Einrichtungen des Brunke M, Kramer A, Konrat K, Thanheiser M, Gesundheitswesens. Bundesgesundheitsblatt – Arvand M: Die Händewaschung als effektive Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz Maßnahme der Alltagshygiene 2016;59(9):1189-220 Epid Bull 2021;17:3 -4 | DOI 10.25646/8372 3 World Health Organization: WHO Guidelines on Hand Hygiene in Health Care. 2009 Interessenkonflikt Alle Autorinnen und Autoren geben an, dass kein Autorinnen und Autoren Interessenkonflikt besteht. a) Dr. Melanie Brunke | b) Prof. Dr. Axel Kramer | a) Katharina Konrat | a) Marc Thanheiser | a) Prof. Dr. Mardjan Arvand |
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 5 Quo vadis Händedesinfektionsmittel: Arzneimittel oder Biozidprodukt? Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Mit dem Inkrafttreten des Biozidrechts und speziell 2009 initiierte „Internationale Tag der Händehy dem Durchführungsbeschluss (EU) 2016/9045 vom giene“ soll alljährlich am 5. Mai die Aufmerksam- 8. Juni 2016 wurden HDM in der gesamten Europä- keit auf die Händehygiene in medizinischen und ischen Union (EU) den Biozidprodukten zugeord- pflegerischen Einrichtungen lenken. In der WHO- net. Dadurch wechselte auch die Zuständigkeit für Kampagne wird besonders die Händedesinfektion HDM in die für Biozidprodukte zuständige Behör- mit alkoholischen Einreibeprodukten als die wirk- de, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Ar- samste Einzelmaßnahme zur Unterbrechung von beitsmedizin (BAuA). Letzte Unklarheiten hinsicht- Infektionsketten hervorgehoben.1,2 lich der rechtlichen Einordnung beseitigte das Ur- teil des Kölner Verwaltungsgerichts6 im Juli 2020, Im Unterschied zu allen anderen Desinfektions- das besagt: Auch HDM für die chirurgische Hände- mitteln werden Händedesinfektionsmittel (HDM) desinfektion sind Biozidprodukte. auf belebten Oberflächen – der Haut der Anwen- der*innen – eingesetzt. Basis der Anwendung sind Dieses Urteil nehmen wir zum Anlass, die Grund- die „Fünf Momente der Händehygiene“ in denen lagen der Zulassung für beide Rechtskreise sowie die WHO besonders relevante Gelegenheiten für die aktuelle Situation näher zu betrachten. die hygienische Händedesinfektion zusammen- fasst. Dieser Richtschnur folgend ist das medizini- Neu zugelassene Desinfektionsmittel mit der sche und pflegerische Personal aufgefordert, täg- Zweckbestimmung hygienischer oder chirurgischer lich unzählige Händedesinfektionen (bis zu 15 pro Händedesinfektion können seitdem nur noch als Stunde!) durchzuführen.3 Die Compliance des Per- Biozide zugelassen werden. Produkte mit einer be- sonals zur Umsetzung dieser Vorgaben ist ein ent- stehenden Arzneimittelzulassung bleiben hiervon scheidender Faktor bei der Vermeidung nosoko unberührt, da nach § 2 Nr. 2 der Biozid-Verordnung mialer Infektionen und gleichzeitig eine der größ- (EU) Nr. 528/20127 ausgeschlossen ist, dass Arznei- ten Hürden.4 Zudem erfordert die Anwendung am mittel von der Verordnung betroffen sind. Damit Menschen besonders hohe Standards für die Pro- sind Desinfektionsmittel, die bereits über eine Arz- dukte. Die arbeitgeberseitig geforderte Häufigkeit, neimittelzulassung verfügen, weiterhin unter dem Dauer und arbeitslebenslange Anwendung unter- Arzneimittelrecht verkehrsfähig. Das Gericht bestä- streichen diesen Punkt. tigte auch, dass Biozide nicht die Tatbestände eines Präsentationsarzneimittels (z. B. Verhütung von Aus diesen Gründen bedarf die Bewertung und amt- Krankheiten) erfüllen dürfen. Dies bedeutet, dass liche Überwachung von HDM für die Anwendung Desinfektionsmittel, die alleinig oder zusätzlich zur im medizinischen Bereich einer besonderen Sorg- Händedesinfektion Indikationen zur Verhütung falt. In Deutschland wurden HDM für den medizi- von Krankheiten beantragen (z. B. Wundantiseptik), nischen Einsatz daher über Jahrzehnte durch das auch weiterhin nach Arzneimittelrecht geprüft und Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinpro- zugelassen werden. Im oben genannten Urteil wer- dukte (BfArM) als Arzneimittel zugelassen. Damit den der Arzneimittel- und Biozidzulassung viele ist Deutschland einen Weg gegangen, der nicht nur Gemeinsamkeiten, allerdings auch Unterschiede einen nationalen Standard begründet hat, sondern bescheinigt. auch europäische und internationale Standards als führender Markt wesentlich beeinflusst hat.
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 6 Definition men allerdings auch Biozidprodukte auf den Markt, HDM werden im medizinischen Bereich zur hygie- die im Wesentlichen auf anderen Wirkstoffen wie nischen und/oder chirurgischen Händedesinfek Aktivchlor aus Natriumhypochlorit oder Hypochlo- tion angewendet (s. T ab. 1). Arzneimittel besitzen riger Säure bzw. quartären Ammoniumverbindun- häufig beide Indikationen. Die hygienische Hände- gen oder Milchsäure basieren und als alkoholfreie desinfektion richtet sich gegen die transiente, d. h. Produkte beworben werden. Vor dem Hintergrund von außen erworbene mikrobiologische Flora („An- der geringeren Erfahrungen mit diesen Wirkstoffen flugflora“). und der teilweise bekannten schlechteren Hautver- träglichkeit, sollte der Einsatz dieser Wirkstoffe in Die chirurgische Händedesinfektion richtet sich ge- HDM kritisch betrachtet werden. Zu Aktivchlorpro- gen die residente – körpereigene – Flora. Aus beiden dukten verweisen wir auf die Mitteilungen des Ver- Zwecken resultieren unterschiedliche Anwendungs- bunds für angewandte Hygiene (VAH)11,12 bedingungen wie z. B. die Einwirkzeiten. Diese bei- den Anwendungsbereiche können auch für Biozid- produkte deklariert werden. Bei der Zulassung von Verkehrsfähigkeit Bioziden wird zusätzlich auch der Anwenderkreis Nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG)13 dürfen festgelegt, so dass neben der professionellen Anwen- Arzneimittel erst nach Abschluss des Zulassungs- dung im medizinischen Bereich auch private Ver- verfahrens vermarktet werden. Somit weisen alle braucher*innen genannt werden können. verfügbaren HDM, die als Arzneimittel auf dem Markt sind, eine gültige Zulassung auf und sind durch die zuständige Behörde, das BfArM, umfang- Zusammensetzung reich hinsichtlich Wirksamkeit, Qualität und Sicher- HDM enthalten neben den Wirkstoffen und Wasser heit geprüft. Bei Biozidprodukten ist die Lage an- in der Regel weitere Bestandteile wie „Rückfetter“, ders – nur wenige Biozidprodukte verfügen bereits Farb- und/oder Duftstoffe und ggf. Verdickungsmit- über eine Biozidzulassung und die Mehrzahl der tel (Gele). Die wichtigsten Wirkstoffe sind Alkohole – Produkte ist vorläufig ohne eine Bewertung ver- vorrangig Propanol-2, Ethanol und Propanol-1.8 Sie kehrsfähig. Anders als bei Arzneimitteln werden da- haben sich seit Jahrzehnten bewährt und weisen her Mittel schon vermarktet, bevor eine Zulassung eine gute Verträglichkeit und Wirksamkeit auf.9,10 vorliegt. Seltener und nur für besondere Anwendungen wer- den auch Halogenverbindungen wie PVP-Jod oder Die Ursachen liegen in den Übergangsregelungen Chloramin T in Arzneimitteln mit der Indikation der für Biozidprodukte mit sogenannten Altwirkstoffen Händedesinfektion verwendet. In letzter Zeit kom- und dem Ablauf des Biozidverfahrens. Chirurgische Händedesinfektion (CHD) Hygienische Händedesinfektion (HHD) Anwendungsziele Vermeidung nosokomialer Infektionen/postoperativer Vermeidung nosokomialer Infektionen, Personalschutz Wundinfektionen Wirksamkeit gegen transiente und residente Hautflora transiente Hautflora Nachweis der Wirksamkeit Phase 2, Stufe 1 Bakterizidie: DIN EN 1372720 (quantitative Suspensions- Levurozidie/Fungizidie: DIN EN 1362421 versuche in vitro) Viruzidie: DIN EN 1447624 + DVV/RKI Leitlinie zur Prüfung von chemischen Desinfektionsmitteln auf Wirksamkeit gegen Viren in der Humanmedizin28 Mykobakterizidie: DIN EN 1434825 Phase 2, Stufe 2 DIN EN 1279123 (körpereigene Flora) DIN EN 150022 (Kontamination mit Escherichia coli) (praxisnahe Tests mit Proband*innen) Anwendungshäufigkeit Ø 3-4-mal/Schicht Ø 80-mal/Schicht Tab. 1 | Aufgaben und Arten der Händedesinfektion
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 7 Die Zulassung der Biozidprodukte erfolgt in einem Qualität der Produkte beurteilt. Hierbei erfolgt die zweistufigen Verfahren. In der ersten Stufe werden Bewertung grundsätzlich bezogen auf das einzelne die Wirkstoffe genehmigt. Die sogenannten Alt- Fertigarzneimittel. Wirksamkeit, Unbedenklichkeit wirkstoffe, die am Stichtag 14. Mai 2000 in Produk- und Qualität werden grundsätzlich auch bei Biozid- ten verwendet wurden, unterliegen dem Genehmi- produkten gemäß Anhang III der Biozid-Verord- gungsverfahren gemäß Review-Verordnung (Ver- nung (BPR)7 beurteilt. Allerdings erfolgt die Prüfung ordnung (EU) Nr. 1062/2014).14 Die Bewertung soll der Unbedenklichkeit und Qualität von Bioziden bis Ende 2024 abgeschlossen werden. Ein Teil der hauptsächlich auf Basis der Einzelbestandteile und in HDM verwendeten Wirkstoffe ist daher noch in geringerem Maße für das fertige Biozidprodukt. nicht abschließend bewertet. Das betrifft z. B. den in Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden HDM häufig verwendeten Wirkstoff Ethanol. In der Zulassungsverfahren sind in Tabelle 2 dargestellt. Zwischenzeit müssen in Deutschland alle Produkte, die diese Altwirkstoffe enthalten, gemäß der Melde- verordnung15 registriert werden. Die hiervon betrof- Wirksamkeit fenen Biozidprodukte erhalten eine sogenannte Zur Bewertung der Wirksamkeit werden sowohl für BAuA-Registrierungsnummer, mit welcher sie ohne Arzneimittel als auch für Biozide die europäischen eine reguläre Form der Bewertung in Deutschland Normen20 – 26 und in Deutschland auch die entspre- im Rahmen von Übergangsregelungen bis zum Ab- chenden Methoden des VAH27 sowie die Leitlinie schluss des Genehmigungverfahrens der enthalte- der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der nen Wirkstoffe bzw. bis zum Abschluss des an- Viruskrankheiten (DVV) e. V. und des Robert Koch- schließenden Zulassungsverfahrens des Biozidpro- Instituts (RKI)28 zugrunde gelegt. Die Wirksamkeit duktes ohne Zulassung in den Verkehr gebracht der Produkte muss in in vitro Suspensionstests (eu- und verwendet werden dürfen. ropäische Normung (EN): Phase 2, Stufe 1) und pra- xisnahen Prüfungen mit Proband*innen (EN: Phase Wenn ein Wirkstoff in der ersten Stufe des Verfah- 2, Stufe 2) belegt werden.10 Die Mindestanforderun- rens positiv bewertet wurde, wird er in die „Unions- gen für HDM beinhalten Suspensionstests mit vor- liste“16 aufgenommen. Produkte, die genehmigte gegebenen Bakterien und Hefen (Wirkbereich: bak- Wirkstoffe enthalten, müssen in der zweiten Stufe terizid und levurozid)20,21,27 und je nach Indikation des Biozidzulassungsverfahrens bis zu einer in der den entsprechenden praxisnahen Test für die hygie Unionsliste festgelegten Frist die Zulassung bei ei- nische22,27 oder die chirurgische Händedesinfek ner europäischen Behörde beantragen. Propanol-1 tion.23,27 Weitere Wirkbereiche wie z. B. begrenzt und Propanol-2 als häufige Wirkstoffe in HDM wur- viruzid, begrenzt viruzid PLUS, viruzid29 oder tuber- den bereits 2019 bzw. 2016 genehmigt und fallen in kulozid25 können zusätzlich deklariert werden; die diese Kategorie. Enthält ein Produkt zusätzlich ei- Wirksamkeit gegen behüllte Viren wird gegenwärtig nen noch nicht genehmigten Wirkstoff, wie z. B. als weitere Mindestanforderung diskutiert. Die An- Ethanol, ist das Produkt weiterhin ohne Zulassung forderungen an in vitro und in vivo Tests für den Be- nach den Übergangsregelungen verkehrsfähig. Eine leg des Wirkspektrums für Arzneimittel und Biozi- Übersicht der im Zulassungsverfahren befindliche de stimmen weitestgehend überein. Produkte veröffentlicht die deutsche Zulassungsbe- hörde für Biozidprodukte, die BAuA, auf ihrer Der wesentlichste Unterschied im Bereich Wirk- Homepage.17 Jeweils aktuelle Übersichten zu den samkeit zwischen dem Arzneimittelzulassungsver- zugelassenen18 und den nach Meldeverordnung ge- fahren und Biozidverfahren besteht in der Anzahl mäß den Übergangsregelungen verkehrsfähigen der vorzulegenden Gutachten für den jeweiligen Produkten19 sind ebenfalls dort zu finden. Wirkbereich. Für Arzneimittel sind mindestens zwei unabhängige Gutachten von unterschiedlichen akkreditierten Labors gefordert und die Gutachten Kriterien für die Zulassung müssen jeweils in Doppeltestung durchgeführt wor- Bei der Zulassung von HDM als Arzneimittel wer- den sein (das heißt zwei unabhängige Gutachten den die Wirksamkeit, die Unbedenklichkeit und die mit je zwei Testdurchläufen, entsprechend insge-
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 8 Arzneimittel Biozidprodukt Gesetzliche Grundlage ▶▶ Arzneimittelgesetz13 ▶▶ Biozid-Verordnung7 Wirkstoffbasis ▶▶ Alkohole (Chloramin T, PVP-Jod) ▶▶ Alkohole, Milchsäure, Aktivchlor aus Natrium hypochlorit, QAV Prüfung der Wirksamkeit ▶▶ Individuelle Produktprüfung ▶▶ Gruppenprüfung möglich ▶▶ Europäische Normen/VAH-Methoden – ▶▶ Europäische Normen – Suspensionstest und Suspensionstest und praxisnaher Test praxisnaher Test Replikationen bei der Prüfung ▶▶ 2 Gutachten mit jeweils einer Wiederholung ▶▶ Keine Vorgaben (insgesamt 4 Testreihen) ▶▶ Einzelgutachten bzw. einzelner Test genügt Anforderungen an Prüflabore ▶▶ Akkreditierung gemäß ISO/IEC 17025 ▶▶ Akkreditierung nicht vorgeschrieben Unbedenklichkeit ▶▶ Bewertung der Toxizität des Produkts als Ganzes ▶▶ Bewertung der Toxizität des Wirkstoffs bzw. ▶▶ Prüfkonzept abhängig von klinischer Anwendung risikorelevanter Stoffe einzeln ▶▶ akute Toxizität ▶▶ Hierarchisches, weitgehend festes Prüfkonzept ▶▶ chronische Toxizität ▶▶ akute Toxizität (auch Biozidprodukt) ▶▶ Reizung, Sensibilisierung ▶▶ Toxizität nach wiederholter Gabe ▶▶ Mutagenität, Kanzerogenität, ▶▶ Reizung, Sensibilisierung (auch Biozidprodukt) ▶▶ Reproduktionstoxikologie ▶▶ Mutagenität, Kanzerogenität, ▶▶ Pharmakokinetik/Metabolismus für Wirkstoffe ▶▶ Reproduktionstoxikologie und Produkt ▶▶ Pharmakokinetik/Metabolismus ausschließlich ▶▶ in-vitro/ex-vivo Modelle für Wirkstoffe bzw. risikorelevanter Stoffe ▶▶ tierexperimentelle Studien und/oder klinische ▶▶ in-vitro/ex-vivo Modelle Untersuchungen am Menschen möglich ▶▶ tierexperimentelle Studien in Ausnahmefällen, keine klinischen Untersuchungen am Menschen Überwachung nach Zulassung ▶▶ Pharmakovigilanz ▶▶ Kein vergleichbares System Qualität der Herstellung ▶▶ GMP-konforme Herstellung ▶▶ Keine Vorgaben Kontrolle des Fertigproduktes ▶▶ Beschreibung und Zusammensetzung des ▶▶ Angabe aller Wirkstoffe und nicht wirksamen Fertigarzneimittels (inkl. Hilfsstoffe) Stoffe, die dem Biozidprodukt absichtlich ▶▶ begründete Spezifikation, Prüfverfahren, hinzugefügt werden Chargenergebnisse ▶▶ Wirkstoffspezifikation (Beistoffe gemäß CLP VO34) ▶▶ Stabilität ▶▶ physikalische, chemische und technische ▶▶ Packmittel Eigenschaften ▶▶ mikrobiologische Reinheit ▶▶ Stabilität (Haltbarkeit) ▶▶ Sporenfreiheit (chirurgische HDM) ▶▶ Packmittel (Kompatibilität) Tab. 2 | Zulassungsverfahren für Händedesinfektionsmittel Bewertung der Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit von Händedesinfektionsmitteln samt vier Testreihen). Für Biozide genügt ein einzel- Unbedenklichkeit ner Test. Die deutsche Forderung nach Replikaten Vergleicht man die Anforderungen an die Unbe- für den Wirksamkeitsnachweis im medizinischen denklichkeitsprüfungen bei Arzneimittel- und Bio- Bereich auch für Biozidprodukte hat zuletzt keine zidzulassungsverfahren findet man viele Überein- Unterstützung auf europäischer Ebene gefunden. stimmungen. Daten zur akuten und chronischen Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Pro- Toxizität, Reizung, Sensibilisierung, Mutagenität, duktprüfung im Arzneimittelzulassungsverfahren Kanzerogenität, Reproduktionstoxikologie, Pharma- produktspezifisch durchgeführt wird, wohingegen kokinetik/Metabolismus sowie spezielle Daten zu bei den Bioziden Gruppenprüfungen (für Produkt weiteren Bereichen der Toxizität, sofern benötigt familien) möglich sind. Darüber hinaus bestehen (z. B. Neurotoxizität, Phototoxizität, Immunotoxizi- Unterschiede bei den Anforderungen an Prüflabore tät) müssen in beiden Fällen mit entsprechenden für die Wirksamkeitsnachweise. Im Gegensatz zum Studien belegt werden. Die im Biozidverfahren ver- Biozidverfahren, in dem kein Qualitätsnachweis der wendeten OECD Richtlinien (OECD: Organisation Prüflabore vorgeschrieben ist, müssen Prüflabore für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- im Arzneimittelverfahren eine Akkreditierung ge- lung) werden grundsätzlich auch bei der Arzneimit- mäß ISO/IEC 1702530 vorweisen. telzulassung akzeptiert und sind maßgeblicher
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 9 estandteil der für die Arzneimittelzulassung rele- B sicherheitsrelevante Schritte in Form von Warnun- vanten EMA/ICH Richtlinien (EMA: Europäische gen und/oder anderen Maßnahmen zeitnah einge- Arzneimittel-Agentur; ICH: International Council leitet werden können. Ein ähnliches System besteht for Harmonisation of Technical Requirements for im Biozidsektor nicht. Pharmaceuticals for Human Use).31 Der größte Unterschied zwischen den beiden Zulas- Qualität sungsverfahren im Bereich Unbedenklichkeit ist, Die Qualität der Produkte wird maßgeblich durch dass bei Arzneimitteln die Toxizität des Produkts als die Ausgangsstoffe (chemische Zusammensetzung, Ganzes und bei Bioziden hingegen hauptsächlich mikrobiologische Reinheit), die Packmittel und den die Toxizität des Wirkstoffs bzw. risikorelevanter Herstellungsprozess bestimmt. Stoffe einzeln bewertet werden. Für Biozide gelten für die Durchführung von toxikologischen Tests kla- Im Bereich der Arzneimittel werden Wirkstoff und re Vorgaben. Ein hierarchisches Prüfkonzept auf Fertigarzneimittel, d. h. auch das fertige Produkt der Basis physikochemischer Parameter (z. B. inklusive aller Hilfsstoffe, hinsichtlich Ihrer phar- Dampfdruck des Wirkstoffs) und der möglichen Ex- mazeutischen Qualität bewertet. Alle Wirkstoffe position legt fest, welche Verabreichungsform in und das Fertigarzneimittel müssen gemäß der gu- den Studien auszuwählen ist (z. B. Toxizität bei wie- ten Herstellungspraxis (GMP) hergestellt, charak- derholter Applikation, i. d. R. oral). Hingegen gilt bei terisiert, hinsichtlich Identität, Reinheit, physiko- Toxizitätsstudien für Arzneimittel, dass Dosierungs- chemischen Eigenschaften und Gehalt mit validen schema, Verabreichungsform und Applikationsweg Prüfverfahren und begründeten Akzeptanzkriterien basierend auf der beabsichtigten klinischen Anwen- geprüft werden. Die mikrobiologischen Eigenschaf- dung zu wählen sind. Während die Unbedenklich- ten des Fertigarzneimittels und erforderlichenfalls keitsprüfungen für Biozidprodukte vor allem mit- der Wirkstoffe werden geprüft. Die Ergebnisse der tels etablierter in vitro/ex vivo Tests, und nur in Aus- Chargenprüfung der Wirkstoffe und des Fertigarz- nahmefällen in vivo Tests, erfolgt, schließen die Prü- neimittels sind vorzulegen. Das Herstellungsver- fungen im Rahmen der Arzneimittelzulassung fahren der Wirkstoffe und des Fertigarzneimittels tierexperimentelle Studien und/oder klinische Un- ist zu beschreiben, und deren Eignung darzulegen. tersuchungen am Menschen ein. Die Prüfung auf Weiterhin ist die Stabilität der Wirkstoffe und des Hautsensibilisierung erfolgt jedoch auch bei der Fertigarzneimittels zu belegen. Hilfsstoffe und Pri- Biozidzulassung von HDM durch in vivo Tests (Tier- märpackmittel werden mit begründeten Spezifika- studien). Weiterhin dürfen für Biozide keine Studi- tionen kontrolliert, und geeignete Prüfverfahren en an Menschen durchgeführt werden, so dass hier- sind zu beschreiben. Weiterhin muss die pharma- für nur auf Studien aus der Arzneimittelzulassung zeutische Entwicklung des Fertigarzneimittels dar- für ähnlich formulierte Produkte zurückgegriffen gelegt werden (Wirk- und Hilfsstoffauswahl, auch werden kann. Für Wirkstoffe wie z. B. Aktivchlor aus im Hinblick auf indizierte Patient*innengruppen, Natriumhypochlorit können solche Daten aber Formulierungsentwicklung, die Überprüfung der nicht herangezogen werden, da keine Arzneimittel Vergleichbarkeit der Zusammensetzung und Appli- auf dieser Wirkstoffbasis zugelassen sind (s. T ab. 2). kation der Chargen aus der klinischen Entwicklung Damit ist auch offenkundig, dass toxikologische und den Chargen für die Vermarktung, Herstel- Untersuchungen auf Basis von Einzelanwendun- lungsentwicklung, sowie Auswahl, Kompatibilität gen (z. B. Dermatest), welche von einigen Firmen und Unbedenklichkeit der Primärpackmittel). Bei den Anwendern zum Nachweis der Verträglichkeit Arzneimitteln für die chirurgische Händedesinfek- vorgelegt werden, eine solche Bewertung nicht er- tion wird die Abwesenheit von Sporen vorausge- setzen können. Ein wesentlicher Aspekt ist weiter- setzt. Als Mindeststandard gilt hier weniger als eine hin, dass durch die im Arzneimittelbereich etablier- Spore in 10 ml eines Arzneimittels. Auch für Pro- te Pharmakovigilanz, eingehende Meldungen zu dukte zur hygienischen Händedesinfektion muss Nebenwirkungen dokumentiert und periodisch durch den Herstellungsprozess gewährleistet wer- ausgewertet werden, wodurch auch nach Zulassung den, dass die mikrobiologischen Anforderungen an
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 10 das Fertigarzneimittel eingehalten werden. Ebenso Gewährleistung der mikrobiologischen Reinheit muss die mikrobielle Reinheit der Primärpackmit- nicht empfohlen und Zuwiderhandeln hat in der tel nachgewiesen werden. Die Bewertung richtet Vergangenheit bereits zu juristischen Konsequen- sich nach den relevanten EMA/ICH Qualität-Richt- zen geführt.35 Für Biozidprodukte gibt es vorerst kei- linien.32,33 ne derartigen Vorgaben. Somit enthalten die Be- scheide (SPC = summary of product characteristics) Bei Biozidprodukten erfolgt die Prüfung maßgeb- der wenigen zugelassen HDM nur Arbeitsschutz- lich auf Basis der vom Antragsteller eingereichten hinweise zum Umfüllen. Solche Biozidprodukte Spezifikation. Hierbei muss der Wirkstoff den An- können laut SPC aber in sehr großen Gebinden – forderungen der Spezifikation aus der Wirkstoffge- bis 1.000 l – in den Verkehr gebracht werden. Es ist nehmigung genügen; für alle Beistoffe werden alle ratsam für das Umfüllen von Biozidprodukten kon- Bestandteile gemäß der Verordnung über die Ein- krete Anforderungen zu formulieren, um die Ge- stufung, Kennzeichnung und Verpackung von Stof- fahr zu minimieren, verunreinigte Produkte durch fen und Gemischen (Verordnung (EG) Nr. 1272/ das Abfüllen aus großen Gebinden zu erhalten. 2008)34 ab Einstufungsgrenze sowie die quantitati- ve Zusammensetzung, die physikalischen, chemi- schen und technischen Eigenschaften des Biozid- Besonderheiten des Biozidzulassungs- produkts, einschließlich der Lagerstabilität und des verfahrens Einflusses des Behältermaterials auf das Biozidpro- Anders als in den bisher in Deutschland üblichen dukt überprüft. Erfreulicherweise konnte die BAuA, Wirksamkeitsbewertungen kann für Biozidproduk- bei der Genehmigung von Propanol-1 und Propa- te auch die Zulassung einer Produktfamilie bean- nol-2 die erhöhten Anforderungen der pharmazeu- tragt werden. Das bedeutet, dass eine Reihe von Pro- tischen Qualität für die Produktart 1 (PT 1, Produkte dukten, die denselben Wirkstoff enthalten, in einer für die menschliche Hygiene) verankern. In weiten Familie zusammengefasst werden dürfen und nicht Bereichen gelten daher für die Prüfung der Qualität einzeln, sondern als Gruppe zugelassen werden. Im von HDM-Biozidprodukten ähnliche Anforderun- Gegensatz zur Arzneimittelzulassung muss daher gen wie im Arzneimittelbereich. Allerdings erfolgt nicht für jedes einzelne Produkt der Familie die bei der Biozidzulassung keine Überprüfung des Wirksamkeit, Qualität und Sicherheit nachgewiesen Herstellungsprozesses. Ebenso bestehen mikrobio- werden. Mögliche Auswirkungen der individuell logische Anforderungen an HDM nur für Arznei- unterschiedlichen Formulierung oder der Zusam- mittel, da das Biozidrecht keine solchen Vorgaben mensetzung auf die Wirksamkeit werden somit enthält. Gesonderte Begründungen für die Wirk- nicht gesondert untersucht. Bei Desinfektionsmit- und Hilfsstoffauswahl müssen darüber hinaus für teln können jedoch schon geringfügige Änderun- Arzneimittel vorgelegt werden. Für Wirkstoffe, die gen der Formulierung die Wirksamkeit stark beein- noch nicht in der ersten Stufe des Biozidzulas- flussen, so dass mit diesem Ansatz die Wirksamkeit sungsverfahrens genehmigt wurden, steht eine nicht in jedem Fall gesichert ist. Entscheidung zu den Zulassungsanforderungen an die Qualität auf Basis der Produktarten noch aus. Fazit Aus Gründen der mikrobiologischen Qualität sollen Die Änderung der Rechtsgrundlage hin zum Biozid- HDM möglichst nicht aus größeren Gebinden um- recht markiert eine erhebliche Veränderung der Zu- gefüllt werde. Die Kommission für Krankenhaushy- lassung von HDM. Anwender*innen und Patient*in giene und Infektionsprävention (KRINKO) be- nen in Deutschland konnten sich bisher auf die ho- schreibt deshalb in ihrer Empfehlung zur Händehy- hen, durch das AMG gesicherten Standards für die giene detailliert die Anforderungen und Probleme Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit von für die mikrobiologische Qualität.35 Für Arzneimit- HDM verlassen. Nach dem Urteil des Kölner Ver- tel gilt das Umfüllen als Herstellungsprozess und waltungsgerichts sind auch chirurgische HDM auf wird durch § 4 Absatz 14 des AMG geregelt. Ein Um- Basis eines EU-Durchführungsbeschlusses Biozid- füllen wird schon wegen des hohen Aufwandes zur produkte. Mit dieser Entscheidung geht die Sorge
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 11 einher, dass die sinnvolle und begrüßenswerte eu- und fokussiert deshalb vorrangig auf die Anwen- ropäische Harmonisierung zu einer Absenkung der dung von Chemikalien. Die Zulassung von HDM bekannten und erwarteten Standards in Deutsch- als Arzneimittel berücksichtigt dagegen überwie- land und dem Europäischen Binnenmarkt insge- gend den Zweck der Anwendung als wesentliche samt führen oder zu Lasten der Patient*innen und Maßnahme der Hygiene und bezieht deshalb auch Anwender*innen gehen könnte. Die erwarteten ho- die mikrobiologische Qualität mit ein. Den Beden- hen Standards spielen für die Compliance der An- ken, dass das Biozidzulassungsverfahren den hohen wender*innen eine große Rolle. Nur Produkte, die Qualitätsansprüchen an HDM nicht gerecht werden die Haut nicht beeinträchtigen, werden mit der er- könnte, begegnet das Gericht in seiner Urteilsbe- forderlichen Häufigkeit entsprechend der „Fünf gründung mit dem Hinweis, dass über Artikel 17 Momente der Händehygiene“ angewendet und er- der Biozid-Verordnung7 oder eine zu erstellende füllen damit den Zweck ihres Einsatzes – nosoko Rechtsverordnung gemäß Chemikaliengesetz miale Infektionen zu vermeiden. Aus diesem Grund § 12h,36 weitere Maßnahmen ergriffen werden kön- werden in beiden Zulassungsverfahren hohe An- nen, um die hohen Anforderungen für HDM aus forderungen gestellt. In beiden Zulassungsverfah- der Arzneimittelzulassung ebenfalls für Biozidpro- ren werden die Wirksamkeit, die Unbedenklichkeit dukte zu garantieren. und die Qualität der Produkte auf der Basis um- fangreicher Unterlagen bewertet. Allerdings erge- Daher bietet das Biozidrecht die Basis auf welcher ben sich in einigen Bereichen Unterschiede, die bei Bedarf weitergehende Maßnahmen aufgesetzt sich aus der unterschiedlichen Rechtsgrundlage – werden können, um die bekannten hohen Stan- Biozid-Verordnung gegenüber AMG – ergeben. Die dards für HDM weiter zu garantieren. Biozidzulassung beruht auf dem Chemikalienrecht Literatur 1 WHO: WHO guidelines on hand hygiene in health 5 Durchführungsbeschluss (EU) 2016/904 der care. First Global Patient Safety Challenge Clean Kommission vom 8. Juni 2016 gemäß Artikel 3 Care is Safer Care. 2009 Absatz 3 der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates über 2 Perlitz C, Hübner N-O: Die hygienische Händedes- 2-Propanol-haltige Produkte für die Händedes infektion – ein Beitrag zum Internationalen Tag der infektion Händehygiene am 5.5. Epidemiologisches Bulletin, 2013: p. 139-143 6 OLG Urteil Köln: http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ ovgs/ vg_koeln/j2011/7_K_5708_08urteil20111206. 3 Boyce JM, Polgreen PM, Monsalve M, Macinga DR, html Arbogast JW: Frequency of Use of Alcohol-Based Hand Rubs by Nurses: A Systematic Review. Infect 7 Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Control Hosp Epidemiol. 2017 Feb;38(2):189-195. Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über DOI: 10.1017/ice.2016.247 die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwen- dung von Biozidprodukten. 2012 4 https://www.who.int/gpsc/5may/tools/who_guide- lines-handhygiene_summary.pdf
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 12 8 Hübner N-O, Schwebke I, Kramer A: Wirkstoffe der 19 Datenbank der gemeldeten Biozidprodukte: alkoholischen Händedesinfektionsmittel – ein Bei- https://www.baua.de/DE/Biozid-Meldeverordnung/ trag zum Internationalen Tag der Händehygiene. Offen/offen.html Epidemiologisches Bulletin, 2016. 17: p. 143-146 20 DIN EN 13727 Chemische Desinfektionsmittel und 9 Hübner N-O et al.: Aspekte der Hautverträglichkeit, Antiseptika – Quantitativer Suspensionsversuch des Hautschutzes und der Hautpflege. zur Bestimmung der bakteriziden Wirkung im Epidemiologisches Bulletin, 2015. 18: p. 149-152 humanmedizinischen Bereich – Prüfverfahren und Anforderungen (Phase 2, Stufe 1); Deutsche 10 Hübner N-O, Eggers M, Schwebke I, Suchomel M: Fassung EN 13727:2012+A2:2015 Ausgabe 2015-12. Händedesinfektion unter den Bedingungen der Beuth Verlag SARS-CoV-2-Pandemie Epid Bull 2020;19:13-20. DOI: 10.25646/686 21 DIN EN 13624 Chemische Desinfektionsmittel und Antiseptika – Quantitativer Suspensionsversuch 11 Mitteilung der Desinfektionsmittel-Kommission zur Prüfung der fungiziden oder levuroziden im VAH Voraussetzungen zur VAH-Zertifizierung Wirkung im humanmedizinischen Bereich – Prüf- chlorbasierter Händedesinfektionsmittel Hygiene & verfahren und Anforderungen (Phase 2, Stufe 1); Medizin 45: 6/2020 107-108 Deutsche Fassung EN 13624:2013 Ausgabe 2013-12. 12 Mitteilung der Desinfektionsmittel-Kommission Beuth Verlag. im VAH Voraussetzungen zur VAH-Zertifizierung 22 DIN EN 1500 Chemische Desinfektionsmittel und chlorbasierter Händedesinfektionsmittel, Ergän- Antiseptika – Hygienische Händedesinfektion – zende Anforderungen zur Zertifizierung chlor Prüfverfahren und Anforderungen (Phase 2/ basierter Händedesinfektionsmittel Hygiene & Stufe 2); Deutsche Fassung EN 1500:2013 Ausgabe Medizin 45:10/2020 170 2017-10. Beuth Verlag. 13 Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln: http:// 23 DIN EN 12791 Chemische Desinfektionsmittel und www.gesetze-im-internet.de/amg_1976/index.html Antiseptika – Chirurgische Händedesinfektionsmit- 14 Delegierte Verordnung (EU) Nr. 1062/2014 der tel – Prüfverfahren und Anforderungen (Phase 2, Kommission vom 4. August 2014: https://eur-lex. Stufe 2); Deutsche Fassung EN 12791:2016+A1:2017 europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CE- Ausgabe 2018-01. Beuth Verlag. LEX%3A32014R1062 24 DIN EN 14476 Chemische Desinfektionsmittel und 15 Verordnung über die Meldung von Biozid-Produk- Antiseptika – Quantitativer Suspensionsversuch ten nach dem Chemikaliengesetz (Biozid-Meldever- zur Bestimmung der viruziden Wirkung im human- ordnung – ChemBiozidMeldeV): https://www.ge- medizinischen Bereich – Prüfverfahren und setze-im-internet.de/chembiozidmeldev_2011/ Anforderungen (Phase 2, Stufe 1); Deutsche BJNR108500011.html Fassung EN 14476:2013+A2:2019 Ausgabe 2019-10. Beuth Verlag. 16 Unionsliste der genehmigten Wirkstoffe: www.re- ach-clp-biozid-helpdesk.de/DE/Biozide/Wirkstoffe/ 25 DIN EN 14348 Chemische Desinfektionsmittel und Genehmigte-Wirkstoffe/Genehmigte-Wirkstoffe_ Antiseptika – Quantitativer Suspensionsversuch node.htm zur Bestimmung der mykobakteriziden Wirkung chemischer Desinfektionsmittel im humanmedizi- 17 Biozidprodukte im Entscheidungsverfahren: nischen Bereich einschließlich der Instrumenten- https://www.baua.de/DE/Themen/Anwendungssi- desinfektionsmittel – Prüfverfahren und Anforde- chere-Chemikalien-und-Produkte/Chemikalien- rungen (Phase 2, Stufe 1); Deutsche Fassung recht/Biozide/pdf/Biozidprodukte-im-Entschei- EN 14348:2005 Ausgabe 2005-04 Beuth Verlag. dungsverfahren.pdf 26 Chemische Desinfektionsmittel und Antiseptika – 18 Datenbank der zugelassenen Boizidprodukte: Quantitativer Suspensionsversuch zur Bestimmung https://www.baua.de/DE/Themen/Anwendungssi- der sporiziden Wirkung im humanmedizinischen chere-Chemikalien-und-Produkte/Chemikalien- Bereich – Prüfverfahren und Anforderungen recht/Biozide/Datenbank-Biozide/Biozide_form.ht- (Phase 2, Stufe 1); Deutsche Fassung ml?nn=8684642&wirkstoff.GROUP=1&prodart. EN 17126:2018 Ausgabe 2019-02 Beuth Verlag. GROUP=1&awkat.GROUP=1
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 13 27 Verbund für angewandte Hygiene, Anforderungen 35 Empfehlung der Kommission für Krankenhaus und Methoden zur VAH-Zertifizierung chemischer hygiene und Infektionsprävention (KRINKO) beim Desinfektionsverfahren Stand 15.April 2019. 2019, Robert Koch-Institut (RKI): Händehygiene in MPH-Verlag. Einrichtungen des Gesundheitswesens. (2016) Bundesgesundheitsbl. 59:1189-1220 28 Rabenau HF, Schwebke I, Blümel J, Eggers M, Glebe D, Rapp I, Sauerbrei A, Steinmann E, Stein- 36 Gesetz zum Schutz vor gefährlichen Stoffen mann J, Willkommen H, Wutzler P (2015): Leitlinie (Chemikaliengesetz – ChemG)ChemG Ausferti- der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der gungsdatum: 16.09.1980 Stand Neugefasst durch Viruskrankheiten (DVV) e. V. und des Robert Bek. v. 28.8.2013 I 3498, 3991; Zuletzt geändert Koch-Instituts (RKI) zur Prüfung von chemischen durch Art. 4 G v. 23.10.2020 I 2232 Desinfektionsmitteln auf Wirksamkeit gegen Viren in der Humanmedizin, Fassung vom 1. Dezember 2014. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Autorinnen und Autoren a) Gesundheitsschutz 58: 493-504 Dr. Nils Lilienthal | a) Anna Baumann | a) Vanessa Respondek | b) Prof. Dr. Nils-Olaf Hübner | 29 Schwebke I et al.: Prüfung und Deklaration der c) Dr. Ingeborg Schwebke Wirksamkeit von Desinfektionsmitteln gegen Viren a) zur Anwendung im human-medizinischen Bereich. BfArM, Fachgebiet Infektiologie/Dermatologie/ Stellungnahme des Arbeitskreises Viruzidie beim Allergologie b) Robert Koch-Institut (RKI), des Fachausschusses Universitätsmedizin Greifswald, Zentralbereich Virusdesinfektion der Deutschen Vereinigung zur Hygiene c) Bekämpfung der Viruskrankheiten (DVV) e. V. und bis 31.1.2021 Robert Koch-Institut, Abt. 1 Infektions- der Gesellschaft für Virologie (GfV) e. V. sowie der krankheiten, FG 14 Angewandte Infektions- u. Kran- Desinfektionsmittelkommission des Verbundes für kenhaushygiene Angewandte Hygiene (VAH) e.V. Bundesgesund- Korrespondenz: Nils.Lilienthal@bfarm.de heitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheits- schutz, 2017. 60: p. 353-363. 30 DIN EN ISO/IEC 17025 Allgemeine Anforderungen Vorgeschlagene Zitierweise Lilienthal N, Baumann A, Respondek V, Hübner N-O, an die Kompetenz von Prüf- und Kalibrierlaborato Schwebke I: Quo vadis Händedesinfektionsmittel: rien (ISO/IEC 17025:2017); Deutsche und Englische Arzneimittel oder Biozidprodukt? Fassung EN ISO/IEC 17025:2017 Ausgabe 2018-03 Beuth Verlag. Epid Bull 2021;17:5 -13 | DOI 10.25646/8389 31 EMA Non-clinical: toxicology guidelines https:// www.ema.europa.eu/en/human-regulatory/rese- arch-development/scientific-guidelines/non-clini- Interessenkonflikt cal/non-clinical-toxicology Alle Autorinnen und Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. 32 ICH quidelines / quality guidelines https://ich.org/ page/quality-guidelines 33 EMA quality guidelines: https://www.ema.europa. eu/en/human-regulatory/research-development/ scientific-guidelines/quality-guidelines 34 VERORDNUNG (EG) Nr. 1272/2008 DES EUROPÄ- ISCHEN PARLAMENTS UND DES RATES vom 16. Dezember 2008 über die Einstufung, Kennzeich- nung und Verpackung von Stoffen und Gemischen, zur Änderung und Aufhebung der Richtlinien 67/548/EWG und 1999/45/EG und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1907/2006
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 14 Antigentests als ergänzendes Instrument in der Pandemiebekämpfung Frequenz, Adhärenz und Testqualität sind entscheidende Faktoren für den Erfolg Für die Pandemiebekämpfung kommt eine Mehr- der Pandemiebekämpfung dar. Sie ermöglichen es, komponentenstrategie („Werkzeugkasten“, „Multi- das Infektionsgeschehen zu kontrollieren (vgl. layer-Approach“) zum Einsatz, die unterschiedliche auch ControlCOVID-Strategie und Handreichung). Maßnahmen beinhaltet, deren Gesamtheit eine Zusätzlich zu den bestehenden Verhaltensregeln Kontrolle der epidemischen Ausbreitung von Severe Abstand – Hygiene – Alltag mit Maske und Lüften Acute Respiratory Syndrome Coronavirus Type 2 (AHA+L), kann ein erweitertes Testkonzept, wel- (SARS-CoV-2) ermöglichen soll. In Bezug auf Tests ches die breite Testung von symptomlosen Perso- ist wesentlich, dass symptomatische Personen sich nen mit einbezieht, einen weiteren Baustein in der grundsätzlich isolieren und eine ärztliche Praxis Pandemiebekämpfung darstellen, indem es die Er- oder ein Gesundheitsamt zwecks PCR-Testung kennung von Infektionen und so die Unterbre- kontaktieren; weitere Einsatzgebiete von Tests wer- chung von Infektionsketten ermöglicht (s. Abb. 1). den in der Nationalen Teststrategie genannt. Durch Hinzunahme einer weiteren Maßnahme (breit ver- fügbare Antigentests für symptomlose Personen) Wie können Antigen-Schnelltests sollen bestehende bevölkerungsweite Maßnahmen zur Pandemiekontrolle beitragen? (Kontaktreduktion, Abstand, Hygiene, Alltag mit Der breite Einsatz von Antigen-Schnelltests erhöht Maske, Lüften) ergänzt werden. Sofern es nicht zur die Testkapazität und kann damit die Erkennung Reduktion der anderen Maßnahmen führt, kann sonst unerkannter Fälle durch niederschwellige Tes- dieses ergänzende Instrument idealerweise die tungen ermöglichen. Der Effekt von bevölkerungs- Pandemiekontrolle verbessern. weiten Tests auf die Pandemiekontrolle wurde mo- delliert 1–6 und bevölkerungsweite Testungen in der Die SARS-CoV-2-Pandemie stellt Deutschland wei- Slowakei7,8 und Luxemburg9 bereits durchgeführt. terhin vor große Herausforderungen. Derzeit ist Allen Modellierungsstudien zufolge ist eine hohe der überwiegende Teil der Bevölkerung noch nicht Compliance der Bevölkerung zu den bestehenden gegen SARS-CoV-2 geimpft, während gleichzeitig Verhaltensregeln sowie eine hochfrequente Testung ein Anstieg der Fallzahlen zu beobachten ist und derselben Population über einen längeren Zeitraum eine dritte Infektionswelle begonnen hat. Trotz des notwendig, um das Infektionsgeschehen deutlich beispiellosen Wissenszuwachses im letzten Jahr zu senken. sind wichtige Aspekte der Coronavirus Disease 19 (COVID-19)-Erkrankung bislang nur wenig ver- Seit Anfang März 2021 steht in Deutschland mit standen; sie betreffen Komplikationen und Lang- Antigen-Selbsttests ein weiteres Instrument zur Re- zeitmorbidität (z. B. Long-COVID-Syndrom, Pedia- duzierung des Übertragungsrisikos zur Verfügung. tric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS), Ist der Erfolg eines flächendeckenden Screenings Myokarditis) bei Kindern und Erwachsenen ebenso vor allem vom Umfang der Beteiligung, der Testfre- wie den Einfluss neuer Virusvarianten auf das pan- quenz, der Qualität der Tests und der Einhaltung der demische Geschehen. Vor diesem Hintergrund, an- resultierenden Maßnahmen (Isolierung und Qua- gesichts der Fallsterblichkeit und zur Verhinderung rantäne bei Kontaktpersonennachverfolgung) ab- einer Überlastung des Gesundheitssystems ist es hängig, so können bei der ergänzenden individuel- notwendig, die Zahl der infizierten Personen so ge- len (Selbst-)Testung BürgerInnen deren Einsatz und ring wie möglich zu halten. Nicht-pharmazeutische die daraus resultierenden Konsequenzen für ihre Maßnahmen stellen hierbei wichtige Werkzeuge Kontakte zudem selbst regulieren. Diese Chance gilt
Epidemiologisches Bulletin 17 | 2021 29. April 2021 15 Krankenbehandlung Public Health (Infektionen sicher erkennen und behandeln) (Ausbreitung eingrenzen, Risikogruppen schützen) Exposition (asymptoma�sche Personen) Disposition* KP1 Pflegende z.B. Schulen, bzw. (Quarantäne) Kitas, betriebliche Exposition Tä�gkeit Kontexte Symptome §§ 23,33,36 IfSG Symptome (s. Testkriterien RKI) (s. Testkriterien RKI) PCR Testkonzept (7-Tage-Inzidenz/Testkapazität berücksich�gen) (NAT) Hochrisiko Setting? s. auch Na�onale Teststrategie PCR-Testkapazität? Niedrigrisiko Setting? Ausgelastete PCR-Testkapazität? Geeignete AG-Tests verfügbar? + - AG-Test ** Wiederholung der Testung in (Erstbefund) („Vortest“) definierten Abständen PCR- Meldung Nachtest + - (z.B. 2x/Wo) Isolierung Charakterisierung der Erreger ggf. Behandlung (Projekt IMS sowie CorSurV; Übersendung der Sequenzen ausgewählter Proben und + Hinterlegung bei GISAID) s. Hinweise zum „Nachmeldung“ des Typisierbefundes Meldung Entlassmanagement (§9 IfSG) Isolierung ggf. Behandlung Abb. 1 | Übersicht über das Vorgehen im Rahmen der Erkennung einer SARS-CoV-2-Infektion (direkter Erregernachweis) bei Untersuchung symptomatischer bzw. asymptomatischer Personen. Die Erkennung einer SARS-CoV-2-Infektion mittels direktem Erregernachweis beruht auf 2 Säulen: a) der niederschwelligen Testung symptomatischer Personen mittels PCR-Test sowie b) der Früherkennung von Infektionen bei asymptomatischen Personen, die einer übertragungsrelevanten Exposition ausgesetzt sind/waren, z. B. im Rahmen von betrieblichen Testkonzepten mittels Antigentest. Auf die ausführlichen Dokumente auf den Internetseiten des RKI zur Diagnostik bzw. Kontaktpersonennachverfolgung wird ausdrücklich hingewiesen: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/nCoV.html Hinweise zur Testung: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Vorl_Testung_nCoV.html * z. B. Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus, Adipositas, Niereninsuffizienz, Immundefizienz, Alter > 70 Jahre; ** s. Mindestanforderungen (PEI/RKI; BfArM) sowie MPG und MPAV sowie B-FAST KP: Kontaktperson; NAT: Nukleinsäure-Amplifikations-Technik; PCR: Polymerasekettenreaktion; IMS: integrierte molekulare Surveillance; CorSurV: Coronavirus-Surveillanceverordnung; GISAID: Global Initiative on Sharing All Influenza Data; MPG: Medizinprodukte-Gesetz; MPAV: Medizinprodukte-Abgabeverordnung; B-FAST: Bundesweites Forschungsnetz Angewandte Surveillance und Testung PEI: Paul-Ehrlich-Institut, RKI: Robert Koch-Institut, BfArM: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte es zu nutzen, da in der Gruppe der selbsttestenden 8/2021 berichtet. Weiterführende Informationen Personen von einem hohen Commitment ausgegan- sind in den Hinweisen zur Testung verfügbar. Auch gen werden kann. Zudem ermöglicht das Selbsttes- das European Centre for Disease Prevention and ten Einzelpersonen und Gruppen, sich aktiv und Control (ECDC)10 und die Weltgesundheitsorganisa- selbstverantwortlich an der Pandemiebewältigung tion (WHO)11 haben hierzu umfassende Literatur zu beteiligen. übersichten vorgelegt. Antigen-Schnelltests sind einfach durchführbar und liefern innerhalb kurzer Zeit ein Ergebnis, zeigen aber im Vergleich zur RT- Zur Leistungsfähigkeit von Antigentests PCR eine geringere Sensitivität. Außerdem wurden Über die Chancen aber auch Limitationen der Anti- je nach Testfabrikat in unabhängigen Validierungs- gen-Schnelltests wurde im Epidemiologischen Bulletin studien deutliche Unterschiede in den Leistungs-
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