MANUŠ HEIßT MENSCH AVERKLUB - COLLECTIVE - KUNSTHALLE WIEN
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Feier zum Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, Laternenumzug in Komořany, 1970er, Courtesy Staatliches Gebietsarchiv Litoměřice, Foto: unbekannt 2 3
D ie Ausstellung Manuš heißt Mensch, die von einem Kol- lektiv aus Künstler*innen, Kultur- wirtschaftlicher und sozialer Faktoren über lange Zeiträume hinweg erzeugt wurden und nicht arbeiter*innen und Aktivist*innen durch vereinzelte Fälle von Dis- organisiert wurde, wirft eine Rei- kriminierung. Manuš heißt Mensch he von Fragen auf über die Bezie- verfolgt die Politik, mittels derer hung zwischen der Kunst und den die Tschechoslowakische Sozia- materiellen Bedingungen ihrer listische Republik die strukturel- Produktion und Präsentation len Ursachen der Exklusion der sowie über die Art und Weise, in Rom*nja in Angriff nahm, und der grundlegende Narrative und verortet diese im umfassende- Ursprungsgeschichten von Orten, ren historischen Kontext des Völkern und Nationen geschrie- 20. Jahrhunderts. Aber wenn- ben werden. Indem sie ethno- gleich sie in die Vergangenheit grafische, dokumentarische und blickt, ist die Ausstellung auch künstlerische Materialien neben- stark in der Gegenwart veran- Mosaikbild einer Mohnblume im Haus der Kultur, Chanov-Siedlung einanderstellt, untersucht die Aus- kert. Ausgehend vom Kontext stellung die Rolle der Kunst bei der Chanov-Siedlung in der der Erzeugung kultureller Mythen, Stadt Most in der Tschechischen die Beziehung von Kunstobjekten Republik, veranschaulicht sie zur Erinnerung und der Deu- den scharfen Kontrast zwischen tung der Geschichte sowie die den Lebensbedingungen unter Reichweite einer dezidiert nicht- dem „totalitären“ Regime der elitären und aktivistischen Praxis Vergangenheit und dem „libe- innerhalb des privilegierten Aus- ralen“ Regime der Gegenwart. stellungsraums des White Cube. Dadurch tritt eine andere Karte Sie befasst sich mit der Art und der zweiten Hälfte des 20. Jahr- Weise, wie wir über Marginalisie- hunderts zutage, die das falsche rung sprechen können, ohne in Narrativ dekonstruiert, welches Klischees und Exotisierungen zu von den führenden zeitgenössi- verfallen, und wie wir Unterdrü- schen Medien aufrechterhalten ckung im Alltag bekämpfen und und fortgeschrieben wird und uns selbst der Herausforderung welches die gegenwärtigen kapi- stellen können, uns Dinge jenseits talistischen Länder als techno- der pragmatischen Realpolitik logisch und sozial fortschrittlich, des gegenwärtigen Zeitpunkts die sozialistischen Länder hin- vorzustellen. gegen als repressive und freud- lose Orte präsentiert, die durch Die Praxis des Averklub Collec einen dringenden Aufholbedarf tive beginnt mit der Einsicht, gekennzeichnet sind. Die Aus- dass die Unterdrückung margi- stellung erkundet die Erfolge und nalisierter und enteigneter Völker Versäumnisse der sozialistischen auf strukturellen Bedingungen be- Politik bei der Integration der 4 ruht, die durch die Verflechtung Rom*nja, um uns anzuregen, das
sozialistische Projekt noch einmal und Nicht-Regierungsprogram- mit ungetrübtem Blick als mög- me in den meisten europäischen liches Modell für die Herstellung Ländern, die allgemeine sozio- von Gleichheit zu betrachten, das ökonomische Lage der Rom*nja über Identitätspolitik hinausgeht. heruntergespielt und in ein Pro blem „kultureller“ Andersartig- Wirtschaftliche Ungerechtigkeit, keit umdefiniert, während sich an Stigmatisierung, negative Stereo- den systemischen Ursachen ihrer Stadtzentrum von Most, 1980er, aus dem Archiv von Marie Pulková typisierung und Rassismus gegen extremen Armut und gesellschaft- die Rom*nja sind in ganz Europa lichen Exklusion nichts ändert. seit Jahrhunderten präsent, und die Behandlung der Rom*nja ist In dieser Ausstellung geht es um einer der größten blinden Flecken die spezifischen Geschichten der des zeitgenössischen europäi- Rom*nja. Doch indem sie Licht schen Projekts. So fungieren die auf verschiedene Episoden der Rom*nja weiter als Sündenbö- Geschichte der Rom*nja-Bewe- cke und werden benutzt, um von gungen wirft, berührt sie, in den größeren sozialen Konflikten Worten des Averklub Collective, abzulenken. In der „Übergangs- den „Wunsch nach einem Leben periode“ in Mittel- und Osteuro- in Würde, der allen gewöhnlichen pa nach dem Fall der Berliner Menschen eigen ist, die daran Mauer 1989 nahm die gegen die gehindert werden, an Entschei- Rom*nja-Bevölkerung gerichtete dungen teilzuhaben, welche ihr Gewalt erheblich zu. Österreich eigenes Schicksal betreffen“. Sie hat sein eigenes schändliches untersucht die Art und Weise, wie Kapitel in dieser Geschichte: 1995 die kulturelle Bildsprache eines wurden vier Roma-Männer in marginalisierten Volkes entsteht, Oberwart von einer Rohrbombe um so Alternativen zu den hege- getötet, die unter einem Schild monialen Narrativen einer „Min- Zusammenarbeit mit verschiede- selbst im Überfluss besitzt, als mit der Aufschrift „Roma zurück derheit“ aufzuzeigen und gegen nen Generationen von Bewoh- Solidarität zu tarnen. Manuš heißt nach Indien“ versteckt war. In der eine Politik des Ausradierens ner*innen der Chanov-Siedlung Mensch setzt sich für eine Soli- jüngeren Geschichte ist die Unter- und Vergessens der Kämpfe und entstanden sind. Unser Ziel ist es, darität ein, welche die eigenen scheidung der Europäer*innen Emanzipationsversuche der Ver- von der Romantisierung, Vikti- Annehmlichkeiten und Privilegien in „schlechte“ und „gute“ Bür- gangenheit anzugehen. misierung und Essenzialisierung hinterfragt und uns auffordert, ger*innen ein besonders krasses Abstand zu nehmen und stattdes- sämtliche strukturellen gesell- Beispiel für Diskriminierung. Sie Die Aktivitäten des Averklub sen neue Perspektiven aufzuzei- schaftlichen Veränderungen in führte 2010 zu den berüchtigten Collective sind stark von kultu- gen, die imstande sind, ethnische Erwägung zu ziehen, die not- Deportationen von Rom*nja aus reller und aktivistischer, mit der Grenzen überwindende Solida- wendig sind, um gerechte und Frankreich und Italien und setzt künstlerischen Praxis verknüpf- rität zu mobilisieren. Die Aus- würdige Lebensbedingungen für sich heute durch zunehmende ter Arbeit geprägt, und wir freuen stellung in der kunsthalle wien alle Mitglieder der Gesellschaft Überwachung und Belästigung uns, mit dieser Ausstellung die ist auch eine implizite Kritik an zu schaffen. fort. Zugleich wird, ungeachtet of- jüngsten Recherchen und künst- zeitgenössischen Tendenzen, fizieller Erklärungen zur Inklusivi- lerischen Arbeiten der Gruppe Wohltätigkeit, sprich die gönner- What, How & for Whom / WHW tät und zahlreicher humanitärer präsentieren zu können, die in hafte Verteilung dessen, was man Direktorinnen, kunsthalle wien
Das Averklub Collective ist Manuš heißt Mensch (Manuš zna- Die Ausstellung Manuš heißt Averklub Collective Manuš heißt Mensch das Ergebnis einer Zusammen- mená člověk) lautet der Titel eines Mensch versucht dieses „dialek- arbeit zwischen der Romafutu Buches von Vincent Danihel, tische Ganze“ am Beispiel der rismo-Bibliothek (der heutigen einem Rom*nja-stämmigen tsche- Kunst der Rom*nja aufzuzei- Josef-Serinek-Bibliothek) und choslowakischen kommunisti- gen. Statt einfach eine absehba- des Aver-Roma-Vereins. Diese schen Politiker. In diesem 1986 re und beruhigende Geschichte Zusammenarbeit mündete in veröffentlichten Buch analysiert der Rom*nja-Kunst zu erzählen, der Gründung des Aver-Klub- Danihel die historische Ent- zeigt sie, wie alle derartigen Ver- Kulturzentrums in der Chanov- wicklung des gesellschaftlichen suche eines kulturellen oder eth- Siedlung in Most in der Tsche- Status der Rom*nja. Durch die nischen Exotismus die wirkliche chischen Republik. Verwendung desselben Titels für Emanzipation und Inklusion im die Ausstellung möchten wir die umfassenden Kollektiv der euro- Das Aver-Klub-Kulturzentrum Aufmerksamkeit auf das lenken, päischen sozialen Gemeinschaft bietet ein tägliches Kultur- und was Menschen vereint, statt auf verzögern und erschweren. Die Freizeitprogramm auf dem Ge- das, was sie trennt. Wir möchten Ausstellung präsentiert Artefakte lände eines ehemaligen Kindergar- zeigen, dass es über die Vielfalt und Dokumente, die sich auf Er- tens, das allen Bewohner*innen der Kulturen, Gender, Nationen eignisse der letzten siebzig Jahre der Siedlung offensteht. Zuletzt usw. hinaus und jenseits davon in dem Staatengebilde, das früher wurde hier auch ein Sozialunter- noch eine andere Ebene der Zu- die Tschechoslowakei war, be- nehmen ins Leben gerufen, um die gehörigkeit gibt, die ausnahmslos ziehen. Sie trägt ein, wenn auch soziale und wirtschaftliche Lage allen zugänglich ist. Da wir uns fragmentarisches, Bild zusammen, der örtlichen Bevölkerung zu ver- des Individualismus bewusst sind, das zeigt, warum die Inklusion bessern. Dieses Sozialunterneh- der hieraus resultieren könnte, und kulturelle Entwicklung der men, eine in Selbstträgerschaft stellen wir das kollektive Prinzip Rom*nja-Bevölkerung ohne so- entwickelte Initiative, verfolgt das der wechselseitigen Zugehörig- ziale Gerechtigkeit nicht möglich Ziel, den Mangel an strukturellen keit in den Vordergrund unserer ist. Tatsächlich erfreuten sich die Lösungen auszugleichen. Aktivitäten. Wenngleich man dies Rom*nja während ihrer Integra- als ein sozialistisches Prinzip be- tion in die ehemals kommunis- Das Averklub Collective er- trachten könnte, sehen wir darin tischen Staaten einer größeren forscht die mit Schweigen über- eine zukunftsweisende Perspek- sozialen Gerechtigkeit, und die gangene Geschichte der Rom*nja tive und darüber hinaus die ein- erneuerte kapitalistische Ord- und andere sozialpolitische zige Möglichkeit, in der menschli- nung der letzten dreißig Jahre Fragen, die ausgeschlossene chen Gesellschaft eine Beziehung vermochte nicht zu erreichen, was Orte und Gruppen in der Tsche- mit anderen herzustellen. Wir unter dem vorherigen Regime zu- chischen Republik und darüber glauben nicht, dass sich in einer mindest teilweise gelang. Wir be- hinaus betreffen. Seine Mitglie- nach kapitalistischen Prinzipien trachten die ehemalige Situation der sind František Nistor, Ro organisierten Gesellschaft eine als Inspirationsquelle, um damit man Šváb, Radek Šváb, N ikola solche Perspektive eröffnet. Wir anzufangen, positive Veränderun- Nistorová, Dana Bažová, H elena sind uns auch der irritierenden gen in der Zukunft in Betracht zu Pompová, Zuzana Cicková, historischen und konzeptionellen ziehen. Markéta Pařízková, Markéta Assoziationen bewusst, die mit Strnadová, L adislava Gažio dem Wort „sozialistisch“ einher- vá, Jakub Jurásek, Zbyněk gehen, aber wir gehen das Risiko Baladrán und Alexey Klyuykov. ein, missverstanden zu werden.
Vor allem whw: Manuš heißt Mensch beruht auf der Zusammenarbeit zwi schen den Künstler*innen des Averklub Collective sowie Akti vist*innen und Organisator*innen aus der Plattenbausiedlung anderen Chanov in Most in der Tschechischen Republik. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit und warum? Wie arbeitet ihr zusam men? Könnt ihr uns etwas über die Struktur und die künstleri sche Herangehensweise eures Kollektivs erzählen? muss sich das AC: Das Kollektiv ist spontan entstanden, sozusagen auf natürliche Weise. Wir hatten nie ein ausdrückliches Mis- sion Statement. Es war eher ein Hilfsmittel für unsere ge- System ändern meinsamen Anstrengungen, weniger eine Proklamation des Kollektivismus an sich. Wir haben uns bei der Suche nach einem neuen Standort für die Romafuturismo Bibliothek kennengelernt, die sich vorher in Prag be- fand. Das Aver-Roma[Andere-Rom*nja]-Klubhaus in Chanov existierte schon länger. Es wurde von einigen Averklub Collective im Gespräch mit What, How & for Whom / WHW Anwohner*innen geleitet, und der Schwerpunkt lag auf sportlichen Aktivitäten für Jugendliche, wie zum Beispiel einem Fußballjuniorenteam. Die Mitglieder des Klubs kümmerten sich auch um andere Aspekte des Lebens in der Siedlung, und Aver Roma nutzte diese Gelegenheit, eine Bibliothek zu eröffnen. Das war der Beginn unserer Zusammenarbeit. Wir zogen von dem kleinen Plattenbau-Klubhaus in das Gebäude um, in dem sich früher der Kindergarten be- fand und das lange leer gestanden hatte. Mit der Zeit entstand ein größeres, breiter aufgestelltes Kollektiv, das sich immer mehr Aktivitäten für Jugendliche ausdachte, was wiederum bedeutete, dass wir die passenden Do- zent*innen und Expert*innen finden mussten. Manche Averklub Collective, Chanov-Siedlung, 2021 Leute beteiligten sich eine Zeitlang und gingen dann wieder weg. Leute, die am Anfang aktiv waren, aber heu- te nicht mehr involviert sind, können durchaus irgend- wann wieder zurückkommen. Es sollte betont werden, dass es bei allen Aktivitäten, an denen Aver beteiligt ist, um die Freizeitaktivitäten von Bewohner*innen der Siedlung geht. Aver war nie – we- der am Anfang noch jetzt – ein Kunstprojekt, und falls in unseren Aktivitäten ein künstlerisches Element auftauch- te, hatte es eher die Form eines Workshops, als Dienst- 11 leistung für die lokale Community.
Die Zusammenarbeit an der Ausstellung Manuš heißt Mensch ergab sich allmählich, als wir nach einer Möglich- keit suchten, festzuhalten, wie sich die Lebensweise der Leute in Chanov veränderte. Später erweiterte sich dieser Themenkreis zu allgemeineren Fragestellungen über Kunst und Kultur und die Bedingungen, unter denen sie entste- hen. Anfangs haben wir uns als eine informelle Gruppe aus dem Archiv von Helena Nistorová von Leuten getroffen, die ähnliche Weltanschauungen tei- len. Daraus wuchs ein gegenseitiges Vertrauen, und daraus wiederum der Entschluss, gemeinsam an einer Ausstel- lung zu arbeiten, die bestimmte Probleme thematisiert. Zu Die Chanov-Siedlung, 1985, diesen Problemen gehört, wie man die Geschichte unter- drückter und marginalisierter Personengruppen aufzeigen, beschreiben und präsentieren kann. Unsere Arbeitsweise basiert nicht auf einem System – es geht eher um ein stän- diges Bewusstsein für das, was wir sagen wollen. Unsere Aufgabe besteht darin, die Herausforderungen, vor denen die Rom*nja stehen, als ein gesellschaftliches und öko- nomisches Problem zu kennzeichnen – und nicht als ein kulturelles oder ethnisches. Man könnte unsere Arbeitsme- Ereignissen von 1989 bereits zwanzig Jahre dort gelebt hat- thode daher folgendermaßen zusammenfassen: Wir wol- ten, und danach weitere dreißig Jahre – weisen darauf hin, len nicht, dass unser Ausgangspunkt auf einer identitären dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, sie nach ihrer Aufteilung der Gesellschaft beruht, denn das würde dazu Auffassung zu fragen, obwohl über Chanov schon so viel ge- führen, materielle Probleme durch kulturelle Sentimentali- schrieben und gesagt wurde. tät und orientalistische Herablassung zu verwischen. Und so war das Format des Interviews eine logische Wahl. whw: Ihr produziert für die Ausstellung in Wien neue Video Wir haben uns an ganz unterschiedliche Leute aus mehreren arbeiten über die Siedlung in Chanov; diese dienen als eine Art Generationen gewendet. Wir haben mit älteren Menschen Brennglas, mit dem man die Erfolge und Fallstricke der Woh über die Vergangenheit gesprochen und mit jungen Leuten nungsbaupolitik für die Minderheit der Rom*nja in der sozialis über ihre heutige Lebensweise. Wir möchten darauf hinwei- tischen Tschechoslowakei untersuchen kann. Könnt ihr etwas sen, dass die Veröffentlichung der Interviews in einem Buch zu den Videos sagen und warum ihr euch für das Interview geplant ist, das auch Fotografien aus den Privatarchiven der format entschieden habt? Bewohner*innen enthalten soll. Deshalb versuchen die Vi- deos nicht, eine umfassende Darstellung der Vergangenheit AC: Die Interviews sind ein gutes Beispiel dafür, wie wir von Chanov zu bieten. an „Kunst“ herangehen. Die ältere Generation der Bewoh- ner*innen äußerte den Wunsch, die Geschichte dieses whw: Neben diesen neu produzierten Arbeiten umfasst Manuš Ortes zu erzählen. Über Chanov ist viel geforscht wor- heißt Mensch eine bedeutende Anzahl von Arbeiten aus dem Mu den, und in den Medien ist die Siedlung ein Synonym für seum für Roma-Kultur (MRK) in Brünn. Ihr hattet in früheren Ge Segregation, Armut, ein Ghetto und so weiter. Es wird all- sprächen erwähnt, dass ihr Arbeiten auswählt, mit denen ein be gemein behauptet, dass Chanov aufgrund der Segregation stimmtes politisches Narrativ entworfen werden kann. Was meint gebaut wurde und dass es dort immer schon so war. Doch ihr damit – dass sie einen Raum für politische Deutungen und die Zeitzeug*innen, die sich daran erinnern, wie sie in diese Überlegungen eröffnen oder dass sie Zeugnisse eines politischen Neubauwohnungen einzogen – also Menschen, die vor den Moments in der Geschichte der Rom*nja sind?
AC: Man könnte behaupten, dass sich jedes Kunstwerk oder euch „erfunden“ wurden und die sich unter verschiedenen Pseudo Artefakt politisch interpretieren lässt. Aber so möchten wir nymen in der historischen Erzählung „eingenistet“ haben. Warum nicht vorgehen. Tatsächlich behandeln wir die Objekte in habt ihr euch für diese Strategie entschieden? Warum war das der Ausstellung nicht als Kunstwerke; das heißt, wir interes- erforderlich? sieren uns nicht für die ästhetischen Ansprüche oder Eigen- schaften einer bestimmten Arbeit. Außerdem gehen wir AC: Wir glauben nicht, dass diese Strategie für die Ausstel- davon aus, dass es das, was heute als „Kunst der Rom*nja“ lung in irgendeiner Weise entscheidend ist. Es gibt darin ein bezeichnet wird, nicht gibt und nie gegeben hat. Das ist eine paar „gefakte“ Objekte, aber im Grunde nichts, was es nicht komplizierte Kategorie, die in den historischen Verhältnis- auch in Wirklichkeit geben könnte. Vielleicht ist das weniger sen Mitteleuropas nicht entstehen konnte. Diese Gruppe spannend, als es auf den ersten Blick scheint. Die überwie- europäischer Bürger*innen lebte entweder in vollständiger gende Mehrheit dieser „gefakten“ Objekte veranschaulicht Armut und Not, die ein Interesse an dieser Art von Kultur die sozialistische Ära der 1950er- und 1960er-Jahre und nicht zuließ, oder sie sah – zur Zeit des „real existierenden imitiert den gängigen Output dieser Zeit. Manchmal ist es Sozialismus“ – keinen Grund, ihre ethnische Identität so zu einfacher, etwas nachzubauen, als das Original aufzutrei- betonen, wie es in der Kultur heutzutage der Fall ist. ben. Für uns bedeutet die Präsenz dieser Objekte, dass wir bestimmte Themenkreise besser verdeutlichen können. Wir Die Kultur der Rom*nja existierte und wurde unterstützt, betrachten diese Objekte als technische Hilfsmittel, die die aber nicht anders als jede andere traditionelle Kultur. Man kanonische Kunstgeschichte nicht durcheinanderbringen. In könnte auch sagen, das Ziel bestand nicht darin, progres- der Ausstellung The Universe Is Black, die 2017 in der Mähri sive und lebendige Kunst als solche zu unterstützen. schen Galerie in Brünn gezeigt wurde, war die Präsenz von fiktiven Arbeiten viel bedeutender. Man könnte sogar sagen, Der aktuelle Trend einer Kunst, die unauflöslich mit Identität dass die Ausstellung in Brünn auf ihnen beruhte. Das ist in zusammenhängt, ist im Hinblick auf die Rom*nja irrelevant, dieser Ausstellung nicht der Fall. weil dieser Trend nicht den realen Grund für die Nichtexis- tenz von Kunst und Künstler*innen der Rom*nja themati- whw: Wie verhält sich Manuš heißt Mensch zu The Universe Is Black? siert. Heutzutage wirft man Mainstream-Institutionen vor, Und wie baut sie auf diese Ausstellung auf, die von Ladislava dass sie – so das Argument – die Kunst der Rom*nja lange Gažiová – einer der Initiator*innen des Averklub Collective – kura übersehen hätten. Doch man sollte dieses Problem nicht tiert wurde? Gibt es einen Rückbezug auf das Thema des Roma rassifizieren. Diese Situation ist das Ergebnis des gesell- futurismus, das diese Ausstellung untersuchte? schaftlichen Status armer Menschen – Menschen, die keine Möglichkeit oder nicht einmal den Wunsch haben, über AC: An der Entstehung von The Universe Is Black war eine gan- Kunst nachzudenken. ze Gruppe von Leuten beteiligt. Die Kurator*innen waren – neben Ladislava – Ondřej Chrobák und Natálie Drtinová, Darum beschäftigt sich unsere Herangehensweise an die und der Ausstellungsarchitekt war Alexey Klyuykov. Exponate in der Ausstellung, die aus den Sammlungen des MRK stammen, auch eingehend mit den Verhältnissen, in Was die Exponate betrifft, haben beide Ausstellungen viel denen sie entstanden sind. Das ist der politische Aspekt, gemeinsam. Die Wiener Ausstellung ist eine abgespeckte von dem wir gesprochen haben. Version dessen, was in Brünn zu sehen war – eine Art Aus- arbeitung eines bestimmten Teils von The Universe Is Black. whw: Die Arbeiten aus musealen Sammlungen und historische Die beiden Ausstellungen kommunizieren mit ihrem jeweili- Dokumente werden in der Ausstellung durch ein Ineinandergrei gen Publikum durch verschiedene Narrative. Wir sind an die fen historischer und thematischer Narrative organisiert, die die Ausstellung in Brünn und an das Thema des sogenannten Emanzipation der Rom*nja in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun Romafuturismus mit gewissen Vorbehalten herangegan- derts nachvollziehen. Doch es gibt auch einige Arbeiten, die von 15 gen. Wir betrachten das als Denkweise, die stark von einem
bestimmten Trend im damaligen Kunstdiskurs beeinflusst war. The Universe Is Black sollte eine Analogie zur klassischen Ausstellung über das Wiedererwachen einer Nation sein – eine Ausstellung, die die Kulturgeschichte einer Nation im Geiste einer westlichen Museumskonzeption darstellt. Sie beruhte auf dem Konzept des Romafuturismus, ein Begriff, den wir in Anlehnung an die populäre afrofuturistische Be- wegung entwickelt haben. Wir haben eine alternative Sicht- weise der Geschichte der Kunst der Rom*nja propagiert, und das, was wir dort gezeigt haben, war praktisch das Gegen- teil von dem, was wir mit Manuš heißt Mensch sagen wollen. Es war eine Demonstration der „großen Geschichte“ der Kunst der Rom*nja, die eine historische Kontinuität aufweist und sich bis heute fortsetzt. Darum waren in The Universe Is Black die fiktiven Werke wichtig, die mit einer größeren Dy- „Wir singen und tanzen in Frieden“, Chanov-Siedlung, 15. Mai 1987, Foto: Luboš Dvořák namik in bestimmte Epochen intervenierten. Diese Ausstel- lung präsentierte eine vollkommen fiktive Timeline, in der die Kunstgeschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart anhand von Objekten erzählt wurde, die vorwie- gend aus den 1990er-Jahren stammten. Allerdings wich die Ausstellung in Brünn in einem wichti- gen Aspekt von den Grundsätzen, die den Afrofuturismus kennzeichnen, ab: Sie behauptete nicht, dass die Kunst der Rom*nja „anders“ ist. Sie sagte, dass diese Kunst grund- sätzlich genauso ist wie die, die wir aus der europäischen Kunstgeschichte kennen; das heißt, es ist die Kunst einer Bevölkerungsgruppe, die mit der europäischen Mehrheits- bevölkerung jahrhundertelang denselben geografischen und kulturellen Raum geteilt hat. Manuš heißt Mensch hat keine lineare Timeline. Die Ausstel- lung ist in konzentrischen Kreisen aufgebaut, und im Mittel- punkt steht das sozialistische Emanzipationsprojekt, das wir als den fortschrittlichsten Moment der europäischen Geschichte deutlich hervorheben. Von dort aus verlaufen die Themen zu den äußeren Rändern, durch die Verwerfun- gen hindurch, die von den herrschenden Verhältnissen der jeweiligen Zeit diktiert werden. whw: Eine der wichtigsten Aktivitäten des Averklub Collective in Chanov besteht darin, die Josef-Serinek-Bibliothek zu betreiben, die 2017 als Romafuturismo-Bibliothek in Prag gegründet wur 16 de und 2019 nach Chanov übersiedelte. Könntet ihr erklären, wie
diese Bibliothek funktioniert? Warum wurde sie gegründet, und wa rum war es wichtig, sie in die Siedlung von Chanov zu verlegen? AC: Ladislava hatte lange davon geträumt, Literatur von Rom*nja mit Bezügen zu postkolonialen und dekolonialen Theorie zu sammeln. Die Bibliothek entstand dann schließ- lich mit Unterstützung von tranzit.cz, einem Netzwerk, das in Österreich, der Tschechischen Republik, Ungarn, der Slowa- kischen Republik und Rumänien aktiv ist und Projekte im Be- reich zeitgenössischer Kunst organisiert. Workshop, Chanov-Siedlung, 2020 Das war ursprünglich ein Versuch, uns von der scheinbar un- politischen Herangehensweise der Romani Studies zu distan- zieren, deren Praxis eine kulturalistische Herangehensweise und ein ethnografisches Interesse an ihrem Untersuchungs- gegenstand einschließt. Darum wollten wir Literatur zusam- menstellen, die von Rom*nja geschrieben worden war, und nicht von Fachleuten auf dem Gebiet der Romani Studies. Außerdem waren in der sozialistischen Tschechoslowakei ziemlich viele Übersetzungen afrikanischer und afroamerika- nischer Autor*innen erschienen. Wir hatten also Zugang zu einem relativ umfangreichen Korpus wichtiger postkolonialer Texte, die im Ostblock kaum bekannt waren (wie etwa Über- setzungen der Werke von Frantz Fanon und der Kritik, die sie damals auslösten). Wir wollten das alles zusammentragen, um eine Sammlung aufzubauen, die der Literatur und Befreiungs- Konzert von Jan Bendig, Chanov-Siedlung, 2020 theorie unterdrückter Nationen und Ethnien gewidmet ist. Wir nannten die Bibliothek aus den oben genannten Grün- den Romafuturismo (die Bezeichnung geht möglicherweise auf einen Vorschlag des Kurators Vít Havránek zurück). Die Bibliothek diente nicht nur der Aufbewahrung der Sammlung, sondern organisierte auch Diskussionsveranstaltungen, Vor- träge, Lesungen und so weiter. Alles lief so, wie man es sich von der Bibliothek einer Institu- tion für zeitgenössische Kunst vorstellt: Keiner der Menschen, für die diese Bibliothek in erster Linie gedacht war, hat sie je- mals betreten. Sie wurde zu einem Raum, der „auf ein Problem aufmerksam macht“, der „zur Diskussion anregt“ – das heißt, der in vieler Hinsicht bemerkenswert ist, aber nur für die Com- munity, die sich mit zeitgenössischer Kunst beschäftigt. Es war eine elitäre Institution, was bedeutete, dass sie trotz des positiven Feedbacks, das sie erhalten hat, als Projekt geschei- tert war. 19
Wenn wir im Umfeld der zeitgenössischen Kunst weiterge- vollständig abzukoppeln. Die Bibliothek war nie ein Kunst- arbeitet hätten, wäre das ein klassischer Fall von Parasi- projekt, hätte aber als solches wahrgenommen werden kön- tismus eines gesellschaftlichen Problems gewesen – und nen, allein aufgrund der Tatsache, dass sie in Zusammen- das wollten wir nicht. Außerdem suchten wir einen neuen arbeit mit tranzit.cz entstanden ist. Wir sind also definitiv Standort für die Bibliothek. Ladislava hatte Kontakte in nicht mehr Teil der Kunstwelt-Blase. Wir arbeiten Seite an Chanov, und so trafen wir uns mit Aver Roma, denen die Seite mit den Leuten von Chanov für die Leute von Chanov. Vorstellung, die Bibliothek in die Siedlung zu verlegen, zu- sagte. Das Tolle daran war, dass die Bibliothek endlich Mit Manuš heißt Mensch befinden wir uns allerdings wieder in einen Weg zu den Leuten fand, für die sie gegründet wor- dieser Blase. Andererseits könnte man argumentieren, dass den war. Die Anwohner*innen der Siedlung sind an ihrem dies ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung ist. Das Betrieb beteiligt. Aber trotz der ganzen Veranstaltungen, heißt, diese Ausstellung ist kein Versuch, Menschen zeitge- die in der Bibliothek stattgefunden haben, trotz der Bücher, nössische Kunst nahezubringen, die sich nicht dafür interes- die sie ausgeliehen hat, und der Räumlichkeiten, in denen sieren. Stattdessen gibt es ein bestimmtes Thema, das wir als man sich in Ruhe hinsetzen und lesen kann, besteht die Teil der Aver-Gruppe ansprechen, und wir nutzen die Gele- wichtigste Funktion der Bücher im Klub eigentlich darin, genheit, dies im Format einer Ausstellung zu tun, die sich an dass sie eine Art Hintergrund schaffen. Die Sammlung von das Publikum einer Kunstinstitution richtet. Literatur der Rom*nja ist gewissermaßen der Garant für diesen Ort – der Fels, auf dem er, metaphorisch gespro- whw: Wie stellt ihr euch das Publikum von Manuš heißt Mensch vor? chen, gebaut ist. Die Sammlung gibt den Anwohner*innen das Gefühl, dass darin ihre Geschichte enthalten ist, eine AC: Da sind wir realistisch. Das ist eine Ausstellung für das Geschichte, die sie selbst geschrieben haben. Das ist etwas, Durchschnittspublikum der kunsthalle wien, das heißt, ein das ihr Selbstvertrauen stärkt. ganz überwiegend gut ausgebildetes, liberales Mittelschichts publikum. Wir sind nicht in der Position, mehr zu verlangen. Auch der Name musste geändert werden. Es stellte sich Institutionen für zeitgenössische Kunst haben ihre Grenzen, heraus, dass der Begriff Romafuturismus für einen Durch- und die haben nichts mit barrierefreien Zugängen oder Ti- schnittsmenschen absolut nicht nachvollziehbar war. Wenn cketpreisen zu tun. wir den Namen beibehalten hätten, hätte sich niemand da- mit identifiziert. So kam es zu der Entscheidung, die Biblio- whw: Obwohl die meisten Rom*nja sesshaft sind und in Häusern thek nach Josef Serinek umzubenennen, einem tschechi- leben, bleibt ihr „Nomad*innentum“ ein negatives, vielfach ausge schen Rom*nja-Partisanen und Kommunisten, der von den schlachtetes Klischee. Trotzdem enthält der Nomadismus auch das Leuten in Chanov sehr bewundert wird. Die Entscheidung Versprechen der Transnationalität; dieses Versprechen beruht auf war richtig. dem Vermächtnis der Abweichung vom vorherrschenden Narra tiv, das die „Verbindung zwischen den Menschen und ihrem Land“ whw: In euren Texten und in unseren früheren Unterhaltungen mystifiziert und in dem „das Land“ meistens stellvertretend für ein habt ihr über die Herausforderung gesprochen, Kulturveranstal Gebiet steht, das in verschiedene gewaltsame nationale Konflikte tungen für Teilnehmer*innen zu organisieren, die arm und/oder verstrickt ist. Daher liegt in den Debatten über die Identität der anderweitig benachteiligt sind. Ihr habt die Schwierigkeit benannt, Rom*nja und ihren Beitrag zu Vorstellungen von der Zukunft Euro einen relevanten Zusammenhang zwischen kulturell elitären Ver pas auch eine implizite Kritik an der Idee nationaler Einheit und anstaltungen und einem Graswurzel-Aktivismus herzustellen. Wie am Nationalstaat. Wie wichtig ist diese Frage der Transnationali schafft ihr es, in eurer Arbeit mit Rom*nja-Communitys aus der tät, im Gegensatz zum Nationalstaat, für Manuš heißt Mensch? von euch so genannten „Kunstwelt-Blase“ herauszukommen? AC: Da habt ihr recht: Die Vorstellung von den Rom*nja als AC: Der erste Schritt war, die Bibliothek nach Chanov zu Nomad*innen ist immer noch sehr lebendig, und dieses verlegen und uns von institutionellen Kunstaktivitäten 21 Klischee wird oft als Argumentationsbasis genutzt, um ihre
Unterschiedlichkeit zu betonen und sie aus der nationalen Geschichtsschreibung der einzelnen europäischen Staaten auszuschließen. Offenbar denken die Leute immer noch, dass die Rom*nja „anderswo“ hingehören, obwohl sie be- reits im 14. und 15. Jahrhundert in Europa sesshaft waren. Es gibt vermutlich keine Lage, die mit jener der Rom*nja Der Kindergarten in der Chanov-Siedlung, 1981, aus dem Archiv von Helena Nistorová vergleichbar ist. Sie ist sehr kompliziert und (im negativen Sinne) singulär. Die Rom*nja stellten in Europa von Anfang an ein unerwünschtes Element dar und nahmen oft die Posi- tion von versklavten Menschen ein. Der Nomadismus war eine Notwendigkeit – und nicht eine Frage der Tradition. Die Nationalität, die sie im Lauf der Geschichte erworben haben, war einem gewissen Wohlwollen seitens mancher Staaten geschuldet und beruhte auf der Entscheidung, dass die Rom*nja auf ihrem Gebiet geduldet wurden. Die heutige Lage der Rom*nja unterscheidet sich kaum von ihrer Lage in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; man denke beispiels- weise an die Situation in Deutschland, wo Menschen, die schon seit vielen Generationen in diesem Land leben, immer noch Opfer von gewalttätigen Angriffen und von Diskrimi- nierung sind. Und in diesem Kontext sprechen wir über Fa- milien, deren Geschichte mit der Geschichte des Holocaust an den Sinti*zze und Rom*nja verknüpft ist. Für die Rom*nja, die in den 1990er-Jahren aus dem ehemaligen Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien als Asylsuchende nach Deutsch- land kamen, war die Rückkehr in das Land, das sie verlassen hatten, voller Gefahren. Trotzdem wurden sie oft umgesie- delt. Die Rom*nja, die in Deutschland bleiben durften, erhiel- ten den Status von Geduldeten, was in der Praxis bedeutet, dass sie kein Anrecht auf öffentliche Sozialleistungen haben. Sie leben in einem Zustand andauernder Prekarität und Angst vor Ausweisung. Man kann die Geschichte des Nomadismus allerdings auch positiv interpretieren. Tatsächlich deutet ja schon eure Fra- Regimes, die sie jahrhundertelang auf alle erdenklichen Ar- ge die Möglichkeit einer positiven Lesart an. ten unterdrückt und unterjocht haben. Dieses Bild vom Mar- tyrium der Rom*nja verleiht ihnen gewisse Züge der Reinheit So wird beispielsweise in linken Kreisen oft behauptet, dass und Makellosigkeit, das wiederum die Vorstellung von einem Nomadismus gleichbedeutend mit Freiheit und Unabhängig- ewig ungestillten, unüberwindlichen (als Nomadismus ver- keit von den materiellen Lebensverhältnissen der heutigen, standenen) Freiheitswunsch der Rom*nja verstärkt. Die neu- spätkapitalistischen Gesellschaft sei. Das führt leider zu ere Forschung zeigt allerdings, dass die Eliten der Rom*nja einer orientalisierenden Beziehung zu den Rom*nja, die von schon seit dem 19. Jahrhundert den Übergang zur Sesshaf- der Mehrheitsgesellschaft als „passive Agent*innen“ betrach- tigkeit als einzig möglichen Weg zu positiven Veränderun- tet werden – als die ewigen Opfer verschiedener politischer 23 gen betont haben.
Wir haben den Eindruck, dass die naive liberale Vorstel- AC: Wir sehen darin keinen Widerspruch, aus dem einfachen lung von einem verführerischen Nomadismus (der jedoch Grund, weil wir nicht glauben, dass die Ablehnung von Iden- in sicherer Ferne bleibt) – trotz der positiven Einstellung titätspolitik zwangsläufig auch die Ablehnung von Kultur be- zu „Otherness“ – dazu führt, diese „Otherness“ aufrechtzu- deutet. Das Gegenteil trifft zu. erhalten. Dadurch bleibt alles so, wie es ist. In den Ghet- tos und Slums grassiert weiterhin die Armut, und dieser Zersplitterte Identitäten können in einer kapitalistischen „Lebensstil“ erfährt nur Zustimmung von Leuten, die die Gesellschaft nicht emanzipiert werden, egal, wie sehr wir Rolle von Sympathisant*innen einnehmen. Diese Sichtwei- uns anstrengen. Solange das politische und ökonomische se führt dann dazu, dass die Eigenschaften, die das Leben Bezugssystem so bleibt, wie es ist, können sich die Rom*nja in Armut mit sich bringt, mit einer bestimmten Ethnizität nicht selbst befreien und ihren Status verändern. Wir oder Kultur assoziiert werden. So wird die materielle Ar- müssen in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen mut zu einer Kultur, mit der sich diejenigen, die unter die- denken und nach den Gemeinsamkeiten zwischen verschie- ser Armut leiden, rückblickend identifizieren. denen Gesellschaften suchen, anstatt dafür zu kämpfen, un- sere eigene Einzigartigkeit zu betonen. Wir beobachten heu- Was die Parallelen zum Transnationalismus betrifft, sind te ein falsches Verständnis von Marxismus, nämlich, dass die wir nicht ganz überzeugt. Wir halten Transnationalität Politik der Vergangenheit (die für den Marxismus stand) alle für einen selbstverständlichen Aspekt postmoderner Ge- Formen von kultureller Differenz ablehnte. Das war nicht sellschaften. Das ist ein unvermeidliches Element, das zu der Fall. Kulturelle Authentizität war erwünscht, aber es gab Brüchen führt; daher kann man nicht behaupten, dass noch eine andere gesellschaftliche Ebene, die Menschen er an sich positiv ist. Wenn der Transnationalismus für über alle möglichen Kulturen und Identitäten hinweg verbin- uns etwas ausschließlich Positives wäre, würden wir uns den sollte. Es ist wichtig, dieses universelle Narrativ heute in einem gefährlichen Dualismus wiederfinden; es würde herauszuarbeiten. Wenn man beispielsweise Rom*nja, die in bedeuten, dass der Nationalstaat eine negative, gewalt- der Tschechischen Republik leben, nach ihrer Identität fragt, same Kraft ist, während die verstreute Vielzahl transna- werden sie antworten, dass sie in erster Linie Tschech*innen tionaler Subjekte als etwas Positives betrachtet würde. und außerdem Rom*nja sind, und sie werden auf beide Iden- Doch das sind zwei simultan verlaufende Prozesse, die titäten gleich stolz sein. sich wechselseitig bedingen. Außerdem impliziert allein das Konzept einer transnationalen Identität eine Zuge- Ob es nun ein Proletariat oder eine ähnlich definierte Grup- hörigkeit zu mindestens zwei Nationen. Wenn wir an der pe von Arbeiter*innen als gemeinsamen Nenner gibt oder Vorstellung festhielten, dass die Rom*nja immer noch nicht, bleibt strittig. Der Glaube, dass es die Gesellschaft in irgendein ursprüngliches Heimatland gehörten, dann nicht gibt – dass es nichts mehr gibt, was die Leute zusam- hätten auch die Bevölkerungen aller europäischen Natio- menbringt –, kann auch einfach eine Form von Wunsch nen, die ja alle das Resultat vergangener Migrationsbe- erfüllung sein. Wir wissen schließlich alle, dass die oberste wegungen sind, irgendein mythisches „Heimatland“. Das Klasse immer noch ihr Klassenbewusstsein hat und es eifer- erscheint aus heutiger Sicht einfach unsinnig. süchtig hütet. whw: Es gibt in eurer Arbeit den Versuch, mit einer essen Außerdem glauben wir, dass die Kultur der Identitätspolitik zialistischen Vorstellung von der kulturellen Emanzipation der schrecklich reduktiv ist. Das Individuum wird seiner gewähl- Rom*nja zu brechen; andererseits leugnet ihr nicht die Existenz ten Identität zugeordnet und so in gewisser Weise gekenn- von Ethnizität oder von bestimmten etablierten Bräuchen. Wie zeichnet. Dabei haben wir alle eine Vielzahl von Identitäten, sprechen wir darüber, auf welche Weise die Rom*nja ihr Image und es gibt keinen Grund, auf nur eine von ihnen zurückzu- beeinflussen oder negativen Klischees und Rassismus entge greifen. Wir befürworten eine Herangehensweise, die viel genwirken können, ohne dabei Zuflucht zur Identitätspolitik pluralistischer ist als jene, die von der derzeitigen identitä- zu nehmen? 25 ren Emanzipation geboten wird.
whw: Gibt es eine Möglichkeit, sich mit der Kunst der Rom*nja zu beschäftigen, ohne in eine kolonialistische Denkweise zu verfallen, wonach der*die „Andere“ immer über einen anderen kulturellen Code verfügt, der nicht universell geteilt werden kann? Die Siedlung in Žehra, Slowakei, 2021, Foto: Averklub Collective AC: Da die „Kunst der Rom*nja“ ein relativ neues Konstrukt ist, müssen wir uns bewusst sein, dass sie – da solche Kunst heutzutage gemacht wird – für gewöhnlich das Produkt des gegebenen Konstrukts ist. Das heißt, es ist eine Kunst, die von Anfang an „anders“ sein will – aus dem einfachen Grund, weil sie von dieser „Otherness“ profitiert. Der aktuelle Diskurs zwingt die wenigen Rom*nja-Künst- ler*innen, die in der westlichen Kunstwelt arbeiten, sich darauf zu konzentrieren, wie sie, als Rom*nja, „Vielfalt“ ver- körpern. Das wird dann zu einem sich selbst fortschreiben- den Prozess und bildet die Substanz der Kunstwerke. Das ist eine einfache Möglichkeit, Erfolg zu haben, und wenn die Dinge so weiterlaufen, werden wir dazu verurteilt sein, ewig als die „Anderen“ zu gelten. Wenn es jedoch einen Wandel geben soll, muss dieser systemisch sein, und es muss dabei um mehr gehen als um eine bloße Neubewertung, wie wir über unsere Identität denken. whw: Durch die Gegenüberstellung von älteren Arbeiten, die sich auf die Emanzipation im Sozialismus beziehen, und aktuellen Ar beiten spielt Manuš heißt Mensch auf die Veränderungen des sozia Averklub Collective, Sozialer Mord (Videostill), 2021, len Status der Rom*nja an, die nach der Samtenen Revolution von 1989 in der Slowakei und der Tschechischen Republik stattgefun den haben. Könntet ihr etwas zum Status der Rom*nja-Minderheit in der Tschechoslowakei zur Zeit des Sozialismus sagen, und dazu, wie sich dieser Status nach 1989 verändert hat? Courtesy die Künstler*innen AC: Die Vorstellungen und Forderungen von aktivistischen Rom*nja aus Griechenland, Serbien, Bulgarien, der Tsche- choslowakei, Rumänien, Polen und anderen Ländern wur- den zuerst in der UdSSR umgesetzt. Den bekannten Histori- ker*innen Elena Marušiaková und Veselin Popov zufolge hörte Josef Stalin diesen Aktivist*innen aufmerksam zu und realisierte auf der Grundlage ihrer Vorschläge zahlreiche Projekte. In der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik 26 27 wurde die Nationalität der Rom*nja nicht anerkannt. Das
Hauptargument lautete, dass die Rom*nja viele verschiedene Absolut alle wissen, was das Wort manuš bedeutet. Dialekte sprachen und verschiedene Gruppen bildeten, die Im Ausstellungstitel verweist das Wort auf ein universelle- sich feindlich gegenüberstanden. Dokumente des Politbü- res Denken und steht für das Bündnis aller Menschen, die ros beschreiben die Gefahren der Exklusion, die von die- historisch, sprachlich und kulturell ganz unterschiedlichen ser Selbstbestimmung ausgingen. Eine Emanzipation der Gruppen angehören. Rom*nja nach sowjetischem Vorbild wurde im Kontext der Tschechoslowakei als nicht durchführbar dargestellt. Manuš heißt Mensch ist auch der Titel eines Buchs des kom- munistischen Politikers und tschechoslowakischen Rom Der Rechtsanwalt und Aktivist Gustáv Karika erinnert in Vincent Danihel. Es enthält eine detaillierte Darstellung einem Interview an Anton Facuna, einen mittlerweile be- und Kritik der Regierungsmaßnahmen, die ergriffen wurden, kannten Rom*nja-Partisanen, der nach 1957 versuchte, in der um die Existenzbedingungen der Rom*nja in der sozialisti- Slowakei den Verband der Zigeuner-Roma (Svaz Cikánů- schen Tschechoslowakei zu verbessern. Romů / SCR) zu gründen. Nach zahlreichen Gesuchen an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei wurde dieser Der Welt-Roma-Kongress 1971 ist eines der bekanntesten Verband schließlich registriert, erhielt jedoch weder Räum- Ereignisse in der Geschichte der Rom*nja. Man einigte sich lichkeiten noch sonstige Unterstützung. Tatsächlich wurde bei diesem Kongress auf den gemeinsamen Ursprung der er erst Anfang 1969 auf Anweisung der UdSSR aktiv, nach An- Rom*nja, auf die Gestaltung ihrer Flagge, ihre Hymne und kunft der Truppen des Warschauer Pakts in der Tschecho- auf die ethnische Bezeichnung „Roma“. Das Rad auf der slowakei. Auf jeden Fall hat die Tschechoslowakei, trotz ihrer Flagge ist nicht nur ein Symbol des Nomadismus, sondern Versäumnisse, die notwendigen Voraussetzungen dafür ge- verweist auch auf Indien, den geografischen Ursprung der schaffen, dass die Rom*nja in Würde leben konnten. Rom*nja. Es heißt oft, dass bei diesem Kongress Vertre- ter*innen aus vierzehn Ländern zusammentrafen. In der In vielen Ostblock-Ländern, einschließlich der ehemaligen Fachliteratur finden sich allerdings Dokumente, die nur die Tschechoslowakei, war die Lage nach dem Mauerfall 1989 Anwesenheit von acht Vertreter*innen belegen, die – mit trostlos. Die meisten Rom*nja (aber auch Nicht-Rom*nja) ver- Ausnahme von Jugoslawien und der Tschechoslowakei – loren die Grundlagen für ein Leben in Würde, sie verloren aus Westeuropa kamen. Dieses Ereignis war und ist defi- annehmbare Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten. Unter solchen nitiv wichtig. Man sollte allerdings nicht übersehen, dass Bedingungen ist es leicht, ein System aufrechtzuerhalten, das einige Rom*nja die historische Interpretation des indischen auf ausgrenzenden Bildungseinrichtungen und ausgegrenz- Ursprungs nicht teilen und nicht unbedingt der nomadi- ten Orten beruht. Das Bildungsniveau der Armen sinkt stän- schen Lebensweise verpflichtet sind, und dass viele Länder dig, und das Ergebnis hiervon ist ein Teufelskreis, aus dem – darunter einige mit einem hohen Bevölkerungsanteil von die Leute immer schwerer herauskommen können. Rom*nja, wie etwa Russland, Ungarn und Rumänien – nicht auf dem Kongress vertreten waren. whw: Könntet ihr etwas zum Ausstellungstitel – Manuš heißt Mensch – sagen? Inwiefern lenkt er die Aufmerksamkeit auf die gro whw: Ihr habt in unseren Gesprächen mehrfach den Wunsch for ße Vielfalt der Romani-Dialekte? Es scheint, dass ihr damit auf eine muliert, zu einem Universalismus zurückzukehren, der auf dem komplexe politische Entscheidung hinweisen wollt: Im Rahmen Vorbild der sozialistischen Emanzipation beruht. Welches Zu des ersten Welt-Roma-Kongresses, der 1971 in Orpington bei Lon kunftspotenzial seht ihr in diesem universalistischen Modell? Wie don stattfand, einigte man sich auf „Roma“ als Kollektivnamen für lässt sich Universalität als ein sozialistisches Prinzip wieder in den eine Vielzahl unterschiedlicher Gruppen. Kunstdiskurs einführen? Wie kann man angesichts von Unterdrü ckung über Universalität sprechen? AC: Manuš ist in Sanskrit das Wort für „Mensch“. Alle Rom*nja, Sinti, Vlach-Rom*nja, Manouches, Romanichal, Kalé, Aschka- AC: Die sozialistische Universalität ist wichtig, weil sie ein li, Balkan-Ägypter*innen und so weiter kennen dieses Wort. 29 wirklich offenes Emanzipationsmodell darstellt, das allen
zugänglich ist. Es ist inklusiv und schließt niemand aus. Es mag naiv klingen, wenn Künstler*innen Überlegungen zum Potenzial verschiedener Emanzipationsmodelle anstellen. Stalin, mein Bruder: Die heutige Realität zeigt jedoch, dass bestimmte Befrei- Die Versunkenheit Sowjetische Literatur Die Geschichte der Kunst, in der Geschichte und ohne Geschichte ungsbewegungen, die auf Diversität beruhen, vom System der feste Boden eines Zuhauses und ohne Kunst leicht absorbiert werden können. Sie stellen keine Bedro- hung mehr dar, sondern dienen im Gegenteil dazu, das System weiter zu stärken und zu konsolidieren. Die sozialis- tische Universalität bietet ein ganz anderes, umfassenderes Bezugssystem. Sie beruht auf der Idee, dass sich zuerst und NG GA EIN vor allem das System ändern muss. Das erscheint derzeit al- lerdings kaum vorstellbar. Aber wir können uns nicht einfach damit abfinden, dass sich die Dinge niemals ändern werden. Und wir müssen gegen Unterdrückung kämpfen. Oder es we- nigstens versuchen. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! AUSGANG Lenin war Hat jemand über kein Rom die Emanzipation Die Geschichte der Kunst, der Rom*nja gesprochen? ohne Geschichte und ohne Kunst 30 31
Fragment einer Entwurfsskizze für die Chanov-Siedlung, Courtesy Archiv des Bauamts, 32 Rathaus von Most, Foto: Averklub Collective
Wer nicht Die Bilder und Artefakte in diesem Teil der Ausstellung kon- zentrieren sich auf die Darstellung von Arbeit in den letzten fünfzig Jahren. Sie veranschaulichen den Wandel der Inter- arbeitet, pretation des Arbeitsbegriffs und spiegeln wider, wie sich die Wahrnehmung der Arbeit auf eine arme und oft sehr ge- schlossene Gemeinschaft ausgewirkt hat. soll auch Die Losung Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen ist eine un- hinterfragte Selbstverständlichkeit geworden. Mit diesem Satz lässt sich Konsens herstellen, aber er wird auch als Mittel der Ausgrenzung verwendet. Seit dem Mittelalter ist er Teil nicht essen! einer moralischen Ermahnung gegen Trägheit und wird be- nutzt, um diejenigen, die kein tugendhaftes christliches Leben führen, als Sünder*innen zu brandmarken. Er geht auf den Zweiten Brief an die Thessalonicher zurück, als dessen Ver- fasser der Apostel Paulus oder ein späterer Nachahmer gilt. Obgleich dies manche überraschen mag, berief sich auch Wladimir Iljitsch Lenin auf diese Worte des heiligen Pau lus. Er zitierte sie 1918 während des russischen Bürgerkriegs in einem Brief an die Werktätigen von Petrograd. Lenins Brief, der den Titel „Über die Hungersnot“ trägt, drängt die, Ondřej Roubal, Porträt des Metallurgen Jan Oláh, 1970 , Courtesy der Künstler welche über ein politisches Bewusstsein verfügen, diejeni- gen, bei denen dies weniger der Fall ist, davon zu überzeu- gen, sich der Revolution anzuschließen. Inmitten des Bürger- kriegs stellte es eine Herausforderung dar, sich in einem noch unentschiedenen Konflikt auf die eine oder andere Seite zu schlagen. Lenin erläutert die Notwendigkeit, private Nah- rungsmittelspekulant*innen an ihrem Treiben zu hindern und zu vernichten, die Massen der Armen durch eine Herrschaft mit eiserner Faust zu vereinen und dabei zu helfen, Nah- rungsmittel und andere notwendige Ressourcen an all diejeni- gen umzuverteilen, die ihrer bedurften. Er schreibt, Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen sei das Hauptprinzip des Sozia- lismus. Und er fährt fort: „Auf dieser einfachen, elementaren und völlig offenkundigen Wahrheit beruht die Grundlage des Sozialismus, die unangreifbare Quelle seiner Kraft, das unzer- störbare Versprechen seines Endsiegs. Alle, die Armut erlebt haben, werden dem zustimmen, alle, die mit ihrer eigenen Arbeit ihren Lebensunterhalt verdient haben.“ Womit damals neun Zehntel der Arbeiter*innen, Bäuer*innen sowie der Werktätigen insgesamt gemeint waren. 34 35 So weit Lenins Meinung zur Frage des Hungers.
So wie die Losung des heiligen Paulus ein fester Bestandteil des Gesellschaftslebens wurde, ist das Ethos von Ehrliche Arbeit für ehrlichen Lohn zum Emblem der Moderne gewor- den. Die Art und Weise, wie dieser Satz interpretiert wird, hängt von den jeweiligen Interpret*innen ab. In der binären Welt des Kalten Krieges nahm Arbeit in den kommunisti- Junger Stoßarbeiter, Kreis Prešov und Košice, 1950er, schen Staaten unter dem Staatskapitalismus kultartige Qua- litäten an, während Arbeit in den kapitalistischen Staaten Courtesy Museum der Roma-Kultur, Brünn mit ihrer Propagierung des Privateigentums zu einem Aspekt der marktwirtschaftlichen Logik wurde. Man begriff Arbeit entweder als gemeinschaftliche Arbeit, an der sich alle betei- ligen mussten, oder einfach als eine logische Operation, die individuelle Vergnügungen und Belohnungen offerierte. Es war die Doktrin der ehemaligen Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik, sich aller Bürger*innen anzuneh- men und gewisse auf stereotype Weise marginalisierte Grup- pen innerhalb der Bevölkerung in den sozialistischen Staats- körper zu integrieren. Im Geist der Losung Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen wurde Arbeit zu etwas Verpflichtendem. Alle, die sich nicht an der Herstellung gemeinschaftlicher Güter beteiligten, galten als Parasiten. Die Rechtsnorm, die aus obligatorischer Beschäftigung abgeleitet wurde, sollte primär als ein Instrument im Umgang mit den untätigen Rei- chen und unproduktiven Spekulant*innen dienen. Der postkommunistische Neoliberalismus der 1990er baute Handgefertigte Spitzhacke, Medzev, Slowakei, Mitte bis auf diesem Ethos der Bekämpfung des Parasitentums auf und verband es mit einem negativen Bild des Sozialismus Courtesy Museum der Roma-Kultur, Brünn als eines Regimetyps, der Menschen, die es nicht verdienen, zu Profiteur*innen macht. Doch in Wirklichkeit zahlen die Armen die Zeche. Laut der im öffentlichen Diskurs vorherr- schenden Rhetorik wollen die Armen den Sozialismus, um nicht arbeiten zu müssen. Ende des 20. Jahrhunderts, Heute, nachdem der Wohlfahrtsstaat während der vergan- genen dreißig Jahre systematisch abgebaut wurde, ist die Losung Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen zum Ausdruck eines vulgären Sozialdarwinismus geworden. Im öffentli- chen Raum sind an die Stelle von Briefen, welche die Kol- lektivität preisen, Plakatwände und Fernsehclips getreten, auf und in denen rechte Konservative und faschistische Politiker*innen diese Losung als Teil einer Kampagne zur Spaltung der Gesellschaft benutzen. 36 37
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