APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg

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APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
APROPOS
                                     Nr. 128

Den VerkäuferInnen bleibt EUR 1,25
                                               2,E5ur0o

                                                          DIE SALZBURGER STRASSENZEITUNG

                                     Geben und Nehmen
                                     Salzburger Bettelposen Markus Grüner-Musil im Titelinterview
                                     Weltweit Wem gehört das Geld?                            MAI 2014
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
2   [INHALT]                                                                                                                                                                                              [EDITORIAL]         3
                                                                                          geben und nehmen                              Schreibwerkstatt

                       6
                                                                                 Thema:
Hinschauen tut                                                                                                                          Platz für Menschen und Themen, die sonst
nicht weh                                                                                   4   Schiefe Freundschaft                    nur am Rande wahrgenommen werden.                              editorial
Der künstlerische

                                                                                                                                                                                                      Geben und Nehmen
                                                                                                Soziale Zahlen
Leiter der ARGEkultur                                                                                                                   16     Sprachkurs
und „Salzburger Bettelposen“-                                                                   Cartoon
                                                                                                                                        17     Kurt
Initiator Markus Grüner-Musil                                                               6   Hinschauen tut nicht weh                       Luise
im Titelinterview über Bettler,                                                                 Markus Grüner-Musil im Apropos-
                                                                                                Titelinterview                          18     Georg und Evelyne
Sündenböcke und unbewusste                                                                                                                                                                             Liebe Leserinnen und Leser!
Bilder im Kopf.                                                                                                                         19     Ogi
                                                                                           10   Wenn man nehmen muss                           Chris Ritzer                                            Als Monatszeitung konzentrieren wir uns                  nicht, um uns gegen die Bettler abzugrenzen.
                                                                                                Auf fremde Hilfe angewiesen sein
                                                                                                                                        20     Andrea                                                  weitgehend auf zeitlose Schwerpunkt-Themen,              Eine Straßenzeitung zu verkaufen, ist eine wür-
                                                                                           11   Die Freude am Geben                                                                                    denn auf Aktualität können wir aufgrund unseres          dige Alternative zum Betteln. Wie sagt Hans
                                                                                                Warum Spenden glücklich macht                                                                          Erscheinungsrhythmus nicht bauen. Dennoch                Steininger, Apropos-Vertriebsleiter, so schön: „
                                      Fotoserie „Salzburger Bettelposen“                                                                Aktuell                                                        gelingt es uns manchmal, nah am Puls der Zeit zu         Nicht, weil wir etwas Besseres wären, aber Betteln
                                      Auf eine innovative und künstlerische Art            13   Wie fair ist ungeteilter Reichtum?                                                                     sein – wie mit dieser Mai-Ausgabe. „Salzburger           ist Sache der Bettler.“
                                                                                                                                        21     Leserbriefe
                                      und Weise die Aufmerksamkeit auf das The-                 Von „Geber-“ und „Nehmerländern“                                                                       Bettelposen“ heißt der Titel einer Ausstellung,
                                      ma Betteln zu lenken, das ist der Grundge-                                                        22     Autoren über Verkäufer                                  die sich virtuell durch das aktuelle Apropos zieht       Wer eine Straßenzeitung verkauft, nutzt seine
                                      danke hinter diesem außergewöhnlichen Fo-            14   Am Boden der Tatsachen                         Beate Dölling traf Verkäufer                            und die im Mai auch real in St. Virgil und in der        Chancen. Das bewies unlängst unser Verkäufer-
                                      toprojekt. Die Bilder von Fotograf Joachim                Die harte Realität von Berufsmusikern          Sergiu Burulea                                          ARGEkultur zu sehen sein wird. Im Titelinter-            Ehepaar Evelyne und Georg Aigner, das mit
                                      Bergauer sind vom 12. bis 14. Mai in St.                                                                                                                         view mit Bettelposen-Initiator Markus Grüner-            seinem Radiobeitrag „Der Leihopa“ den Radio-
                                                                                                                                        24     Kultur-Tipps
                                      Virgil ausgestellt und ziehen sich außerdem                                                                                                                      Musil zeigt sich deutlich, wie stark jeden von uns       preis der Stadt Salzburg zum Thema „Vielfalt“ ge-
                                                                                                                                               Was ist los im Mai
                                      durch diese Apropos-Ausgabe.                                                                                                                                     die sichtbare Armut anderer Menschen betrifft            meinsam mit zwei weiteren Projekten gewonnen
                                                                                                                                        25     Gehört & gelesen                                        und wie sehr wir von unserer inneren Brille im           hat und dafür vom Bürgermeister ausgezeichnet
                                                                                                                                               Buch- und CD-Tipps zum Nachhören                        Umgang mit ihnen geprägt sind (S. 5–9).                  wurde (S. 18 und 31). Wir gratulieren herzlich!
                                                                                                                                               und Nachlesen

                                           10
                                                           Wenn man nehmen muss                                                         26     Kolumne: Robert Buggler                                 Derzeit beschäftigt das Bettler-Thema zahlreiche         Herzlichst, Ihre
                                                           Ein Pflegefall auf Lebenszeit: Wie                                                                                                          Medien, Politik, NGOs und einen Teil der
                                                           ist es, permanent auf Hilfe ange-                                                   Leserbriefe                                             Salzburger Bevölkerung. Neben der vom Frie-
                                                           wiesen zu sein?                                                                                                                             densbüro Salzburg initiierten Tagung „Betteln.
                                                                                                                                        Vermischt                                                      Eine Herausforderung“ gibt es im Mai nun auch

                                           11
                                                                                                                                                                                                       einen runden Tisch der Stadtpolitik.
                                                           Die Freude am Geben                                                          27     Straßenzeitungen weltweit                                                                                                                     Michaela Gründler
                                                           Warum Teilen das eigene
                                                                                                                                        28     Apropos Kreuzworträtsel                                 An dieser Stelle möchte ich auf ein Missver-                                                Chefredakteurin
                                                           Glück verdoppeln kann und                                                                                                                                                                                               michaela.gruendler@apropos.or.at
                                                                                                                                                                                                       ständnis aufmerksam machen: Einigen von Ihnen
                                                           wofür Österreicher spenden.                                                  29     Apropos intern                                          sind die neuen, neongelben Sicherheitswesten
                                                                                                                                        30     Kolumne: Das erste Mal                                  des Apropos-Verkaufsteams aufgefallen. Wir

                                           13
                                                           Wie fair ist ungeteilter                                                            Von Bernhard Rosenkranz                                 setzen diese ein, um unsere Verkäuferinnen
                                                                                                                                                                                                       und Verkäufer im Umfeld von mittlerweile vier
                                                           Reichtum?                                                                    31     Neues vom Team

                                                                                                22
                                                                                                                                                                                                       Straßenzeitungen in Salzburg (Apropos, Global
                                                           Wo „nehmen“ aufhört und                           Interview                                                                                 Player, We the people, Mo) stärker sichtbar zu
                                                           „ausbeuten“ beginnt.                             In unserer Serie
                                                                                                                                                                                                       machen und es Ihnen zu erleichtern, schneller
                                                                                                            „Schriftsteller trifft
                                                                                                                                                                                                       Ihren Apropos-Verkäufer zu erkennen – aber
                                                                                                Verkäufer“ schreibt Autorin
                                                                                                Beate Dölling über Apropos-
                                                                                                Verkäufer Sergiu Burulea.

                                                                                                                                        Grundlegende Richtung
                                                                                                                                        Apropos ist ein parteiunabhängiges, sozi-      Die Charta, die 1995 in London un-
                                                                                                                                        ales Zeitungsprojekt und hilft seit 1997       terzeichnet wurde, legt fest, dass die

                                                                                                                                 27
                                                                                                                                                                                       Straßenzeitungen alle Gewinne zur
                                                                                                                                                                                       ­
                                                                                                      Straßenzeitungen                  Menschen in sozialen Schwierigkeiten,
                                                                                                                                        sich selbst zu helfen. Die Straßenzeitung      Unterstützung ihrer ­Verkäuferinnen und
                                                                                                      weltweit                          wird von professionellen JournalistInnen       Verkäufer verwenden.
                                                                                                      Unsere Serie: Neues aus           gemacht und von Männern und Frauen             Im März 2009 erhielt Apropos den
                                                                                                                                        verkauft, die obdachlos, wohnungslos und/      René-Marcic-Preis für herausragende
                                                                                                      der Straßenzeitungswelt.          oder langzeitarbeitslos sind.                  journalistische Leistungen, 2011 den
                                                                                                                                        In der Rubrik „Schreibwerkstatt“ haben sie     Salzburger Volkskulturpreis & 2012 die
                                                                                                                                        die Möglichkeit, ihre Erfahrungen und An-      Sozialmarie für das Buch „Denk ich an
                                                                                                                                        liegen eigenständig zu artikulieren. Apropos   Heimat“ sowie 2013 den internationalen
                                                                                                                                        erscheint monatlich. Die VerkäuferInnen        Straßenzeitungs-Award in der Kategorie
                                                                                                                                        kaufen die Zeitung im Vorfeld um 1,25          „Weltbester Verkäufer-Beitrag“ für das
                                                                                                                                        Euro ein und verkaufen sie um 2,50 Euro.       Buch „So viele Wege“.
                                                                                                                                        Apropos ist dem „Internationalen Netz der
                                                                                                                                        Straßenzeitungen” (INSP) angeschlossen.

                                              APROPOS · Nr. 128 · Mai 2014                                                                                                                                                       APROPOS · Nr. 128 · Mai 2014
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
4      [GEBEN UND NEHMEN]                                                                                                                                                            [GEBEN UND NEHMEN]               5

                                                                                                               Stimmt die Balance?
                                                                                                                                                                    INFO
                                                                                                               Schiefe                                              Fotoserie:
                                                                                                                                                                    „Salzburger Bettelposen“

                                                                                                               Freundschaft                                         Ausstellung Die Ausstellung
                                                                                                                                                                    „Salzburger Bettelposen“ wird
                                                                                                                                                                    erstmals im Rahmen der Tagung
                                                                                                               von Katrin Schmoll
                                                                                                                                                                    „Betteln. Eine Herausforde-

                                                                                                               W
                                                                                                                                                                    rung“ vom 12. bis 14. Mai in
                                                                                                                         ahre Freunde – so meinen viele – kann      St. Virgil gezeigt und zu einem
                                                                                                                         man mitten in der Nacht anrufen und        späteren Zeitpunkt im Foyer der
                                                                                                               sie stehen ein paar Minuten später, ohne mit der     ARGEkultur und an der Uni-
                                                                                                               Wimper zu zucken, auf der Matte. Eine schöne         versität Salzburg. Als virtuelle
                                                                                                               Vorstellung, so jemanden an seiner Seite zu haben.   Ausstellung zieht sie sich in
                                                                                                               Doch was, wenn man selbst immer derjenige ist,       dieser Apropos-Ausgabe über
                                                                                                                                                                    den gesamten Schwerpunkt.
                                                                                                               der den anderen nachts irgendwo in der Einöde
                                                                                                                                                                        www.virgil.at/betteln
                                                                                                               abholt, auch beim dritten Umzug innerhalb eines
                                                                                                               Jahres noch tatkräftig mithilft und bereitwillig     Fotograf Joachim Bergauer
                                                                                                               die Miete vorstreckt, wenn es am Ende des Mo-        zu den Bettelposen
                                                                                                               nats knapp wird, selbst aber nichts dergleichen      „‚Die Salzburger Bettelposen‘
                                                                                                               erwarten kann?                                       sind Bilder vom schönen Bet-
                                                                                                                  Wie in jeder Beziehung ist auch in Freundschaf-   teln. Als Betrachter werde ich
                                                                                                                                                                    mit Menschen konfrontiert, die
                                                                                                               ten die richtige Balance zwischen Geben und Neh-
                                                                                                                                                                    anmutig sind, keine körperliche
                                                                                                               men wichtig. Dabei geht es nicht um akribisches      Gebrechen haben und wie aus
                                                                                                               Auflisten von „Wer hat was wann für wen getan?“,     der Werbung wirken. Das geht
 Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“
                                                                                                               sondern um Wertschätzung und um das dumpfe,          nicht konform mit der Realität
                                                                                                               aber deutliche Gefühl in der Magengegend, wenn       von Bettlern, denen es nicht
                                                                                                               diese ausbleibt. „Schiefe“ Freundschaften können     gut geht. Sobald diese Irritation
                                                                                                               auf Dauer nur funktionieren, wenn derjenige, der     ausgelöst wird, funktioniert der
                                                                                                                                                                    Mechanismus, weil man sich
                                                                                                               mehr gibt, das Ungleichgewicht ohne zu murren
             Soziale Zahlen im Monat Mai                                                                                                                            fragt: ‚Was steckt dahinter?‘ So
                                                                                                               hinnimmt. Wer das nicht will, hat keine andere
                                                                                                                                                                    lassen sich im besten Fall Wahr-
    Verdienen & Sparen                                                                                         Wahl, als es offen anzusprechen. Vielleicht ist
                                                                                                               sich der andere gar nicht bewusst, dass er viel
                                                                                                                                                                    nehmungen verändern.“
                                                                                                                                                                    Joachim Bergauer ist spezia-
                                                                                                               weniger gibt, als er nimmt. Falls doch, sollte man   lisiert auf Image-, Werbe- und
            29.723 € verdienen die Österreicher im
                          Jahresschnitt (2012)                                                                 sich ernsthaft überlegen, ob man hier in eine        Kunstfotografie und Inhaber
                                                                                                               Freundschaft oder in das Ego einer einzelnen         einer Werbeagentur. Er wird
            181 € sparen Österreicher im Monat                    22.512 €/Jahr         36.193 €/Jahr                                                               von Magazinen wie der New
                                                                                                               Person investiert.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
6      [GEBEN UND NEHMEN]                                                                     NAME Markus Grüner-Musil                                                                                                      [GEBEN UND NEHMEN]               7

                                                                                                                                STECKBRIEF
                                                                                                       Foto: Joachim Bergauer
                                                                                                                                             ARBEITET als künstlerischer
                                                                                                                                             Leiter der ARGEkultur

                                                                                                                                                                                Foto: Joachim Bergauer
                                                                                                                                             GIBT, wenn es gebraucht wird
                                                                                                                                             NIMMT gerne Verantwortung,

                                                                                                                                                                                                                                                                                             Es ist das Gefühl,
              Titelinterview                                                                                                                 wenn es der Sache hilft
              Salzburger Bettelposen                                                                                                         BETTELT bislang noch nicht,
                                                                                                                                             ist noch nicht in so große Not
                                                                                                                                             gekommen
                                                                                                                                                                                                                                                                                           in seiner heilen Welt
             Hinschauen
                                                                                                                                             UNTERSTÜTZT die Idee einer
                                                                                                                                             Gesellschaft, die die Freiheit
                                                                                                                                             des Einzelnen, gleiches Recht
                                                                                                                                             für alle und Solidarität verein-
                                                                                                                                                                                                                                                                                          von etwas Hässlichem
             tut Nicht weh                                                                                                                                                                                                                                                                  gestört zu werden.“
                                                                                                                                             baren kann. Also wahrschein-
                                                                                                                                             lich eine Utopie

              Wenn es um Bettler geht, hat jeder Mensch sofort ein Gefühl dazu. Meist
              kein angenehmes. Denn sie erinnern uns daran, dass es uns besser geht                                                                                                                                                                                                        geographischen Mittelpunkt. Wir haben kein Meer
              als ihnen. Das Fotoprojekt „Salzburger Bettelposen“ will auf ästhetische                                                                                                                                                                                                     rundherum, nur lauter nette, wirtschaftlich florierende
              Weise auf unbewusste Bilder im Kopf aufmerksam machen und im Idealfall                                                                                                                                                                                                       Staaten – und dann wirkt unsere Reaktion gegenüber
              die Wahrnehmung ver-rücken. Markus Grüner-Musil, künstlerischer Leiter                                                                                                                                                                                                       Bettlern kleinlich, überzogen und unverhältnismäßig.
              der ARGEkultur und Bettelposen-Initiator, erzählt im Apropos-Interview von                                                                                                                                                                                                   Schließlich geben wir diesem Staat unter anderem auch
              sichtbaren und unsichtbaren Bittstellern, kriminellen Bankern und willkom-                                                                                                                                                                                                   Geld, um Probleme und soziale Ungerechtigkeiten so
              menen Sündenböcken.                                                                                                                                                                                                                                                          weit wie möglich auszugleichen. Warum muss es also
                                                                                                                                                                                                                                                                                           Menschen geben, die von neun Uhr morgens bis sechs
              Titelinterview mit Markus Grüner-Musil                                                                                                                                                                                                                                       Uhr abends am Makartsteg sitzen? In Wirklichkeit stört
              von Chefredakteurin Michaela Gründler                                                                                                                                                                                                                                        mich nicht die Tatsache, dass das Stadtbild durch arme
                                                                                                                                                                                                                                                                                           Menschen beeinträchtigt wird, in Wirklichkeit stört
Was bedeutet für Sie Betteln?                                                      jektes „Salzburger Bettelposen“ der ARGEkultur, des Friedensbüros                                                                                                                                       mich die Tatsache, dass es noch immer Menschen gibt,
             Markus Grüner-Musil: Zu erbitten, was man nicht hat                   Salzburgs, des Fotografen Joachim Bergauer und der Straßenzeitung                                                                                                                                       die das machen müssen. Durch das Betteln wird dieses
             und was man braucht.                                                  Apropos – und polarisiert bereits im Internet. Die Wortmeldungen                                                                                                                                        Missverhältnis in einer Weise sichtbar, die vielleicht un-
                                                                                   gehen von „Ist das euer Ernst“ über „grandios“ bis hin zu „Seid ihr                                                                                                                                     angenehm ist – das wollen viele Leute nicht sehen.
Haben Sie schon jemals gebettelt?                                                  durchgedreht?“. Ist Provokation Teil des Konzepts?
             Nicht im klassischen Sinne, also nicht aus Not. Ich habe                            Markus Grüner-Musil: Für mich ist es keine Provo-                                                                                                                             Warum lassen uns Menschen, die betteln, nicht kalt?
             mich früher einmal aus einem Freiheitsgefühl heraus mit                             kation, aber offensichtlich für einige Menschen. Wenn                                                                                                                                Markus Grüner-Musil: In der Kunstgeschichte
             Straßenmusik und Akrobatik im öffentlichen Raum aus-                                ein Trachtenpärchen bettelt oder jemand, der im Anzug                                                                                                                                taucht die Bettlerfigur ganz oft auf und hat irgendet-
                                                                                                                                                                                                Markus Grüner-Musil hatte die Idee zur
             probiert. Allerdings nicht in Salzburg, sondern im Urlaub                           oder im Abendkleid ist, eine Bettelgeste einnimmt, ist das                                     Fotoserie „Salzburger Bettelposen“                                                    was Unschuldiges an sich: Da ist jemand, dem aus
             am Meer. In Salzburg fällt es stärker auf, wenn Menschen,                           einfach befremdlich in der Rolle. Es war erstaunlich, dass                                                                                                                           Ungerechtigkeit irgendein Unglück zugestoßen ist und
             die anders sind, im öffentlichen Raum sichtbar werden,                              während des Fotoshootings kaum Provokation spürbar                                                                                                                                   der dementsprechend weniger überlebensfähig in der
             weil es durch seine stimmige, architektonische Fassade ein                          war, im Gegenteil. Dort, wo wir die Models in Kostüme                                                                                                                                Gesellschaft ist als andere. Was den Menschen da tra-
             starkes, inneres System bildet. Unlängst stand in einem                             wie Dirndl, Abendkleid oder Anzug gesteckt haben,                                                                                                                                    ditionell für ein Gefühl entgegenkommt, ist: „Ha, hab
             Leserbrief, Bettler würden das Stadtbild zerstören und die                          ernteten wir vielfach ein freundliches Lächeln im Sinne                                                       dass dies ein europäisches Thema und ein europäisches                  ich Glück gehabt, Gott sei Dank bin das nicht ich, der
             touristische Attraktivität Salzburgs mindern. Da ist in mir                         von „Mei, sind die fesch!“. Die Touristen haben bei dem                                                       Problem ist. Dementsprechend wird auch nur eine                        da unten sitzt!“ Es ist das Gefühl, dass das Leben etwas
             ein starkes Bedürfnis entstanden, eine künstlerische Akti-                          Trachtenpärchen-Shooting im Mirabellgarten sogar ihre                                                         europäische Behandlung sinnvoll sein. In gewissen Are-                 Schicksalhaftes hat und ich im Gegensatz zum Bettler
             on gegen eine solche Wahrnehmung zu machen.                                         Handys gezückt, um Fotos von uns zu machen. In dem                                                            alen einer Kleinstadt das Betteln zu verbieten, verlagert              auf die Butterseite geflogen bin. Das löst bei vielen ein
                                                                                                 Moment, wo die kostümierten Rollen eindeutig sind,                                                            ja nur das Problem in andere Orte innerhalb der Stadt.                 unangenehmes Gefühl aus, weil es einfach zeigt: Das
War das der Moment, in dem Ihnen die Idee zu den „Salzburger Bet-                                transformiert sich die Wahrnehmung komplett.                                                                  Das ist ja eine reine ästhetische, kosmetische Maßnah-                 Leben ist ungerecht. Und es kommt noch die Ebene der
telposen“ gekommen ist?                                                                                                                                                                                        me und keine gesellschaftspolitische.                                  Verdrängung hinzu, die sich in Arroganz äußert: „Ich
              Markus Grüner-Musil: Nein. Ich hatte schon länger die                Also kein Lustigmachen über Menschen, denen es ohnedies schon                                                                                                                                      will einen schönen Tag verbringen, nett in der Stadt he-
              Idee, dieses Um-etwas-bitten-zu-müssen im öffentlichen               schlecht geht?                                                                               Sie sehen Betteln sehr politisch ...                                                                  rumspazieren, warum muss ich diese armen Menschen
              Raum künstlerisch zu thematisieren. Bei den „Salzburger                            Markus Grüner-Musil: In dem Projekt wollen wir uns in                                        Markus Grüner-Musil: Viele Länder profitieren von                                       sehen, die mir ihre Hände entgegenstrecken?“ Es ist
              Bettelposen“ geht es mir vor allem um die Frage: „Wie                              keinster Weise über Menschen lustig machen, die den Tag                                      den Wirtschaftsstrukturen in Osteuropa, auch wir:                                       das Gefühl, in meiner heilen Welt gestört zu sein von
              werden Menschen, die betteln, wahrgenommen und                                     auf der Straße verbringen müssen. Ganz im Gegenteil:                                         Neue Absatzmärkte, billige Produktionsstandorte ...                                     etwas, das hässlich ist. Dieses Schön und Hässlich war
              welche Möglichkeiten gibt es, diese Perspektiven zu ver-                           Uns geht es nicht darum, bettelnde Menschen zu kari-                                         Dann muss man aber auch akzeptieren, dass aufgrund                                      auch eines der Motive im Fotoprojekt, mit dem Stereo-
              rücken?“ Mir geht es bei dem Projekt darum, andere be-                             kieren, sondern Wahrnehmungsfragen zu thematisieren.                                         der sozialen Ungerechtigkeit und der Armut Menschen                                     typ zu spielen: Was, wenn die Menschen, die betteln,
              wusstseinsbildende Perspektiven auf das Thema Betteln zu                           In Salzburg wird ja gar nicht darüber diskutiert, welche                                     auch bis an unsere Grenzen kommen. Die Einwohner                                        nicht alt und hässlich sind, sondern jung und schön?
              bekommen, die eigenen Stereotype und Verhaltensmus-                                Geschichten hinter den Menschen stehen. In Wirklichkeit                                      von Lampedusa oder von Sizilien würden uns wahr-                                        Wie verändert sich die Einstellung zu dem, was ich da
              ter zu hinterfragen, die Verhältnismäßigkeiten zu ande-                            hat das Thema aktuell sehr viel mit Ausländerfeindlichkeit                                   scheinlich mit einem entspannten Lächeln entgegentre-                                   sehe? Vielleicht ist es dann nicht mehr das Optische,
              ren Dingen aufzuzeigen und auch um die heuchlerische                               zu tun. Da werden Menschen am Rande der Gesellschaft                                         ten, wenn sie bei uns über den Makartsteg gehen und                                     das mich stört, weil das ja sehr hübsche und ansehnliche
              Dualität einer Wohlstandsgesellschaft, die Armut nicht                             für Dinge, die schieflaufen, als Sündenböcke verantwort-                                     die Bettler sehen. Die würden sagen: „Hier bei euch ist                                 Menschen sind, sondern dann ist es nur mehr die Ges-
              ertragen kann. Es gibt wenig gelebte Kultur, solidarisch zu                        lich gemacht. In Salzburg hat sich diese Diskussion im                                       es ja nett. Wir hatten unlängst soundso viel Leichen                                    te. Und die spannende Frage dabei ist dann eigentlich:
              reagieren.                                                                         letzten Wahlkampf nochmals zugespitzt, wodurch vielfach                                      in unserem Gemeindehaus aufgebahrt.“ Die haben das                                      Stört mich die Geste oder stört mich die Tatsache, dass
                                                                                                 das Gefühl entstanden ist, es wäre eines der großen                                          Problem, dass sie direkt an der europäischen Grenze                                     mich jemand um etwas bittet, den ich nicht sehen will,
Eine junge, schöne Frau im Ballkleid steht barfuß vor dem Salzburger                             Probleme der Stadt. Wenn man jedoch in Freiburg oder                                         sind – und spüren das globale Problem deutlich.                                         weil er mich an so viel Verdrängtes erinnert? >>
Dom und hält ihre Hand auf. Das Bild ist Teil des Gemeinschaftspro-                              in Stuttgart in der Fußgängerzone ist, sieht man deutlich,                                   Wir hingegen sind halt zufälligerweise irgendwo im

                                                               APROPOS · Nr. 128 · Mai 2014                                                                                                                                                                                  APROPOS · Nr. 128 · Mai 2014
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
8   [GEBEN UND NEHMEN]                                                                                                                                                                  [GEBEN UND NEHMEN]                      9
                                                                       Was haben Sie in der Vorbereitung zu den „Bettelposen“ festgestellt?                          Sonst geht sich das gemeinsame Zusammenleben nicht aus. Von dem her ist
                                                                       Markus Grüner-Musil: Wer bettelt, exponiert sich körperlich. Als                              diese Arroganz, dass man dem Bittsteller, der da auf der Straße sitzt, manch-
                                                                       Bettler hat man nur kurz Zeit, um Passanten zu motivieren, einem Geld                         mal eine solche Verachtung entgegenschleudert, einfach nur daneben.
                                                                       zu geben. Wir haben im Vorfeld des Projektes beobachtet, welcher Bettler
                                                                       an welchen Positionen ist und wie die Passanten reagieren: Wer sucht den        Wer kein Geld hat, ist weniger wert ...
                                                                       Blickkontakt, wer geht schweigend vorbei, wer senkt den Blick nach un-                       Markus Grüner-Musil: Es gibt zahllose Menschen, die in
                                                                       ten oder macht einen großen Bogen um ihn herum? Manche Bettler sind                          unserer Gesellschaft unsichtbare Bittsteller sind: Menschen,
                                                                       immer an der gleichen Position und versuchen durch ihre Beständigkeit                        die arbeitslos sind, Menschen, die dringend eine Wohnung
                                                                       eine Art Vertrauen herzustellen. Sie versuchen ganz normal, mit unter-                       suchen, sich diese bei den derzeitigen Wohnungspreisen aber
                                                                       schiedlichsten Strategien, das kurze Zeitfenster von 15 Sekunden, die der                    nicht leisten können – sie alle genießen weniger gesellschaft-
                                                                       Passant braucht, um an ihm vorbeizugehen, zu nutzen, dass er ihm Geld                        liche Anerkennung und befinden sich auf einmal in einer
                                                                       gibt. Das ist nicht viel Zeit.                                                               Bittstellerhaltung bei öffentlichen Ämtern oder bei Immobi-
                                                                                                                                                                    lienmaklern. Diese Bittstellerposition kommt in der Gesell-
                                                                       Wie ist es den jungen Models ergangen?                                                       schaft viel öfter vor, von der zwischenmenschlichen Ebene
                                                                       Markus Grüner-Musil: In den Kostümen gut, da ernteten sie vielfach                           des Bittens gar nicht zu sprechen. Ich sehe das sehr kritisch,
                                                                       bewundernde Blicke. Sehr unangenehm war für sie, in Alltagkleidung auf                       dass man bei diesen essentiellen Dingen des Lebens und des
                                                                       der Straße zu knien und die verächtlichen Blicke zu spüren. Zudem waren                      Überlebens in einer Bittstellerposition ist, das hat auch etwas
                                                                       einige Posen von der Körperhaltung her sehr anstrengend. Diese Kombi-                        Demütigendes.
                                                                       nation von körperlicher Anstrengung und dem Aushalten von Verachtung
                                                                       war für sie nicht immer einfach zu ertragen.                                    Wann geben Sie Geld?
                                                                                                                                                                   Markus Grüner-Musil: Ich erlebe es nicht so, dass ich auf-
                                                                       Was ist in der Serie Ihr Lieblingsbild?                                                     grund der Tatsache, dass da jemand sitzt, automatisch Geld
                                                                       Markus Grüner-Musil: Der traurige Bankier. Der geläuterte Uli Hoeness.                      geben muss. Das ist eine freie Entscheidung, die ich eigent-
                                                                                                                                                                   lich sehr unreflektiert treffe. Manchmal gebe ich Geld, reflex-
                                                                       Warum?                                                                                      haft, ohne Routine oder ohne Schema. Für mich ist es dabei
                                                                       Markus Grüner-Musil: Wenn mich jemand fragt, was für mich organi-                           völlig egal, ob es sich dann um einen Straßenmusikanten oder
                                                                       sierte Kriminalität ist, dann denke ich nicht an das derzeit so gerne ver-                  einen Bettler handelt. Ich versuche, immer wertschätzend zu
                                                                       wendete mediale Konstrukt „Bettelmafia“, sondern an Bankenstrukturen.                       sein und dieses peinliche Wegschauen zu verhindern. Denn
                                                                       Ein organisierter Krimineller ist für mich ein Manager von Nestlé oder                      wenn ich mich schon entscheide, ihm nichts zu geben, dann
                                                                       ein Bankenvorstand und nicht der rumänische Bettler, der 4,50 Euro pro                      muss ich ihm auch dabei in die Augen schauen können. Das
                                                                       Tag einnimmt. Denn: Wie viel Schaden haben die Bettler real in der Ge-                      ist zwar unangenehm, aber das muss ich aushalten.
                                                                       sellschaft angerichtet und wie viel Schaden die Banker der Hypo? Daher
                                                                       gefiel mir die Idee gut, bei den Salzburger Bettelposen einen Bankier zu        Wann sind die Salzburger Bettelposen für Sie erfolgreich?
                                                                       inszenieren, der vor lauter Gier nach Dienstschluss betteln geht nach dem                    Markus Grüner-Musil: Der Begriff Erfolg ist in dem
                                                                       Motto: „Toll, bis 17 Uhr habe ich schon ordentlich viel Geld verdient,                       Zusammenhang sehr schwierig. Für mich gelten die Kate-
                                                                       aber ich lechze nach jedem Euro mehr. Ich habe noch nicht genug.“ Noch                       gorien von sinnvoll bis notwendig. Bei diesem Fotoprojekt
                                                                       mehr spricht mich allerdings gefühlsmäßig der gut angezogene Banker                          geht es um die Frage: Welche emotionale Kraft hat ein Bild?
                                                                       mit dem traurigen Blick an, weil dieser eine weitere Tragik enthält. In                      Welches Thema zeigt sich in einer überspitzten, eindeu-
                                                                       Japan ziehen sich Obdachlose, die in Kartonhäusern leben, täglich den                        tigen Form? Ein Erfolg wäre es nur dann, wenn es ein solch
                                                                       Anzug an, um ihre Armut zu verdecken.                                                        gerechtes System geben würde, dass es keine Bettler gäbe.
                                                                                                                                                                    Für uns in der ARGEkultur ist Kunst und Kultur kein
Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“                                 Was macht einen Menschen zum Bittsteller?                                                    Selbstzweck, sondern stellt einen Teil des gesellschaftlichen          Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“
                                                                       Markus Grüner-Musil: Not und Unglück – und daraus resultierend                               Mehrwertes dar. Wir müssen uns immer überlegen: Löst das,
                                                                       ein wenig ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Es ist nicht leicht, eine Bitt-                     was wir tun, Emotionen oder einen Diskurs aus?
                                                                       stellerposition auszuhalten. Man ist als Bettler sehr exponiert, weil man
                                                                       öffentlich und sichtbar im öffentlichen Raum ist. Ich wünsche mir, dass         Sie haben eine viereinhalbjährige Tochter. Was möchten Sie ihr im Umgang mit Bettlern
                                                                       die Menschen durch ihre gekrümmten, unterwürfigen Bettel-Positionen             und Bettlerinnen vermitteln?
                                                                       ihren Stolz nicht verlieren. Sie sind ohnedies schon Menschen zweiter                         Markus Grüner-Musil: Kinder gehen allgemein anders mit Bettlern um
                                                                       Klasse, weil sei betteln. Aber: Kein Mensch kommt als Bettler auf die                         als Erwachsene und haben einen freundlichen und offenen Blick auf diese.
                                                                       Welt, sondern er wird zum Bettler.                                                            Es sind dann die Eltern, die sagen: „Komm, gehen wir weiter!“ Auch meine

                                                                                                                                                                                                                                                                                                                            Foto: Joachim Bergauer
                                                                                                                                                                     Tochter hat mich auf Bettler angesprochen und mich gefragt, warum der da
                                                                       Und umgekehrt? Wann wird ein Bittsteller wieder zum Menschen auf                              sitzt und bettelt. Kinder sehen einfach nur den Menschen, der unglücklich
                                                                       Augenhöhe?                                                                                    dreinschaut, dem es offensichtlich nicht gut geht, und denken nicht so wie
                                                                       Markus Grüner-Musil: Nur weil ich ein Bittsteller bin, bin ich dennoch                        wir an einen sozialpolitischen Kontext. Ich möchte ihr vermitteln, dass es
                                                                       ein vollwertiger Mensch! Was wir mit der Fotoserie thematisieren, ist ma-                     Ausdrucksform einer sozialen Haltung ist, sich mit der Notlage von ande-
                                                                       terielles Bittstellertum, das ja nur ein Aspekt des Bittens ist. Es gibt noch                 ren auseinanderzusetzen und auch Geld zu geben. Schwierig wird es für uns
                                                                       viele andere Dinge, um die man bittet. Jeder Mensch ist sehr regelmäßig                       Erwachsene, wenn Kinder noch eine andere Dimension ins Spiel bringen,
                                                                       und sehr oft Bittsteller – man wäre im Leben, in seinem Freundes- und                         nämlich: „Ja, wenn es dem schlecht geht, dann nehmen wir ihn doch mit nach
                                                                       Familienkreis, in der Arbeit nicht lebensfähig, wenn man nicht in der                         Hause!“ Da zu erklären, warum man den nicht an der Hand packt und sagt:
                                                                                                                                                                                                                                                                         Chefredakteurin Michaela Gründler traf den Initiator
                                                                       Lage wäre, seine Bitten zu formulieren und umgekehrt die Bitten seiner                        „Komm, du wohnst die nächsten drei Wochen bei uns“, ist schwierig. Die                              der Salzburger Bettelposen zum Gespräch.
                                                                       Umwelt wahrzunehmen und darauf auch einzugehen. >>                                            Frage ist aber grundsätzlich ganz richtig.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
10      [GEBEN UND NEHMEN]
                                                                                                                                               AUTORIN Eva Helfrich
                                                                                                                                                                                                                                                            [GEBEN UND NEHMEN]                11

                                                                                                Foto: Privat

                                                                                                                                  STECKBRIEF
                                                                                                                                               IST freie Redakteurin
                                                                                                                                               lebt nach dem Motto „Wer
                                                                                                                                               loslässt, hat beide Hände frei“
                                                                                                                                               Nimmt gern gute Ratschläge
                                                                                                                                               von Freunden an
                                                                                                                                               Gibt zweite, dritte und vierte
                                                                                                                                               Chancen – niemand ist perfekt

                                                                                                               Pflegebedürftig

                                                                                                               Wenn man
                                                                                                               nehmen muss
                                                                                                                                                                                 Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“

                                                                                                               Jeder Mensch kommt als Pflegefall auf die
                                                                                                               Welt. Zu Beginn unseres Lebens sind wir alle
                                                                                                               bedürftig, schwach und auf die Fürsorge
                                                                                                               anderer angewiesen. Bei manchen entschei-                                                           Wofür und warum spenden wir?
                                                                                                               det das Schicksal, dass es ein Leben lang so

                                                                                                                                                                                                                  Die Freude am Geben
                                                                                                               bleibt, und für viele ist es die größte Angst,
 Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“                                                                        dass es uns nach dem Windelalter noch
                                                                                                               einmal so ergeht.

                                                                                                               von Eva Helfrich                                                                                                             „Jeder ist sich selbst der Nächste“, besagt eine bekannte Redensart. Wie aber ist
                                                                                                                                                                                                                                            es zu erklären, dass jedes Jahr Millionen Euros an Spenden an diverse Hilfsorga-

L    eon und Jacob lassen sich im Kinderbecken im
     Salzburger Paracelsus-Bad treiben. Zwischen
den prall gefüllten Schwimmflügeln lugen zwei
                                                       er oft Rücksicht nehmen und seine Bedürfnisse
                                                       zurückstellen. „Das geht leider nicht anders, weil
                                                       unser Tagesablauf sich nach Therapien, Arztbe-
                                                                                                                           sich Krankheiten einstellen. „Dass etwas nicht
                                                                                                                           stimmt, haben meine Schwester und ich bemerkt,
                                                                                                                           als unsere Mutter immer aggressiver wurde“,
                                                                                                                                                                                                                                            nisationen fließen, dass alleinerziehende Mütter Kuverts mit anonymen Geld-
                                                                                                                                                                                                                                            spenden im Postkasten finden und Menschen unentgeltlich arbeiten, um anderen
                                                                                                                                                                                                                                            zu helfen?
vergnügte Gesichter hervor, die fast ident aussehen.   suchen und regelmäßigen Mahlzeiten richtet“,                        erzählt Isabella. „Sie beschimpfte uns, sobald wir
Im Wasser kann man die sechsjährigen Zwillinge         erklärt Franziska und schaut ihren gesunden Sohn                    ihr im Haushalt zur Hand gehen wollten.“ Was                                               von Katrin Schmoll
kaum auseinanderhalten. Sobald sie das Becken          entschuldigend an. Wie es ihm damit geht, dass                      Isabella ahnt, wird durch eine Untersuchung
verlassen, trifft die Realität den gravierenden
Unterschied: Jacob hat eine Behinderung. Weil
er 35 Minuten später auf die Welt kam als sein
                                                       sich Mama und Papa so stark auf seinen Bruder
                                                       konzentrieren? „Naja, der Jacob kann halt nicht viel
                                                       alleine machen“, zeigt sich Leon einsichtig. „Wir
                                                                                                                           Gewissheit: Ihre Mutter leidet an Demenz. Dem
                                                                                                                           ambulanten Pflegedienst, den ihre Töchter orga-
                                                                                                                           nisiert hatten, haut sie die Türe vor der Nase zu.
                                                                                                                                                                                                                     E    ntwicklungshilfe in Afrika, Umweltorganisationen,
                                                                                                                                                                                                                          Tierheime – es gibt so viele gute Zwecke, für die
                                                                                                                                                                                                                      man spenden könnte. Und die Spendenbereitschaft der
                                                                                                                                                                                                                                                                                  generell mehr als Menschen mit einem niedrigeren
                                                                                                                                                                                                                                                                                  Bildungsgrad und grundsätzlich lässt sich festhalten:
                                                                                                                                                                                                                                                                                  Je mehr man verdient, desto mehr spendet man. Das
Bruder, wird sein Leben immer anders sein als          haben Glück, zwei so liebe Burschen zu haben.                       Auch ein betreutes Wohnen schlägt die Mutter aus.                                          Österreicher ist auch in Zeiten der Wirtschaftskrise        gilt allerdings nicht für Blut- und Sachspenden, hier
das von Leon. Jacobs Nabelschnur wickelte sich         Der Leon geht wirklich gut mit seinem Bruder                        Isabella findet sie kurz darauf bei einem Besuch                                           ungebrochen: 63 Prozent haben im vergangenen Jahr           sind Menschen mit geringem Einkommen genauso
um seinen Hals, wurde abgeklemmt und versorgte         um und ist ein selbstbewusstes, eigenständiges                      nackt am Badezimmerboden. Sie wisse nicht,                                                 für gemeinnützige Zwecke gespendet. Im interna-             großzügig.
ihn mit zu wenig Sauerstoff.                           Kind. Er ist Menschen gegenüber offen und findet                    wie lange sie da schon liege, gab sie zu. Isabella                                         tionalen Vergleich liegt Österreich dennoch nur im
   „Ich kann auch tauchen“, presst er mit viel Mühe    immer jemanden zum Spielen oder Quatschen“,                         trifft mit ihrer Schwester die bislang schwierigste                                        Mittelfeld, da es – im Gegensatz zu den USA oder            Oftmals ist es sogar so, dass die Bereitschaft zu helfen
heraus, tunkt den Kopf ins Wasser und dreht ihn        lacht die Mama. Dass Jacob jemals laufen oder                       Entscheidung ihres Lebens: Sie übernimmt die                                               Australien – nur wenige Großspender gibt. Hierzu-           bei Menschen, die selbst in einer schwierigen Situa-
grinsend zu Mama Franziska. Die mangelnde              auf die gleiche Schule gehen wird wie Leon, da-                     Sachwalterschaft für ihre Mutter – und damit                                               lande spenden viele Menschen relativ kleine Beträge.        tion sind, größer ist. Die treibende Kraft hinter dem
Sauerstoffzufuhr bremst Jacob in der motorischen       ran zweifelt sie. „Er bemüht sich und es ist eine                   auch die Selbstbestimmtheit aus dem Leben der                                              Pro Kopf sind es jährlich im Durchschnitt 60 Euro.          Spenden ist schließlich die Empathie, die Fähigkeit
Entwicklung. Arme und Beine sind durch die             Entwicklung da, gerade beim Sprechen. Aber es                       Frau, die immer für sie da war. „Ich fühlte mich                                           Im Jahr 2013 ergab das laut dem Spendenbericht des          des Menschen, sich in andere Menschen einzufühlen,
spastische Lähmung einwärts gedreht, seine Sicht       geht sehr langsam und in kleinen Schritten.“ Auf                    so egoistisch, weil ich sie in fremde Hände gab.                                           Fundraising Verbandes Austria einen Gesamtbetrag            und deren Leid nachempfinden zu können. Daraus
ist eingeschränkt und das Sprachzentrum beein-         Hilfe von außen wird er noch lange, wenn nicht                      Neben der Arbeit hätten wir zu wenig Zeit für                                              von 510 Millionen Euro.                                     entsteht der Wunsch zu helfen. „Solidarität“ ist laut
trächtigt. „Die Ärzte haben gesagt, Jacob würde        für immer, angewiesen sein.                                         sie gehabt. Und alleine wäre sie verkommen.“                                                                                                           eigenen Angaben die Hauptmotivation der Österreicher
vielleicht nie sprechen lernen“, sagt Franziska,          Zurzeit werden rund 80 Prozent aller betreu-                     Seit neun Monaten lebt die Mutter in einem                                                 Aus einer Langzeitstudie des Deutschen Instituts für        zum Spenden. Reine Selbstlosigkeit steckt allerdings
während sie ihren Sohn abtrocknet. Leon ist schon      ungs- und pflegebedürftigen Personen in Öster-                      betreuten Wohnheim, die Töchter wechseln sich                                              Wirtschaftsforschung geht hervor, dass tendenziell          nicht dahinter: Man hilft, weil man – bewusst oder
im Bademantel und setzt sich zu den beiden auf         reich von ihren Angehörigen zu Hause versorgt.                      ab, so dass täglich Besuch kommt. „Sie ist wieder                                          mehr Frauen als Männer spenden und dass Ältere              unbewusst – darauf hofft, dass einem in einer ähnlichen
die Bank. Er muss viel alleine machen, weil die        Pflegebedürftigkeit kann jeden treffen – ob in                      ausgeglichener, isst regelmäßig und lebt vor allem                                         mehr geben als Jüngere. Auch die Bildung und das            Situation selbst geholfen wird. >>
Eltern mit Jacob sehr beschäftigt sind. Wie viele      jungen Jahren, als Folge eines Unfalls oder als                     nicht alleine.“ Denn Alleinsein, das wäre doch das                                         Einkommen spielen eine Rolle: Akademiker spenden
Geschwister von behinderten Kindern muss auch          älterer Mensch, wenn die Kräfte nachlassen oder                     schlimmste Übel.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
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                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   name Wilhelm Ortmayr

                                                                                                                                                                                                                                                                                                      STECKBRIEF
                                                                                                                                                                 Geber- und Nehmerländer

                                                                                                                                                                                                                                                                              Foto: Privat
>> Fortsetzung, „Die Freude am Geben“                                                                                                                                                                                                                                                                              IST grad 50 geworden

                                                                                                                                                                 Wie fair ist
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   GIBT besser Acht auf
Nicht ohne Grund spenden Menschen vor allem          das „Rote Kreuz“, „Caritas“ und „SOS-Kinderdorf“      haben und weniger stressempfindlich sind: „Wenn                                                                                                                                                         sich, aber ...
für Zwecke, zu denen sie einen mehr oder weniger     bei den Österreichern ganz hoch im Kurs. Die          wir uns um das Wohl anderer kümmern, werden                                                                                                                                                             NIMMT das Leben
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                   leichter

                                                                                                                                                                 ungeteilter Reichtum?
persönlichen Bezug haben. Am liebsten spenden        50 größten Organisationen erhalten drei Viertel       im Kopf Hormone wie Opioide und Oxytocin
Herr und Frau Österreicher für Projekte, die         aller Spenden.                                        ausgeschüttet, die uns euphorisch stimmen.“
Kindern zugutekommen. Gleich danach rangie-                                                                Dieses Hochgefühl setzt eine Positiv-Spirale in
ren Tiere und auf Platz 3 liegt die Bekämpfung        Was kaum überrascht, ist, dass die Menschen in       Gang, denn wem Positives widerfährt, der möchte       Wer mehr nimmt, als er gibt, beutet aus. Und wenn der Leidtragende am anderen Ende der Welt lebt,
des Hungers in der Welt. Eher sparsam sind die       der Weihnachtszeit besonders großzügig sind: 20       dieses Gefühl gerne teilen.                           ist wegschauen einfach. Eine Erforschung unseres globalen Solidaritätsgewissens.
Österreicher dagegen, wenn es um Einrichtungen       Prozent des jährlichen Gesamtaufkommens wer-                                                                von Wilhelm Ortmayr
für Suchtkranke geht. „Überhaupt gilt: Je weiter     den in dieser Zeit gesammelt. Das unterstreicht die   Etwa 50 Millionen Euro der jährlichen Spenden
ein Projekt vom täglichen Leben und der aktuellen
Nachrichtenlage weg ist, desto schwieriger ist es,
Spenden zu bekommen“, sagt Gabriele Sonn-
                                                     emotionale Komponente des Spendens. Studien
                                                     belegen, dass glückliche Menschen viel eher be-
                                                     reit sind zu spenden. Oder ist es etwa umgekehrt
                                                                                                           stammen übrigens aus Hinterlassenschaften.
                                                                                                           Eigennützigkeit kann man bei einem „gemeinnüt-
                                                                                                           zigen Testament“ als Motiv definitiv ausschließen.
                                                                                                                                                                 I   m Prinzip ist es nur noch beschämend. Seit
                                                                                                                                                                     Jahrzehnten phantasieren Österreichs Po-
                                                                                                                                                                 litiker davon, lächerliche 0,7 Prozent des BIP
                                                                                                                                                                                                                         Doch wir sind auch große Nehmer. Und bemer-
                                                                                                                                                                                                                       ken es oft gar nicht. Ein schwedischer Anbieter
                                                                                                                                                                                                                       von günstigen Textilien setzt bei uns jährlich 470
                                                                                                                                                                                                                                                                                      ansässige Bevölkerung vom Wohlstand nichts
                                                                                                                                                                                                                                                                                      ab. Laut einer Studie besteht in vielen Ländern
                                                                                                                                                                                                                                                                                      dieser Erde kein Zusammenhang zwischen Wirt-
leitner von der Caritas. Was ebenfalls eine große    und das Spenden an sich macht glücklich? „Wer         Die Spender möchten einfach „nach ihrem Ab-           für Entwicklungszusammenarbeit auszugeben             Millionen um. Allein an seinen Kassen „erspa-                  schaftswachstum und Hunger. Soll heißen: Die
Rolle spielt, ist Transparenz und Vertrauen in die   gut zu anderen ist, dem geht es selbst besser“, ist   leben etwas Gutes bewirken“. Purer Altruismus         – tatsächlich sind es heuer nur 0,28 Prozent, also    ren“ sich die Österreicher somit Unsummen im                   Wirtschaft wächst, die Ärmsten bleiben gleich
Organisation. Man möchte sicher sein, dass die       Stefan Klein, Autor von „Der Sinn des Gebens“         existiert eben doch.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
14      [GEBEN UND NEHMEN]

                                                                                                                          Die harte Realität von Berufsmusikern

                                                                                                                          Am Boden der
                                                                                                                          Tatsachen
                                                                                                                          Die Berliner Filmemacher Marc Helfers und Martin Groß
                                                                                                                          haben sich an die Fersen von Musikern geheftet, die am
                                                                                                                          Existenzminimum leben und sich trotzdem nicht von ihrem
Aus der Serie „Salzburger Bettelposen“                                                                                    Traum, Musik zu machen, abbringen lassen. Um ihr Film-
                                                                                                                          projekt „Rockbottom – Song of No Money“ zu finanzieren,
                                                                                                                          rufen die beiden zu Spenden via Crowdfunding auf.

                                                                                                                          von Katrin Schmoll

                                                „ Brotlose Kunst“, so nennt man wohl das,
                                                  was Super Bad Brad und Texas Terri Bomb
                                                                                                   jener zahlreicher Musiker zu dokumentieren,
                                                                                                   die am Existenzminimum leben. Das be-
                                                                                                                                                          Auch sie glauben fest an den Erfolg ihres
                                                                                                                                                          Projektes und starteten Mitte April eine
                                                machen. Die beiden leben für ihre Musik –          deutet: Im Auto und auf fremden Couchen                Crowdfunding-Kampagne, mit deren Hilfe
                                                und genau hier beginnt ihr fortwährender           schlafen und auf der Straße, in U-Bahnen               ein Teil der Produktionskosten gedeckt wer-
                                                Kampf, denn davon leben können sie nicht.          und in versifften Clubs auftreten. Dabei               den soll. Geplant ist ein 90-minütiger Film
                                                Die Vollblutmusiker sind zwei der Prota-           haben sie alle stets den großen Traum von              über die inspirierende Kraft der Musik und
                                                gonisten in Marc Helfers Dokumentarfilm            vollen Hallen und einer jubelnden Menge                die realen Schwierigkeiten des Lebens. Die
                                                „Rockbottom – Song of No Money“.                   vor Augen und in einem Punkt sind sie sich             ersten beiden Kapitel über Super Bad Brad
                                                  Dem Berliner Regisseur Marc Helfers und          auch einig: „Aufgeben? Niemals!“                       in New York und Texas Terri Bomb in Berlin
                                                dem Produzenten Martin Groß war es ein               „Uns imponieren diese Leute, weil sie sich           sind bereits abgedreht, weitere musikalische
                                                Anliegen, Musiker nicht als „Rock-’n’-Roll-        von dem Glauben an ihre Kunst nicht abbrin-            Helden sollen folgen.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
[SCHREIBWERKSTATT]                                                                                                                                                                                         [SCHREIBWERKSTATT]
                                                   16                                                                                                                                                                                                                                                      17
                                                                                                                                                          AUTORIN Christina        LEITET seit No-

                                                                                                                                             STECKBRIEF
                                                                                                   Foto: Privat
                                                                                                                                                          Repolust                 vember 2011 mit                                                                                       Verkäufer Kurt
                                                                                                                                                          BERUF Bibliothe-         großem Erfolg und
                                                                                                                                                          karin, Journalistin,     viel Spaß auf beiden
                                     Apropos-Sprachkurs
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Zwei „kalte“ Tage
                                                                                                                                                          Sprachlehrerin,          Seiten den Apropos-

             B wie BananA
                                                                                                                                                          Fotografin & Autorin     Sprachkurs
                                                                                                                                                          WOHNORT Salzburg
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Still und heimlich nimmt man uns immer wieder was
                                                                                                                                                                                                                                                                                         weg. Die Lebenshaltungskosten werden immer mehr.
                                       oder Bibi Blocksberg                                                                                                                                                                                                                              Vor allem die wichtigen Dinge, die man zum tägli-
                                                                                                                                                                                                                                                                                         chen Leben braucht wie Brot, Butter, Milch, Käse,
                                                                                                                                                                                                               Die Rubrik Schreibwerkstatt
                                      von Christina Repolust                                                                                                                                                                                                                             Obst, Fisch, Wurst und Fleisch, werden immer ein
                                                                                                                                                                                                               spiegelt die Erfahrungen,                                                 klein wenig teurer. Menschen wie ich müssen jeden

E    igentlich unterschätze ich Menschen            Augustina will gerade mehr über Maul-                                                                                                                      Gedanken und Anliegen
                                                                                                                                                                                                                                                            Verkäufer KURT
                                                                                                                                                                                                                                                                                         Tag überlegen, was sie sich zum Essen machen. Ich

                                                                                                                  Foto: Michaela Gründler
     sehr, sehr selten, vielleicht passiert mir   wurfshügel wissen und Rumen liest Ogi                                                                                                                        unserer VerkäuferInnen und                                                habe in der Woche zwei „kalte Tage“, wo ich mir
                                                                                                                                                                                                                                                            muss schauen, wie er
das bei Verwandten eher als bei Teilneh-          aus dessen Neujahrstext vor, dass er doch                                                                                                                                                                                              einfach Salate zubereite oder eine Packerlsuppe
merinnen und Teilnehmern. Also erklärte           Kinder wolle. Oder doch nicht. Und was
                                                                                                                                                                                                               anderer Menschen in sozialen                 über die Runden kommt
                                                                                                                                                                                                                                                                                         koche. Schade ist nur, dass die Verantwortlichen
ich, dass wir in der nächsten Stunde den          sei jetzt überhaupt von diesem Text zu                                                                                                                       Grenzsituationen wider.                                                   nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Sie la-
zweiten Buchstaben des Alphabets „B,              halten. Rumen ist stolz auf seinen Sohn,                                                                                                                     Sie bietet Platz für Menschen                                             chen jeden Tag aus dem Fernseher, als wäre nichts
b“ üben werden. „B“ wie Banana, „b“               der in Rumänien studiert, und Augusti-                                                                                                                       und Themen, die sonst nur am                                              geschehen. Die Reichen werden reicher und die
wie besuchen und „b“ wie bald. „B wie             na erzählt von ihrer Tochter und deren                                                                                                                                                                                                 Armen immer ärmer. Aber das Leben muss weiter-
Bibi Blocksberg!“, rief da eine besonders         Erfolgen. Die Kinder sind fleißig. Sie                                                                                                                       Rande wahrgenommen werden.                                                gehen, obwohl alles nicht so bunt aussieht, wie
aufmerksame Schülerin in den Raum.                wollen lernen. Das ist gut.
APROPOS - Geben und nehmen Apropos | Strassenzeitung für Salzburg
[SCHREIBWERKSTATT]                                                                                                             [SCHREIBWERKSTATT]
                                                        18                                                                                                                                                                     19
                                                       Verkäuferehepaar Georg und Evelyne

                                                       Das Radhaus
                                                       Wir machen Radio

                                                        In unserer Sendung am 8. April er-
                                                        klärte uns die diplomierte Sozial-
                                                        arbeiterin und Geschäftsfeldleite-
                                                        rin des FAB (Verein zur Förderung
                                                                                                                Verkäuferin Evelyne           Verkäufer Georg              Verkäufer Ogi                   Schreibwerkstatt-
                                                        von Arbeit und Beschäftigung)
                                                                                                                freut sich im Mai auf ihren   freut sich im Mai auf den    hat viel Humor                  Autor Chris Ritzer
                                                        Josefine Joung-Buchner, was das
Foto: Georg Aigner

                                                                                                                Geburtstag                    jährlichen Apropos-Vortrag                                   verarbeitet seine Gefühle
                                                        Radhaus so alles macht und anbie-                                                     in der Pädak                                                 gerne zu Gedichten
                                                        tet. Seit Ende 2012 gibt es in der
                                                        neuen Mitte Lehen das sogenannte
                                                        Radhaus. Dieses bietet unter ande-                                                                                                                 von Schreibwerkstatt-Autor Chris Ritzer
Josefine Joung-Buchner war zu                           rem, in Zusammenarbeit mit Inter-          einen unserer Lastenräder sehr gut selber
Gast in der Radiosendung der
Aigners.
                                              spar, einen Hauslieferdienst. Das bedeutet,
                                              Menschen können nach dem Einkaufen ihre
                                              Sachen in einer Box abstellen, die dann zum
                                                                                                   machen. Wir haben viele verschiedene Vari-
                                                                                                   anten von Lastenrädern, zum Beispiel fürs
                                                                                                   Picknick oder einfach zum Kinder-Herrumkut-
                                                                                                                                                                                                           Die Träne
                                              gewünschten Zeitpunkt von Mitarbeitern des           schieren.“                                                                                              Es ging eine Träne auf Reisen.
                                              Radhauses zu ihnen nach Hause transportiert          Dieser Beitrag wurde übrigens auch in der                                                               Sie wollte nicht mehr schlafen.
                                              werden. Joung-Buchner dazu: „Dieses Angebot          Sendung „Stadtteilradio Lehen“ ausgestrahlt,                                                            Sie wollte nicht mehr speisen.
                                              wird sehr gut angenommen, weil wir nicht nur         wo wir auch seit Anfang 2014 mitmachen. Beim                                                            Sie hat sich verirrt
                                              im Stadtteil Lehen, sondern in der ganzen            Stadtteilradio auf der Radiofabrik berichten                                                            und war ganz verwirrt.
                                              Stadt ausliefern. Die Leute können sich also         BewohnerInnen aus ihren „Grätzln“ – wir                                                                 Sie fiel auf den Boden.
                                              ihren Einkauf überall hinliefern lassen.“            beide wohnen ja in Lehen. Jeden Montag und                                                              Sie fiel auf das Feld
                                              Auf unsere Frage, was das Radhaus sonst              Freitag ab 17 Uhr gibt es eine Ausgabe aus                                                              und es hatten sich andere zu ihr gesellt.
                                              noch anbietet, antwortete sie: „Wir haben            einem anderen der neun beteiligten Stadttei-                                                            Ja, viel Tränen vereinigten sich
                                              auch eine sogenannte offene Werkstatt, das           le zu hören. Immer am vierten Montag im Monat                                                           und ließen einander nicht im Stich.
                                              heißt, die Leute können mit ihren Fahrrädern         ist Lehen an der Reihe – das nächste Mal                                                                Sie nahmen sich bei den Händen
                                              zu uns kommen und können mit Hilfe unserer           also am 26. Mai. Neue StadtteilreporterInnen                                                            und flossen in die letzten Enden
                                              Mitarbeiter ihr Rad reparieren und sich auch         werden übrigens dringend gesucht und sind                                                               dieser kugelrunden Welt,
                                              bei Bedarf sämtliche Ersatzteile kaufen. Man         herzlich willkommen! Es sind keine Vorkennt-                                                            wo sich Trauer mit Freude oft seltsam vermählt.
                                              kann bei uns sein Fahrrad aber auch codieren         nisse nötig, nur etwas Zeit und Interesse.                                                              Sie fand den Weg ins Meer,
                                              lassen. Wir bieten auch einen Lastenradver-          Nach eineinhalb Tagen „Basis-Workshop“ kann                                                             salzig immer mehr.
                                              leih an, wenn jemand etwa einen Kühlschrank          es schon losgehen. Wer Lust hat mitzumachen,                                                            Verdunstet in die höchsten Höhen
                                              zu entsorgen hat oder kauft und kein Auto            meldet sich bei Eva Schmidhuber in der                                                                  Und war von niemand mehr zu sehen.
                                              zur Verfügung hat, dann kann man das mit             Radiofabrik (0662/842961;                                                                               Sie ging nieder als Regen
                                                                                                   e.schmidhuber@radiofabrik.at).
[SCHREIBWERKSTATT]
                                                                                                    20                                                                                                                       [LESERBRIEFE]           21
                                                                                                                                                          Leserbriefe
                              Verkäuferin Andrea
                                                                                                                                                          Bettel-Begegnung                                            „Kalte Liebe“
                              Der Fürst von Auersperg                                                                                                     Nachdem ich gestern auf Salzburgs Straßen eine bewegende
                                                                                                                                                          Begegnung hatte, wollte ich diese in einer kurzen Notiz
                                                                                                                                                                                                                      Vielen Dank für den Bericht in der aktuellen Ausgabe, mit dem
                                                                                                                                                                                                                      Titel „Kalte Liebe“. Ein Thema, welches mich als Mutter zweier
                                        Anlässlich einer netten Einladung zum Biofrühstück                                                                dokumentieren.                                              Kinder (11 und 14) sehr beschäftigt. Auch die Schlagzeilen:
                                        habe ich mir eine Geschichte einfallen lassen:                                                                                                                                „11-Jähriger vergewaltigt 8-Jährige“ bringe ich mit diesem
                                                                                                                                                          [Montag 18.15 Uhr. Getreidegasse]                           Thema in Verbindung. Denn, diese Bilder im Netz sehen ja
                              Am Anfang des 14. Jahrhunderts trafen sich                                 Essen und die Dienstmägde brachten Wein, so                                                                  nicht nur 15-Jährige aufwärts. Viel jüngere Kinder werden
                              ein paar Landstreicher vor den Toren einer                                 viel sie trinken konnten.                        Irgendetwas irritiert. Geräusche. Die Stimme wird lauter.   auch damit konfrontiert, oft auch unfreiwillig. Ich habe die
                              alten Stadt. Sie tranken Wein und Schnaps und                                                                               Ich komme näher. ER schreit. In Richtung Boden. Da          Erfahrung gemacht, dass nur ein Mitschüler die Idee haben
                              hatten zum Essen genug. Sie haben ein Haus     Die Landstreicher erzählten sich allerlei                                    kauert einer. Neben dem Mülleimer. Schwarz. Stumm.          muss, bestimmte Wörter in die Suchmaschine einzugeben und
Verkäuferin Andrea
                              gebaut, die Pferde besorgt und sind reichlich  Geschichten von Krankheit und Leid und                                       Mit fragendem Blick. ER schreit weiter. Ordentlich          es kommt mir das Grauen!
Freut sich jeden Morgen
                              beschenkt worden. Der Kohlebergbau war je-     wunderbaren Begegnungen. Einer fand einen                                    gekleidet. Sauber. Betrunken. Schleich dich! Hau ab! Kei-
auf ein gutes Frühstück
                              doch sehr anstrengend. Es gab Kinderarbeit     kranken Hund, den er behalten hat und der ihn                                ner bleibt stehen. Der andere kniet. ER tobt. Drecksau!     Was soll ein 10-Jähriger mit diesen Bildern anfangen? Meist
                              und die Menschen behandelten die Kinder und    überall begleitete. Der Fürst freute sich                                    Ich antworte. Das muss jetzt aber nicht sein. ER stutzt.    wird die Frau in diesen Szenen extrem schlecht behandelt, die
                              auch die Tiere schlecht. Der Handel mit Ge-    über die schönen Geschichten und war traurig,                                Wendet sich mir zu. Was ich denn wolle? Was ich hier zu     Szenen sind (hoffe ich) meist nachgestellt, aber woher soll das
                              würzen und Lebensmitteln wurde mehr und das    wenn es jemandem schlecht ging. Einer war                                    sagen hätte? Das ist ein Mensch, sage ich. Das ist KEIN     ein Kind wissen, wo es doch sogar für mich echt wirkt. Wenn
                              Kunsthandwerk verbreitete sich. Die Leute in   über den Berg gewandert und hatte viele Samen                                Mensch, schreit ER! Das ist ein BETTLER! Der soll           nun Buben glauben, das ist die Realität, Frauen wollen das so,
                              den Städten heizten viel und brauchten Kohle   gesammelt, die er gleich überall säte. Er                                    sich doch verziehen! ER zahle hier seine Steuern. Und       und Mädchen glauben, das müssen sie sich gefallen lassen. Oder
                              und Holz.                                      freute sich über alle Bäume und Sträucher,                                   ER will den nicht hier haben. Gib du ihm doch dein          aber auch gefährliche Dinge, es gibt ja die verschiedensten
                                                                             die er kannte, und jedes Jahr wurden es mehr.                                Geld, sagt ER. Alle gehen weiter. Ob ich denn hier ein      Fetische, ich möchte hier nicht näher drauf eingehen ...
                              Die Landleute kamen jährlich zu einem Fest     Er liebte auch die Brombeeren im Sommer. Der                                 Geschäft hätte? ER hätte eines, so sagt ER. Und tobt        Ich denke auch, Schulen sollten hier nachziehen und ihren Teil
                              zusammen. Sie hatten schon vergessen, in       Fürst schenkte nun jedem ein Stück Land,                                     weiter. In seinem redlich verdienten Rausch. Bettler sind   leisten – nein, ich bin nicht die Mutter, die denkt, Erziehung
                              welchem Land sie sich befanden. Am Abend       damit sie sich ein Haus bauen und einen großen                               auch Menschen, sage ich. ER stutzt. Lauscht dem Klang       gehört in die Schule, ich habe mit meinen Kindern sehr wohl
                              versammelten sich alle in einem großen Saal.   Acker pflügen konnten. Sie sollten die Erde                                  nach. Ein Bayer, sagt ER. Oh je. Der Dialekt schon. Ein     über diese Dinge gesprochen. Nur, Schulen verlangen, für ver-
                              Die Sonne war gerade vor den Fenstern der Burg lieben und pflegen, die ihnen allen gehört. Am                               Bayer. Flughafen, sag ich da nur, sagt ER. Geh doch         schiedenste Hausübungen im Internet zu recherchieren, also
                              untergegangen und im Kamin brannte ein Feuer   Morgen brachen sie auf. Die Vögel zwitscherten                               heim. Wir wollen dich hier nicht, sagt ER. Geh doch         sollte auch der Umgang damit geschult werden.
                              lichterloh. Der Fürst gab ihnen ein gutes      und die Hummeln summten. Sie wollten an einem                                über die Grenze, sagt ER. Verschwinde! Sagt ER. Ich
                                                                             Ort bleiben, der ihnen gefällt, und Steine und                               bitte ihn, mich nicht zu duzen. ER ignoriert das. Ich       Ich wünsche mir, dass dieser Generation nicht die Lust auf Sex
                                                                             Holz sammeln für eine Hütte. Im nächsten Jahr                                bleibe stehen. Weiß. Stumm. Mit fragendem Blick. ER         vergeht in Anbetracht dessen, was sich hier so bietet. „Bravo“
                                                                             wollten sie wiederkommen und einen Bergkris-                                 beginnt abzuziehen. Ordentlich. Sauber. Betrunken. Der      und Ähnliches war früher, ja, aber ich bilde mir ein, meine
                                                                             tall und einen Rosenstock mitbringen für den                                 andere kniet jetzt einige Meter weiter vorne. Ich gehe      Eltern haben gewusst, wovon hier geschrieben wird. Was die
                                                                             Fürsten.                                                                     nach Hause. Zahle meine Steuern. Und wundere mich.          Kids heute im Internet sehen, davon haben – behaupte ich – die
                                                                                                                                                          Ob das die Stimme des Volkes ist? Ob das die Zukunft        wenigsten Eltern eine Ahnung! Wer hat es schon ausprobiert?
                                                                                                         Die Rosenblüten geben oft mehr Kraft als der     bringt? Was wohl als Nächstes kommt?
                                                                                                         Wein, das wusste einer. Vor der Hütte wollten                                                                Manuela Lindtner
                                                                                                         sie eine Holunderbaum und einen Haselnuss-       [Licht aus. Vorhang. Dunkelheit]
                                                                                                         strauch, einen Schwarzdorn und einen Weißdorn     Harald Zimmermann
                                                                                                         pflanzen, weil die Früchte im Winter auch
                                                                                                         die Tiere stärken und dem Menschen helfen
                                                                                                         bei Krankheit. Auf die Bank wollten sie eine     Feingold-Interview
                                                                                                         Felldecke legen, die schön warm hält. Heizen
                                                                                                         wollten sie kaum.                                Ich habe mir letzte Woche wieder mal ein Exemplar
                                                                                                                                                          Ihrer Straßenzeitung „Apropos“ gekauft. Ich habe mit
                                                                                                         Niemand wollte die Erde in die Luft sprengen     größtem Interesse das Interview mit dem Vorsitzenden
                                                                                                         und das Essen so vergiften, dass die Tiere       der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, Herrn Marco
                                                                                                         sterben. Der Fürst wollte alle seine Feinde      Feingold, gelesen, welches Sie geführt haben.
                                                                                                         mit einem Blitz töten.
                                                                                                                                                          Ich darf Ihnen zu diesem absolut gelungenen Beitrag
                                                                                                         Am Morgen danach zogen sie gemeinsam             herzlich gratulieren.
                                                                                                         weiter.
[PORTRÄT-SERIE]                                                                                                                                                          [PORTRÄT-SERIE]
                                                                                                    22                                                                                                                                                                                                                   23
                                                                               Autorin Beate Dölling            ärgert sich, wenn sie in

                                                                  STECKBRIEF
                                                                               lebt in Berlin                   einer Schlange steht und es
                                                                               schreibt Kinder- und             geht und geht nicht voran                                                                                Ställen getrieben, er hat sie mitgenommen auf die Weiden und                Wenn sie erst einmal besser Deutsch sprechen, bekommen sie
                                                                               Jugendbücher sowie Ge-           freut sich immer, wenn                                                                                   abends zum Melken wieder zurückgebracht. Dafür hat er einen                 vielleicht eine Anstellung, wie ein Kollege von ihnen, der jetzt als
                                                                               schichten und Hörspiele fürs     sie schwimmen gehen kann                                                                                 Preis ausgehandelt. Im Dorf lebten ungefähr 300 Familien. Autos             Reinigungskraft arbeitet und damit sehr zufrieden ist. Mit einem
                                                                               Deutschlandradio. Schreibt       Aktueller Roman „Je
                                                                                                                                                                                                                         gab es kaum. Auch keinen Schulbus. Die Kinder mussten viele                 festen Job würden sie auch eine Wohnung bekommen. Und dann
                                                                               auch mit ihrem Partner           mehr ich dir gebe“ (Bastei
                                                                               Didier Laget zusammen                                                                                                                     Kilometer bis zur nächsten Hauptstraße laufen und dann ging es              würden sie die Kinder nachholen, und die Kinder könnten hier zur
                                                                                                                Lübbe)
                                                                               Bücher                                                                                                                                    mit Auto-Stopp zur Schule – oder auch nicht.                                Schule gehen. Es ist beiden sehr wichtig, dass Beniamin und Raluea
                                                                                                                                                                                                                                                                                                     eine gute Ausbildung bekommen und die Schule nicht so schnell
                                                                                                                                                                                                                         Sergiu hat nach sechs Jahren die Schule abgebrochen. Simona nach            abbrechen wie ihre Eltern. Sie wollen ihnen bessere Bedingungen
                                                                                                                                                                                                                         sieben. Dann war sie schwanger. Die Eltern der beiden hatten schon          schaffen. Dafür müssen sie jedoch zuerst Deutsch lernen. Einen
                                                                                                                                                                                                                         immer mit einer Verschwägerung geliebäugelt – und es hat ja dann            Deutschkurs können sie sich zwar nicht leisten, aber Apropos bietet
                                                                                                                                                                                                                         auch geklappt. Aber wären sie nicht verliebt gewesen, hätten sie            einmal in der Woche 60 Minuten Deutschunterricht an. Da gehen
                                                                                                                                                                                                                         sich nicht verkuppeln lassen. Jetzt strahlen sie, die jungen Eltern, in     sie auch immer hin. Da gehen alle hin. Da trifft man die ganzen
                                                  Schriftstellerin trifft Verkäuferin                                                                                                                                    Salzburg, denken an ihre Jugend, kichern, weil ich sie nach ihrem           Verwandten wieder.

                                                  Mit Autostopp zur Schule
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Sergiu Burulea beim
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Gespräch mit Autorin Beate
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    Dölling im Café Haiden-
                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    thaller.
                                                                                           von Beate Dölling

                                                                                           S    echzehn Uhr. Wir treffen uns in einem Café. Die
                                                                                                Sonne scheint auf den Tisch. Sergiu Ionut Burulea
                                                                                           gibt mir die Hand, distanziert, schüchtern, höflich. Er hat
                                                                                                                                                          Den Entschluss, nach Österreich zu gehen, haben Sergiu
                                                                                                                                                          und Simona von heute auf morgen gefasst. Es gab schon
                                                                                                                                                          ein paar Zeitungsverkäufer im Dorf, die haben erzählt,
                                                                                           seine Freundin mitgebracht, Simona Onica. Sie ist schon        dass man im Ausland mehr Geld verdiene als zuhause.
                                                                                           in einer anderen Apropos-Ausgabe interviewt worden. Wir        Da hat Sergiu nicht lange gezögert. Vorher war er Tage-
                                                                                           bestellen Kaffee, Wasser – Kuchen? Die beiden schütteln        löhner, hat bei den Bauern in der Umgebung gearbeitet
                                                                                           den Kopf. Irgendwas anderes zu essen? Nein, danke.             als Erntehelfer, Äpfel und Mais gepflückt und sechs bis
                                                                                              „Was habt ihr heute gemacht?“, frage ich. „Gearbeitet“,     sieben Euro am Tag verdient. Er ist ein Vater, er hat
                                                                                           sagen sie. Bis eben standen sie auf der Straße und haben       Kinder zu versorgen. Ihm blieb nur die Möglichkeit, ins
                                                                                           Zeitungen verkauft. „Und, war es ein guter Tag?“ Sergiu        Ausland zu gehen und Zeitungen zu verkaufen, mit denen
                                                                                           holt tief Luft, zögert. Simona sagt, nicht so gut. Der         man immerhin 25 bis 30 Euro verdient – an guten Tagen.
                                                                                           ganze Monat sei schon nicht so gut gewesen. Vielleicht         Obwohl ihm nur knapp die Hälfte davon bleibt. Er muss ja
                                                                                           liegt es an der Fastenzeit. Die Leute sind mit sich selbst     auch leben und wieder frische Zeitungen kaufen. Ein Bett
                                                                                           beschäftigt, hasten vorbei.                                    in Notunterkünften kostet um die 100 Euro im Monat.
                                                                                              Was ist denn ein guter Monat? Die Vorweihnachtszeit.        Man kann aber nirgendwo am Stück einen Monat lang
                                                                                           Jetzt strahlen sie, allein bei dem Gedanken an Weihnachten.    bleiben. Sergiu und Simona übernachten nur im Winter
                                                                                           Sie sind noch so jung. Er 27, sie 24. Zwei Kinder haben        in ständig wechselnden Unterkünften. Ende März erklären
                                                                                           sie schon. Simona war 15, als sie Beniamin bekam. Kaum         sie die Wintersaison für beendet, dann schlafen sie in Parks
                                                                                           ein Jahr später wurde Raluea geboren. Jetzt strahlen sie
                                                                                           noch mehr, wenn sie von ihren Kindern erzählen. Aber
                                                                                                                                                          oder unter Brücken. Ihre Sachen und Decken verstauen
                                                                                                                                                          sie tagsüber in Schließfächern am Bahnhof. Das kostet
                                                                                                                                                                                                                                                                Unsere Kinder sollen eine bessere
                                                                                           ihre Augen bekommen schnell einen Schleier, ihr Blick          auch zwei Euro täglich. Krankenversichert sind sie nicht.
                                                                                                                                                                                                                                                                    Ausbildung bekommen.“
künstlerische Arbeiten sind ein dreiteiliges Riesenpanorama von
mit fotohauch@aon.at eine voll knuffige Mailanschrift. Aktuelle
Kunden aus Wirtschaft, Politik und Kunst. Zentrales Thema ist

                                                                                           wird sehnsüchtig. Die Kinder sind nicht da. Sie wohnen         Vor einem Jahr hatten sie noch ein Auto und haben darin
Andreas Hauch arbeitet seit genau 20 Jahren als Fotograf mit

immer der Mensch. Er braucht keine Homepage, aber er hat

                                                                                           bei den Großeltern. Manchmal sehen sie ihre Kinder             übernachtet, aber das sei jetzt leider kaputt. Trotz allem,
                                                                                           acht Wochen nicht, im Sommer können sie öfter nach             sagt Sergiu, sie haben keine Wahl. Immerhin sind sie zu        ersten Kuss frage, aber daran können sie sich nicht mehr erinnern.          Draußen scheint noch immer die Sonne. Unsere Kaffeetassen sind
                                                                                           Hause fahren, alle zwei, drei Wochen. Sie telefonieren         zweit und können sich nachts unter einem Baum anku-            Sergiu und Simona wurde schnell klar, dass sie nicht in ihrem               leer. Ob sie noch etwas trinken, essen möchten? Nein. Sie müssen
                                                                                           sonntags, aber das ist schwierig, weil sie dann alle so sehr   scheln. Wenigstens das. Und dann träumen sie von einer         Dorf bleiben konnten. Sie hatten keine eigene Wohnung, wohnten              auch wieder los. Ob sie noch etwas sagen möchten, den Lesern, den
                                                                                           weinen müssen.                                                 Festanstellung, einer Wohnung und von ihren Kindern,           bei den Eltern bzw. Schwiegereltern. Die bekommen immerhin                  Käufern der Zeitung, mit denen sie sonst nicht sprechen können?
                                                                                                                                                          die wieder bei ihnen sind.                                     eine Rente, 120 Euro monatlich. Sie waren bei dem rumänischen               Sergiu möchte sich bei den Salzburgern bedanken, weil sie ihn und
                                                                                           Ihr Arbeitstag fängt um 9 Uhr an und dauert bis 17 Uhr,                                                                       Automobilhersteller Dacia beschäftigt, einem Werk in der nächst             Simona so freundlich aufgenommen haben und sie in ihrer Stadt
                                                                                           mindestens. Es ist wichtig, einen guten Platz zu ergattern,    Sergiu und Simona kennen sich aus ihrem Dorf Pitesti.          größeren Stadt, Pitesti. Sergiu konnte dort jedoch keine Arbeit             akzeptieren. „Ja“, sagt Simona. „Danke, dass wir hier sein dürfen!“
Salzburg und diverse Kurzfilme.

                                                                                           am besten vor Supermärkten, mit Vordach. Aber gute Plätze      Im Sommer spielte sich dort alles draußen ab. Kaum             finden, weil das Werk weiter Stellen abbauen musste. Außerdem               Ich bedanke mich für das Gespräch. Auf Rumänisch heißt das
                                                                                           sind heiß begehrt und wenn sie besetzt sind, respektiert       jemand hatte einen Fernseher oder ein Telefon, man hat         hatte er keine Ausbildung. Er hat auch versucht, auf Baustellen             „Multumesc!“ oder ganz einfach: Mersi!
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