ES GEHT UM WERTSCHÄTZUNG - DIE PRODUKTIVITÄTSRENTE EIN KONZEPT DER AFD-FRAKTION IM THÜRINGER LANDTAG - AFD-FRAKTION IM THÜRINGER LANDTAG
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WIR WISSEN, WEM WIR UNSEREN WOHLSTAND VERDANKEN. DIE PRODUKTIVITÄTS RENTE ES GEHT UM WERTSCHÄTZUNG EIN KONZEPT DER AFD-FRAKTION IM THÜRINGER LANDTAG 1
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Ausgangssituation........................................................................................................... 5 2. Demographischer Wandel ...........................................................................................14 2.1 Demographischer Wandel – Ein alter Hut..................................................................14 2.2 Demographischer Wandel – Was wir noch vor uns haben.....................................21 3. AfD-Produktivitätsrente ................................................................................................28 3.1 Anhebung des gesetzlichen Rentenniveaus.............................................................28 3.2 Staatsbürgerrente...........................................................................................................31 3.3 Kinderrente......................................................................................................................35 4. Finanzierung....................................................................................................................37 4.1 Drittelparität ....................................................................................................................37 4.2 Keine Subvention privater Rentenversicherungen....................................................39 4.3 Alle zahlen ein – Arbeitnehmer, Selbstständige, Beamte und Politiker.................43 4.4 Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und Erhöhung der realen Lebensarbeitszeit........................................................................................45 4.5 Rentenstabilisierungsfonds und dynamische Beitragsbemessungsgrenze.........48 4.6 Gute Löhne ermöglichen gute Renten......................................................................48 Bildnachweise: PantherMedia „Älteres Ehepaar“ © gpointstudio (Titel) PantherMedia „Rentner“ © ljsphotography (Seite 26) Bilder Seiten 13, 34, 46, 47 pixabay 2 3
Ausgangssituation 1. Ausgangssituation Rente mit 67, Nachhaltigkeitsfaktor Zwischenzeit massive „Löcher“ in das Alter vorsorgen (können).6 Dass „Die Wirksamkeit großer Staatstheoretiker und die Einführung weiterer „Dämp- Erwerbsbiographien gerissen wur- die Gruppe der Selbstständigen von fungsfaktoren“ in die Rentenanpas- den: Der Rentner mit 45 Beitragsjah- Armut im Alter besonders bedroht beruht in der Regel darauf, dass sie den sungsformel senken das Leistungs- ren wird seltener. ist, darauf weist das Bundesminis- niveau der gesetzlichen Rente immer Doch nicht nur die gebrochenen terium für Arbeit und Soziales auch dunklen Gefühlen und unbegründeten weiter ab. Bereits im Zeitraum von Erwerbsbiographien bedingen zu- in seinem „Gesamtkonzept zur Al- 2003 bis 2016 verdoppelte sich die nehmend die Altersarmut. Hinzu terssicherung“ hin: „Unter den ehe- Wünschen ihrer Zeitgenossen Anzahl der Grundsicherungsemp- kommt: Deutschland beherbergt mals Selbstständigen ist der Anteil fänger auf etwa 525.0001 – schät- den größten Niedriglohnsektor Euro- der Grundsicherungsempfänger wissenschaftlichen Ausdruck und zungsweise haben heute deutlich pas – etwa fünf Millionen Menschen mit rund 17 Prozent deutlich höher mehr als 1.500.000 Rentner Grund- sind ausschließlich geringfügig be- als der Anteil der Selbstständigen wissenschaftliche Begründung verleihen.“ sicherungsansprüche, nehmen diese schäftigt.5 Diese Menschen kön- an den Senioren ohne Grundsiche- aber oft nicht in Anspruch. Grund: nen keine lebensstandardsichernde rungsbezug (zehn Prozent). Ihre Wilhelm Roscher Viele Rentner verzichten aus Scham. Anwartschaften in der gesetzlichen Grundsicherungsquote liegt mit vier Sie schämen sich dafür, dass sie trotz Rentenversicherung erarbeiten. Prozent deutlich über derjenigen jahrzehntelangen Fleißes im Beruf Auch Selbstständige wird das Los ehemals abhängig Beschäftigter mit und in der Familie von öffentlicher der Altersarmut zunehmend tref- zwei Prozent. Damit sind Selbststän- Fürsorge abhängig sind. Weitere fen: Laut Bundesarbeitsministe- dige im Verhältnis wesentlich häufi- verzichten aufgrund von Verunsi- rium gibt es etwa eine Millionen ger betroffen als ehemals abhängig „Die vollkommene Nation – nicht die cherung durch die bürokratischen „Solo-Selbstständige“, die nicht für Beschäftigte.“7 Hürden. vollkommene Menschheit ist die In den kommenden Jahrzehnten wird die Altersarmut in unserem Entwicklung des Netto-Rentenniveaus vor Steuern 1990-2030 Aufgabe, die von der gegenwärtigen Land weiter zunehmen: Unser umla- Netto-Standardrente vor Steuern (45 Versicherungsjahre) in Prozent gefinanziertes Rentensystem ist auf des durchschnittlichen Jahresentgelts Zeit zu lösen ist.“ durchgehende und gut bezahlte Be- 60 schäftigung ausgelegt, stattdessen Friedrich List werden aber immer mehr Menschen 50 Prognose mit „gebrochenen Erwerbsbiogra- phien“ das Rentenalter erreichen – 53,9 52,9 52,6 47,7 47,9 46,5 mittlerweile sind etwa eine Million 55 52 Niveausicherung 2030 (Haltelinie) 43 40 Menschen als Leih- bzw. Zeitarbei- ter beschäftigt,2 die zu knapp 40 Pro- 30 zent nur neun Monate oder weniger am Stück in einem Betrieb beschäf- 20 tigt sind.3 Hiervon besonders betrof- fen ist Ostdeutschland: Dort sank die Zahl der Beschäftigten im Bergbau 10 und im verarbeitenden Gewerbe von über neun Millionen zur Wendezeit Abbildung 1 0 auf unter sechs Millionen im Jahre 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 20064 – mit der Folge, dass in der Gesetz von Cyril Northcote Parkinson: Quelle: Sozialpolitik-aktuell.de (2017) 1 Vgl. PESTEL-Institut (2017): Rentenerwartungen aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, S. 2. In der Regel diskutieren Bürokraten über Dinge, 2 3 Vgl. www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV27.pdf (2017). Vgl. Blickpunkt Arbeitsmarkt (Januar 2017): Aktuelle Entwicklungen der Zeitarbeit, S. 13. von denen sie Ahnung haben, aber nicht über die Dinge, 4 Die Entindustrialisierung Ostdeutschlands ist unter anderem eine Folge davon, dass westdeutsche Unternehmen und westdeutsche Gewerkschaf- ten ihre hohen Lohnabschlüsse auf den ostdeutschen Raum übertrugen, obwohl die Produktivität geringer war. Während westdeutsche Sozialpart- ner die potenzielle ostdeutsche Konkurrenz schwächten, profitierten sie auf diese Weise zugleich vom hinzugekommenen Absatzmarkt. die relevant sind. 5 Vgl. SOZIALPOLITIK (2017): www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/ abbIV91.pdf. 6 Vgl. http://www.bmas.de/DE/Presse/Meldungen/2016/2016-05-30-solo-selbstaendige.html (30. Mai 2016). 7 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Das Gesamtkonzept zur Alterssicherung. Das Konzept im Detail, S. 16. 4 5
Ausgangssituation Ausgangssituation Und in einer solchen Situation, in Anteil Beschäftigter mit einer Rentenerwartung* unter 1.000 € je Monat der ein aufgeriebener Arbeitsmarkt im Jahr 2015 bei 45 Beitragsjahren und Renteneintritt im Jahr 2030 Die OECD konstatiert: Ersatzquoten in der OECD es einem Großteil der Deutschen (unterstelltes gesetzliches Rentenniveau 43 %) Die Ersatzquoten in Deutschland liegen unter dem OECD-Durchschnitt. unmöglich macht, durchgehend „Deutschlands zukünftige Rent- Nettoersatzquote (in %) nach Verdienstniveau und gut bezahlt beschäftigt zu sein, ner erwarten mit 51 Prozent für den Geringverdiener lassen die Altparteien zu, dass das Durchschnittsverdiener vergleichs- Besserverdiener Rentenniveau im Jahr 2030 auf 43 Abbildung 2 weise niedrige Nettoersatzquoten, Prozent absinken kann (siehe Abbil- was weit unter dem OECD-Durch- dung 1, S. 5). schnitt von 63 Prozent liegt (nach 100 derzeitiger Gesetzeslage). Ge- Unter diesen Bedingungen hat deut- ringverdiener, die 50 Prozent des 75 lich mehr als die Hälfte aller 2030 in durchschnittlichen Arbeitsentgelts Rente gehenden Beschäftigten mit erhalten, fallen mit einer Nettoer- 50 45 Beitragsjahren in Ostdeutschland satzquote von 55 Prozent gegen- eine Rentenerwartung von unter über dem OECD-Durchschnitt von DEUTSCHLAND NIEDERLANDE 1.000 Euro im Monat, und mehr als 73 Prozent sogar noch weiter hinter DÄNEMARK SCHWEDEN 25 SPANIEN < 50 % MEXIKO 45 Prozent aller Ostdeutschen mit die Vergleichspersonen in anderen IRLAND TÜRKEI 40 Beitragsjahren besitzen eine Ren- < 55 % Ländern zurück. Einer der Gründe Abbildung 3 0 tenerwartung von unter 800 Euro.8 dafür ist, dass es wegen der nicht (65) (65) (65) (68) OECD (65) (61) (71) (74) Auch in Westdeutschland haben 50 < 60 % existierenden Grund- und Mindest- Regelrentenalter Quelle: OECD (2018): Renten auf einen Blick 2017 Prozent aller Beschäftigten bei 45 < 65 % rente nur eine geringe Umverteilung Beitragsjahren eine Auszahlungser- über die monatlichen Rentenleistun- >= 65 % wartung von weniger als 1.000 Euro gen gibt.“11 pro Monat (siehe Abbildung 2).9 Spenden der Finanzbranche von 1994 – 2009 In Westdeutschland erwartet ein Auch die Umgestaltung des Alters- Drittel der Menschen mit 45 Bei- sicherungssystems hin zu einer Banken und Investmentsektor tragsjahren im Jahr 2030 eine Rente vermehrt „kapitalgedeckten“ Ren- in Euro Versicherungssektor auf Grundsicherungsniveau, in Ost- Anteil Beschäftigter mit einer Rentenerwartung* unter 600 € je Monat tenversicherung wird daran wenig im Jahr 2015 bei 40 Beitragsjahren und Renteneintritt im Jahr 2030 deutschland sind es sogar knapp 40 ändern. Seit etwa 20 Jahren wird 2.500.000 (unterstelltes gesetzliches Rentenniveau 43 %) Prozent.10 die Teilprivatisierung der Rente vo- rangetrieben. Kapitalmarktbasiertes 2.000.000 Vorsorgesparen des Einzelnen soll die durch die „Rentenreformen“ der 1.500.000 vergangenen Jahrzehnte und die Veränderungen auf den Arbeits- märkten gerissene Versorgungslücke 1.000.000 in der gesetzlichen Rentenversiche- rung schließen.12 Damit wurde das 500.0000 Prinzip „Rendite statt Rente“ veran- kert. 0 Abbildung 4 Die mit der „Ausweitung des Kun- 1994* 1995 1996 1997 1998* 1999 2000 2001 2002* 2003 2004 2005* 2006 2007 2008 2009* denpotenzials“ verbundene Teilpri- *Bundestagswahl · Quelle: SOMMER, Jörg, WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 422. < 18 % vatisierung der Rente wurde nach- < 21 % weislich „durch unterschiedliche Strategie der politischen Einfluss- 2000 an erhöhte die Finanzbranche 8 Vgl. PESTEL-Institut (2017): Rentenerwartun- < 24 % nahme“13 von Banken und Versiche- ihre Spenden an die Altparteien gen aus sozialversicherungspflichtiger Be- < 27 % rungen vorangetrieben. Vom Jahr massiv (siehe Abbildung 4). schäftigung in Bund, Ländern und Regionen, Foliensatz. >= 27 % 9 Vgl. PESTEL-Institut (2017): Rentenerwartun- gen aus sozialversicherungspflichtiger Be- schäftigung, S. 14. 11 OECD (2017): Ersatzquoten in der OECD, Renten auf einen Blick 2017, http://www.oecd.org/berlin/publikationen/PaG2017_CountryProzent20Note- 10 Vgl. PESTEL-Institut (2017): Rentenerwartun- Prozent20Germany_GER.pdf (Stand: 02.02.2018). gen aus sozialversicherungspflichtiger Be- 12 Vgl. SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 419. schäftigung, S. 14. 13 SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 421. * Rentenerwartung ausschließlich aus sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung. Quelle: PESTEL-INSTITUT (2017). 6 7
Ausgangssituation Ausgangssituation „Dieser Anstieg spiegelt keinen all- An diesem Beispiel lässt sich das Staat über 20 Milliarden Euro an träge der privaten Versicherungen gemeinen Trend in der Spendenpra- Spenden der Finanzbranche an Bundesparteien 1994 – 2009 engmaschige Beziehungsgeflecht Zulagen – die Beiträge der Versi- nicht leisten können, aber wegen der xis von Unternehmen wider: Während der Entscheidungsträger in Politik, cherungsnehmer kommen hinzu. Absenkung des gesetzlichen Ren- sich das jährliche Volumen der Groß- an CDU/CSU an SPD Wirtschaft und Medien studieren: Während die gesetzliche Renten- tenniveaus und des aufgeriebenen in Euro an FDP an GRÜNE spenden juristischer Personen (ohne Der zwischenzeitliche Leiter des versicherung jedoch keine zwei Pro- Arbeitsmarktes unter Altersarmut Finanzbranche) zwischen 1995 und 2.500.000 Wirtschaftsressorts der „Bild“-Zei- zent Verwaltungskosten verursacht, leiden (werden). 2007 – also bis zum Beginn der glo- tung, Oliver Santen, war bis Mai betragen die Verwaltungskosten balen Finanzkrise und Wirtschafts- 2004 Pressesprecher der Allianz der Finanzkonzerne 20 Prozent und Die systematische Zerstörung der 2.000.000 krise – verdoppelt hat (Anstieg von gewesen und schrieb dann in dem mehr, da hier beispielsweise Wer- gesetzlichen Rente im Zusammen- 1,8 Mio. € auf 3,6 Mio. €), haben sich Springer-Blatt Artikel über die bung, Managergehälter, Versiche- spiel mit der Zermürbung des Ar- die Großspenden der Finanzbranche 1.500.000 „Schrumpf-Rente“ – gemeint wa- rungsmakler und Verzinsungsforde- beitsmarktes ist der sozialpolitische im gleichen Zeitraum verfünffacht ren die zukünftigen Auszahlungs- rungen der Aktionäre mitfinanziert Sündenfall der deutschen Altpartei- (Anstieg von 280.000 € auf 1,4 Mio. 1.000.000 beträge der gesetzlichen Renten- werden müssen. Somit stellt sich en! €). Der Anteil der Großspenden von versicherung.19 Das Ziel war klar: auch das marktgläubige Argument, der Finanzbranche am Spendenauf- durch Kaputtreden der gesetzlichen der Wettbewerb zwischen den Versi- Die tatsächlichen Auszahlungshö- 500.0000 kommen juristischer Personen insge- Rentenversicherung die Teilprivati- cherungskonzernen könne unter an- hen der „kapitalgedeckten“ Alters- samt ist in diesem Zeitraum von 13,7 sierung der Rente voranzutreiben. derem zu niedrigeren Verwaltungs- vorsorge hängen im Wesentlichen 0 Abbildung 5 Prozent auf knapp 30 Prozent ange- 1994* 1995 1996 1997 1998* 1999 2000 2001 2002* 2003 2004 2005* 2006 2007 2008 2009* Ein lohnendes Geschäft für Banken, kosten führen, als falsch heraus.20 von den Entwicklungen der interna- stiegen. Insofern hat die Finanzbran- Versicherungen, Radio- und Fern- Die Teilprivatisierung der Rente hat tionalen Finanzmärkte ab. Der reale che ihr finanzielles Engagement bei *Bundestagswahl · Quelle: SOMMER, Jörg, WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 423. sehsender, Zeitungen sowie sonstige katastrophale Auswirkungen auf Wert der privaten Vorsorge ist daher der Parteienfinanzierung in der Sum- Medien! die Rentenansprüche von Eltern, nicht vorhersagbar. Ob die Auszah- me wie auch im Verhältnis zu ande- Von 2001 bis 2016 wurden über 16 insbesondere für (alleinerziehende) lungen aus den privaten Vorsorge- ren Branchen deutlich ausgeweitet.“ Besonders auffällig sind die Spen- räten von Versicherern saßen/sitzen Millionen Riester-Verträge abge- Mütter, Geringverdiener, Erwerbs- modellen wie der Riester-Rente die denaufkommen im Zeitraum der – als Beispiel sei Prof. Dr. Meinhard schlossen (siehe Abbildung 6). unfähige, Langzeitarbeitslose und Verluste aus den „Reformen“ (Rente Weiter: „konzeptionellen Erarbeitung und Miegel17 genannt –, in den Medien Seit dem Jahr 2003 gewährte der Langzeitkranke, die sich die Bei- mit 67, Nachhaltigkeitsfaktor und „83 Prozent der Großspenden der Verabschiedung der Rentenreform das Scheitern der gesetzlichen Ren- weitere „Dämpfungsfaktoren“ in der Finanzbranche stammen allein von 2001“15 an die damaligen Regie- tenversicherung wegen des demo- Rentenanpassungsformel) ausglei- den drei bzw. vier deutschen Groß- rungsparteien SPD und Grüne (siehe graphischen Wandels an die Wand chen können, ist höchst ungewiss.21 banken (Deutsche Bank, Commerz- Abbildung 5). malen bzw. herbeireden.18 Ein Bei- Sollte die aktuelle Nullzinsphase bank, HypoVereinsbank sowie bis spiel der Verfilzung von Finanz- und weiter anhalten und sich über die 2009 Dresdner Bank), dem Finanz- SOMMER und WEHLAU halten Medieneliten war die sogenannte kommenden 2020er Jahre oder gar vertrieb Deutsche Vermögensbera- hierzu fest, dass „[d]ieses Spenden- „Volks-Rente“ der „Bild“-Zeitung. in die 2030er Jahre ziehen, ist es tung AG (DVAG) und dem Versiche- verhalten […] auf ‚politische Land- Die „Bild“ vermarktete mithilfe von ausgeschlossen, dass die Auszah- rungskonzern Allianz“. schaftspflege‘ hin[weist]“.16 hysterischen Schlagzeilen Versiche- lungen der privaten Rentenvorsorge Die Einflussnahme auf die Renten- rungen des Finanzkonzerns Allianz, die durch die „Reformen“ gerissenen Und: debatte wurde jedoch nicht nur auf von deren Verkauf der Springer-Kon- Lücken ausgleichen können.22 Die „In jedem Jahr haben CDU/CSU dem Weg des klassischen Lobbyis- zern wiederum selbst profitierte. Menschen hätten dann vollkommen Abbildung 6 zusammen mehr als die Hälfte der mus betrieben: Radio- und Fernseh- sinnfrei „geriestert“ – auch weil die Spenden der Finanzbranche auf sender, Zeitungen und sonstige Me- Riester-Rente mit Ausnahme des sich vereinen können. Nach dem Re- dien profitierten von Werbeanzeigen Freibetrages angerechnet wird23 –, gierungswechsel im Jahr 1998 hin für Riester- und Rürup-Renten der zu Rot-Grün wurden aber auch die Versicherungen und Banken. Als SPD und erstmalig das Bündnis 90/ Gegenleistung konnten „unabhän- 19 Nach dem Engagement bei der „Bild“-Zeitung war er Pressesprecher bei Siemens und ist aktuell Kommunikationschef des Bundesverbandes Deut- Die Grünen mit Großspenden der Fi- gige Wirtschaftsexperten“, die aber scher Banken. nanzbranche bedacht.“14 in Wahrheit in diversen Aufsichts- 20 Vgl. DIAMOND, Peter/BARR, Nicholas (2009): Reformin Pensions: Principles, analytical errors and policy directions, In: International Social Security Review, 62, 2/2009, S. 14. – Aufgrund asymmetrischer Informationsverteilung und nicht perfekter Entscheidungsverfahren der Versicherungsneh- mer ist der „private Rentenversicherungsmarkt“ weit entfernt von einem vollkommenen Markt der volkswirtschaftlich-mathematischen Modell- welt neoklassischer Prägung. 14 SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 422. 21 Vgl. SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 425. 15 SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 423. 22 Vgl. HAAN, Peter et al. (2017): Entwicklung der Altersarmut bis 2036 – Trends, Risikogruppen und Politikszenarien, Bertelsmann-Stiftung, S. 74 u. S. 103. 16 SOMMER, Jörg/WEHLAU, Diana (2012): Spendable Finanzbranche – Privatisierte Alterssicherung, S. 425. 23 „Es wird ein Grundfreibetrag in Höhe von 100 Euro monatlich für die Bezieher dieser Leistungen gewährt. Ist die Riester-Rente höher als 100 Euro, 17 2003–2010 Mitglied des Konzernbeirats der AXA-Konzern AG, 1997–2006 Wissenschaftlicher Berater des ist der übersteigende Betrag zu 30% anrechnungsfrei. Auf diese Weise können bis zu 202 Euro anrechnungsfrei gestellt werden. Die Deckelung Deutschen Instituts für Altersvorsorge (DIA), das 1997 von der Deutschen Bank AG gegründet wurde. greift immer dann, wenn der zu gewährende Freibetrag diesen Betrag übersteigt.“ BMF (2017): Riester-Rente wird noch attraktiver, https://www. 18 Einen Überblick über „Bestellte Gutachten und käufliche Wissenschaft“ bietet das zweite und dritte Kapitel bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/Steuern/Weitere_Steuerthemen/Altersvorsorge/2017-08-21-Riester-Ren- des populärwissenschaftlichen Buches „Die Vorsorgelüge“ von Holger BALODIS und Dagmar HÜHNE (Berlin 2012). te-wird-noch-attraktiver.html (Stand: 17.05.2018). 8 9
Ausgangssituation Altersarmut hat niemand verdient… aber den Banken und Versicherun- 2. Menschen mit hoher Bonität 2018 haben insgesamt 46.826 Perso- gen Boni-Zahlungen an Manager, können zu Niedrigzinsen Kredi- nen in Deutschland Asyl beantragt.27 Dividendenzahlungen an Aktionäre te aufnehmen, um Immobilien Hinzu kommt der Familiennachzug. sowie Annoncen der Werbeindust- zur Spekulation zu erwerben. Die Flüchtlingskrise im Zusammen- rie bei Radio- und Fernsehsendern, spiel mit dem Familiennachzug wird in Zeitungen und sonstigen Medien 3. Durch die expansive Geld- die Mietpreise in vielen Städten wei- finanziert. politik der EZB geriet der ter nach oben treiben.28 Mit anderen Worten: Die Altparteien Devisenkurs des Euro unter haben aus unserer Heimat ein Land Druck. So konnten sich zum Ein immer höherer Anteil des Ren- gemacht, in dem sich ehrliche Bür- Beispiel Chinesen günstig mit tenbezugs muss also fürs Wohnen ger kaum noch eine lebensstandard- Immobilien und Unternehmens- aufgewendet werden. Zudem darf erhaltende Rente erarbeiten können, anteilen eindecken.25 die europäische Binnenwanderung in dem sich aber der Lobbyismus nach Deutschland nicht vernachläs- des internationalen Finanz- und Ver- 4. Berufsständische Versorgungs- sigt werden: Die Nettozuwanderung sicherungskapitals milliardenfach werke müssen aufgrund nied- insgesamt betrug alleine für 2015 auszahlt. riger Zinsen ihre Portfolios um- 1,535 Millionen Personen.29 Weitere Probleme ergeben sich aus strukturieren. Statt in Anleihen der niedrigen Wohneigentumsquo- mit niedrigen Zinsen zu inves- „Bereits seit 2009 werden in Deutsch- te der Deutschen – die niedrigste tieren, nutzen sie verstärkt Ak- land zudem zu wenige Wohnungen aller EU-Staaten. Der andauernde tien und Immobilien, was eben- gebaut. Durch die zu schwache Neu- Immobilienpreisboom zieht massiv falls zu höheren Preisen führt.26 bautätigkeit ist bis heute ein Bedarf steigende Mieten nach sich. Rentner von rund 1 Mio. fehlenden Wohnun- müssen deshalb einen immer grö- Wegen des im internationalen Ver- gen in Deutschland aufgelaufen. [...] ßeren Anteil ihrer Einkünfte für die gleich geringen Eigenheimanteils in Die Zahl der fertiggestellten Woh- Miete aufwenden. Deutschland treffen die steigenden nungen lag im Jahr 2015 mit 248.000 Verursacht werden die steigenden Mieten die Deutschen (Rentner) be- Wohnungen deutlich unter dem Preise am Immobilienmarkt unter sonders hart. Familien können sich erforderlichen Bedarf von 400.000 anderem durch die aktuelle Niedrig- den Immobilienerwerb immer sel- Wohnungen. [...] Insbesondere im zinspolitik der EZB – auf vier Wegen: tener leisten. Doch selbst wenn Im- Bereich des sozialen Wohnungsbaus mobilieneigentum vorhanden ist, besteht erhöhter und dringender 1. Die mithilfe von Target-II-Sal- sind niedrige Renten problematisch, Handlungsbedarf. Im Zeitraum 2013 gegenüber. Im Jahr 2015 wurden sche Unternehmer sowie Rentner. Es lagefinanzierte Rentensystem durch den finanzierte Kapitalflucht weil beispielsweise Reparaturen am bis 2016 sind rund 276.000 Wohnun- rund 15.000 Wohnungen im Sozial- gewinnen internationale Finanzkon- das Großziehen eigener Kinder. Nur aus Südeuropa: Reiche Italie- Dach oder an der Heizungsanlage gen aus der Bindung herausgefallen. mietwohnungsbau neu errichtet. zerne, deren Manager und Aktionä- durch ihr Ja zum Nachwuchs und ner, Spanier und Griechen ent- anfallen können. Im hohen Alter In den Jahren 2017 bis 2020 wird das Das entspricht nur 18 Prozent des re sowie Radio- und Fernsehsender, der damit verbundenen Erziehungs- ziehen den unsicheren Banken sind Kredite schwierig zu erlangen Angebot voraussichtlich um weitere mittelfristigen Bedarfs von 80.000 Zeitungen, sonstige Medien, dazu leistung kann das umlagefinanzierte ihrer Heimatländer ihr Geldver- und bei niedrigen Renten fällt die 160.000 Wohnungen reduziert. Pro Sozialwohnungen p.a.“30 Immobilienspekulanten. Rentensystem überhaupt dauerhaft mögen und investieren es in si- Finanzierung von kostenintensiven Jahr fallen damit 40.000 bis 50.000 Doch nicht erst mit Blick auf die bestehen – dennoch richten sich die chere Anlagen, zum Beispiel in Reparaturen ebenfalls schwer. weitere Wohnungen aus der Bin- Mit anderen Worten: Die Euro-Politik Alterversorgung wird das Versa- individuellen Rentenansprüche na- Immobilien und Unternehmen In diesem Zusammenhang muss dung heraus. Der rückläufigen Ent- der Altparteien und die geldpoliti- gen der Altparteien offenbar: Das hezu ausschließlich nach den Beiträ- in Deutschland.24 Dies treibt die auch die noch immer stattfinden- wicklung der Wohnungsbestände schen Maßnahmen der Europäi- umlagefinanzierte Rentensystem gen und kaum nach der Erziehungs- Immobilienpreise nach oben, de Masseneinwanderung erwähnt steht eine viel zu geringe Neubau- schen Zentralbank treiben die Im- der Bundesrepublik missachtet die leistung.31 was sich auf die Mieten auswirkt. werden. In den ersten drei Monaten tätigkeit im sozialen Wohnungsbau mobilienpreise sowie Mieten nach Leistungen von Müttern und Vätern oben, und die von den Altparteien weitestgehend. Eltern finanzieren Elternschaft ist heute eines der größ- geförderte Masseneinwanderung als abhängig Beschäftigte durch ten Armutsrisiken – insbesondere verschärft dieses Problem immer ihre Sozialversicherungsbeiträge Alleinerziehende und Familien mit 24 Vgl. WELT (2012): https://www.welt.de/finanzen/immobilien/article112061798/Griechen-und-Spanier-kaufen-Berlins-Markt-leer.html (Stand: weiter. Leidtragende sind Arbeiter, die Renten ihrer Eltern und Groß- mehr als zwei Kindern sind betrof- 03.07.2017). Angestellte, klein- und mittelständi- eltern. Zugleich erhalten sie das um- fen.32 25 Vgl. FAZ (2017): http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/immobilien/wohnen/immer-mehr-chinesen-kaufen-deutsche-immobilien-15067961.html (Stand: 03.07.2017). 26 Vgl. ÄRZTEZEITUNG (2017): In Bezugnahme auf eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, S. 14. 27 Vgl. BAMF (2018): Asylgeschäftsstatistik, http://www.bamf.de/SharedDocs/Meldungen/DE/2018/20180412-asylgeschaeftsstatistik-maerz.html;jses- sionid=98D5884A6FD63B73A8FCAD86DCCF8062.1_cid286?nn=1367522 (Stand: 20.04.2018). 30 PROGNOS (2017): Wohnraumbedarf in Deutschland und den regionalen Wohnungsmärkten, www.impulse-fuer-den-wohnungsbau.de/fileadmin/ 28 Vgl. European Business School (EBS-REMI) (2017): Der Einfluss der Flüchtlingskrise auf die größten deutschen Immobilienmärkte. user_upload/Prognos_Studie_Wohnungsbautag_2017.pdf (Stand: 01.12.2017). 29 Vgl. DESTATIS (2017): Mehr als 10 Millionen Ausländer in Deutschland https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilun- 31 Vgl. WERDING, Martin (2014): Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 6. gen/2017/06/PD17_227_12521.html (Stand: 12.10.2017). 32 Vgl. WERDING, Martin (2014): Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 6. 10 11
Ausgangssituation Ausgangssituation So zeigen auch neueste Studien, Die niedrigen Geburtenraten ver- Wir wollen junge Leute bei der Er- dass mit jedem Kind das Armutsri- ursachen nicht nur strukturelle Ver- füllung ihres Kinderwunsches unter- siko einer Familie steigt.33 Tatsäch- änderungen in den Sozialsystemen. stützen und kinderreiche Familien lich erhalten Eltern häufig effektiv Sie bedeuten auch persönliches Un- sowie arbeitende Mütter finanziell geringere Renten als Personen ohne glück: Aufgrund der sozioökonomi- fördern, statt Masseneinwanderung Kinder.34 Denn aufgrund der Betreu- schen Umstände bekommen deut- zuzulassen. Mütter stehen dabei im ungsleistung sind Mütter bzw. Väter sche Frauen weniger Kinder, als sie Fokus: Sie bringen in der Regel die häufiger nur eingeschränkt erwerbs- sich wünschen. meiste Zeit für die Kindererziehung tätig, doch die hohen Belastungen Der „Monitor Familienforschung auf und verzichten daher häufig auf durch die Sozialversicherungsbeiträ- Ausgabe 34“ des Familienministe- „weitergehende Ausbildungen oder ge bleiben. riums stellt auf Seite 13 fest: die Wiederaufnahme der Erwerbs- tätigkeit“.38 Dieses rentenpoliti- Altparteienversagen lässt sich nur „Fast jede bzw. jeder Vierte der 16- sche Positionspapier der Thüringer an wenigen Stellen noch deutlicher bis 24-Jährigen meint heute, drei AfD-Fraktion fordert in Anbetracht festmachen als in der Renten- und Kinder seien die ideale Familiengrö- der oben dargestellten Umstände Familienpolitik! ße (2007 nur jede bzw. jeder 10.). Der eine renten- und familienpolitische Anteil, der nur ein Kind ideal findet, Wende! Ein im Jahr 2000 geborenes Kind hat sich von 14 auf 6 Prozent mehr zahlt bei einem durchschnittlichen als halbiert. Bei der idealen Familien- Erwerbsverhalten 158.300 Euro größe nähern sich die jungen Deut- mehr in die gesetzliche Rentenver- schen mittlerweile den Gleichaltri- sicherung ein, als es an Rentenan- gen in Frankreich an, von denen 28 Abbildung 7 sprüchen erwirbt. Gleichzeitig ergibt Prozent drei und weitere 10 Prozent sich für die Mutter durch die An- mindestens vier Kinder als Ideal an- rechnung von Erziehungszeiten für sehen.“36 (siehe Abbildung 7, S. 13) dieses Kind ein Rentenanspruch von nur 17.100 Euro. „Insgesamt ergibt Deutschlands niedrige Geburtenrate sich für ein durchschnittliches Kind liegt unter anderem, wie oben dar- aus heutiger Sicht ein Überschuss gestellt, an seinem Steuer- und So- aller von ihm geleisteten Sozialbei- zialleistungssystem in Verbindung träge und Steuern über die von ihm mit hohen Wohnkosten und Kosten in Anspruch genommenen Geld- für den Erwerb von Wohneigentum. und Sachleistungen in Höhe von Eine familien- und kinderfreund- 103.400 Euro (Barwert für 2010).“35 liche Politik sowie gerechte Berufs- chancen für Mütter lassen die Ge- Es kann daher nicht verwundern, burtenrate steigen, weil sich dann dass die Geburtenraten so niedrig mehr junge Menschen ihren Kinder- sind. Eine angemessene Beteiligung wunsch erfüllen. Frankreich konnte der Eltern an den Früchten der Ar- mit einer entsprechenden Politik die beit jener Kinder, die sie großziehen Anzahl der Kinder pro Frau von 1993 bzw. großgezogen haben, ist der Ge- mit 1,65 im Jahr 2000 auf 1,88 (plus rechtigkeit halber dringend geboten. 14 Prozent) steigern.37 33 Vgl. BERTELSMANN (2018): Viele Familien ärmer als bislang gedacht, www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemittei- lung/pid/viele-familien-aermer-als-bislang-gedacht/ (Stand: 07.02.2018). 34 Vgl. WERDING, Martin (2014): Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 8. 35 WERDING, Martin (2014): Familien in der gesetzlichen Rentenversicherung, S. 9. 36 BMFSFJ (2015): Monitor Familienforschung, https://www.bmfsfj.de/blob/76252/0c016a5969e447087f8a6b6883a06d80/monitor-familienfor- schung-ausgabe-34-data.pdf (Stand: 01.06.2017). 37 Vgl. BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik, S. 4. – Zu den Anreizwirkungen finanzieller Leistungen auf die Geburtenrate siehe auch COHEN, A./DEHEJIA, R./ROMANOV, D.: Do Financial Incentives Affect Fertility?, in: Review of Economics and Statistics, 2013. Anreize wären keine „Geburtenprämien“, sondern die Kompensation der Benachteiligung von Eltern, wie oben dargestellt. Die implizite finanzielle Bestrafung von Deutschen, die Ja zum Kind sagen, würde der Vergangenheit angehören. 38 ROPPEL, Ulrich (2017): Demographie und Einkommensentwicklung, S. 10. 12 13
Demographischer Wandel Demographischer Wandel 2. Demographischer Wandel hat sich der Anteil der über 65-Jähri- gen von etwa fünf Prozent auf fast 19 Prozent an der Gesamtbevölkerung Die Altparteien berufen sich gerne eine Ausrede, die vom eigenen viel- Fachkräftemangel). Doch wie groß ungefähr vervierfacht. Die Lebens- auf die demographische Entwick- fachen Versagen ablenken soll (üb- ist der Einfluss der demographischen erwartung stieg um mehr als 30 Jah- lung, um ihre Rentenpolitik zu legiti- rigens nicht nur im Bereich der Ren- Entwicklung auf die gesetzliche Ren- re. Die Alterung der Gesellschaft ist mieren. Tatsächlich ist das Argument te, sondern auch beim sogenannten tenversicherung tatsächlich? also ein Prozess, der seit über einem Jahrhundert stattfindet und längst vor dem sogenannten Pillenknick begann. Auch das Schrumpfen des Anteils von Kindern und Jugendli- 2. 1. Demographischer Wandel – Ein alter Hut chen an der Gesamtgesellschaft ge- hört zu diesem Prozess. Deren Anteil Abbildung 10 sank von 44 Prozent auf 17 Prozent – er hat sich also mehr als halbiert. Die Bevölkerungszahl Deutschlands Damit einher ging eine Verringerung verdoppelte sich vom Gründungsjahr des Jugendquotienten (siehe Abbil- des Deutschen Reiches 1871 bis zum dung 10).40 Doch nicht nur die Alten Wirtschaftsjournalisten hätte die Be- Tatsächlich ergibt sich ein anderes Beginn des dritten Jahrtausends. wollen versorgt sein, also die nicht völkerungsentwicklung des vergan- Bild: Hatte das Deutsche Reich 1871 noch mehr Erwerbstätigen, sondern auch genen Jahrhunderts eine „demogra- In der Zeit des demographischen 41 Millionen Einwohner, waren es im die Kinder und Jugendlichen, also phische Katastrophe“ für die sozialen Wandels wurde die Arbeitszeit mas- Jahr 2002 82 Millionen. Der Anstieg die noch nicht Erwerbstätigen. Sicherungssysteme sein müssen. siv verkürzt:42 war jedoch alles andere als stetig: Im Zeitraum von 1871 bis 1900 wuchs Der erst seit gut 25 Jahren in der die Bevölkerung um 15 Millionen Öffentlichkeit diskutierte demogra- Durchschnittliche Durchschnittliche Jahr tägliche Arbeitszeit wöchentliche Arbeitszeit Menschen auf 56 Millionen. Im Jahr phische Wandel – steigender Anteil in der Industrie in Stunden in der Industrie in Stunden 1935 lebten bereits knapp 69 Millio- älterer Personen, sinkender Anteil nen Menschen in Deutschland. von jungen Menschen sowie ein stei- 1900 10,5 63 (Sechs-Tage-Woche) Abbildung 8 gendes Durchschnitts- und Median- 1910 10,0 60 (Sechs-Tage-Woche) Jedoch wuchs nicht nur die Bevölke- alter41 – findet also schon seit mehr rung, sondern sie „alterte“ auch be- als 100 Jahren statt und wurde, wie 1919 8,0 48 (Sechs-Tage-Woche) reits (siehe Abbildung 8). Während in Kapitel 1 gezeigt, aus finanziellen das Durchschnittsalter von 1871 bis Interessen der Banken- und Versi- 1957 – 1984 (schrittweise über 8,0 40 (Fünf-Tage-Woche) 1900 noch leicht sank, stieg es von cherungswirtschaft aufgebauscht. alle Branchen) 1900 bis 1910, um von da an auf das Aus der heutigen Sicht der „unab- 1995 heutige Durchschnittsalter von etwa hängigen Wirtschaftsexperten“, der (westdeutsche 7,0 35 (Fünf-Tage-Woche) Metallindustrie) 45 Jahren anzusteigen. Versicherungskonzerne und vieler Mit dem demographischen Wandel im 20. Jahrhundert stieg auch der in öffentlichen Debatten als so ent- scheidend angesehene Altenquo- 40 Im Jugendquotienten (eigentlich Kinder- und Jugendquotienten) wird die jüngere (noch nicht erwerbstätige) Bevölkerung auf die Bevölkerung im er- tient (Abbildung 9).39 werbsfähigen Alter bezogen. Siehe BIB (2017): Glossareinträge, http://www.bib-demografie.de/SharedDocs/Glossareintraege/DE/J/jugendquotient. html;jsessionid=1D81602D1D5D05C7962E0D876A9203C4.1_cid380?nn=3074114 (Stand: 07.10.2017). Der Altenquotient verdoppelte sich Formel: JQ = Bis 20-Jährige / 20- bis 65-Jährige. von Mitte/Ende der 1920er Jahre bis 41 Das Medianalter teilt die Bevölkerung so, dass 50 Prozent älter und 50 Prozent jünger als dieses statistische Lebensalter sind: Anfang der 1960er Jahre. Seither ver- Medianalter 1910: 23,6 Jahre Abbildung 9 Medianalter 1960: 34,7 Jahre doppelte er sich fast erneut bis zum Medianalter 2005: 42,3 Jahre heutigen Niveau von etwa 35 Pro- ROSTOCKER ZENTRUM (2007): Deutschland im demographischen Wandel, http://www.rostockerzentrum.de/Content/publikationen/Deutschland- zent. Im Zeitraum von 1900 bis 2005 Prozent20imProzent20DemografischenProzent20Wandel_2007.pdf (Stand: 05.06.2017). 42 Zahlen für die Jahre 1900 und 1910 nach MEINERT, Ruth: Die Entwicklung der Arbeitszeit in der deutschen Industrie 1820–1956, wirtschaftswiss. Diss. Münster 1958, S. 5 ff. Zahlen für das Jahr 1919 nach SCHNEIDER, Michael (1984): Der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, S. 83. 39 Im Altenquotienten wird die ältere (nicht mehr erwerbstätige) Bevölkerung auf die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ins Verhältnis gesetzt. 14 15
Demographischer Wandel Demographischer Wandel In der Zeit des demographischen Wandels wurde auch der Urlaubsan- Jahr Urlaubsanspruch Aus zwei Gründen mussten die Leis- Wirtschaftsjournalisten und Interes- gen schneller wachsen würden als spruch massiv ausgebaut:43 tungen der gesetzlichen Rentenver- sengruppen bewusst verengte Blick die Nahrungsmittelproduktionen.49 Tariflicher Urlaubsanspruch war im Kaiserreich sicherung trotz des steigenden Al- auf den Altenquotienten daher nicht Hunger und Kriege seien die zwangs- 1900 die Ausnahme. In der Zeit des demographischen tenquotienten nicht eingeschränkt zu. Der Altenquotient muss mit dem läufigen Folgen. Zumindest für die Wandels wurde auch das Rentenein- 87 Prozent aller Tarifverträge enthielten Verein- werden: Jugendquotienten zum Gesamtver- heutigen Industrie- und Dienstleis- trittsalter abgesenkt: barungen über Urlaubsansprüche. sorgungsquotienten kombiniert und tungsländer kann diese These für den 1925 Nach einjähriger Beschäftigung meistens drei bis 1. Der niedrige Jugendquotient in seinem historischen Verlauf be- Verlauf der vergangenen 200 Jahre • 1910 lag das Renteneintrittsalter vier Urlaubstage pro Jahr. trachtet werden (siehe Abbildung abgelehnt werden.50 Im Jahr 1900 bei 70 Jahren. Beginn der Durchschnittlicher Urlaubsanspruch: Oben wurde bereits beschrieben, 12). Dann wird ersichtlich, dass die ernährte ein Landwirt in Deutsch- • 1916 wurde es auf 65 Jahre ge- 1950er zwei Wochen im Jahr dass sowohl die Alten versorgt sein Versorgungslasten der Erwerbstäti- land vier Personen, im Jahr 1950 senkt. wollen, also die nicht mehr Erwerbs- gen gesunken sind. waren es bereits zehn Personen und Beginn der Durchschnittlicher Urlaubsanspruch: • Mit der Rentenreform von 1972 tätigen, als auch die Kinder und Ju- heute sind es über 130 Menschen.51 1960er drei Wochen im Jahr sollte der „unerwünschten gendlichen, also die noch nicht Er- 2. „Produktivität47 schlägt Das Bevölkerungswachstum trieb Alten-Arbeit“44 sogar der finan- werbstätigen. Für die Alten müssen Demographie“48 den technologischen Fortschritt und zielle Anreiz genommen werden. 1975 Fünf Wochen im Jahr Pflegeheime vorgehalten werden, das Wachstum des Wissens im Be- „Die Einführung der abschlags- für Kinder und Jugendliche Schulen Im Jahr 1798 verfasste der britische reich der Landwirtschaft an.52 Doch freien flexiblen Rente hat das Der gesetzliche Urlaubsanspruch beträgt bei einer und Kindertagesstätten. Eine wirk- Ökonom Thomas Robert Malthus nicht nur in der Landwirtschaft leis- Eintrittsalter um drei Jahre 5-Tage-Woche 20 Tage im Jahr. Beschäftigte mit lichkeitsgetreue Betrachtung der seine Schrift „Principle of Popula- teten Forschungserfolge wie das Ha- 2017 Tarifvertrag beispielsweise der IG Metall haben [auf ein reales Eintrittsalter von Anspruch auf 30 Tage, dazu gibt es rund 70 % vergangenen und der zukünftigen tion“. Im Zentrum des Buches steht ber-Bosch-Verfahren ihren Beitrag 59 Jahren] reduziert und damit eines Monatseinkommens als Urlaubsgeld. Belastungen lässt der von einigen die Hypothese, dass Bevölkerun- zum Wachstum – in der gesamten die Rentenbezugszeit um drei Wirtschaft trieb die Kapital- und Jahre verlängert“ Wissensakkumulation das Brutto- (siehe Abbildung 11).45 inlandsprodukt pro Kopf seit der • Erst „[d]ie Verschärfung der Reichsgründung 1871 in ungeahnte damaligen Berufsunfähigkeits- Höhen (siehe Abbildung 13, S. 18). rente in den 1980er Jahren und die Einführung der Abschläge ab ca. 1997 [...] haben das Durch das hier dargestellte Wirt- Rentenalter wieder erhöht.“46 schaftswachstum war es ohne Pro- bleme möglich, den höheren Anteil Das bedeutet zusammengefasst: von Alten zu finanzieren, ohne dass Während des seit über 100 Jahren die abhängig Beschäftigten Verzicht stattfindenden demographischen üben mussten. Im Gegenteil: Oben Wandels wurden die sozialen Siche- wurde erläutert, dass soziale Errun- rungssysteme massiv ausgebaut, die genschaften wie Urlaubsansprüche Arbeitszeit verkürzt, Urlaubsansprü- und Auszahlungshöhen der gesetz- Abbildung 12 Abbildung 11 che erweitert und dennoch höhere lichen Rentenversicherung gleich- Rentenauszahlungen sowie längere zeitig stark ausgebaut wurden. Bezugszeiten finanziert. 47 Produktivität bezeichnet das Verhältnis von Output zu Input. Kann mit gleichem Arbeitseinsatz mehr Output bzw. mit weniger Arbeitseinsatz gleich viel hergestellt werden, ist beispielsweise die Arbeitsproduktivität gestiegen. 48 BOSBACH, Gerd (2012): Produktivität schlägt Demographie, http://www.deutschlandfunkkultur.de/produktivitaet-schlaegt-demografie.1005. de.html?dram:article_id=225987 (Stand: 31.06.2017). 49 Economy-Pull-Hypothese: Lebensmittelgewinne werden sofort in Bevölkerungsvermehrung umgesetzt (vgl. SCHMID, Josef (Hrsg.) (1994): Bevölke- rung, Umwelt, Entwicklung – Eine humanökologische Perspektive, S. 21). 50 Ob dies für die Menschheit und den Planeten langfristig gilt, darf angezweifelt werden. Zwar könnte die Weltagrarindustrie mittlerweile etwa 12 Mrd. Menschen ernähren, dies jedoch beispielsweise nur um den Preis industrieller Monokulturen. Damit gingen unter anderem der Verlust von fruchtbaren Böden, Schädigungen des Grundwassers und Massenemissionen von Methan einher. Die Tragfähigkeit der Erde hängt nicht bloß von 43 SCHNEIDER, Michael (1984): Der Kampf um die Arbeitszeitverkürzung von der Industrialisierung bis zur Gegenwart, S. 84. der Menschenanzahl, sondern eben auch vom Lebensstandard ab. 44 Der SPIEGEL (1972): Renten-Reform, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42762654.html (Stand: 02.06.2017). 51 Ohne Erzeugung aus Auslandsfuttermitteln. Quelle: BAUERNVERBAND (2017): Jahrhundertvergleich, http://www.bauernverband.de/12-jahrhun- 45 BÖRSCH-SUPAN, Axel (2015): Lehren aus den Rentenreformen seit 1972, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2015/13/lehren-aus-den-rentenrefor- dertvergleich (Stand: 20.12.2017). men-seit-1972/ (Stand: 03.07.2017). 52 Economy-Push-Hypothese: Bevölkerungsdruck erzwingt neue Anbaumethoden und schafft so die Voraussetzungen dafür, dass mehr Menschen 46 BÖRSCH-SUPAN, Axel (2015): Lehren aus den Rentenreformen seit 1972, http://archiv.wirtschaftsdienst.eu/jahr/2015/13/lehren-aus-den-rentenrefor- versorgt werden könne. Die Hypothese geht zurück auf die Agrarökonomin Ester Boserup (vgl. SCHMID, Josef (Hrsg.) (1994): Bevölkerung, Umwelt, men-seit-1972/ (Stand: 03.07.2017). Entwicklung – Eine humanökologische Perspektive, S. 21). 16 17
Demographischer Wandel Demographischer Wandel Abbildung 13 Tatsächlich erhöhte man seit den dard der heutigen Arbeiter und An- Der Produktivitätsfortschritt erlaub- 1950er Jahren auch die Beiträge zur gestellten geringer sei, als er es im te außerdem – trotz steigender Bei- Rentenversicherung, verdoppelte sie Jahr 1950 war. tragssätze („Lohnnebenkosten“) und sogar fast – von zehn Prozent auf massiv steigender Löhne – den Er- zwischenzeitlich 20,3 Prozent und Dieser Zusammenhang ist der ent- halt der volkswirtschaftlichen Wett- heute 18,7 Prozent (siehe Abbildung scheidende: Trotz höherer Beiträge bewerbsfähigkeit Deutschlands. 14); hier sind die steuerfinanzierten zur Rentenversicherung ist der Le- und die privaten Beiträge und Zu- bensstandard gestiegen. Der Produk- Im Übrigen sind nicht nur die Beiträ- schüsse zum kapitalmarktbasierten tivitätsfortschritt erlaubt gleichzeitig ge zur gesetzlichen Rentenversiche- Abbildung 15 Vorsorgesparen noch nicht einmal einen höheren Lebensstandard der rung gestiegen. Insgesamt stiegen eingerechnet. Doch würde niemand abhängig Beschäftigten und die Fi- die Beitragssätze in den Zweigen der behaupten, dass der Lebensstan- nanzierung höherer Beitragssätze. Sozialversicherungen an – seit 1980 um etwa 23 % (siehe Abbildung 15). nachdem auch sie sich zwischen- Dies war seit Wirtschaftswunderzei- Allein der Beitragssatz zur gesetzli- zeitlich verdoppelt hatten. ten immer der Fall (siehe Abbildung chen Krankenversicherung stieg um 16, S. 20). fast 40 Prozent, von 11,4 Prozent des Höhere Sozialversicherungsbeiträge Bruttoentgeltes auf 15,7 Prozent. Im führen nicht zu einem geringeren Jahr 1970 lag der durchschnittliche verfügbaren Einkommen, sondern Nicht nur die demographische Ent- Krankenkassenbeitrag sogar nur sind bei steigender Produktivität wicklung ist ein alter Hut. Auch die bei 8,2 Prozentpunkte. Die Pflege- überhaupt kein Problem. Dieser Zu- steigenden Beitragssätze zu den versicherung gab es bis 1995 nicht sammenhang gilt jedoch nur so lan- Sozialversicherungen sind ein alter und beträgt heute 2,55 Prozent des ge, wie der Produktivitätsfortschritt Hut. Und dennoch stieg der allge- Bruttoentgeltes. Nur die Beiträge zur auch an die Arbeitnehmer weiterge- meine Lebensstandard massiv an, Arbeitslosenversicherung sind heu- reicht und der „verteilungsneutrale Urlaubsansprüche wurden ausge- te genauso hoch wie im Jahr 1980, Spielraum“53 genutzt wird. baut und Arbeitszeiten verkürzt – Abbildung 14 53 Der „verteilungsneutrale Spielraum“ beschreibt, wie die gesamtwirtschaftliche Mehrproduktion zwischen den Sozialpartnern aufgeteilt werden muss, damit sie im gleichen Verhältnis auf Arbeitnehmer und Unternehmen verteilt wird. In den 1970er Jahren lag die Nominallohnentwicklung oberhalb des verteilungsneutralen Spielraums, was eine Ursache für die damals hohen Inflationsraten war. Schuld daran waren insbesondere Ge- werkschaften mit überzogenen Forderungen (z. B. „Kluncker-Runden“). 18 19
Demographischer Wandel Demographischer Wandel Überblick hinsichtlich der Entwick- 2. 2. Demographischer Wandel – Was wir noch vor uns haben lung der Bruttodurchschnittsgehäl- ter in Deutschland, der Entwicklung der Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) sowie der individuell verfügbaren Geldmittel Die Einwohnerzahl der Bundesrepu- nach Abzug der Arbeitnehmerbei- blik Deutschland war zwischen 2002 träge. Die Referenzgröße hierzu bil- und 2010 rückläufig und verringerte det der Verbraucherpreisindex (VPI), sich von 82,54 auf 81,75 Millionen – welcher die Teuerung der Abgaben ein Rückgang um 0,95 Prozent.55 für Waren und Dienstleistungen (Le- benshaltungskosten) abbildet. Nur die Nettoeinwanderung aus eu- Zwischenfazit: Kein gegenwärtig ropäischen und außereuropäischen Abbildung 16 abhängig Beschäftigter würde das Ländern hält die Bevölkerungszahl heutige Durchschnittsentgelt gegen derzeit konstant bzw. lässt sie ak- das Durchschnittsentgelt von 1950 tuell sogar leicht steigen. Das Sta- oder 1984 tauschen, trotz der damals tistische Bundesamt geht in seinen und auch steigende Rentenauszah- stabil: Die Sätze schwanken zwi- geringeren Sozialversicherungsbei- Bevölkerungsprognosen davon aus, lungen konnten finanziert werden. schen 18,7 und 19,9 Prozent. Zwi- träge. Und kein Unternehmen von dass Deutschland im Jahr 2060 je Die Voraussetzung für diese Ent- schen 1997 und 1998 wurde mit 20,3 heute würde Arbeitnehmer mit der nach Nettozuwanderung, Lebens- Abbildung 17 wicklung war jedoch, dass die ab- Prozent die Schwelle von 20 Prozent damaligen Produktivität einstellen, erwartung und Fertilitätsverhalten hängig Beschäftigten am Produktivi- überschritten. In den Jahren 1991, trotz der damals geringeren Sozial- zwischen 64 und 75 Millionen Ein- tätsfortschritt beteiligt wurden. 1992 und 1993 lag der Beitragssatz versicherungsbeiträge. wohner haben wird (siehe Abbildung Die Beitragssätze zur gesetzlichen bei 17,7 und 17,5 Prozent. Seit 2012 Der enge Fokus auf die Sozialver- 17).56 Die Größe einer Bevölkerung Rentenversicherung stiegen von zeigt sich eine neue Entwicklung: sicherungsbeiträge vernebelt den hat keinen Einfluss auf die Nach- 1957 (Einführung der dynamischen Der Beitragssatz wurde dreimal ab- Blick auf die Zusammenhänge von haltigkeit sozialer Systeme57 oder auf Rente) bis Mitte der 1980er Jahre von gesenkt – von 19,9 über 19,6 und Produktivitätsentwicklung, Lohnent- die Zufriedenheit der Völker.58 14 Prozent auf 19,2 Prozent. Seitdem 18,9 auf 18,7 Prozent (2015).54 wicklung und empfundener Traglast verläuft die Beitragssatzentwicklung Folgende Tabelle gibt einen groben der Sozialversicherungsbeiträge. Als entscheidend wird in öffentli- chen Debatten die Veränderung des Auswirkungen von Lohnsteigerungen entsprechend dem verteilungsneutralen Spielraum oben bereits erwähnten Altenquo- tienten betrachtet: Jahr Jährliches Beitrags- Verfügbare Geld- Zusätzlich ver- Verbraucher- Verbrau- Durchschnitts- satz zur mittel nach Abzug fügbare Geld- preisindex cherindex Der Altenquotient steigt – wie be- entgeld vor GRV des pflichtgemä- mittel zum 2010 = 100 in Prozent reits im vergangenen Jahrhundert – Steuern und ßen Beitrages zur letzten Referenz- (Inflation) Abgaben GRV wert in Prozent weiter. Je nach Nettozuwanderung, Lebenserwartung und Fertilitätsver- 1950 3.161,00 DM 10,00 2.844,90 DM - 26,40 - halten wird der Altenquotient auf 55 1957 5.043,00 DM 14,00 4.336,98 DM 52,45 30,40 15,15 bis 69 steigen (siehe Abbildung 18). Abbildung 18 Das Bundesministerium für Arbeit 1970 13.343,00 DM 17,00 11.074,69 DM 155,35 40,50 33,22 und Soziales geht aktuell von einem Altenquotienten von 55 aus.59 1984 34.292,00 DM 18,50 27.947,98 DM 152,36 78,60 94,07 1998 52.925,00 DM 20,30 42.181,23 DM 50,93 84,40 7,38 2010 31.144,00 € 19,90 24.946,34 € 15,35 100,00 18,48 55 STATISTSCHES BUNDESAMT (2011): Statistisches Jahrbuch 2011, Lange Reihen: Bevölkerung nach dem Gebietsstand. 2017 37.103,00 € 18,75 30.146,19 € 20,84 109,00 9,0 56 WERDING, Martin (2016): Langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen: Modellrechnungen bis 2060, S. 9. 57 Dem „Allianz Sustainibilty Index“ gemäß haben von jenen 20 Staaten mit den nachhaltigsten Rentensystemen 18 Staaten eine geringere Bevölke- Quelle: BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES (2017): Ratgeber zur Rente, S. 80 f. rungszahl, als für Deutschlands Zukunft prognostiziert wird: https://www.allianz.at/ueber-allianz/media-newsroom/news/aktuelle-news/pa-dow- nload/20161005studie-pension-sustainability-index-vfin.pdf/. 58 Unter den 20 zufriedensten Staaten der Welt sind 18 Staaten mit geringerer Bevölkerungszahl, als für Deutschlands Zukunft prognostiziert wird: 54 SOZIALPOLITIK AKUTELL (2017): Beitragssätze zur gesetzlichen Rentenversicherung 1950–2017 und bis 2020/2030, http://www.sozialpolitik-aktuell. World Happiness Index, S. 22, http://worldhappiness.report/wp-content/uploads/sites/2/2017/03/HR17.pdf. de/alter-datensammlung.html#FinanzenGRV (Stand: 13.12.2017). 59 BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES (2016): Das Gesamtkonzept zur Alterssicherung. Das Konzept im Detail, S. 12. 20 21
Demographischer Wandel Demographischer Wandel Mit dem weiteren Fortschreiten des Der steigende Gesamtversorgungs- wachsene die Finanzierung relativ Prozent mehr in seiner Tasche. Dazu demographischen Wandels geht quotient sagt nichts über die Ent- weniger Eltern teilen und zugleich käme dann noch der Arbeitgeberan- auch eine weitere Zunahme des wicklung des real verfügbaren zu- relativ wenige Kinder zu versorgen teil, sodass die prognostizierte höhe- durchschnittlichen Alters der Bevöl- künftigen Einkommens bzw. des haben –, ist eine einmalige histori- re Rentnerzah,25 %ar noch gut am kerung einher (siehe Abbildung 19). Wohlstands aus, weder für die Rent- sche Gegebenheit und kann nicht Fortschritt teilnehmen könnte.“67 ner noch für die abhängig Beschäf- dauerhafter Maßstab sein, weder bei Auch der Gesamtversorgungsquoti- tigten, die Selbstständigen oder die der Einwanderungspolitik noch bei Davon, dass die Rente auf angemes- ent (Altenquotient plus Jugendquo- Kinder. der politischen Bewertung der Ent- senem Niveau künftig angesichts tient) wird zunehmen. Er wird bei An dieser Stelle muss außerdem dar- wicklung der Sozialversicherungs- der demographischen Entwicklung einem deutlich höheren gesamtwirt- auf hingewiesen werden, dass Prog- beiträge. nicht mehr finanzierbar sei, kann vor schaftlichen Einkommen aber den- nosen über 30 und noch mehr Jahre diesem Hintergrund keine Rede sein. noch niedriger sein als zum Beispiel ohnehin mit höchster Unsicherheit Der Blick in die Vergangenheit zeig- zu Beginn des Ersten Weltkrieges behaftet sind. So wird vom Statis- te bereits, dass die demographische Die heutige Diskussion ist von einer oder gar zu Beginn des vergangenen tischen Bundesamt angenommen, Entwicklung für die Entwicklung statischen und interessengeleiteten Jahrhunderts (siehe Abbildung 20). dass die Lebenserwartung „Neuge- des Wohlstandes zwar von Bedeu- Betrachtungsweise geprägt. Abbildung 19 Zur Erinnerung: Die Zeit von 1890 borener im Jahre 2050 rund 6 Jahre tung ist, jedoch die Produktivitäts- bis zum Ausbruch des Ersten Welt- mehr betragen [wird] als heute (für entwicklung den entscheidenden Die Leistungsfähigkeit eines heuti- krieges war trotz des im Vergleich Jungen 81,1 Jahre, für Mädchen Aspekt darstellt. gen Beschäftigten wird auch für das zu heute deutlich höheren Gesamt- 86,6 Jahre).“64 Solche Prognosen Jahr 2050 unterstellt bzw. werden versorgungsquotienten die Zeit des sind jedoch fraglich: „Nicht nur Pä- Das sei exemplarisch noch einmal die zu erwartenden Produktivitäts- „ersten deutschen Wirtschaftswun- diater sind angesichts von Adiposi- erläutert: steigerungen in der Öffentlichkeit ders“.60 tas (Fettleibigkeit) bei ca. 25 Prozent unterschlagen. Nur so kann ein An- der Kinder, Bewegungsarmut, früh- „Beträgt der Produktivitätsfortschritt stieg der Zahl der zu ernährenden Doch: „Während der Altenquotient zeitigem Konsum von Alkohol, Ni- in den nächsten 50 Jahren durch- Rentner bedrohlich wirken. um 77 Prozent steigt, ergibt sich für kotin und Drogen, oft schon in ihrer schnittlich nur ein Prozent – und das den Gesamtquotienten ein Plus von körperlichen Entwicklungsphase ist eine sehr pessimistische Progno- Damit wird komplett ausgeblendet, 37 Prozent. Die Dramatik hat sich zwischen dem 11. und 14. Lebens- se für unsere Wettbewerbswirtschaft dass unter anderem aufgrund des allein bei Einbeziehung der jungen jahr beginnend, unsicher, ob der –, so würden im Jahr 2060 in jeder technischen Fortschritts ein Arbeit- Generation in die Betrachtung schon Trend tatsächlich langfristig in die- Arbeitsstunde zwei Drittel mehr als nehmer pro Arbeitsstunde eine im- halbiert“.61 Dennoch weisen die se Richtung geht.“65 Um an dieser heute hergestellt. Damit wäre ein mer größere Wertschöpfung hervor- „unabhängigen Wirtschaftsexper- Stelle den Blick über den deutschen Arbeitnehmer in der Lage, seinen bringen kann. ten“ der Versicherungskonzerne in Tellerrand hinaus zu wagen: In den Anteil für die gesetzliche Rente auf Um den Effekt der Produktivitäts- der Öffentlichkeit ausschließlich auf USA sinkt die Lebenserwartung der 20 Prozent zu verdoppeln, und hätte entwicklung sichtbar machen zu die Entwicklung des Altenquotien- weißen US-Arbeiterklasse sogar, wie trotzdem noch fast 50 Prozent mehr können, sollen an dieser Stelle die ten hin, von den Medien bereitwillig der Wirtschaftsnobelpreisträger An- in der Tasche. Selbst ein absurd ho- Prognosen der Herzog- und der Rü- breitgetreten. Dies ist im höchsten gus Deaton mit seiner Kollegin Anne her Arbeitnehmer-Anteil von 30 Pro- rup-Kommission herangezogen wer- Maß unseriös und irreführend.62 Case feststellte.66 zent für die Rente ließe ihm noch 28 den (siehe Tabelle): Abbildung 20 Ein Vergleich der Prognose mit der Ohnehin kann konstatiert werden, Vergangenheit zeigt die überzogene dass sich der Bevölkerungsaufbau in Produktivitätsprognosen Herzog- und Rürup-Kommission Dramatik in der öffentlichen Debat- Deutschland durch den demographi- te: Im Jahr „1970 gab es auf 100 Er- schen Wandel wieder normalisiert. jährliche Steigerung der ergibt eine Gesamtsteigerung werbsfähige 60 Junge und 40 Ältere, Statistischen Bundesamtes wächst 1970!“63 Und das bei massiv gestie- Arbeitsproduktivität im Zeitraum von 2001 – 2050 also eine Gesamtzahl von 100. D. h. die Zahl der zu Versorgenden bis gener Produktivität. Die heutige Sondersituation, dass 1,25 % (Herzog-Kommision) um 84 % auch bei Eintreffen der Prognose des 2050 nur um 12 Prozent gegenüber auf sehr geburtenstarke Jahrgänge 1,80 % (Rürup-Kommision) um 140 % („Babyboomer“) geburtenarme Jahr- gänge folgen – sich somit viele Er- Quellen: HERZOG-KOMMISSION (2003): Bericht der Kommission „Soziale Sicherheit“ zur Reform der sozialen Sicherungssysteme, S. 66. 60 MOMMSEN, Wolfgang (1995): Bürgerstolz und Weltmachtstreben, S. 11 ff. RÜRUP-KOMMISSION (2003): Nachhaltigkeit in der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, S. 61. 61 BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik, S. 6. 62 Nahe liegend ist auch der Verdacht, dass der unseriöse und irreführende Fokus auf den Altenquotienten gewollt ist. Die Berufung von Sachverständi- gen dient fallabhängig auch strategischen Überlegungen wie der „Meinungsverstärkung“. Auffällig ist der immer gleiche kleine Kreis von Experten, 64 BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik, S. 2. die zur Begutachtung herangezogen werden (siehe dazu auch: THUM, Marcel/RÖSEL, Felix (2017): Die Reformvorschläge der Wissenschaft zur Ent- 65 BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung – kein Anlass zur Dramatik, S. 5. flechtung und Neuordnung der bundesstaatlichen Beziehungen und finanziellen Ausgleichssysteme – Welchen Einfluss haben Sachverständige 66 DEATON, Angus/CASE, Anne (2015): Suicide, Age, and Wellbeing: an Empirical Investigation, http://www.nber.org/papers/w21279. tatsächlich?, in: Tilmann Schweisfurth, Wolfgang Voß (Hrsg.): Haushalts- und Finanzwirtschaft der Länder, S. 289–302.). 67 BOSBACH, Gerd (2012): Produktivität schlägt Demografie, http://www.deutschlandfunkkultur.de/produktivitaet-schlaegt-demografie.1005. 63 BOSBACH, Gerd (2004): Demografische Entwicklung – nicht dramatisieren!, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 55 (2004), H. 2, S. 100. de.html?dramProzent3Aarticle_id=225987 (Stand: 02.12.2017). 22 23
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