Businessplan für Integration gehörloser SeniorInnen in ein Altersheim
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Businessplan für Integration gehörloser SeniorInnen in ein Altersheim Unter dem Aspekt der Sozialen Investitionen Bachelorarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Bachelor of Arts in Business FH Oberösterreich Studiengang: Sozial-und Verwaltungsmanagement, Linz Studienzweig: Sozialmanagement Maria BONIS-BIRO 09/1/0562/034 Gutachter: Mag. Dr. Thomas Prinz Traun, 25.9.2012 Seite 0
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre an Eides statt, dass ich die Bachelorarbeit mit dem Titel „Businessplan für Integration gehörloser Seniorinnen und Senioren unter Aspekt der Soziale Investitionen“ selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt und alle den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche gekennzeichnet habe. Traun, Oktober 2012 Maria Bonis-Biro Seite 1
Kurfassung Für Menschen im hohen Lebensalter gibt es mittlerweile ein breites Angebot an Maßnahmen und Versorgungsangeboten, die sie bei der Bewältigung veränderter Lebensbedingungen und neuer Anforderungen unterstützen. Doch diese Angebote können von gehörlosen alten Menschen auf Grund der fehlenden Kommunikationskompetenzen seitens der Anbieter meist nicht genützt werden. Aufbauend auf die Erkenntnisse einer oberösterreichweit flächendeckend durchgeführten Studie zur Situation Gehörloser im Alter (1) wurden gehörlose Seniorinnen und Senioren, die bereits in einer integrativen Wohnform im Altersheim leben, in einem teilstandardisierten Verfahren (2) befragt. Aus den gewonnenen Erkenntnissen wurde ein Businessplan zur Integration gehörloser Seniorinnen und Senioren (3) erstellt. (1) Die Studie zeigte den Wunsch der Befragten Gehörlosen, in Wohnortnähe integriert zu leben. (2) Die Befragten der teilstandardisierten Erhebung weisen eine hohe Zufriedenheit mit dieser Wohnform auf. (3) Auf die Phasen der Projektimplementierung wurde im Businessplan eingegangen. Die gewonnen Ergebnisse legen trotz des Kostenaufwands die Integration Gehörloser in ein wohnortnahes Angebot nahe, denn der Zugang zu barrierefreier Kommunikation Gehörloser sichert den Mehrwert an Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe. Seite I
Abstract By now numerous measures have been implemented to provide guidance and support to the elderly when they are faced with a change in their needs and living conditions. However, deaf seniors cannot access these services due to communication barriers that arise when dealing with service providers. On the basis of the findings of a nationwide study evaluating the living conditions of deaf seniors (1) in Austria, deaf seniors who are integrated in a standard nursing home were questioned in a partially standardized process (2). Based on these findings a business plan aimed at integrating deaf seniors was developed (3). (1) The study showed the deaf interviewees' wish to live integrated in a nursing home close to their former home. (2) The respondents to the partially standardized study showed a high satisfaction rate with the aforementioned form of placement. (3) The process of the project implementation was outlined in the business plan. The study showed that integrating deaf seniors in nursing homes close to their former homes stands to reason despite the arising costs since accessible communication for deaf seniors is conducive to a high quality of life and equal participation in society. Seite II
Inhaltsverzeichnis Einleitung ...............................................................................................................................1 Entstehung der wissenschaftlichen Arbeit ............................................................... 1 Zielsetzung und Aufbau der Arbeit .......................................................................... 3 1 Begriffsklärung................................................................................................................3 1.1. Taubstumm vs. Gehörlos vs. Gebärdensprachig ........................................... 3 1.2. Gebärdensprache .......................................................................................... 5 1.3. Gebärdensprach-/Gehörlosengemeinschaft in Österreich ............................. 6 1.4. Organisationen der Gehörlosengemeinschaft in Österreich und international 7 1.5. GebärdensprachdolmetscherInnen / Gebärdensprachdolmetscher .............. 8 1.6. CODA ............................................................................................................ 8 1.7. Besonderheiten der Zielgruppe/Lebenswelt gehörloser Menschen ............. 10 1.7.1. Bildung .................................................................................................. 10 1.7.2. Familienleben........................................................................................ 12 2 Benchmarking...............................................................................................................13 2.1. Nutzen des Benchmarking .......................................................................... 14 2.2. Arten des Benchmarking ............................................................................. 14 2.2.1. Internes Benchmarking ......................................................................... 15 2.2.2. Externes Benchmarking ........................................................................ 15 2.2.3. Produkt-Benchmarking ......................................................................... 16 2.2.4. Prozess-Benchmarking ......................................................................... 16 2.2.5. Performance-Benchmarking ................................................................. 16 2.2.6. Strategisches Benchmarking................................................................. 16 3 Theorie zur empirischen Sozialforschung .....................................................................17 3.1. Güterkriterien ............................................................................................... 17 3.2. Forschungsablauf ........................................................................................ 18 3.2.1. Problembenennung ............................................................................... 18 3.2.2. Gegenstandsbenennung ....................................................................... 19 3.2.3. Quantitative Forschung ......................................................................... 20 Seite III
4 Der Bussinesplan .........................................................................................................22 5 Soziale Investitionen .....................................................................................................24 5.1. Definitionsmerkmale .................................................................................... 24 5.2. Soziale Investitionen als Finanzierungsmodell ............................................ 28 5.3. Investitionstypen-Handlungsebene.............................................................. 29 5.4. Soziale Investitionen von Zeit/Zivilgesellschaft ............................................ 30 5.5. Fazit............................................................................................................. 31 6 Beschreibung der Organisationen.................................................................................34 6.1. Martineum Evangelisches Seniorenzentrum Essen – Steele ...................... 34 6.2. Evangelisches Christophoruswerk e.V, Duisburg ........................................ 37 7 Empirische Datenerhebung ..........................................................................................39 7.1. Befragung gehörloser Bewohnerinnen und Bewohner ................................ 41 7.1.1. Fragestellungen .................................................................................... 42 7.1.2. Teilnahme am Interview ........................................................................ 42 7.1.3. Persönliche Daten der Befragten .......................................................... 42 7.1.3.1. Altersverteilung/Geschlecht ............................................................ 42 7.1.3.2. Aufenthalt im Heim ......................................................................... 43 7.1.3.3. Wohnsituation vor dem Einzug ins Heim ........................................ 44 7.1.3.4. Schulbildung ................................................................................... 44 7.1.3.5. Angehörige ..................................................................................... 45 7.1.3.6. Freundeskreis / Mitgliedschaft in Gehörlosenvereinen ................... 45 7.1.4. Charakterisierung der Interviewpartner ................................................. 46 7.1.5. Auswertung der Bewohnerbefragung .................................................... 47 7.1.5.1. Zufriedenheit mit der Betreuung, Verpflegung, Einrichtung ............ 47 7.1.5.2. Gebärdensprachkompetenz der Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter 48 7.1.5.3. Häufigkeit der Kontakte im Wohnbereich ....................................... 48 7.1.5.4. Gruppengröße der gehörlosen Bewohnerinnen bzw. Bewohner im Wohnbereich .................................................................................................. 49 7.1.5.5. Entscheidungsgründe für die Wahl des Heimes ............................. 50 7.1.5.6. Besuche von Kindern, Angehörigen, Freunden .............................. 50 7.1.5.7. Wunsch nach Besuch von Freunden .............................................. 51 7.1.6. Analyse der Bewohnerbefragung .......................................................... 52 Seite IV
7.1.7. Schlussfolgerung .................................................................................. 53 7.2. Befragung der Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter ......................................... 54 7.2.1. Ziele und Fragestellungen .................................................................... 54 7.2.2. Teilnahme an der Befragung ................................................................. 55 7.2.3. Auswertung der Mitarbeiterbefragung ................................................... 55 7.2.3.1. Einschätzung durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ............... 55 7.2.3.2. Art und Häufigkeit von Missverständnissen .................................... 56 7.2.3.3. Schulung der Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter .............................. 57 7.2.3.4. Unterschied zwischen gehörlosen und hörenden Bewohnerinnen und Bewohnern .............................................................................................. 58 7.2.4. Analyse der Mitarbeiterbefragung ......................................................... 59 8 Businessplan ................................................................................................................60 8.1. Überprüfung der Legitimation ...................................................................... 60 8.2. Executive Summary..................................................................................... 61 8.3. Beschreibung der Dienstleistung ................................................................. 62 8.3.1. Problemstellung im aktuellen Kontext ................................................... 62 8.3.2. Beschreibung der Dienstleistung .......................................................... 62 8.3.3. Form des Angebotes ............................................................................. 63 8.3.4. Ziele ...................................................................................................... 63 8.3.4.1. Unternehmensziele ........................................................................ 63 8.3.4.2. Langfristige Ziele ............................................................................ 63 8.4. Unternehmen ............................................................................................... 64 8.5. Marketing ..................................................................................................... 65 8.5.1. Marktanalyse ......................................................................................... 65 8.5.2. Kunden-Analyse.................................................................................... 65 8.5.3. Kundennutzen ....................................................................................... 67 8.5.4. Konkurrenzanalyse ............................................................................... 68 8.5.5. Kooperationen....................................................................................... 68 8.5.6. PR Maßnahmen .................................................................................... 68 8.6. Rahmenbedingungen .................................................................................. 69 8.7. Personalplanung.......................................................................................... 69 8.8. Partnerschaft ............................................................................................... 70 Seite V
8.8.1. Gehörlosenvereine ................................................................................ 70 8.8.2. Das Geriatrische Therapiezentrum für Gehörlose ................................. 71 8.9. Realisierungsfahrplan .................................................................................. 71 8.9.1. Aufgaben............................................................................................... 71 8.9.2. Kritischer Pfad....................................................................................... 71 8.9.3. Zeitschiene............................................................................................ 72 8.10. Risikoanalyse und Lösungsansätze ......................................................... 73 8.10.1. Extern ................................................................................................ 73 8.10.2. Intern ................................................................................................. 73 8.11. Finanzplanung .......................................................................................... 74 8.11.1. Investitionen ...................................................................................... 74 8.11.1.1. Anschaffung technischer Hilfsmittel .............................................. 74 8.11.1.2. Schulung des Personals in Gehörlosenkultur ............................... 74 8.11.1.3. Fortlaufende Schulungen in Gebärdensprache ............................. 75 8.11.1.4. Anstellung hörbeeinträchtigter Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter .. 75 8.11.1.5. Einsatz von Gebärdensprachdolmetscherinnen bzw. -dolmetschern bei Besprechungen und Schulungen ............................................................. 76 8.11.1.6. Einsatz von Gebärdensprachdolmetscherinnen bzw. -dolmetschern bei Veranstaltungen und Feierlichkeiten ........................................................ 76 8.11.2. Investoren & Wirkung ........................................................................ 76 8.11.2.1. Anschaffung technischer Hilfsmittel .............................................. 76 8.11.2.2. Schulung des Personals in Gehörlosenkultur und in Gebärdensprache .......................................................................................... 77 8.11.2.3. Anstellung hörbeeinträchtigter Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter .. 77 8.11.2.4. Einsatz von Gebärdensprachdolmetscherinnen bzw. –dolmetschern bei Besprechungen und Fortbildungen .......................................................... 78 8.11.2.5. Einsatz von Gebärdensprachdolmetscherinnen bzw. –dolmetschern bei Veranstaltungen und Feierlichkeiten ........................................................ 78 8.11.3. Kapitalbedarfsplanung ....................................................................... 79 Resümee..............................................................................................................................81 Literaturverzeichnis ..............................................................................................................83 Seite VI
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Verteilung der Interviewpartner nach Alter ........................................................43 Abbildung 2: Verteilung der Interviewpartner nach Geschlecht .............................................43 Abbildung 3: Verteilung nach Verweildauer...........................................................................43 Abbildung 4: Verteilung nach Wohnsituation vor dem Einzug ins Seniorenheim ...................44 Abbildung 5: Verteilung nach Bildungsstand .........................................................................44 Abbildung 6: Verteilung nach Ehepartner..............................................................................45 Abbildung 7 : Verteilung nach Anzahl der geborenen Kinder ................................................45 Abbildung 8: Verteilung nach sozialen Kontakten .................................................................46 Abbildung 9: Verteilung nach Mitgliedschaft in Gehörlosenvereinen .....................................46 Abbildung 10: Zufriedenheit der Befragten mit der Betreuung, Verpflegung und Einrichtung 47 Abbildung 11: Zufriedenheit der Befragten mit der Gebärdensprachkompetenz der Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter ..........................................................................................48 Abbildung 12: Häufigkeit der Kontakte im Wohnbereich .......................................................49 Abbildung 13: Einschätzung der Gruppengröße der gehörlosen Bewohnerinnen bzw. Bewohner im Wohnbereich...................................................................................................49 Abbildung 14 : Entscheidungsgründe für die Wahl des Heimes ............................................50 Abbildung 15: Häufigkeit der erfolgten Besuche der Kinder ..................................................50 Abbildung 16: Häufigkeit der erfolgten Besuche von nahen Angehörigen und Verwandten...51 Abbildung 17: Häufigkeit der erfolgten Besuche von Freunden ............................................51 Abbildung 18: Wunsch nach Besuch von Freunden..............................................................52 Abbildung 19: Anzahl der Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter, die vor ihrem Eintritt Erfahrung mit Gehörlosen hatten ..........................................................................................................55 Abbildung 20: Einschätzung der Zusammenarbeit mit gehörlosen Bewohnerinnen und Bewohnern ...........................................................................................................................55 Abbildung 21: Einschätzung der Gebärdensprachkenntnisse ...............................................56 Abbildung 22: Anzahl der Missverständnisse ........................................................................56 Abbildung 23: Zufriedenheit mit der Anzahl der Gebärdensprachkurse ................................57 Abbildung 24: Zeitaufwand für Betreuung gehörloser Bewohnerinnen und Bewohner ..........58 Abbildung 25: Mögliches Organigramm Seniorenheim mit einer Gehörlosen-Wohngruppe ..64 Abbildung 26: Zeitschiene Businessplan ..............................................................................72 Abbildung 27: Externe Risiken und Maßnahmen bei der Integration gehörloser Bewohnerinnen und Bewohner.............................................................................................73 Abbildung 28: Interne Risiken und Maßnahmen bei der Integration gehörloser Bewohnerinnen und Bewohner.............................................................................................73 Abbildung 29: Kosten technischer Hilfsmittel ........................................................................74 Abbildung 30: Kosten für Schulung in Gehörlosenkultur .......................................................74 Seite VII
Abbildung 31: Kosten für Schulung in Gebärdensprache......................................................75 Abbildung 32: Gehaltstabelle für eine hörbeeinträchtige Mitarbeiterin bzw. einen Mitarbeiter .............................................................................................................................................75 Abbildung 33: Dolmetschkosten für Veranstaltungen ............................................................76 Seite VIII
Tabellenverzeichnis Tabelle 1: Nutzen des Benchmarking. ..................................................................................14 Tabelle 2: Benchmarking – Arten ..........................................................................................15 Tabelle 3: Kriterien für die Abgrenzung des Forschungsgegenstands ...................................19 Tabelle 4: Grundlegende Forschungsfragen – Soziale Investition .........................................27 Tabelle 5: Investitionstypen ..................................................................................................30 Tabelle 6: Überblick Angebote Peter-Kuhn Haus ..................................................................39 Tabelle 7: Zufriedenheit der Befragten mit der Betreuung, Verpflegung und Einrichtung .......47 Tabelle 8: Anzahl der Mitglieder im Linzer Gehörlosenverein und geschätzte gehörlose Population ............................................................................................................................65 Tabelle 9: Kapitalbedarfsplanung erstes Jahr .......................................................................79 Tabelle 10: Kapitalbedarfsplanung zweites Jahr ...................................................................79 Tabelle 11: Kapitalbedarfsplanung drittes Jahr......................................................................80 Seite IX
Abkürzungsverzeichnis BIZEPS Zentrum für Selbstbestimmtes Leben BSB Bundessozialamt CODA Childern of deaf Adults CSI Centrum für Soziale Investitionen und Innovationen D Deutschland DBZ Deutsche Benchmarking Zentrum EUD European Union of the Deaf KlaV Klagsverband LH Landeshauptmann LVOÖ Landesverband der Gehörlosenvereine in OÖ ÖAR Dachverband der Behindertenverbände in Österreich ÖGLB Österreichisches Gehörlosenbund ÖGLZ Gehörlosenzeitung ÖGS Österreichische Gebärdensprache SIGMA Projekt zur Situation gehörloser Menschen im Alter Vis.Com Schule für visuelle und alternative Kommunikation WFD World Federation of the Deaf z.T zum Teil Seite X
Einleitung „Blindheit trennt von Dingen, Taubheit von den Menschen“. Dieses Zitat der US- amerikanischen, taubblinden Schriftstellerin Helen Keller verdeutlicht, dass – im Gegensatz zu Blindheit – Gehörlosigkeit eine unsichtbare Behinderung des Menschen ist und daher im Alltagsleben häufig als nicht besonders gravierend eingeschätzt wird. Kommunikation ist jedoch ein existenzielles Bedürfnis des Menschen und ein wesentlicher Faktor für das Wohlbefinden und eine erfolgreiche Lebensbewältigung. Die Beweggründe, sich mit dem Thema Altenbetreuung gehörloser Seniorinnen und Senioren auseinander zu setzen, liegen einerseits am beruflichen Hintergrund der Autorin und andererseits hat die Autorin gehörlose Eltern im Alter von 68 bzw. 70 Jahren, die zur Zeit im eigenen Heim sehr gut zurecht kommen und mobil sind. Im Ernstfall gäbe es allerdings derzeit keine adäquate Lösung für den Fall, dass die gehörlosen Eltern der Autorin den Lebensalltag nicht mehr selbstständig bewältigen können. In Anbetracht dessen erschien es der Autorin sinnvoll, im Rahmen des Berufspraktikums ein Heim in Deutschland, das bereits eine gehörlose Wohngruppe führt, zu besuchen und ein Konzept zur Integration gehörloser Seniorinnen und Senioren im Altersheim zu verfassen. Entstehung der wissenschaftlichen Arbeit Das Thema Versorgungsangebote für gehörlose Menschen im Alter ist auch dem Landesverband der Gehörlosenvereine in Oberösterreich (LVOÖ)1 ein wichtiges Anliegen. Dazu wurde ein Forschungsprojekt zum Thema Gehörlosigkeit und Alter an das Institut für Soziologie, Abteilung für empirische Forschung an der Johannes Kepler Universität Linz, in Auftrag gegeben.2 Ergebnis dieses Forschungsprojekts war, dass sich gehörlose Seniorinnen und Senioren kein spezielles Heim wünschen, in dem nur gehörlose Bewohnerinnen und Bewohner betreut werden, sondern sie präferieren, in ihrer Umgebung in einem „hörenden“ Heim integriert zu werden. Wichtig ist ihnen dabei, dass in dem Heim zwei oder mehr gehörlose Bewohnerinnen bzw. Bewohner betreut werden. Weitere bedeutende Aspekte sind die Rücksichtnahme auf die Kommunikationsbedürfnisse gehörloser alter Menschen sowie die 1 Vgl. LVOÖ (2012) 2 Vgl. Gerich/Menrad (2010) Seite 1
Forderung nach gebärdensprachkompetentem Personal oder gehörlosen Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeitern. Ein weiterer Grundstein dieser Bachelorarbeit ist die SIGMA-Studie3, die im Zeitraum von Dezember 2006 bis Februar 2009 an der Universität Köln durchgeführt wurde. Im Rahmen des Projekts wurde die Lebenssituation gehörloser Menschen im Alter, ihre Ressourcen und Bedürfnisse sowie die bestehende Versorgungsstruktur untersucht. Weitere Erfahrungen konnte die Autorin als Mitarbeiterin in einem geriatrischen Therapiezentrum für gehörlose Seniorinnen und Senioren4 in Linz sammeln. Die wesentliche Erfahrung war, dass gehörlose alte Menschen in unterschiedlichen Altersheimen im Raum Linz untergebracht sind. Diese Tatsache wird durch das oben genannte Forschungsprojekt Gehörlosigkeit und Alter bekräftigt, aus dem klar hervorgeht, dass 50 % der gehörlosen Heimbewohnerinnen und Heimbewohner alleine unter Hörenden wohnen.5 Die Heimleiterinnen bzw. Heimleiter dieser Einrichtungen bemühen sich zwar, den gehörlosen Bewohnerinnen und Bewohnern die bestmögliche Betreuung anzubieten, sind jedoch meistens durch das fehlende Hintergrundwissen über kulturspezifische Besonderheiten in der Betreuung gehörloser Personen sowie durch die fehlende Kommunikationskompetenz überfordert. Nach dem Prinzip Best Practice wurde im Rahmen des Berufspraktikums ein Heim, welches bereits eine Wohngruppe für gehörlose Seniorinnen und Senioren führt und an einem Austausch interessiert war, ausgesucht. Entscheidungskriterien dabei waren Heimgröße und Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner in der Gehörlosen-Wohngruppe. Da für ein Pilotprojekt, gehörlose Bewohnerinnen und Bewohner in ein Seniorenheim zu integrieren, eher eine kleine Gruppe zu empfehlen ist, sollte die Anzahl an gehörlosen Personen eher klein sein. Nach einer ausführlichen Recherche im europäischen Raum fiel die Entscheidung der Autorin auf das Peter-Kuhn-Haus im Evangelisches Christoforuswerk Duisburg (D)6. Ziel des Berufspraktikums war die Evaluierung der Zufriedenheit gehörloser Bewohnerinnen und Bewohner mit Hilfe einer empirischen Datenerhebung. 3 Vgl. Kaul at al. (2009) 4 Vgl. Krankenhaus der Barmherzige Brüder Linz (2012) 5 Vgl. Gerich/Menrad (2010), 214. 6 Vgl. Peter-Kuhn-Haus (2012) Seite 2
Zielsetzung und Aufbau der Arbeit Ziel dieser Diplomarbeit ist die Erstellung einer Informationsquelle für alle Heime, die bereits gehörlose Bewohnerinnen bzw. Bewohner oder Interesse an der Integration gehörloser Bewohnerinnen bzw. Bewohner haben. Die Arbeit wird in einen theoretischen und einen praktischen Teil unterteilt. Im theoretischen Teil werden die Begriffe Gehörlosigkeit, Gehörlosenkultur und die Besonderheiten der Zielgruppe näher beschrieben. Weiters werden relevante Themen wie Benchmarking, Empirische Forschung, Soziale Investitionen und Businessplan erläutert. Im praktischen Teil werden die besuchten Einrichtungen, die bereits eine Gehörlosewohngruppe führen, näher beschrieben und die Ergebnisse der empirischen Erhebung vorgestellt. Anschließend wird ein Sozial-Businessplan für die Errichtung einer Wohngruppe für Gehörlose unter dem Aspekt der sozialen Investitionen dargestellt. 1 Begriffsklärung Um die Lebenswelt gehörloser Menschen besser nachvollziehen zu können, ist die Klärung einiger Begriffe notwendig. Dieses Kapitel soll kurz die Termini Taubstumm, Gehörlos, Gebärdensprachig, Gebärdensprache, Gehörlosengemeinschaft, CODA und Gebärdensprachdolmetschen definieren. 1.1. Taubstumm vs. Gehörlos vs. Gebärdensprachig Eine sehr allgemeine Definition des Terminus Gehörlosigkeit findet sich bei Breiter7, die jene Menschen als gehörlos bezeichnet, „die die gesprochene Sprache auch mit technischen Mitteln nicht über das Ohr wahrnehmen können“8. Der medizinische Begriff Gehörlosigkeit oder Resthörigkeit wird über den Grad der Hörschädigung definiert. Eine Person wird als gehörlos bezeichnet, wenn ein Hörverlust von mehr als 90 Dezibel (Maß für Tonwahrnehmung) im Hautsprachenbereich festgestellt wird.9 Aus sonderpädagogischer Sicht spricht man von Gehörlosigkeit, wenn eine Person auf Grund einer gravierenden Hörschädigung auch mit Verwendung elektroakustischer Hörhilfen 7 Vgl. Breiter (2005), 17. 8 Breiter (2005), 17. 9 Vgl. Leonhardt (1996),16. Seite 3
nur begrenzte auditive Wahrnehmungseindrücke hat. Je nach Eintritt der Hörschädigung wird dabei zwischen prä-und postlingualer Gehörlosigkeit unterschieden.10 Prälinguale Gehörlosigkeit liegt vor, wenn die Hörschädigung vor der Sprachentwicklung einsetzt. In diesem Fall ist der Erwerb der Lautsprache extrem erschwert. Bei postlingualer Gehörlosigkeit ist die Ertaubung erst nach der Phase des Spracherwerbs eingetreten.11 Der Begriff Gehörlosigkeit wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum in zunehmendem Maß synonym für oder anstelle von Taubheit verwendet. Bis zu dieser Zeit wurde Taubheit üblicherweise mit Stummheit gleichgesetzt. Die weit verbreitete Meinung der Gesellschaft war, dass Taubstumme unbildsame Idioten seien. Die etymologische Bedeutung der Wörter taub und stumm hing mit dumm, schwachsinnig und sprachlos zusammen.12 Der Begriff Taubstumm stellt also eine veraltete Bezeichnung dar, der in der Gehörlosengemeinschaft als diskriminierend empfunden und heute noch von nicht wissenden hörenden Personen verwendet wird. Ein weiterer Ansatzpunkt besteht darin, die Gehörlosigkeit nicht nur in Bezug auf den Hörverlust zu betrachten, sondern in die eigene Sprache und Kultur einzubeziehen. Die Gehörlosengemeinschaft wird demgemäß als kulturelle Gemeinschaft mit eigenen Werten, eigener Sprache, eigenen Verhaltensmustern und bestimmten Regeln gesehen. In dieser Kultur gibt es so wie in anderen Kulturen Poesie, Theater, Festivals, Kabarett, Humor - mit dem Unterschied, dass die Darbietung jeweils visuell in Gebärdensprache erfolgt. Die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft ist daher nicht über das Hörvermögen reguliert, sondern durch die Gebärdensprachkompetenz der Einzelnen bestimmt.13 Diese Sichtweise führte zu der neuen Wortschöpfung gebärdensprachig. In ihrem Buch Taubstum bis Gebärdensprachig. Die österreichische Gebärdensprachgemeinschaft aus soziolinguistischer Perspektive führt Krausneker aus14, dass sich die Selbstbezeichnung gebärdensprachig und GebärdensprachlerIn bzw. Gebärdensprachler zum ersten Mal nicht auf den Hörstatus, sondern auf die Sprachkompetenz beziehen. Dieser Meinung ist auch Helene Jarmer15, Präsidentin des Österreichischen Gehörlosenbundes und grüne Parlamentarierin: 10 Vgl. Leonhardt (1996),17. 11 Vgl. Leonhardt (1996),17. 12 Vgl. Krausneker (2006),21. 13 Vgl. Krausneker/Schalber (2007),77f. 14 Vgl. Krausneker (2006), 23. 15 Vgl. Jarmer (2005) Seite 4
„Wir sind eine lebendige und vielfältige Gemeinschaft. Was uns eint, ist unsere Sprache, auf die wir stolz sind und die wir unser ganzes Leben lang benützen. Wir sind nicht taubstumm, sondern Gebärdensprachbenützerinnen und Gebärdensprachbenützer!“ 16 1.2. Gebärdensprache Die Zugehörigkeit zur Gehörlosengemeinschaft basiert also wie oben erwähnt auf einer gemeinsam verwendeten Sprache, der Gebärdensprache. Die WissenschaftsAgentur der Universität Salzburg bezeichnet die Gebärdensprache als17: „ (…) zum Teil die Muttersprache, andererseits auch Kennzeichen der Gruppensolidarität und damit Mittel der Identifikation“18 Die Gebärdensprachen sind global auf natürliche Weise entstanden und in ihrer Grammatik und Struktur unabhängig. Dabei gibt es nationale Unterschiede und regionale Dialekte innerhalb eines Landes. Gebärdensprachen sind also nicht universell, wie die weit verbreitete irrtümliche Meinung besagt. Sie unterscheiden sich nach Land und Region wie die Lautsprachensysteme und verfügen über eine eigene linguistische Struktur, die unabhängig von jener der Lautsprache ist.19 Die Gebärdensprache wird visuell wahrgenommen und bedient sich manueller und nicht manueller Ausdrucksmittel, wie Hände, Arme, Mimik und Mundbild. Grbić, Leiterin der Abteilung für Gebärdensprache und Gehörlosenkultur am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft in Graz, definiert die Gebärdensprache 20 folgendermaßen : „(…) natürlich gewachsenen Sprachsystemen, die sich sowohl in ihrer Lexik als auch in ihrer Struktur von den sie umgebenden gesprochenen Nationalsprachen unterscheiden und alle Möglichkeiten eines visuell- manuellen Codes nützen. Sie werden von Kindern gehörloser Eltern als 16 Jarmer (2005), 3. 17 Vgl. Wissenschafts Agentur (1998), 11. 18 Wissenschafts Agentur (1998), 11. 19 Vgl. Boys-Brem (1995), 14. 20 Vgl. Grbic (2002), 181. Seite 5
Muttersprache erworben und sind integraler Bestandteil der Identität und Kultur von Gehörlosengemeinschaften auf der ganzen Welt.“21 Die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) wurde am 6. Juli 2005 in einer parlamentarischen Abstimmung einstimmig in die österreichische Bundesverfassung aufgenommen und somit offiziell anerkannt. Die rechtliche Anerkennung als Minderheitensprache erfolgte somit 14 Jahre, nachdem die erste Petition dafür im Parlament eingebracht wurde.22 1.3. Gebärdensprach-/Gehörlosengemeinschaft in Österreich Nach einem weltweit angewandten Schlüssel, wonach 0,1 % (1 Promille) der Bevölkerung gehörlos ist, besteht die Gebärdensprachgemeinschaft in Österreich aus ca. 8000 Gehörlosen und etwa 2000 weiteren ÖGS-kompetenten Personen, wie z.B. hörenden Kinder gehörloser Eltern, hörenden Eltern gehörloser Kinder, Dolmetscherinnen und Dolmetscher, Forscherinnen und Forscher usw..23 Stalzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Translationswissenschaften an der Karl-Franzens-Universität Graz, beschreibt den Aufbau einer Gehörlosengemeinschaft als eine „heterogene Familie“.24 Das einzige Merkmal, das alle Mitglieder teilen, ist die Gehörlosigkeit – weitere Charakteristika wie Alter, Geschlecht oder ethnische Herkunft treten damit in den Hintergrund. Sprachwissenschaftlerin und Studienautorin Krausneker teilt diese Meinung ebenfalls. Im Hinblick auf die großen Unterschiede auf Bildung, Schriftsprachkompetenz und sozioökonomische Situation skizziert die Autorin jene Unterschiede anhand eines Spektrums.25 An einem Ende des Spektrums befindet sich ein sehr kleines Segment von „Elite“-Gehörlosen. Zu diesem Segment gehören Leiterinnen bzw. Leiter der Gehörlosenorganisationen und einige Selbstständige. Alle Personen dieser Gruppe sind vollkompetente Gebärdensprachlerinnen und Gebärdensprachler und haben ein hohes Selbstbewusstsein sowie eine gute (z.T. akademische) Bildung. Sie werden regelmäßig von Personen aus Forschung, Politik, von Entscheidungsträgerinnen bzw. Entscheidungsträgern sowie Dolmetscherinnen und Dolmetschern konsultiert. Im daran anschließenden Teil des Spektrums sind alle jene Gehörlose, die sozial und ökonomisch stabil und vernetzt leben, 21 Grbic (2002), 181. 22 Vgl. Krausneker (2005), 3. 23 Vgl. Krausneker (2006), 27. 24 Vgl. Stalzer (1997), 2. 25 Vgl. Krausneker (2006), 28. Seite 6
einer geordneten Arbeit nachgehen und ein finanziell unabhängiges Leben führen. Sie verfolgen gehörlosenpolitsche Themen, haben Visionen, Ideen und Allgemeinbildung. Das nächste und größte Segment der Gehörlosengemeinschaft wird von jenen Personen gebildet, die wenig Informationen und Kenntnis über die internationale Gehörlosengesellschaft und den Stand der Forschung haben. Die meisten von ihnen haben Kontakte zu anderen gehörlosen Menschen und sind Mitglieder in lokalen Gehörlosenvereinen, weil sie den sozialen Umgang und die mühelose Kommunikation in ÖGS genießen. Im vierten und letzten Segment des Spektrums ordnet Krausneker die gehörlosen Menschen ein, die isoliert in kleinen Dörfern oder Anstalten leben und von der Dorfgemeinschaft als behindert wahrgenommen werden. Sie haben selten oder niemals Kontakt zu anderen Gehörlosen. 1.4. Organisationen der Gehörlosengemeinschaft in Österreich und international Viele gehörlose Personen sind Mitglieder in Gehörlosenvereinen, welche den Landesverbänden angeschlossen sind. Die Landesverbände wiederum sind Mitglieder des Österreichischen Gehörlosenbundes (ÖGLB), der seit 1913 besteht und gut organisiert ist. Eine seiner wichtigsten Aufgaben ist26: „das Selbst-Bewusstsein der Gehörlosen und ihr Ansehen in der Welt der Hörenden zu stärken“27. Der ÖGLB ist Mitglied bei der European Union of the Deaf (EUD), bei der World Federation of the Deaf (WFD), beim Klagsverband (KlaV) und beim Dachverband der Behindertenverbände in Österreich (ÖAR). Darüber hinaus kooperiert der ÖGLB mit BIZEPS, dem Zentrum für Selbstbestimmtes Leben. In Österreich gibt es für den Informationsaustausch gehörloser Menschen und insbesondere der Vereine die vom ÖGLB vierteljährlich herausgegebene Gehörlosenzeitung (ÖGLZ), den elektronischen Newsletter des ÖGLB sowie regionale Medien der Verbände und Vereine. Nachrichten werden gebärdet und als News-Videos auf der Homepage des ÖGLB kostenlos zugänglich gemacht. Wie bereits oben erwähnt, ist die Österreichische Gehörlosengemeinschaft seit dem 19. Jahrhundert sehr gut organisiert. Die aufblühende Gemeinschaft wurde durch die Herrschaft des Nationalsozialismus von 1938 bis 1945 unterbrochen. Gehörlose Persönlichkeiten mussten zurücktreten, Vereine wurden aufgelöst, sogenannte „erbkranke“ Gehörlose wurden 26 Vgl. ÖGLB (2011) 27 ÖGLB (2011) Seite 7
zwangssterilisiert, jüdische Gehörlose wurden verfolgt und ermordet.28 Krauseneker merkt auch an, dass gehörlose Menschen in dieser Zeit nicht nur Opfer, sondern auch Nutznießer und aktive Nationalsozialisten waren. Nach dem Ende des nationalsozialistischen Regimes hat sich die Gehörlosengemeinschaft mit Ausnahme der jüdischen Vereine wieder erholt. Überlebende gehörlose Juden kehrten nicht mehr zurück oder gaben ihre Identität nicht mehr preis.29 1.5. GebärdensprachdolmetscherInnen / Gebärdensprachdolmetscher Unter Gebärdensprachdolmetschen versteht man die Tätigkeit von Personen, die zwischen der Lautsprache und die Gebärdensprache dolmetschen. Die Dolmetschung aus der Lautsprache in die Gebärdensprache und umgekehrt erfolgt in der Regel simultan, weil die Kommunikation beider Sprachen über unterschiedliche Kanäle (visuell und auditiv) stattfindet. Gebärdensprachdolmetscherinnen und Gebärdensprachdolmetscher in Österreich arbeiten in verschiedenen Bereichen und werden zum Teil von der öffentlichen Hand oder von öffentlichen Organisationen bezahlt. Sie sind einer Berufs und Ehrenordnung verpflichtet, die auch die Grundlage der Tätigkeit darstellt. Dolmetscherinnen und Dolmetscher sind neutral, gewissenhaft, unvoreingenommen, unparteiisch und ermöglichen durch ihr professionelles Auftreten Kommunikation und Verständigung.30 1.6. CODA CODA bedeutet (hearing) Children of Deaf Adults, also (hörende) Kinder gehörloser Erwachsener. CODA-Kinder wachsen in zwei verschiedenen Kulturen und mit zwei verschiedenen (Mutter-)Sprachen auf. Durch ihre Kommunikationsfähigkeit in beiden Sprachen und die Zugehörigkeit zur gehörlosen Gemeinschaft wie auch zur hörenden Gemeinschaft werden CODAs häufig, gewollt oder ungewollt, als Dolmetscherinnen und Dolmetscher bzw. Mittlerinnen und Mittler eingesetzt. Diese besondere und oft unangenehme Position, zwischen zwei unterschiedliche Welten zu vermitteln, kann für jüngere Kinder oder Jugendliche einerseits die Selbstständigkeit, Offenheit und Flexibilität fördern. Anderseits kann diese Stellung aber als erhöhte Belastung erlebt werden und mit Identifikationkonflikten verbunden sein. CODAs erleben in ihrem sozialen Milieu meist unmittelbar die Ausgrenzung 28 Vgl. Krausneker (2006), 33. 29 Vgl. Krausneker (2006), 33f. 30 Vgl. ÖGSDV (2012) Seite 8
oder Diskriminierung der Eltern und werden von ihrem Umfeld als Kinder von Behinderten wahrgenommen.31 Ebbinghaus und Hessman sahen hörende Kinder in einer gehörlosen Familie als Privatdolmetscherinnen und -dolmetscher im Haus und nannten sie natürliche Dolmetscherinnen bzw. Dolmetscher. Infolge einer Untersuchung definieren die Wissenschaftler dies wie folgt: „Mit dieser Bezeichnung bringen sie selbst gern zum Ausdruck, daß ihre Befähigung zum Dolmetschen nicht in einem formellen Lernprozeß, sondern gleichsam natürlich in der eigenen Sozialisation erworben wurde“.32 Wie schon erwähnt werden CODAs sehr früh mit alltäglichen Problemen konfrontiert und müssen daher sehr früh lernen, wie man mit diesen umzugehen hat. Dabei besteht die Gefahr, von der anfänglichen Rolle der Vermittlung in die der Beratung oder schließlich sogar Bevollmächtigung gedrängt zu werden – eine Position, in der nicht mehr auf Anweisungen gewartet, sondern eigen- und selbstständig gehandelt wird. Der CODA bzw. die CODA sieht sich hier weniger als sprachliche Dienstleisterin bzw. Dienstleister, sondern mehr als Anwältin bzw. Anwalt, als Fürsprecherin bzw. Fürsprecher, als Helferin bzw. Helfer, Beraterin bzw. Berater oder gar als Verantwortliche für die Eltern. Kaul33 erwähnt – und diese Tatsache kann durch die Erfahrungen der Autorin in ihrer Eigenschaft als CODA bestätigt werden –, dass einige hörende Kinder gehörloser Eltern in einer Reflexion über ihre Kindheit und Jugend sich häufig in Situationen befanden „die sie von den sprachlich zu bewältigenden Probleminhalten und Konfliktgegenständen her überforderten.“34 Aufgrund dieser Tätigkeiten entwickelten CODAs schon früh ein besonders großes Verantwortungsbewusstsein. Sie erlebten ambivalente Situationen, in denen sie in der Lebenswelt ihrer gehörloser Eltern als kleine Erwachsene fungierten. Andererseits haben sich viele Gehörlose kaum oder gar nicht von der Hilfe ihrer hörenden Kinder abhängig gemacht. In diesen Fällen hatten die gehörlosen Eltern ein gutes familiären Netz oder verfügten über eine gute Lautsprachkompetenz und konnten selbständig und autonom in der Gemeinschaft der Hörenden zurechtkommen. Kaul geht davon aus, dass dieses Muster der 31 Vgl. Peter et al. (2010), 10f. 32 Ebbinghaus (1989), 126. 33 Vgl. Kaul et al. (2009), 73. 34 Kaul et al. (2009), 73. Seite 9
Innanspruchnahme der CODAs bis ins hohe Alter bestehen bleibt.35 Dies wird heutzutage durch die immer besser strukturierten Dolmetschdienste auf jeden Fall erleichtert. 1.7. Besonderheiten der Zielgruppe/Lebenswelt gehörloser Menschen Gehörlose bilden also eine Minderheit, über die die Allgemeinheit relativ wenig Informationen besitzt. Auch wenn in den letzten Jahren viel Aufklärungsarbeit seitens der Gehörlosenorganisationen geleistet wurde, was wiederum zu einer stärkeren Präsenz in der Öffentlichkeit wie zB. zur täglichen Dolmetschung der ZIB 2 im staatlichen Sender ORF 2 Europa geführt hat, hat – abseits bestimmter Fachdisziplinen wie zB. Sonderpädagogik, Sozialarbeit, Linguistik, Medizin, Psychologie und Soziologie – die breite Masse kaum Kenntnisse und Erfahrungen über die Situation Gehörloser. Gehörlosigkeit wird in den meisten Fällen wie schon erwähnt mit dem Hörstatus bzw. mit der Unfähigkeit zu hören verbunden. Aus diesem Grund werden gehörlose Menschen wie blinde Menschen oder Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung als Behinderte eingestuft.36 1.7.1. Bildung Da die Gehörlosogkeit meistens angeboren ist, also vor der Sprachentwicklung auftritt, können gehörlose Kinder in der Regel die Lautsprache als Sprachsystem mit all ihren Regeln nicht über das Ohr erlernen. So ist der Zugang zu Lautsprache auf einem natürlichen Weg 37 beschränkt. Erschwerend ist auch die Tatsache, dass 90 % der Eltern hörend sind und keine Kenntnisse über die Gebärdensprache besitzen. Aus diesem Grund ist eine ungezwungene und spontane Kommunikation zwischen Eltern und Kind nahezu unmöglich.38 Viele Eltern prälingual ertaubter Gehörloser entscheiden sich auf Empfehlung von HNO- Ärzten und Pädagogen nach wie vor zu einer ausschließlich oralen Erziehung. Doch auch mit Hilfe einer umfassenden pädagogischen Früherziehung, bei der insbesondere die Wahrnehmung der gesprochenen Sprache gefördert wird, bleiben der Wortschatz und das grammatische Regelwissen beeinträchtigt. Aufgrund der Tatsache, dass Gehörlose die Stimmen anderer Menschen sowie ihrer eigene Stimme nicht hören können, können sie ihre eigene Sprache nicht in vollem Umfang kontrollieren. Der Ausfall des Sinnesorgans 35 Vgl. Kaul et al. (2009), 74. 36 Vgl. Kaul et al. (2009), 7. 37 Vgl. Ladd (1993), 191. 38 Vgl. Kaul et al. (2009), 8. Seite 10
verursacht bei den Betroffen eine lang andauernde Sprachentwicklungsstörung, die abgesehen von Ausnahmen nie ganz kompensiert werden kann.39 Trotz intensiver Bemühungen, die im Schulalltag fortgesetzt werden, bleibt also die Sprache Gehörloser auffällig.40 Aufgrund dieser Sprachauffälligkeit wird automatisch eine geistige Behinderung vermutet. So wird verständlich, dass Interaktionen mit Hörenden nicht bevorzugt, sondern eher vermieden werden.41 Selbst wenn die bzw. der Gehörlose eine gute Lautsprachkompetenz und eine gute Ablesekompetenz erworben hat, bleibt der Kontakt zur hörenden Welt erschwert. Eine permanente visuelle Aufmerksamkeit, die für das Lippenlesen unerlässlich ist, wird als äußerst anstrengend empfunden. Nahezu unmöglich machen das Lippenlesen beispielweise schmale oder breite Lippen, schiefe Zähne oder eine bestimmte Gesichtsbehaarung. Ebenso problematisch wie das Erwerben der Lautsprache ist das Erlernen der Schriftsprache. Die Schriftsprachkompetenz ist jedoch für die gesellschaftliche Teilhabe ein entscheidender Faktor. Der Grund für die unterdurchschnittliche Schriftsprachkompetenz der Gehörlosen liegt in der oralen Schulbildung. Krauseneker stellt fest, dass lautsprachlich gut geförderte Kinder durchschnittlich über einen aktiven/passiven Wortschatz von 250/500 Wörtern verfügen. Hörende Kinder haben in Vergleich dazu 3000 – 3500/ 19.000 Wörter.42 Dieser Stand kann auch in der weiteren Entwicklung der gehörlosen Jugendlichen nicht mehr aufgeholt werden. 14- bis 16-jährige gehörlose Schülerinnen bzw. Schüler wiesen laut Studie schließlich einen Wortschatz von ca. 2000 Wörtern auf. Nach einer im Raum Wien durchgeführten Studie in den Jahren 2001/200243, in deren Rahmen 30 Frauen im Alter von 17 – 44 Jahren mittels qualitativer Interviews und Fragebogen befragt wurden, schätzen die Mehrheit (60%) der Befragten ihre Deutschkompetenz als mangelhaft ein. Besonders groß war der Anteil der Frauen (80%), die eine Pflichtschule für Gehörlose besucht hatten. Aufgrund der oben genannten Grundbildungsdefizite wirkten sich diese Sprachmängel negativ auf zentrale Lebensbereiche Gehörloser aus. Vor allem die Ausbildung und die Beschäftigung stellen in diesem Zusammenhang ein großes Problem dar. 39 Vgl. Kaul et al. (2009), 65., zitiert nach Wirth (1977), 100. 40 Vgl. Kaul et al. (2009), 9f. 41 Vgl. Prillwitz (1986), 18f. 42 Vgl. Krausneker (2006), 34., zitiert nach Kramer (2001), 46. 43 Vgl. Krausneker (2006), 34., zitiert nach Burghofer/Braun (1995), 78. Seite 11
Im Bereich Ausbildung gibt es für Gehörlose begrenzte Möglichkeiten. Es gibt nur wenige Fachschulen, die in ihrem Curriculum die Bedürfnisse dieser Personengruppe berücksichtigen. Die meisten Gehörlosen erlernen einen Lehrberuf, doch auch hier ist die Auswahl begrenzt. Hier zeigen sich allerdings Unterschiede zwischen älteren Gehörlosen und der gehörlosen Generation von heute. Die heute 60 bis 65-jährigen Gehörlosen konnten in den 1960er Jahren nur wenige Berufe wie zB Tischler, Schuhmacher, Schneider, Goldschmied oder Zahntechniker erlernen. Die Berufsschulen waren an die Gehörlosenschulen angegliedert. Doch nur wenige schafften ein Abschluss. Und auch diese gingen später eher als Hilfsarbeiterinnen bzw. Hilfsarbeiter einer Beschäftigung nach.44 Heute ist das Angebot für gehörlose Jugendliche etwas breiter. Und durch den Einsatz von Dolmetscherinnen und Dolmetschern haben sie vergleichsweise nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Doch beim Vergleich der Ausbildungsabschlüsse von Hörenden und Gehörlosen zeigt sich eine wesentliche Benachteiligung der Gehörlosen. Lediglich 4% der Gehörlosen haben die Matura oder einen universitären Abschluss und 51% einen Lehrabschluss.45 Im Vergleichsjahr 1999 verfügten hörende Erwachsene zu 16% über Matura oder Hochschulabschluss und zu 35% über einen Lehrschulabschluss. 1.7.2. Familienleben Es gibt weder in Deutschland noch in Österreich wirkliche Zahlen über die Häufigkeit von Eheschließungen zwischen hörenden und gehörlosen Erwachsenen. Doch erfahrungsgemäß ist diese Konstellation eher gering, denn die meisten Gehörlosen suchen sich Partner aus der Gehörlosenszene, da für eine gelingende Beziehung eine intensive Kommunikation notwendig ist. Aus diesem Grund haben die meisten Gehörlosen wiederum gehörlose Partnerinnen bzw. Partner oder solche, die die Gebärdensprache beherrschen.46 Nach Beobachtung und Erfahrungen der Autorin kommen in der letzten Zeit immer mehr Partnerschaften zwischen hörenden und gehörlosen Partnerinnen bzw. Partnern zustande. Dies ist darauf zurückzuführen, dass viele Hörende Interesse an der Gebärdensprache haben und diese auch gerne erlernen. Ungefähr 90% der Kinder aus Partnerschaften – sowohl hörenden/gehörlosen als auch gehörlosen/gehörlosen – sind hörend (CODAs).47 44 Vgl. Koch-Bode (1999), 30ff. 45 Vgl. Krausneker (2006), 97., zitiert nach Kramer (2001), 46. 46 Vgl. Prillwitz (1982), 236. 47 Vgl. Peter et al. (2010), 7. Seite 12
2 Benchmarking Dieses Kapitel widmet sich den theoretischen Grundlagen des Benchmarking. Benchmarking ist ein junges Managementinstrument und wird als „die Suche nach besten Praktiken und deren Implementierung“48 beschrieben49. Robert C. Camp, der Begründer der Benchmarking-Methodik, definiert seine Kerngedanken folgendermaßen50: „Benchmarking ist die Suche nach Lösungen, die auf den besten Methoden und Verfahren der Industrie, den „Best Practices“ basieren und ein Unternehmen zu Spitzenleistungen führen“51. Mit Unterstützung dieses Modells hat eine Organisation die Möglichkeit, über den Tellerrand zu schauen und die einzigartige Gelegenheit, von den Erfahrungen anderer zu lernen. Dabei muss das Vergleichsunternehmen nicht zwingend aus der gleichen Branche sein.52 Ziel ist also, die eigene Leistungsfähigkeit durch das Vorbild der Vergleichspartner entscheidend zu verbessern. Als ein wichtiger Vorteil des Benchmarking nennen Mertins und Kohl, dass die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei Einführung neuer Ideen durch Vorbilder erleichtert wird. Dadurch entstehen im eigenen Unternehmen neue Ideen, die auch unternehmensspezifisch umgesetzt werden. Damit wird die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens entscheidend und nachhaltig verbessert.53 48 Seibert/Kempf (2002), 5. 49 Vgl. Seibert/Kempf (2002), 5. 50 Vgl. Mertins/Kohl (2009), 19. 51 Mertins/Kohl (2009), 19. 52 Vgl. Seibert/Kempf (2002), 8f. 53 Vgl. Mertins/Kohl (2009), 20. Seite 13
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