3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
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www.ev-akademie-boll.de September 2018 3 Stark machen! Solidaritäten in Konkurrenz ● Endlich gibt es Frauenbeauftragte in den Werkstätten ● Studienabbruch – eine Katastrophe? ● Starke Mäd- chen – freie Menschen ● Schulung von Gefühlen hilft der Demokratie
Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, im Spätsommer blicken wir auf Monate zurück, in der sich Empathie, Partizipation, Gemeinsinn, Solidarität, Gerechtig- die politische Diskurskultur in einer geradezu atemberau- keit, Fairness und Bereitschaft zur Teamarbeit« – Fähigkeiten benden Weise gewandelt hat: Nicht nur, dass Ausdrücke wie also, für die man hohe emotionale Kompetenzen benötigt. »Asyl-Tourismus« oder »Anti-Abschiebe-Industrie« Anspruch darauf erheben könnten, als Unwort des Jahres 2018 gekürt zu Im Hauptbeitrag zum Schwerpunkt dieser SYM-Ausgabe werden. Vielmehr ist es der Diskussionsstil, die Wortwahl und beschreibt Prof. Dr. Möhring-Hesse die Konkurrenz von die überzogene Rhetorik einiger Politiker, die die Grenzen der verschiedenen Solidaritäten innerhalb der Gesellschaft – Ar- political correctness immer weiter nach rechts verschieben. beitslose konkurrieren mit Geflüchteten um Unterstützung, Zu Recht weist der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Sach- und Geldleistungen sowie Aufmerksamkeit. Da die Andreas Voßkuhle, darauf hin, dass in der Politik mit harten beiden Solidaritäten auch sozialpolitisch organisiert sind, Bandagen gestritten werden müsse; bedenklich dabei ist müssen laut Möhring-Hesse »sozialstaatliche Leistungs- jedoch seiner Meinung nach, dass rechtliche Regeln mit Er- systeme so ausgestattet werden, dass sie den Ansprüchen wartungen überzogen oder gänzlich in Frage gestellt würden, der jeweils Anspruchsberechtigten genügen.« Ferner finden die eigentlich politische Antworten erforderten. Sie im vorliegenden Heft ein Gespräch mit Silke Frisch und Rosi John über das »Neuland« der Frauenbeauftragten in den Dazu jedoch kommt es nicht, da die Emotionalität und per- Werkstätten - über Chancen und erste Erfahrungen (S. 12-13), sonenbezogene Kritik jede sinnvolle Kompromisskultur ver- einen Beitrag von Ulrike Sammet zur Stärkung von Mädchen unmöglichen. Nicht die Zuspitzung von Argumenten ist das in Politik und Diskurs (S. 16-17) und einen Beitrag zum Thema Problem, mit dem demokratische Gemeinwesen zu tun haben, Studienabbrecher (S. 14-15). sondern die narzisstisch wirkende Rhetorik, die jede sach- bezogene Argumentation überdeckt. Hier auf das zugrunde Es wartet in diesem Sinne ein spannungsreiches SYM auf liegende Problem des Rechtspopulismus als Ursache zu ver- Sie und Ihre Lektüre. Wir wünschen Ihnen anregende Lese- weisen, greift meines Erachtens zu kurz: Der Rechtspopulis- stunden, und selbstverständlich freuen wir uns auch auf mus ist inmitten der Zivilgesellschaft entstanden und verlangt Ihre Reaktion! nach guten Antworten; vor allem verlangt er nach einer in der Sache scharfen Kritik an Äußerungen und Willensbekundun- gen, die als grenzwertig oder sogar als tendenziell rechtsex- Mit besten Grüßen, trem bezeichnet werden müssen. Dem sollte die Demokratie gewachsen sein; jedoch setzt ein demokratisches Gemein- wesen Menschen voraus, die sich in ihrer Diskurskultur an der Achtung des Gegenübers orientieren, nicht ehrverletzend agieren und vor allem dazu in der Lage sind, anderslautende Jörg Hübner Argumente in ihre Überlegungen mit einzubeziehen. Das dritte SYM in diesem Jahr ist dem Thema »Stark machen« gewidmet. Um die Demokratiefähigkeit zu stärken, hebt Dr. Farah Dustdar in ihrem Beitrag die Bedeutung von Ge- fühlen hervor: »Die Demokratie gründet nicht nur auf der Rationalität ihrer Bürger. Sie verlangt gleichermaßen nach 2 SYM 3/2018
Inhalt 4 24 Aktuell ... Vorschau ▪ Wichtige Personalien: Tagungen von 6. September Günter Renz und Claudia bis 31. Dezember 2018 Mocek scheiden aus ▪ Azubi beim Landes- leistungswettbewerb 30 ▪ Liane Bednarz kommt Aus der Akademie wieder als Referentin nach Bad Boll ▪ Abschied von Dr. Günter ▪ Fachtag Bündnis Renz, Pfrin. Barbara Armut im Alter Wenzlaff, Studienleiterin ▪ Grenzen – Mauern – ein Carmen Ketterl und aktuelles Thema Studienleiter Ruben Joos 8 ▪ Rezension 6 ▪ Onlinedokument Akademiegeschichte Stark machen 32 Klaus Fütterer: Konkurrenz Publikationen oder Solidarität? Für Vertei- lungsgerechtigleit. 1986 Solidaritäten in Konkurrenz ▪ Rezension Von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse ▪ Onlinedokumente 7 Kunst Behinderte Frauen stärken. Endlich gibt es Frauenbeauftragte in den Werkstätten. 33 Performative Kunst im Gespräch mit Silke Frisch und Rosi John. Verlosung Von Martina Waiblinger Kirchenraum. Boller Bußtag Impressum der Künste 2018 Studienabbruch – eine Katastrophe? Von Dr. Ulrich Heublein 34 20 Starke Mädchen – freie Menschen. Kommentar Rechenschafts- Von Ulrike Sammet Die Vision einer solidarischen bericht Gesellschaft. Erwerbslosen- Demokratie und Emotionen. Schulung von Gefühlen tagung Baden-Württemberg ▪ Einführung. Von hilft der Demokratie. Von Dr. Farah Dustdar Prof. Dr. Jörg Hübner ▪ Eindrücke von zwei neuen Studienleiterinnen 35 ▪ Interview mit Meditation Prof. Dr. Ursula Weber Die Erde – unser aller Planet. ▪ Die Akademie in Zahlen Titelbild Von Günter Renz Fotografin: Britt Schilling für die Ohrenkuss-Ausgabe zum Thema Humor, S.a. S. 11. www.brittschilling.de – www.ohrenkuss.de SYM 3/2018 3
Aktuell Wichtige Personalien: Günter Renz und che für Demokratie und Menschenrechte in Württ- Claudia Mocek scheiden aus emberg«, das im Mai 2017 gegründet wurde. Zum Dr. Günter Renz, stellvertretender Direktor ver- Sprecherteam gehört Pfr. Albrecht Knoch, KDA abschiedet sich nach dem 30. September 2018 in Ulm, Studienleiter an der Evangelischen Akademie den Ruhestand. Er hatte am 1. November 2004 als Bad Boll. Weitere Gäste sind Gregson Erasmus aus Studienleiter im Arbeitsbereich Gesundheitspolitik Südafrika vom Dienst für Mission, Ökumene und und Medizinethik begonnen. Ein Interview mit ihm Entwicklung, der Beauftragte für die Begegnung finden Sie auf S. 30 in diesem Heft. mit dem Judentum, Dr. Michael Volkmann, der Beauftragte für die Arbeit mit Sinti und Roma, Dr. Claudia Mocek, Pressesprecherin und Leiterin Dr. Andreas Hoffmann-Richter, die Prälatin Ga- der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit briele Wulz und weitere VertreterInnen der Zivil- verlässt zum 16. September die Akademie. Sie war gesellschaft. Näheres siehe: www.ev-akademie- fünf Jahre in der Akademie. Ein Interview mit ihr boll.de/tagung/200318.html werden wir in SYM 4-2018 veröffentlichen. Fachtag Bündnis Armut im Alter Azubi beim Landesleistungswettbewerb am 17. Juli 2018 Die Auszubildende Carmen Hediger ist im 2. Lehr- Das Bündnis gegen Armut im Alter in Baden- jahr in der Hauswirtschaft der Akademie. Nun Württemberg, hatte am 17. Juli zum »Fachtag wurde sie als eine der besten von der Berufsschule Armut – arm durch Pflege?« eingeladen. Zentrale Göppingen ausgewählt, Mitte Oktober beim Lan- Themen waren die akuten Mängel im Pflegesystem desleistungswettbewerb in Freudenstadt teilzuneh- in Deutschland und dafür zu sensibilisieren. »Pfle- men. Bei der zwei Tage dauernden Veranstaltung ge betrifft jeden: Betroffene, Angehörige aber auch muss sie in einer 5-minütigen Präsentation ein die Beschäftigten im Pflegebereich«, sagte Susanne Konzept für eine neu strukturierte Website zum Wenz, stellvertretende Landesbezirksleiterin von Thema Hauswirtschaft vorstellen und in Vierer- ver.di Baden-Württemberg. Ziel des Fachtages Teams zwei Aufgaben bewältigen: Die Teams sei es, die Zusammenhänge zwischen Pflege und müssen ihre fachliche und soziale Kompetenz beim Armut aufzuzeigen, »denn Armut beginnt nicht Lösen verschiedener Aufgaben unter Beweis stel- erst im Rentenalter.« Nach dieser Konferenzer- Auszubildende Carmen len: Zum Beispiel muss das Team aus dem Inhalt öffnung lenkte Saskia Ulmer, 2. Vorsitzende des Hediger eines Korbs etwas backen oder kochen. Landesfrauenrats, den Blick auf die Risikogruppe der Frauen. »Wenn wir über Maßnahmen sprechen, müssen wir die Schwächsten im Blick haben«, hob sie hervor. Denn schließlich sind zwei Drittel »Die Angstprediger« - Liane Bednarz der fast 300.000 pflegebedürftigen Menschen in kommt wieder als Referentin Baden-Württemberg Frauen und in den Pflegeberu- nach Bad Boll fen sind 68 Prozent der Angestellten weiblich. Die Journalistin und Publizistin Dr. Liane Bednarz Link zum Pressebericht und zu den Referaten zum war im März 2017 als Referentin bei der Tagung Fachtag, verfasst von Dr. Silvan Siefert, »Kirche und Rechtspopulismus« in Bad Boll – siehe VdK Baden-Württemberg e.V.: auch ihren Beitrag in SYM 2/2017. Nun wird sie am http://buendnis-gegen-altersarmut.de/ 20. Oktober zu einem Fachtag des »Bündnis Kirche Veranstaltungen für Demokratie und Menschenrechte in Württem- berg« (http://bkdmwue.de) wieder nach Bad Boll kommen. In ihrem Vortrag wird sie analysieren, wie »Angstprediger« mit Rechtspopulisten an Grenzen und Mauern – einem Strang ziehen und wo die Grenzlinien zwi- ein aktuelles Thema schen »rechts« und »konservativ« verlaufen. »Die Als die Berliner Mauer 1989 fiel, entstand die Angstprediger« ist auch der Titel ihres gleichna- Euphorie eines freien Raums ohne Mauern mit der migen Buches, das vor kurzem im Droemer Verlag Chance auf eine weltweite Vernetzung. Sie beglei- erschienen ist und den Untertitel trägt: »Wie rechte tete den Prozess der Globalisierung, bei dem aller- Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern«. dings der freie Verkehr von Gütern und Dienstlei- Der Fachtag wird ausgerichtet vom »Bündnis Kir- stungen gemeint war, nicht der von Menschen, 4 SYM 3/2018
Aktuell erst recht nicht aus ärmeren Regionen der Welt. Fast 30 Jahre danach versuchen immer mehr Staaten sich durch den Bau von Mauern oder Sperranlagen mit modernster Technik abzuschot- ten. »Grenzen« und »Mauern« bestimmen weltweit die politische Agenda. Mauern und Grenzanlagen scheinen die Lösung für die Sehnsucht nach ein- fachen Antworten und dem Gefühl zu sein, schon zu viel Souveränität abgegeben zu haben. Mit diesen Fragestellungen haben wir uns bei der Tagung »Mauern in internationalen Strukturen und politischen Diskursen« vom 22.-23. Juni in Bad Boll anhand verschiedener Beispiele auseinanderge- setzt. Warum werden im 21. Jahrhundert, in dem die Entgrenzung von Kapital, Waren und Dienst- leistungen einen Höhepunkt erreicht hat, neue Grenzen gegenüber den »Anderen« – Flüchtlingen, Migrant_innen u.a. gezogen? In den USA soll eine noch größere Mauer an der 2300 km langen Niemand setzt sich leichtfertig in ein marodes »Auf dieser Seite (der Grenze zu Mexiko gebaut werden, die die »bösen Boot. Niemand setzt das eigene Leben und das der Grenze) gibt es auch Träume«. steht auf die- Männer« aufhalten soll. Migrant_innen werden in eigenen Kinder ohne schwerwiegenden Grund sem Grafiti auf einerm den USA gebraucht und ausgebeutet – mit diesem aufs Spiel. Auch heute sind Menschen aus dem Rolladen an der Grenze Diskurs werden sie auch kriminalisiert. In Indien syrischen Bürgerkrieg die mit Abstand größte zwischen Mexiko und den werden mit modernen Technologien wie Infrarot- Gruppe unter den Bootsflüchtlingen. Aus den USA. sensoren Mauern zu Bangladesch und Pakistan er- Hauptherkunftsländern Syrien, Irak, Nigeria und richtet, die eine klare Abgrenzung zwischen Atom- Afghanistan fliehen Menschen vor verbreiteter und mächten und Enklaven darstellen. Ein weiterer nicht selten brutaler Gewalt. Die EU setzt aber auf Reflexionspunkt bei der Tagung war die Situation Abschreckung und Zurückweisung. Die Verbesse- der sogenannten Vertragsarbeiter_innen in der ehe- rung der Lebensbedingungen in den Ländern, aus maligen DDR, die bis heute um Anerkennung und denen Menschen fliehen, muss Priorität haben. ihre Rentenansprüche kämpfen. Der Fluchtweg aus Legale Wege für Migration müssen geschaffen dem Kriegsgebiet Syrien wurde erschütternd von und die Gewährung des Flüchtlingsschutzes muss einem Betroffenen beschrieben. garantiert werden. Viele Länder benötigen Zuwan- derung – hierfür müssen Strukturen geschaffen Die Abschottung Europas zeigt sich an den drama- werden und eine transparente Kommunikation, tischen Ereignissen in den Mittelmeerländern, wo welche Bedeutung die regulierte Migration für den viele Menschen sterben (über 17.000). Die euro- demografischen Wandel mittel- und langfristig hat. päischen Staaten nehmen den Tod von Tausenden von Menschen im Mittelmeer ebenso in Kauf wie Die Länder Afrikas und Europas sind historisch, die Kooperation mit autoritären Staaten, die Auf- ökonomisch und politisch vielfach miteinander fanglager für die errichten, die nach Europa wollen. verflochten und aufeinander angewiesen. Eine Mi- Die europäische Politik legt den Schwerpunkt auf grationspolitik sollte zeigen, dass sie für beide Sei- Zuwanderungskontrolle und nicht auf Flüchtlings- ten Vorteile bringt. Dazu gehören neue Konzepte schutz. Damit reagiert die Politik auf den Druck für Pendelmigration, Qualifikationsprogramme für rechter Gruppen. Die Sprache verändert sich und Migrant_innen sowie Hilfen zur Existenzgründung Begriffe wie »Asyltourismus, Menschenfleisch, für Rückwanderer. Wir müssen die Errungenschaf- Asylbetrüger« vernichten den Schutzrecht-Ge- ten der liberalen Demokratie verteidigen – vor danken. Auf Worte folgen Taten. Schutzsuchende allem die Würde des Menschen, die laut Verfassung werden an der Flucht gehindert, Rettungsschiffe unantastbar ist. Dies muss sich in einem solida- dürfen nicht anlegen. Inzwischen werden sogar rischen Miteinander, in der Sprache, im gegensei- die Retter kriminalisiert. Grenzen gibt es aber auch tigen Respekt sowie in der Politik und im Handeln im sozioökonomischen Bereich, in dem Eliten ihre finden – nicht in Mauern, Militarisierung und Wirtschaftsinteressen verteidigen und Schutzzölle unmenschlichen Hürden. verhängen. Mauricio Salazar, Studienleiter SYM 3/2018 5
Akademiegeschichte Konkurrenz oder Solidarität? Für Verteilungsgerechtigkeit Von Pfr. Klaus Fütterer, 1986 Nichts anderes geschieht auf der inter- Gang. Wem nützt die Verschärfung des nationalen Bühne: Die Art, wie Industrie- Konkurrenzprinzips eigentlich? »Eure Konkurrenten werden vor euch länder um Weltmarktanteile konkur- zu Boden gehen. Ihr werdet die ersten rieren, lässt den Entwicklungsländern Rational scheint mir das nicht, was da sein und unaufhaltsam weiter aufstei- keine Chance, jemals aus eigener Kraft in geschieht. Weil der Kuchen nicht so gen.« Das Zitat stammt nicht aus dem die ökonomisch-technische Entwicklung schnell wächst wie die Zahl der Esser, die beschwörenden Appell eines Fuß- eingreifen zu können. »Der internationa- drum herumsitzen, gibt man das Kom- balltrainers der Bundesliga oder eines le Konkurrenzkampf zwingt uns – das ist mando aus: Nun esst mal alle schneller! Verkaufschefs, auch nicht aus der Rede bei uns ein letztes Argument geworden, Rational wäre es, zu sagen: Dann müs- eines Weltmacht-Führers. Es steht in der an dem Forderungen nach Humanität, sen wir die Stücke neu einteilen. Und Bibel, im fünften Buch Mose. Die Frage Solidarität und ökologischer Verträglich- gerecht wäre doch wohl zu sagen: wer stellt sich: Ist dieses religiöse Erwäh- keit scheitern. Wem nützt das eigentlich? ein größeres Stück hat, muss etwas her- lungs- und Konkurrenzbewusstsein geben. Warum blockieren bei uns Besitz- noch immer ein Nährboden für den här- standsdenken und der Gruppenegois- ter werdenden Konkurrenzkampf in der mus der Wohlhabenden eine gerechtere Wirtschaft? Und wie verträgt sich das mit Verteilung von Arbeit und Einkommen? der christlichen Vorstellung von Solidari- Warum scheint es bei uns nicht mehr tät und geschwisterlichem Teilen? möglich, ein Lastenausgleichsgesetz zu machen, das auch in bestehende Besitz- »Konkurrenz belebt das Geschäft«, und Vermögensverhältnisse eingreift? heißt es. Das klingt sehr sportlich und Bei Adenauer war das noch möglich. harmlos. Was wir zur Zeit beobachten, gleicht eher einer Zentrifuge, die sich »Eure Konkurrenten werden vor euch zu immer schneller dreht, wo immer mehr Boden gehen. Ihr werdet die ersten sein Menschen an den Rand geschleudert und unaufhaltsam weiter aufsteigen.« werden oder nicht aus eigener Kraft ins Mir scheint, ein quasireligiöses Erwäh- Innere kommen; Ältere, gesundheitlich lungsbewusstsein greift in Gestalt des Angeschlagene, schlecht Ausgebildete. neuen Sozialdarwinismus um sich. Auf Die Leistungsauslese wird gnadenloser. die Sieger muss man sehen, die Verlierer Neu ist die stetige Zunahme der Jüngeren interessieren nicht. »Eine solidarische in der Randgruppe. Bereits ein Drittel Gesellschaft ist nicht innovativ«, »Risiko der Arbeitslosen sind unter 25 Jahre alt, muss sich lohnen«, so legitimiert man darunter nicht wenige Berufsanfänger zunehmende Ungerechtigkeit. Schneller mit Facharbeiterausbildung oder Hoch- dreht sich die Zentrifuge. Nicht während schulexamen. Kein Ruhmesblatt für eine Pfr. Klaus Fütterer war von 1977-1990 Studien- der vergangenen Wachstumsperiode, Gesellschaft, jungen Leuten die Tür zum leiter an der Evangelischen Akademie Bad Boll, sondern jetzt, so denke ich, haben wir zu danach zehn Jahre an der Diakonie Stetten tätig. Berufsleben verschlossen zu halten und beweisen, ob wir eine reife Gesellschaft Das Foto wurde 1988 aufgenommen. 1984 er- die Konkurrenzangst bis in die Schu- schien das Buch von Klaus Fütterer »Streit um die sind, das heißt, ob wir Verantwortung len zu tragen! Die Beschleunigung der Arbeit. Industriegesellschaft am Scheideweg« im füreinander tragen wollen und können. Zentrifuge wirkt freilich auch im Bereich Kreuz Verlag. der Unternehmen. Über 15000 Konkurse aktuelle gespräche 2/1986, S. 20 in einem Jahr. In vielen Branchen ist aus Auch diejenigen, die ihren Platz noch dem sportlichen Wettbewerb längst ein innerhalb der Zentrifuge haben, werden Verdrängungswettbewerb geworden, in durch die zunehmenden Fliehkräfte in dem es ums Überleben geht; k.o.-System ihrem Menschsein deformiert. Stress sozusagen. Aber nicht immer überlebt und Alkoholkonsum nehmen zu. So- der Tüchtige; entscheidend ist die Kapi- lidarität in den Betrieben wird immer talkraft. schwieriger. Die Angst durchlöchert Gewissen und verbiegt den aufrechten 6 SYM 3/2018
Kunst in der Akademie Performative Kunst im Kirchenraum Boller Bußtag der Künste 2018 Justyna Koeke, »HIGH HEELS SKULPTUR«. Performance bei der Verleihung des Landeskirchlichen Kunstpreises am 3. März 2016 in der Schlosskirche Stuttgart In den 20 Jahren seines Bestehens hat der gibt es in der Evangelischen Landeskirche Boller Bußtag der Künste primär die ›bilden- Württemberg Initiativen, die sich für die den Künste‹ in Gestalt von Malerei und Skulp- Entwicklung neuer experimenteller Gottes- tur in den Blick genommen. Der diesjährige dienstformen einsetzen. Sie werden bei der Boller Bußtag setzt einen neuen Akzent. Er Gestaltung des Bußtags mitwirken. Beispiele legt damit eine Spur, die in den nächsten dieser innovativen Praxis sind etwa die litur- Jahren weiter verfolgt werden soll. gischen Aktionen anlässlich der Verleihung der beiden landeskirchlichen Kunstpreise Der Boller Bußtag der Künste findet Ebenfalls in den letzten zwei Jahrzehnten hat 2012 und 2015/16 (siehe Fotos). am Mittwoch, 21. November 2018 um 16:00 Uhr statt. Offizielles Ende das Schlagwort der ›Performativität‹ kunst- ist gegen 20:00 Uhr. theoretische Diskussionen bestimmt und Dies alles gibt Anlass, der Performativität auch die künstlerische Praxis in unterschied- künstlerischer Aktionen und gottesdienst- Leitung: Prof. Dr. Hans-Ulrich lichsten Bereichen geprägt. Erika Fischer- licher Formen verstärkte Aufmerksamkeit zu Gehring, Evangelische Akademie Bad Boll Lichte, Theaterwissenschaftlerin aus Berlin, schenken. Der Festsaal der Kurhauses Bad der diese Diskussion wichtige Einsichten Boll, zugleich der Kirchsaal der Herrnhuter Informationen und Anmeldung: verdankt, stellt den Begriff der Aufführung Gemeinde, in dem in diesem Jahr der Bußtag Doris Korn, Tel 07164 79-307, ins Zentrum. Er beinhaltet die Dimension stattfinden wird, bildet dazu den geeigneten doris.korn@ev-akademie-boll.de einer leiblichen Präsenz von Akteur_innen Raum und Rahmen. und Zuschauer_innen, die Entstehung von Bedeutung im und durch den Prozess und Neben einem performativ gestalteten Got- den Ereignischarakter des Geschehens. tesdienst wird Dr. Frank Hiddemann, derzeit Pfarrer in Görlitz, zum Thema ›Performative Konkreten Niederschlag findet diese Ent- Kunst im Kirchenraum‹, vortragen. Dieser wicklung in der aktuellen Einrichtung eines Thematik ist nicht nur seine Dissertation Masterstudiengangs ›Körper, Theorie und gewidmet. Frank Hiddemann kann hier auch Poetik des Performativen‹ an der Staatlichen auf eine Fülle experimenteller Gottesdienste Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. und Kunstaktionen seiner eigenen Praxis Aber auch die Praktische Theologie, vor allem rekurrieren. die Gottesdiensttheorie, hat diesen Ansatz des Performativen aufgegriffen. Schließlich Studienleiter Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring SYM 3/2018 7
Solidaritäten Solidaritäten in Konkurrenz Von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse soll nicht widersprochen werden, jedoch also Menschen aus: Gemeinsame Inte- soll den so Rufenden etwas »mehr« an ressen zu haben und zu verfolgen, heißt So unterschiedlich gewerkschaftliche Realismus empfohlen werden. Auch notwendig, besondere Interessen zu und kirchliche Milieus auch ticken in den Milieus, in denen man Solidari- haben und zu verfolgen. Dabei greifen mögen, zumindest in einer Überzeu- tät hoch- und wertschätzt, sollte man Solidaritätsbeziehungen unterschiedlich gung stimmen sie überein: In Solidarität mit der Konkurrenz der Solidaritäten weit aus: Solidaritäten bestehen im sozi- überwinden Menschen ihre Konkurrenz. rechnen – und gerade deswegen diese alen Mikrobereich, etwa zwischen Men- Mehr noch: Solidarität ist das »Gegen- Konkurrenz für all diejenigen, die auf schen in unmittelbarer Nachbarschaft. gift« zur Konkurrenz und zu deren Solidarität besonders angewiesen sind, Es gibt aber auch Solidaritäten mit giftigen Auswirkungen. Entsprechend aushalt- und annehmbar machen. einer hohen räumlichen und zeitlichen gestimmt stößt den Aktivisten in der Ausdehnung. In diesem Sinne können Erwerbslosenszene wie auch in der Sozi- ›Solidarität‹ – wovon genau reden wir? viele der in der Bundesrepublik über den alen Arbeit für geflohene Menschen auf, Mit dem Begriff ›Solidarität‹ kann eine Sozialstaat »laufenden« Leistungssys- wenn die Solidarität mit Erwerbslosen für moderne Gesellschaften typische teme als Formen der institutionalisierten und prekär lebenden und arbeitenden Form von sozialen Beziehungen bezeich- Solidarität gelten. Menschen und die Solidarität mit den net werden. Wir haben es immer dann nach Deutschland geflohenen Menschen mit Solidarität zu tun, wenn Menschen Konkurrenz von Solidaritäten. Mit in Konkurrenz zueinander geraten. Dass die bewusste Bezugnahme aufeinander unterschiedlichen Mitmenschen haben das so ist, erfahren Erwerblose und dazu dient, gemeinsame Interessen Menschen unterschiedliche gemeinsame von Prekarität Betroffene als Mangel gemeinsam nach eigenen Möglichkeiten Interessen. Die geteilten Gemeinsam- an Geld, Zeit oder öffentlicher Auf- zu verfolgen. Dabei verpflichten sich keiten können in Konkurrenz zueinan- merksamkeit. Zumindest erfahren die die Beteiligten auch dazu, Leistungen der geraten – und zwar in dem Maß, Aktivisten der Solidaritätsarbeit von und zugunsten der jeweils anderen »Soli- wie sich die auf diese Gemeinsamkeiten mit Erwerbslosen, dass ihre Leute Soli- dargenossen« zu übernehmen bzw. von gründenden Solidaritäten gegenseitig daritätsverluste als Folge der Solidarität diesen Unterstützung anzunehmen. In ausschließen. Dann muss sich jeder mit Geflohenen beklagen und deswegen Solidaritäten »gibt« und »nimmt« man. einzelne entscheiden, welche der kon- gelegentlich den Geflohenen ihre Soli- Auch wenn man aktuell bereit ist, einsei- kurrierenden Gemeinsamkeiten für ihn darität verweigern. tige Belastungen zu »ertragen« rechnen wichtiger sind und welche sie aufgrund die »Solidargenossen« langfristig damit, von begrenzten Ressourcen wie Geld, Dass Solidaritäten in Konkurrenz unter- dass die Bilanz von »Geben« und »Neh- Zeit und Aufmerksamkeit zurückstellen einander geraten und dass in der Folge men« ausgeglichen ist. müssen. Vermutlich werden die Konkur- davon bei zumindest einigen »zu wenig« renzen zwischen Solidaritäten als Folge an Solidarität ankommt, führt zu einem Nach »außen« sind solidarische Bezie- der Individualisierung weiter zunehmen. Ruf nach »mehr« Solidarität. Diesem hungen notwendig exklusiv, grenzen Vor der Erwerbslosentagung 2018 wurde von der Neuen Arbeit gGmbH Denkfabrik, Stuttgart ein Solidaritätsmarsch mit vielen Kooperationspartnern, entlang verschiedener 8 SYM 3/2018
Solidaritäten Solidaritäten mit Erwerbslosen und Soli- Organisationen läuft. Die nach Deutschland darität mit Flüchtlingen. Die Konkurrenz Geflohenen sind aber auch auf Solidarität mit »Qual der Wahl« zwischen Solidaritäten kann für die, die auf ihnen angewiesen, vor allem auf die Unter- Eingeschworen auf die eigene diese Solidaritäten angewiesen sind, äußerst stützungsleistungen zum Zweck der Aufnah- Solidarität wird in der »Innen- unangenehm werden – nämlich immer dann, me und Integration. Auch diese Solidarität ist perspektive« von Solidaritäts- wenn andere, diese Solidaritäten »abwäh- im Wesentlichen sozialstaatlich und kommu- beziehungen die Konkurrenz len« können und als Folge davon die Soli- nal organisiert. In dieser Solidarität »stecken« zwischen Solidaritäten und die daritätsleistungen ausbleiben, auf die man alle EinwohnerInnen der Bundesrepublik, die Notwendigkeit, zwischen ihnen angewiesen ist. Genau dies ist der Fall bei der im Vorgriff darauf, dass andere zu Einwoh- zu wählen, nicht selten negiert eingangs angesprochenen Konkurrenz zwi- nerInnen werden, diese unter sich »aufneh- oder – wenn nicht verneint – schen der Solidarität mit Erwerbslosen sowie men« und integrieren. zumindest negativ bewertet. den von prekären Arbeits- und Lebenssitua- Gerne verweist man dann tionen Betroffenen und der Solidarität mit Die beiden Solidaritäten überlagern sich. auf »objektive Interessen« als den nach Deutschland geflohenen Menschen. Zur Solidarität mit den nach Deutschland Folge objektiver Lebenslagen Beide Gruppen erleben die Konkurrenz dieser geflohenen Menschen sind nämlich alle Ein- (Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit »Solidaritäten mit ...« als eine Konkurrenz der wohnerInnen der BRD angehalten, also auch oder Familie). Dies ist aber aus diesen Solidaritäten erwachsenden Unter- all diejenigen, die selbst auf sozialstaatliche weder notwendig und unver- stützungsleistungen. Menschen, die dauer- Leistungen angewiesen sind. Während sie in meidbar, noch ist dies sonder- haft oder immer wieder erwerbslos sind oder den auf Erwerbslosigkeit und Prekarität zuge- lich erfolgreich. Man muss die anderweitig in prekären Arbeits- und Lebens- schnittenen Solidaritäten aktuell als Adressa- jeweils eigene Solidarität nicht verhältnissen stecken, sind – u.a. in Form von tInnen von Solidaritätsleistungen unterwegs zurückstufen, um anderen Erwerbsloseninitiativen – untereinander so- sind, sind sie in den auf Flüchtlingen zuge- die »Qual der Wahl« zuzuge- lidarisch. Sie sind aber auch darauf angewie- schnitten Solidaritäten auf der »Geber«-Seite stehen; und man kann ihnen sen, dass man mit ihnen solidarisch ist und integriert. Auch sie sind daher verpflichtet, gegenüber die Wichtigkeit der dass sie in dieser Solidarität Unterstützung die nach Deutschland geflohenen Menschen eigenen Solidarität einladend erhalten. Nur so können sie auf Augenhöhe in Sachen Aufnahme und Integration nach vorlegen und versuchen, sie mit allen anderen und mit gleichen Rechten eigenen Möglichkeiten zu unterstützen. Geld, gerade in der Konkurrenz zu in dieser Gesellschaft leben. Entsprechende und Arbeitsplätze, Wohnraum oder medizi- anderen wichtigen Solidari- Solidaritätszusammenhänge sind in der Bun- nische Leistungen, Zeit von Freiwilligen und täten für sie bedeutsamer zu desrepublik über den Sozialstaat organisiert. öffentliche Aufmerksamkeit und gesellschaft- machen. Das aber setzt gerade Daher haben sie eine arbeitsgesellschaftliche liche Anerkennung: Sobald es in den beiden voraus, anzuerkennen, dass die und eine kommunale Logik – und hängen Solidaritäten um dieselben Leistungen geht, einzelnen in der Konkurrenz deswegen an der Zugehörigkeit zum Kreis der geraten sie in Konkurrenz untereinander. der sich ihnen anbietenden Erwerbspersonen oder zu einer Kommune. Solidarität die »Qual der Wahl« Dies wird man sich eingestehen – und aushal- haben. Auch ImmigrantInnen sind untereinander ten müssen. Damit dies aber auch Erwerbslo- solidarisch, wobei diese Solidarität – soweit se und von Prekarität Betroffene genauso wie wir das wissen – vor allem über ethnische die nach Deutschland Geflohenen aushalten Communities und über zivilgesellschaftliche können, muss man die Solidarität in den Stationen organisiert. Der Solidaritätsmarsch entstand bei der Erwerbslosentagung 2017 in Herrenalb in einer Zukunftswerkstatt. Siehe auch Kaleidoskop, S. 11 SYM 3/2018 9
Solidaritäten beiden Gruppen entsprechend organisie- automatisch – und muss gegebenenfalls ren. Dabei muss vor allem »nach innen« die gegenüber den jeweiligen »Gebern« durch- Solidarität mit geflohenen Notwendigkeit der Solidarität mit den jeweils gesetzt werden. Weil über den Sozialstaat Menschen anderen plausibel und so für die Akzeptanz vermittelt, geschieht dies in den beiden in Dabei steht für die Solida- der Solidarität mit der jeweils anderen Grup- Frage stehenden Solidaritäten auf dem Wege ritätsarbeit von und mit Er- pe gesorgt werden. der Sozialpolitik: Sozialstaatliche Leistungs- werbslosen und von Prekarität systeme müssen so ausgestattet werden, dass Betroffenen an, die Solidarität Sozialpolitische Entschärfung. Weil die bei- sie den Ansprüchen der jeweils Anspruchs- mit geflohenen Menschen für den angesprochenen Solidaritäten zumindest berechtigten genügen. Zugleich müssen sie die »eigenen Leute« plausibel auch sozialstaatlich organisiert und vermittelt bei den jeweils verpflichteten »Gebern«, die zu machen, so dass diese sich sind, können sie durch Sozialpolitik beein- im Gegenzug die notwendigen Solidaritäts- selbst als AdressatInnen der flusst werden. So kann auf diesem Weg auch verpflichtungen auch abfragen – und dabei Solidarität mit Flüchtlingen die Knappheit der Solidaritätsleistungen und die Belastungen zwischen den »Gebern« auch angesprochen wissen. Selbst- darüber das Ausmaß und die Schärfe ihrer gerecht – und d.h. im Zweifel nach deren verständlich haben auch sie Konkurrenz bearbeitet werden. Sozialpoli- Leistungsfähigkeit – verteilen. Denn nur bei die »Qual der Wahl« – und tik ist damit ein ausgezeichneter Weg, die deren gerechten Verteilung werden die Belas- können die Solidarität mit Er- Konkurrenz der beiden Solidaritäten sowohl tungen von denen akzeptiert werden, die der werbslosen für sich so wichtig für die von Erwerbslosigkeit und Prekarität Sozialstaat in ihre Solidaritätspflicht »ruft« machen, dass für die Solidari- Betroffenen als auch für die nach Deutsch- und deswegen belastet. tät mit Flüchtlingen – zumin- land geflohenen Menschen aushaltbar zu dest jenseits sozialstaatlicher machen. Gerade wenn wir sozialstaatliche Erwerbsloseninitiativen und -projekte sollten Verpflichtung – kein Raum Leistungen als Solidaritätsverpflichtungen an einer solchen Sozialpolitik mitwirken. mehr ist. Jedoch sollte eine verstehen, wollen wir die Knappheit dieser Auf diesem Wege werden sie dazu beitragen, solche Abwahl in entsprechen- Unterstützung nicht tolerieren: Jede und dass die Solidaritätspflichten gegenüber den der Solidaritätsarbeit nicht jeder, die oder der der jeweiligen Solidarität nach Deutschland geflohenen Menschen toleriert und schon gar nicht zugehört und auf Unterstützung angewiesen erfüllt werden, dass die dazu notwendigen gefördert werden. Denn die ist, hat Anspruch darauf. Im Gegenzug ist die Belastungen gerecht verteilt werden und dass nach Deutschland geflohenen jeweilige Solidargemeinschaft verpflichtet, – nicht zuletzt – die »eigenen Leute« ihren Menschen sind in besonderem diese Unterstützung in einem ausreichenden Verpflichtungen im Rahmen dieser Solidarität Maße auf Solidarität ange- Maße bereit zu halten. Werden hingegen Un- nachkommen (können). Zugleich sorgen sie wiesen; und die Solidarität terstützungsleistungen knapp gehalten, dann auf dem Wege der Sozialpolitik dafür, dass mit ihnen als zukünftige kommt die jeweilige Solidargemeinschaft die Konkurrenz entsprechender Solidaritäts- EinwohnerInnen ist von hohem ihren Verpflichtungen nicht nach. Das aber leistungen überwunden und dass so die Kon- moralischem Rang. kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass kurrenz der sie begründenden Solidaritäten die jeweils verpflichteten »Geber« auch in an- für die eigenen Leute aushaltbar wird. deren Solidargemeinschaften zum »Geben« verpflichtet sind. Die Langversion dieses Beitrags finden Sie unter www.ev-akademie-boll.de/online-dokumente. Siehe auch Kaleidoskop S. 11 und Dass Solidargemeinschaften ihren Verpflich- den Kommentar S. 34. tungen gerecht werden, geschieht nicht Dr. Matthias Möhring- Hesse ist Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Tübingen. Er war Referent bei der Erwerbslosenta- gung 2018 vom 2.-3. Juli »Solidarität und Konkur- renz«, die Studienleiter Karl-Ulrich Gscheidle, KDA Reutlingen, geleitet hat. 10 SYM 3/2018
Kaleidoskop Projekte für einen gelungenen Übergang von der Schule ins Studium Das Phänomen Studienabbruch ist Thema des Beitrags von Dr. Ulrich Heublein auf S. 14-15. Bei der Tagung Mitte Juni wurden auch Beispiele vorgestellt, die solchen Entwicklungen vorausschauend begegnen. Von SüdwestMetall gibt es das Förderpro- gramm MINToring: Das Programm begleitet junge Erwachsene beim Übergang von der Schule an die Hochschule und bietet Schüler_innen praxisnahe Studienorientierung und Unterstützung auf dem Weg in ein MINT-Studium. Studienabbrüche sollen so vermieden werden. Engagierte Studierende werden zu MINToren für angehende Ingenieure und Naturwissenschaftler. Sie begeistern für MINT, informieren über das Spektrum der Studiengänge und stehen während der ersten vier Semester mit Rat und Tat zur Seite: https://bit.ly/2njONwj. Ein anderes Projekt ist das »Maschinenhaus – Campus für Ingenieurinnen und Inge- nieure« vom VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau), eine Initiative für mehr Studienerfolg in den Ingenieur- wissenschaften. Da in den Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik die Abbruchquoten besonders hoch sind, wurden fünf wissenschaftliche Studien und Befragungen durchgeführt, die Themen wie Studienabbruch, Qualitätsmanagement in der Lehre sowie Verbesserungsbedarfe untersucht haben. Daraus haben sich fünf Teilprojekte entwickelt. Genaue Informationen finden sich hier: https://bit.ly/2LYzU1f. Ohrenkuss – Magazin, gemacht von Menschen mit Down-Syndrom Unser Titelbild stammt dieses Mal von Britt Schilling für die Ohrenkuss-Ausgabe zum Thema Humor. Das Magazin Ohrenkuss ist eine ganz besondere Zeitschrift, deren Texte ausschließlich von Menschen mit Down-Syndrom verfasst werden. 50 Autor_innen im Alter von 16 bis 60 Jahren schreiben für Ohrenkuss. Die Themen sind Liebe, Musik, Arbeit, Mode, Wunder, Essen und Trinken – alles was uns alle bewegt. Am Anfang war der Ohrenkuss ein Forschungsprojekt am Medizinhisto- rischen Institut der Uni Bonn. Katja de Bragança (siehe Foto), Humangenetikerin, begründete den Ohrenkuss – zunächst gefördert von der Volkswagen-Stiftung. So sind die ersten vier Hefte entstanden, mehr waren nicht geplant. Aber die Mitar- beitenden wollten unbedingt weitermachen. Katja de Bragança gab ihre Uni-Stelle auf und widmete sich fortan hauptberuflich dem Ohrenkuss. Was sie antrieb: Katja de Bragança wollte das Vorurteil widerlegen, Menschen mit Down-Syndrom könnten nicht lesen und schreiben. Sie wollte mit dem Magazin die Gedankenwelt und Texte von Menschen mit Down-Syndrom wahrnehmbar und öffentlich machen. Ohrenkuss zeichnet sich durch gute Texte, trendiges Lay- out und tolle Fotos aus und erscheint alle sechs Monate. Im September werden 20 Jahre Ohrenkuss mit einer großen Party gefeiert. Es lohnt sich, die Zeitschrift zu abonnieren (sie erscheint zweimal im Jahr) und in der informativen und super- schönen Website rumzustöbern: www.ohrenkuss.de. Solidaritätsmarsch von Stuttgart nach Bad Boll Vom 30. Juni bis 1. Juli machte sich eine Gruppe unter dem Motto »Solidarität statt Konkurrenz« auf den Weg von Bad Cannstatt bis nach Bad Boll. Der Marsch gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit sollte in der Evangelischen Akademie Bad Boll enden, wo am 2. Juli dann die gleichnamige Erwerbslosentagung 2018 stattfand. Initiator war Martin Tertelmann, Kopf der Denkfabrik, einer Abteilung des Stuttgarter Sozialunternehmens Neue Arbeit. Eine bunte Gruppe aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen hatte sich zu dem Marsch zusammengefunden und verschiedene Stationen angesteuert, wo sie empfangen wurden. Start des Marschs war »Das Kaufhaus« in Bad Cannstatt, dann ging es weiter, u.a. vorbei an der Esslinger Tafel »Carisatt«, einem Flüchtlingsheim und dem Esslinger Berberdorf – eine deutschlandweit einmalige »Hüttensiedlung« für Menschen in Wohnungsnot. Nach einem sozialpolitischen Nachtgebet in der Ottilienkapelle in Plochingen gab es die Möglich- keit, im dortigen Gemeindehaus zu übernachten. Am Sonntag, 1. Juli, machte sich die Gruppe nach einem Gottesdienst in der Stadtkirche St. Blasius wieder auf den Weg und am frühen Nachmittag kam die erschöpfte Gruppe in Bad Boll an, wo sie nach gemeinsamem Grillen noch eine Lesung auf dem Blumhardt-Friedhof genießen konnte. Am nächsten Tag, dem 2. Juli, begann dann die Erwerbslosentagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Siehe auch den Beitrag in der Kontext-Wochenzeitung: https://bit.ly/2Mbvnrp und zwei Beiträge im aktuellen SYM S. 8-10 und S. 34. SYM 3/2018 11
Werkstätten Behinderte Frauen stärken Endlich gibt es Frauenbeauftragte in den Werkstätten Seit Januar 2017 muss es in jeder Werkstatt für behinderte Menschen eine Frauenbeauftragte geben. So sehen es das Bundesteilhabegesetz (BTHG) und die novellierte Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO) vor. Vereine wie Weibernetz u.a. haben seit vielen Jahren wegweisende Vorarbeit geleistet. Das Bundesfrauenministerium fördert darum auch deren Projekt »Politische Interessenvertretung behinderter Frauen – für Chancengleichheit und Schutz vor Gewalt« von 2018 bis 2021. Martina Waiblinger hat mit der Geschäftsführerin der Werkstatträte Baden- Württemberg Silke Frisch und mit Rosi John, einer ehemaligen stellvertretenden Werkstatträtin vom Werkstattrat Baden-Württemberg, gesprochen. Wie kam das Thema Frauenbeauftragte SF: Ja, das ist ein ganz neues Amt und Was können Sie dazu aus Ihren Erfah- in den Werkstätten auf ? wir versuchen zunächst Frauen zu rungen als Vertrauensperson sagen? Silke Frisch (SF): Nach einer Studie des motivieren, sich der Aufgabe zu stellen. RJ: Aus der Arbeit als Werkstatträtin Bundesministeriums für Familie, Se- Werkstatträte sind meistens Männer, kenne ich verschiedene Strukturen und nioren und Jugend, erleben Frauen mit und Frauen mit Behinderungen muss Vorgänge. Deshalb habe ich jetzt einen Behinderungen im Laufe ihres Lebens man oft noch mehr ermutigen, für sich Leitfaden entwickelt – darin steht zum zwei- bis dreimal soviel sexuelle Gewalt zu sprechen. Es gibt natürlich auch Beispiel: Was gehört zu einer Sitzung? als der weibliche Bevölkerungsdurch- berechtigte Ängste und Fragen: Was Wie schreibt man ein Protokoll? Als schnitt. Das darf nicht sein! Wir sind sind meine Aufgaben? Was muss ich Vertrauensperson möchte ich unter- froh, dass die Frauenbeauftragten jetzt tun? Überfordert mich das? Uns ist dabei stützen und ermutigen. Es geht auch im Gesetz stehen. Dies eröffnet viele wichtig, den Frauen zu sagen, dass sie darum, zum Beispiel schreibschwache Möglichkeiten, Frauen zu stärken – dass keine Beratung und keine Therapie Menschen zu motivieren, teilzunehmen sie ihre Rechte kennenlernen und durch- machen. Dazu sind gelernte Fachkräfte – ihnen kann man zum Beispiel ein Dik- setzen können und dass sie in ihren da. Aber Frauenbeauftragte können gut tiergerät hinstellen. Ferner überlegen Bedürfnissen wahrgenommen werden. zuhören und die Frauen an die entspre- wir: Wen könnten wir zu den Treffen chenden Beratungsstellen weiterleiten. einladen? Mir fällt da zum Beispiel Pro Was sieht das Gesetz vor? Das alles ist Thema in den Schulungen. Familia ein. Dann ist es wichtig, sich als Rosi John (RJ): In jeder Werkstatt soll es Ferner hat jede Beauftragte eine Vertrau- Ansprechpartnerin bei den Frauen durch eine Frauenbeauftragte und mindestens ensperson, mit der sie alles besprechen Anschläge oder Flyer bekannt zu ma- eine Stellvertreterin geben – je nach kann. Die enge Zusammenarbeit mit chen. Die Frauenbeauftragte kann zum Größe der Werkstatt. Wir empfehlen, der Vertrauensperson ist sehr wichtig Beispiel eine Sprechstunde anbieten die Ämter von Werkstattrat und Frau- – wenn es zum Beispiel um schwierige oder – mit Genehmigung der Leitung – enbeauftragter zu trennen – einerseits Themen und die eigene Abgrenzung einen Kummerkasten aufstellen. Aber ist es für manche schwierig, die beiden geht. Manche treibt das um, was sie wir müssen die Frauenbeauftragten auch Funktionen auseinanderzuhalten und hören. Natürlich sind auch die Schulun- vor Überforderung schützen. Wenn eine außerdem ist das jeweils genug Arbeit gen neu für uns. Von »Weibernetz« gibt Frau das Gefühl hat, das ist mir zu hei- für eine Person. Ferner gibt es für die es aber bereits ein tolles Curriculum. kel oder zu viel, muss sie wissen, wohin Frauenbeauftragten jeweils eine Vertrau- Auch die Lebenshilfe macht Schulungen sie sich wenden kann und bei wem sie ensperson. Ich zum Beispiel wurde jetzt – da sind wir, die Werkstatträte Baden- Unterstützung erhält. als Vertrauensperson ausgewählt, weil Württemberg, Kooperationspartner und ich durch meine Arbeit als Werkstatträ- Referenten. Mit welchen Themen müssen sich die tin viel Erfahrung habe. Frauenbeauftragten befassen? Info: In Baden-Württemberg sind es SF: Es geht natürlich auch um Gewalt, Info: In Deutschland leben ca. 4 Millio- 97 Träger mit verschiedenen Standor- aber man darf die Problematik nicht nen Frauen mit Behinderungen. ten und Zweigwerkstätten. Es gibt 197 auf sexuelle Übergriffe verkürzen. Es ist Werkstatträte – eigentlich bräuchte wichtig, dass es auch um die positiven Frauenbeauftragte in den Werkstätten man ebenso viele Frauenbeauftragte Seiten von Frau sein gehen kann. Das sind noch Neuland. Was ist zu berück- und Stellvertreterinnen, die alle auch Thema darf nicht nur negativ gesehen sichtigen? geschult werden müssen. werden. Partnerschaft, Freundschaft 12 SYM 3/2018
Werkstätten Roswitha John, ehemalige Werkstatträtin Roswitha John ist jetzt 66 Jahre alt. Von 2008 bis 2017 hat sie in einer Werkstatt ge- arbeitet und war fünf Jahre in verschiedenen Funktionen im Werkstattrat. Roswitha John hatte 30 Jahre in Kliniken und Altenpflegeheimen gearbeitet – ihr Lieblingsbereich war die Kinderchirurgie. Durch Krank- heit und folgende Arbeitslo- sigkeit »habe ich den Faden in meinem Leben verloren«, erzählt sie. Drei Jahre konnte sie nur sporadisch arbeiten, dann hat ihr jemand empfoh- len, sich an die Lebenshilfe zu wenden. »Ich bin froh, dass es die Lebenshilfe gibt. Sie haben mir geholfen, aus der negativen Tretmühle rauszu- kommen.« Roswitha John hat Silke Frisch, Geschäftsführerin der Werkstatträte BW (vorne) und Rosi John, ehemalige stellvertretende Werkstatträtin begonnen in einer Werkstatt zu arbeiten. Nach zwei Jahren und Liebe sind ja ganz tolle wichtige Themen, man könnte einen Frauenstammtisch einrich- war sie bereits Vorsitzende im aber oft gibt es dazu viele Fragen und Ängste. ten oder gemeinsam etwas Kreatives machen. Gesamtwerkstattrat, später die RJ: Es gibt auch verschiedene Arten von Be- stellvertretende Vorsitzende lästigung – manche Frauen fühlen sich schon Info: Das »Weibernetz«, ein Netzwerk von der Werkstatträte Baden- belästigt, wenn man sie schief anschaut. betroffenen Frauen – hat schon vor über Württemberg. Sie konnte an Und es gibt geistig behinderte Menschen, die zehn Jahren Frauenbeauftragte gefordert und Fortbildungen teilnehmen, mit sich nicht wehren können, weil sie Ängste selbst ausgebildet. Politikern sprechen, Kontakte haben oder nicht sprechen können. SF: Es ist knüpfen und sich mit anderen auch ganz wichtig zu schauen: Wie geht es Wie ist die Stimmung jetzt in austauschen. »Das war sehr den Frauen in der Werkstatt? Haben sie die den Werkstätten? interessant«. Leider war es gleichen Möglichkeiten wie die Männer, die SF: Es ist auf alle Fälle ein großer Bedarf da damit vorbei, als sie letztes gleiche Bezahlung, werden sie in gleichem und es tut gut, jetzt die Frauenbeauftragten Jahr in Rente ging. Immerhin Maße gefördert? Eigentlich alles Themen, wie zu haben. Anfangs braucht es einen langen ist sie noch Vertrauensperson sie in Betrieben auf dem 1. Arbeitsmarkt auch Atem, aber dann kommen die Frauen und für Werkstatträte und für auftauchen. nutzen die Angebote. RJ: Es gibt sehr viel Frauenbeauftragte. Sie sagt: RJ: Die Frauenbeauftragte kann auch Frau- Spielraum und da die Frauenbeauftragten »Ich mache das gerne, aber auf en unterstützen, die bestimmte Arbeiten – auch das Recht haben, an den Werkstattrats- Dauer möchte ich nur noch aufgrund ihrer Behinderung – nicht ausüben sitzungen teilzunehmen, profitiert dieser si- die Stellvertretung machen.« können. Da kann sie mit dem Gruppenleiter cher auch davon, wenn sie Probleme kennen- Sie möchte sich jetzt mehr sprechen. SF: Es geht oft auch um praktische lernen und sich mit den Frauenbeauftragten auf ihre kreativen Talente und Themen: Ist die Toilette sauber? Gibt es einen austauschen können. Erfahrungen stützen. Sie hat Mülleimer für die Monatshygiene? Können bereits als Assistentin bei VHS- wir zum Essen einen Tisch nur für Frauen Info: Vom 13.-14. Mai 2019 findet in der Kursen mitgearbeitet und wird haben? Manche Frauen wollen auch einmal Evangelischen Akademie Bad Boll eine bald einen eigenen Kurs leiten mit einer Expertin über Geschlechtlichkeit, Tagung statt für Frauenbeauftragte in den können. Sexualität und Partnerschaft sprechen. RJ: Ja, Werkstätten und deren Vertrauenspersonen. SYM 3/2018 13
Studienabbruch Studienabbruch – jederzeit Neu- und Umorientierungen nicht nur erlaubt, sondern auch legitim sind. Dies ist nicht nur eine Frage per- eine Katastrophe? sönlicher Freiheit und freier Berufswahl, es herrscht vielmehr die Überzeugung vor: Eine Tätigkeit, die vom Einzelnen als sinnstiftend und zufriedenstellend erlebt wird, erbringt durch hohe indi- viduelle Motivation auch den stärksten gesellschaftlichen Nutzen. Hinter jedem Studienabbruch steht eine solche Neuorientierung. Studienabbruch ist deshalb zunächst vollkommen gerecht- fertigt. Als problematisch ist ein Ausstieg aus dem Studium allerdings dann zu bewerten, wenn Studierende abbrechen müssen, die für den akademischen Bil- dungsweg sowohl fachlich hinreichend vorbereitet als auch motiviert sind, die also nicht an sich selbst scheitern, weil sie im Grunde andere Vorstellungen und Befähigungen haben, sondern denen bestimmte Umstände und Bedingungen den Verbleib an der Hochschule unmög- lich machen. Alle, die studieren wollen und können, sollten einen Hochschul- abschluss erreichen. Auch ein sehr später Studienabbruch, wenn schon ein Großteil des Studiums absolviert wurde, ist kaum akzeptabel. Wenn das Studi- um abgebrochen wird, dann sollte das Von Dr. Ulrich Heublein Studienaufgabe auf Null zurückfahren frühzeitig erfolgen – das ist eine Frage zu wollen? sowohl des sorgsamen Umgangs mit Das Thema Studienabbruch ist in der öf- den gesellschaftlichen Mitteln, die an fentlichen Diskussion. Gemeinhin wird An den Universitäten und Fachhoch- die Hochschulen fließen, als auch mit es als ein problematisches Ereignis im schulen in Deutschland brechen derzeit individueller Lebenszeit. Lebenslauf angesehen, als ein Makel in im Bachelorstudium 28 Prozent und im der Bildungsbiographie. Studienabbre- Masterstudium 19 Prozent der Studi- Um einen solchen ungerechtfertigten cherinnen und Studienabbrecher schei- enanfängerinnen und Studienanfänger oder zu späten Ausstieg aus dem Stu- nen versagt zu haben, sie waren nicht eines Jahrgangs ihr Studium ab und dium zu vermeiden, ist es wichtig, die in der Lage, die Anforderungen eines verlassen das Hochschulsystem wieder. Ursachen für diese Prozesse zu verste- Hochschulstudiums zu erfüllen. Und Zwischen den verschiedenen Studienfä- hen. Dabei lässt sich ein Studienabbruch dazu kommt noch, dass für ihr Studium chern gibt es dabei beträchtliche Diffe- einfach erklären. Im Grunde handelt gesellschaftliche Ressourcen geflossen renzen: Hohem Studienabbruch, es sich um eine Passungsfrage, indivi- sind, ohne dass sie die damit verbunde- z.B. in Mathematik, Physik und Che- duelle Studienvoraussetzungen und nen Erwartungen einlösen konnten. Die mie, steht geringe Studienaufgabe z.B. individuelles Studienverhalten einerseits Schlussfolgerung muss dementspre- in Sozialpädagogik gegenüber. Mögen müssen mit institutionellen Bedingun- chend sein, den Studienabbruch so weit diese Zahlen auch einigen Leserinnen gen und Anforderungen an das Studium wie möglich zurückzudrängen. Aber und Lesern hoch erscheinen, so darf andererseits korrespondieren. Ohne ist eine solche Sicht auf den Studien- nicht vergessen werden, dass nach unse- diese Korrespondenz kann ein Studium ausstieg gerechtfertigt? Kann es darum rem Verständnis von freiheitlicher und nicht erfolgreich absolviert werden. So gehen, an unseren Hochschulen die selbstverantwortender Lebensgestaltung einfach diese Formel anmutet, so kom- 14 SYM 3/2018
Studienabbruch pliziert sind die Prozesse, die sich dahinter ßen. Wichtig ist auch soziales Integriertsein, verbergen. Denn der Studienabbruch ist nicht d.h. sich aktiv in die studentischen Netzwerke das Resultat einer plötzlichen Entscheidung, einzubringen. Wer lediglich Kontakte zu alten sondern vielmehr eines langfristigen Prozes- Mit der Diskussion über den Freunden und Freundinnen zu Hause pflegt, ses, dessen Voraussetzungen häufig schon Studienabbruch ist häufig verzichtet auf den studienstützenden Aus- vor Studienaufnahme bestehen. Insgesamt die Frage verbunden, was tausch der Studierenden untereinander. Zu sind es viele Einflussfaktoren, die sich auf nach einem Studienabbruch den überraschenden Befunden gehört, dass diesen Prozess auswirken und ihn zu einem kommt. Welchen Weg sind Erwerbstätigkeit, die für viele Studierende komplexen Geschehen gestalten. Studienabbrecherinnen und zur Studienfinanzierung notwendig ist, nicht Studienabbrecher in der Lage, zwangsläufig abbruchfördernd sein muss. Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und nach ihrer Exmatrikulation Sie kann sogar zum Studienerfolg beitragen, Wissenschaftsforschung (DZHW) hat sich einzuschlagen? Gelegentlich nämlich dann, wenn sie einen bestimmten im Rahmen bundesweit repräsentativer werden Befürchtungen laut, Umfang nicht überschreitet und fachnah Untersuchungen intensiv mit den Ursachen dass es bei diesem Übergang ausgeübt wird, wie es z.B. auf studentische des Studienabbruchs befasst. Die Befunde zu langen Phasen der Orientie- Hilfskrafttätigkeiten zutrifft. Unter diesen machen offensichtlich, dass beim einzelnen rungslosigkeit oder sogar der Umständen hilft Erwerbstätigkeit nicht nur Studierenden in der Regel nicht ein Problem Arbeitslosigkeit kommt. Solche das Studium zu finanzieren, sondern vermit- allein zum Studienausstieg führt, sondern Annahmen haben keine empi- telt auch studienrelevante Kompetenzen und dass es immer mehrere Gründe gibt, die zu rische Basis, eher im Gegenteil, vertiefte Einblicke in die Wissenschaft. einer kumulierenden Wirkung führen. Von kann festgestellt werden, die wesentlicher Bedeutung sind dabei schon Wirtschaft interessiert sich Die Komplexität der Problemlagen, die den Aspekte, die, wie erwähnt, zur Studienvor- nicht nur für erfolgreiche Studienabbruch verursachen, hat Auswirkun- phase gehören. Dazu zählt die Herkunft der Studierende, sondern auch gen auf die Möglichkeiten zur Prävention und Studierenden. Studierende, deren Eltern kei- für jene, die aus dem Studium Intervention. Zum einen machen die Analysen nen akademischen Abschluss haben, schei- aussteigen. Sie offeriert ihnen deutlich, dass es nicht möglich ist, mit einer tern häufiger als Studierende mit akademisch vielfältige berufliche Angebote. einzelnen Maßnahme den Studienabbruch gebildeten Eltern. Auch die Schulwahl spielt In Baden-Württemberg haben zu vermeiden. Zum anderen weisen sie aber eine große Rolle: Der Weg über ein allge- 44% der Studienabbreche- daraufhin, dass es bei allen notwendigen meinbildendes Gymnasium führt zu einer hö- rinnen und Studienabbrecher erfolgsfördernden Aktivitäten innerhalb der heren Erfolgswahrscheinlichkeit im Studium schon ein halbes Jahr nach Hochschulen auch einer besseren Passung als der Besuch anderer studienvorbereitender ihrer Exmatrikulation eine der Studienvorbereitung an den Schulen mit Schulen. Und schließlich ist ebenfalls die berufliche Ausbildung auf- den Anforderungen eines Hochschulstudi- schulische Leistung von Bedeutung. Sehr gute genommen. 32 Prozent sind ums bedarf. Noten und eine gute fachliche Vorbereitung in Berufstätigkeit. Von ihnen auf das Studium sind mit höheren Erfolgs- haben nicht wenige schon vor Dr. Ulrich Heublein war Referent bei einer Ta- chancen verbunden. ihrer Studienaufnahme eine gung am 15. Juni im Hospitalhof Stuttgart mit Berufsausbildung abgeschlos- dem Titel »Wie viele Studienabbrecher_innen Nicht minder bedeutsam ist die Studienmo- sen. Lediglich 11 Prozent sind will sich unsere Gesellschaft leisten – Studien- tivation. Studierende, die ihre Studienwahl zu diesem Zeitpunkt noch abbruch als bildungspolitische Herausforde- in hohem Maße von beruflichen Aussich- arbeitslos und 13 Prozent in rung« unter der Leitung von Studienleiterin ten und Karrieremöglichkeiten abhängig Übergangstätigkeiten wie z.B. Claudia Schmengler. Siehe auch S. 11 Kalei- machen, die dabei bewusst auf ein Studium Praktika oder auch Elternzeit. doskop: Best Practice zum Thema. in ihrem Wunschfach verzichten oder gar kein Wunschfach haben, fehlt häufig über kurz oder lang die motivationale Basis für die Dr. Ulrich Heublein ist hohen Studienanforderungen. Im Studium Leiter des Projektbereichs selbst sind dann diejenigen Studierenden Studienerfolg/Studienab- erfolgreich, die es vermögen, eigenaktiv und bruch, DZHW-Außenstelle selbstständig zu studieren. Sie entwickeln ih- Universität Leipzig im Deutschen Zentrum für ren eigenen Studienplan, suchen die Gesprä- Hochschul- und Wissen- che mit den Lehrenden und sind vor allem in schaftsforschung GmbH der Lage, sich die vielfältigen Unterstützungs- (DZHW). möglichkeiten und inhaltlichen Angebote an ihren Hochschulen eigenständig zu erschlie- SYM 3/2018 15
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