3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll

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3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
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September 2018
                                         3

                 Stark machen!
                 Solidaritäten in Konkurrenz ● Endlich gibt es Frauenbeauftragte in
                 den Werkstätten ● Studienabbruch – eine Katastrophe? ● Starke Mäd-
                 chen – freie Menschen ● Schulung von Gefühlen hilft der Demokratie
3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Editorial

		                       Liebe Leserin, lieber Leser,

im Spätsommer blicken wir auf Monate zurück, in der sich         Empathie, Partizipation, Gemeinsinn, Solidarität, Gerechtig-
die politische Diskurskultur in einer geradezu atemberau-        keit, Fairness und Bereitschaft zur Teamarbeit« – Fähigkeiten
benden Weise gewandelt hat: Nicht nur, dass Ausdrücke wie        also, für die man hohe emotionale Kompetenzen benötigt.
»Asyl-Tourismus« oder »Anti-Abschiebe-Industrie« Anspruch
darauf erheben könnten, als Unwort des Jahres 2018 gekürt zu     Im Hauptbeitrag zum Schwerpunkt dieser SYM-Ausgabe
werden. Vielmehr ist es der Diskussionsstil, die Wortwahl und    beschreibt Prof. Dr. Möhring-Hesse die Konkurrenz von
die überzogene Rhetorik einiger Politiker, die die Grenzen der   verschiedenen Solidaritäten innerhalb der Gesellschaft – Ar-
political correctness immer weiter nach rechts verschieben.      beitslose konkurrieren mit Geflüchteten um Unterstützung,
Zu Recht weist der Präsident des Bundesverfassungsgerichts,      Sach- und Geldleistungen sowie Aufmerksamkeit. Da die
Andreas Voßkuhle, darauf hin, dass in der Politik mit harten     beiden Solidaritäten auch sozialpolitisch organisiert sind,
Bandagen gestritten werden müsse; bedenklich dabei ist           müssen laut Möhring-Hesse »sozialstaatliche Leistungs-
jedoch seiner Meinung nach, dass rechtliche Regeln mit Er-       systeme so ausgestattet werden, dass sie den Ansprüchen
wartungen überzogen oder gänzlich in Frage gestellt würden,      der jeweils Anspruchsberechtigten genügen.« Ferner finden
die eigentlich politische Antworten erforderten.                 Sie im vorliegenden Heft ein Gespräch mit Silke Frisch und
                                                                 Rosi John über das »Neuland« der Frauenbeauftragten in den
Dazu jedoch kommt es nicht, da die Emotionalität und per-        Werkstätten - über Chancen und erste Erfahrungen (S. 12-13),
sonenbezogene Kritik jede sinnvolle Kompromisskultur ver-        einen Beitrag von Ulrike Sammet zur Stärkung von Mädchen
unmöglichen. Nicht die Zuspitzung von Argumenten ist das         in Politik und Diskurs (S. 16-17) und einen Beitrag zum Thema
Problem, mit dem demokratische Gemeinwesen zu tun haben,         Studienabbrecher (S. 14-15).
sondern die narzisstisch wirkende Rhetorik, die jede sach-
bezogene Argumentation überdeckt. Hier auf das zugrunde          Es wartet in diesem Sinne ein spannungsreiches SYM auf
liegende Problem des Rechtspopulismus als Ursache zu ver-        Sie und Ihre Lektüre. Wir wünschen Ihnen anregende Lese-
weisen, greift meines Erachtens zu kurz: Der Rechtspopulis-      stunden, und selbstverständlich freuen wir uns auch auf
mus ist inmitten der Zivilgesellschaft entstanden und verlangt   Ihre Reaktion!
nach guten Antworten; vor allem verlangt er nach einer in der
Sache scharfen Kritik an Äußerungen und Willensbekundun-
gen, die als grenzwertig oder sogar als tendenziell rechtsex-    Mit besten Grüßen,
trem bezeichnet werden müssen. Dem sollte die Demokratie
gewachsen sein; jedoch setzt ein demokratisches Gemein-
wesen Menschen voraus, die sich in ihrer Diskurskultur an
der Achtung des Gegenübers orientieren, nicht ehrverletzend
agieren und vor allem dazu in der Lage sind, anderslautende      Jörg Hübner
Argumente in ihre Überlegungen mit einzubeziehen.

Das dritte SYM in diesem Jahr ist dem Thema »Stark machen«
gewidmet. Um die Demokratiefähigkeit zu stärken, hebt
Dr. Farah Dustdar in ihrem Beitrag die Bedeutung von Ge-
fühlen hervor: »Die Demokratie gründet nicht nur auf der
Rationalität ihrer Bürger. Sie verlangt gleichermaßen nach

2                                                                                                                  SYM 3/2018
3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Inhalt

4                                                                                       24
Aktuell ...                                                                             Vorschau
▪ Wichtige Personalien:                                                                 Tagungen von 6. September
  Günter Renz und Claudia                                                               bis 31. Dezember 2018
  Mocek scheiden aus
▪ Azubi beim Landes-
  leistungswettbewerb                                                                   30
▪ Liane Bednarz kommt                                                                   Aus der Akademie
  wieder als Referentin
  nach Bad Boll                                                                         ▪ Abschied von Dr. Günter
▪ Fachtag Bündnis                                                                         Renz, Pfrin. Barbara
  Armut im Alter                                                                          Wenzlaff, Studienleiterin
▪ Grenzen – Mauern – ein                                                                  Carmen Ketterl und
  aktuelles Thema                                                                         Studienleiter Ruben Joos

                                8
                                                                                        ▪ Rezension

6
                                                                                        ▪ Onlinedokument

Akademiegeschichte              Stark machen                                            32
Klaus Fütterer: Konkurrenz                                                              Publikationen
oder Solidarität? Für Vertei-
lungsgerechtigleit. 1986        Solidaritäten in Konkurrenz                             ▪ Rezension
                                Von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse                    ▪ Onlinedokumente

7
Kunst
                                Behinderte Frauen stärken. Endlich gibt es
                                Frauenbeauftragte in den Werkstätten.                   33
Performative Kunst im
                                Gespräch mit Silke Frisch und Rosi John.                Verlosung
                                Von Martina Waiblinger
Kirchenraum. Boller Bußtag                                                              Impressum
der Künste 2018                 Studienabbruch – eine Katastrophe?
                                Von Dr. Ulrich Heublein                                 34
20                              Starke Mädchen – freie Menschen.                        Kommentar
Rechenschafts-                  Von Ulrike Sammet                                       Die Vision einer solidarischen
bericht                                                                                 Gesellschaft. Erwerbslosen-
                                Demokratie und Emotionen. Schulung von Gefühlen         tagung Baden-Württemberg
▪ Einführung. Von
                                hilft der Demokratie. Von Dr. Farah Dustdar
  Prof. Dr. Jörg Hübner
▪ Eindrücke von zwei neuen
  Studienleiterinnen
                                                                                        35
▪ Interview mit                                                                         Meditation
  Prof. Dr. Ursula Weber                                                                Die Erde – unser aller Planet.
▪ Die Akademie in Zahlen        Titelbild                                               Von Günter Renz
                                Fotografin: Britt Schilling für die Ohrenkuss-Ausgabe
                                zum Thema Humor, S.a. S. 11.
                                www.brittschilling.de – www.ohrenkuss.de

SYM 3/2018                                                                                                            3
3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

                       Wichtige Personalien: Günter Renz und                  che für Demokratie und Menschenrechte in Württ-
                       Claudia Mocek scheiden aus                             emberg«, das im Mai 2017 gegründet wurde. Zum
                       Dr. Günter Renz, stellvertretender Direktor ver-       Sprecherteam gehört Pfr. Albrecht Knoch, KDA
                       abschiedet sich nach dem 30. September 2018 in         Ulm, Studienleiter an der Evangelischen Akademie
                       den Ruhestand. Er hatte am 1. November 2004 als        Bad Boll. Weitere Gäste sind Gregson Erasmus aus
                       Studienleiter im Arbeitsbereich Gesundheitspolitik     Südafrika vom Dienst für Mission, Ökumene und
                       und Medizinethik begonnen. Ein Interview mit ihm       Entwicklung, der Beauftragte für die Begegnung
                       finden Sie auf S. 30 in diesem Heft.                   mit dem Judentum, Dr. Michael Volkmann, der
                                                                              Beauftragte für die Arbeit mit Sinti und Roma,
                       Dr. Claudia Mocek, Pressesprecherin und Leiterin       Dr. Andreas Hoffmann-Richter, die Prälatin Ga-
                       der Abteilung Presse- und Öffentlichkeitsarbeit        briele Wulz und weitere VertreterInnen der Zivil-
                       verlässt zum 16. September die Akademie. Sie war       gesellschaft. Näheres siehe: www.ev-akademie-
                       fünf Jahre in der Akademie. Ein Interview mit ihr      boll.de/tagung/200318.html
                       werden wir in SYM 4-2018 veröffentlichen.

                                                                              Fachtag Bündnis Armut im Alter
                       Azubi beim Landesleistungswettbewerb                   am 17. Juli 2018
                       Die Auszubildende Carmen Hediger ist im 2. Lehr-       Das Bündnis gegen Armut im Alter in Baden-
                       jahr in der Hauswirtschaft der Akademie. Nun           Württemberg, hatte am 17. Juli zum »Fachtag
                       wurde sie als eine der besten von der Berufsschule     Armut – arm durch Pflege?« eingeladen. Zentrale
                       Göppingen ausgewählt, Mitte Oktober beim Lan-          Themen waren die akuten Mängel im Pflegesystem
                       desleistungswettbewerb in Freudenstadt teilzuneh-      in Deutschland und dafür zu sensibilisieren. »Pfle-
                       men. Bei der zwei Tage dauernden Veranstaltung         ge betrifft jeden: Betroffene, Angehörige aber auch
                       muss sie in einer 5-minütigen Präsentation ein         die Beschäftigten im Pflegebereich«, sagte Susanne
                       Konzept für eine neu strukturierte Website zum         Wenz, stellvertretende Landesbezirksleiterin von
                       Thema Hauswirtschaft vorstellen und in Vierer-         ver.di Baden-Württemberg. Ziel des Fachtages
                       Teams zwei Aufgaben bewältigen: Die Teams              sei es, die Zusammenhänge zwischen Pflege und
                       müssen ihre fachliche und soziale Kompetenz beim       Armut aufzuzeigen, »denn Armut beginnt nicht
                       Lösen verschiedener Aufgaben unter Beweis stel-        erst im Rentenalter.« Nach dieser Konferenzer-
Auszubildende Carmen   len: Zum Beispiel muss das Team aus dem Inhalt         öffnung lenkte Saskia Ulmer, 2. Vorsitzende des
Hediger                eines Korbs etwas backen oder kochen.                  Landesfrauenrats, den Blick auf die Risikogruppe
                                                                              der Frauen. »Wenn wir über Maßnahmen sprechen,
                                                                              müssen wir die Schwächsten im Blick haben«,
                                                                              hob sie hervor. Denn schließlich sind zwei Drittel
                       »Die Angstprediger« - Liane Bednarz                    der fast 300.000 pflegebedürftigen Menschen in
                       kommt wieder als Referentin                            Baden-Württemberg Frauen und in den Pflegeberu-
                       nach Bad Boll                                          fen sind 68 Prozent der Angestellten weiblich.
                       Die Journalistin und Publizistin Dr. Liane Bednarz     Link zum Pressebericht und zu den Referaten zum
                       war im März 2017 als Referentin bei der Tagung         Fachtag, verfasst von Dr. Silvan Siefert,
                       »Kirche und Rechtspopulismus« in Bad Boll – siehe      VdK Baden-Württemberg e.V.:
                       auch ihren Beitrag in SYM 2/2017. Nun wird sie am      http://buendnis-gegen-altersarmut.de/
                       20. Oktober zu einem Fachtag des »Bündnis Kirche       Veranstaltungen
                       für Demokratie und Menschenrechte in Württem-
                       berg« (http://bkdmwue.de) wieder nach Bad Boll
                       kommen. In ihrem Vortrag wird sie analysieren,
                       wie »Angstprediger« mit Rechtspopulisten an            Grenzen und Mauern –
                       einem Strang ziehen und wo die Grenzlinien zwi-        ein aktuelles Thema
                       schen »rechts« und »konservativ« verlaufen. »Die       Als die Berliner Mauer 1989 fiel, entstand die
                       Angstprediger« ist auch der Titel ihres gleichna-      Euphorie eines freien Raums ohne Mauern mit der
                       migen Buches, das vor kurzem im Droemer Verlag         Chance auf eine weltweite Vernetzung. Sie beglei-
                       erschienen ist und den Untertitel trägt: »Wie rechte   tete den Prozess der Globalisierung, bei dem aller-
                       Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern«.       dings der freie Verkehr von Gütern und Dienstlei-
                       Der Fachtag wird ausgerichtet vom »Bündnis Kir-        stungen gemeint war, nicht der von Menschen,

4                                                                                                                     SYM 3/2018
3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Aktuell

erst recht nicht aus ärmeren Regionen der Welt.
Fast 30 Jahre danach versuchen immer mehr
Staaten sich durch den Bau von Mauern oder
Sperranlagen mit modernster Technik abzuschot-
ten. »Grenzen« und »Mauern« bestimmen weltweit
die politische Agenda. Mauern und Grenzanlagen
scheinen die Lösung für die Sehnsucht nach ein-
fachen Antworten und dem Gefühl zu sein, schon
zu viel Souveränität abgegeben zu haben.
Mit diesen Fragestellungen haben wir uns bei der
Tagung »Mauern in internationalen Strukturen und
politischen Diskursen« vom 22.-23. Juni in Bad Boll
anhand verschiedener Beispiele auseinanderge-
setzt. Warum werden im 21. Jahrhundert, in dem
die Entgrenzung von Kapital, Waren und Dienst-
leistungen einen Höhepunkt erreicht hat, neue
Grenzen gegenüber den »Anderen« – Flüchtlingen,
Migrant_innen u.a. gezogen? In den USA soll
eine noch größere Mauer an der 2300 km langen          Niemand setzt sich leichtfertig in ein marodes                »Auf dieser Seite (der
Grenze zu Mexiko gebaut werden, die die »bösen         Boot. Niemand setzt das eigene Leben und das der              Grenze) gibt es auch
                                                                                                                     Träume«. steht auf die-
Männer« aufhalten soll. Migrant_innen werden in        eigenen Kinder ohne schwerwiegenden Grund                     sem Grafiti auf einerm
den USA gebraucht und ausgebeutet – mit diesem         aufs Spiel. Auch heute sind Menschen aus dem                  Rolladen an der Grenze
Diskurs werden sie auch kriminalisiert. In Indien      syrischen Bürgerkrieg die mit Abstand größte                  zwischen Mexiko und den
werden mit modernen Technologien wie Infrarot-         Gruppe unter den Bootsflüchtlingen. Aus den                   USA.
sensoren Mauern zu Bangladesch und Pakistan er-        Hauptherkunftsländern Syrien, Irak, Nigeria und
richtet, die eine klare Abgrenzung zwischen Atom-      Afghanistan fliehen Menschen vor verbreiteter und
mächten und Enklaven darstellen. Ein weiterer          nicht selten brutaler Gewalt. Die EU setzt aber auf
Reflexionspunkt bei der Tagung war die Situation       Abschreckung und Zurückweisung. Die Verbesse-
der sogenannten Vertragsarbeiter_innen in der ehe-     rung der Lebensbedingungen in den Ländern, aus
maligen DDR, die bis heute um Anerkennung und          denen Menschen fliehen, muss Priorität haben.
ihre Rentenansprüche kämpfen. Der Fluchtweg aus        Legale Wege für Migration müssen geschaffen
dem Kriegsgebiet Syrien wurde erschütternd von         und die Gewährung des Flüchtlingsschutzes muss
einem Betroffenen beschrieben.                         garantiert werden. Viele Länder benötigen Zuwan-
                                                       derung – hierfür müssen Strukturen geschaffen
Die Abschottung Europas zeigt sich an den drama-       werden und eine transparente Kommunikation,
tischen Ereignissen in den Mittelmeerländern, wo       welche Bedeutung die regulierte Migration für den
viele Menschen sterben (über 17.000). Die euro-        demografischen Wandel mittel- und langfristig hat.
päischen Staaten nehmen den Tod von Tausenden
von Menschen im Mittelmeer ebenso in Kauf wie          Die Länder Afrikas und Europas sind historisch,
die Kooperation mit autoritären Staaten, die Auf-      ökonomisch und politisch vielfach miteinander
fanglager für die errichten, die nach Europa wollen.   verflochten und aufeinander angewiesen. Eine Mi-
Die europäische Politik legt den Schwerpunkt auf       grationspolitik sollte zeigen, dass sie für beide Sei-
Zuwanderungskontrolle und nicht auf Flüchtlings-       ten Vorteile bringt. Dazu gehören neue Konzepte
schutz. Damit reagiert die Politik auf den Druck       für Pendelmigration, Qualifikationsprogramme für
rechter Gruppen. Die Sprache verändert sich und        Migrant_innen sowie Hilfen zur Existenzgründung
Begriffe wie »Asyltourismus, Menschenfleisch,          für Rückwanderer. Wir müssen die Errungenschaf-
Asylbetrüger« vernichten den Schutzrecht-Ge-           ten der liberalen Demokratie verteidigen – vor
danken. Auf Worte folgen Taten. Schutzsuchende         allem die Würde des Menschen, die laut Verfassung
werden an der Flucht gehindert, Rettungsschiffe        unantastbar ist. Dies muss sich in einem solida-
dürfen nicht anlegen. Inzwischen werden sogar          rischen Miteinander, in der Sprache, im gegensei-
die Retter kriminalisiert. Grenzen gibt es aber auch   tigen Respekt sowie in der Politik und im Handeln
im sozioökonomischen Bereich, in dem Eliten ihre       finden – nicht in Mauern, Militarisierung und
Wirtschaftsinteressen verteidigen und Schutzzölle      unmenschlichen Hürden.
verhängen.                                                                         Mauricio Salazar, Studienleiter

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3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Akademiegeschichte

Konkurrenz oder Solidarität?
Für Verteilungsgerechtigkeit
Von Pfr. Klaus Fütterer, 1986                Nichts anderes geschieht auf der inter-             Gang. Wem nützt die Verschärfung des
                                             nationalen Bühne: Die Art, wie Industrie-           Konkurrenzprinzips eigentlich?
»Eure Konkurrenten werden vor euch           länder um Weltmarktanteile konkur-
zu Boden gehen. Ihr werdet die ersten        rieren, lässt den Entwicklungsländern               Rational scheint mir das nicht, was da
sein und unaufhaltsam weiter aufstei-        keine Chance, jemals aus eigener Kraft in           geschieht. Weil der Kuchen nicht so
gen.« Das Zitat stammt nicht aus dem         die ökonomisch-technische Entwicklung               schnell wächst wie die Zahl der Esser, die
beschwörenden Appell eines Fuß-              eingreifen zu können. »Der internationa-            drum herumsitzen, gibt man das Kom-
balltrainers der Bundesliga oder eines       le Konkurrenzkampf zwingt uns – das ist             mando aus: Nun esst mal alle schneller!
Verkaufschefs, auch nicht aus der Rede       bei uns ein letztes Argument geworden,              Rational wäre es, zu sagen: Dann müs-
eines Weltmacht-Führers. Es steht in der     an dem Forderungen nach Humanität,                  sen wir die Stücke neu einteilen. Und
Bibel, im fünften Buch Mose. Die Frage       Solidarität und ökologischer Verträglich-           gerecht wäre doch wohl zu sagen: wer
stellt sich: Ist dieses religiöse Erwäh-     keit scheitern. Wem nützt das eigentlich?           ein größeres Stück hat, muss etwas her-
lungs- und Konkurrenzbewusstsein                                                                 geben. Warum blockieren bei uns Besitz-
noch immer ein Nährboden für den här-                                                            standsdenken und der Gruppenegois-
ter werdenden Konkurrenzkampf in der                                                             mus der Wohlhabenden eine gerechtere
Wirtschaft? Und wie verträgt sich das mit                                                        Verteilung von Arbeit und Einkommen?
der christlichen Vorstellung von Solidari-                                                       Warum scheint es bei uns nicht mehr
tät und geschwisterlichem Teilen?                                                                möglich, ein Lastenausgleichsgesetz zu
                                                                                                 machen, das auch in bestehende Besitz-
»Konkurrenz belebt das Geschäft«,                                                                und Vermögensverhältnisse eingreift?
heißt es. Das klingt sehr sportlich und                                                          Bei Adenauer war das noch möglich.
harmlos. Was wir zur Zeit beobachten,
gleicht eher einer Zentrifuge, die sich                                                          »Eure Konkurrenten werden vor euch zu
immer schneller dreht, wo immer mehr                                                             Boden gehen. Ihr werdet die ersten sein
Menschen an den Rand geschleudert                                                                und unaufhaltsam weiter aufsteigen.«
werden oder nicht aus eigener Kraft ins                                                          Mir scheint, ein quasireligiöses Erwäh-
Innere kommen; Ältere, gesundheitlich                                                            lungsbewusstsein greift in Gestalt des
Angeschlagene, schlecht Ausgebildete.                                                            neuen Sozialdarwinismus um sich. Auf
Die Leistungsauslese wird gnadenloser.                                                           die Sieger muss man sehen, die Verlierer
Neu ist die stetige Zunahme der Jüngeren                                                         interessieren nicht. »Eine solidarische
in der Randgruppe. Bereits ein Drittel                                                           Gesellschaft ist nicht innovativ«, »Risiko
der Arbeitslosen sind unter 25 Jahre alt,                                                        muss sich lohnen«, so legitimiert man
darunter nicht wenige Berufsanfänger                                                             zunehmende Ungerechtigkeit. Schneller
mit Facharbeiterausbildung oder Hoch-                                                            dreht sich die Zentrifuge. Nicht während
schulexamen. Kein Ruhmesblatt für eine       Pfr. Klaus Fütterer war von 1977-1990 Studien-      der vergangenen Wachstumsperiode,
Gesellschaft, jungen Leuten die Tür zum      leiter an der Evangelischen Akademie Bad Boll,      sondern jetzt, so denke ich, haben wir zu
                                             danach zehn Jahre an der Diakonie Stetten tätig.
Berufsleben verschlossen zu halten und                                                           beweisen, ob wir eine reife Gesellschaft
                                             Das Foto wurde 1988 aufgenommen. 1984 er-
die Konkurrenzangst bis in die Schu-         schien das Buch von Klaus Fütterer »Streit um die   sind, das heißt, ob wir Verantwortung
len zu tragen! Die Beschleunigung der        Arbeit. Industriegesellschaft am Scheideweg« im     füreinander tragen wollen und können.
Zentrifuge wirkt freilich auch im Bereich    Kreuz Verlag.
der Unternehmen. Über 15000 Konkurse                                                                           aktuelle gespräche 2/1986, S. 20
in einem Jahr. In vielen Branchen ist aus    Auch diejenigen, die ihren Platz noch
dem sportlichen Wettbewerb längst ein        innerhalb der Zentrifuge haben, werden
Verdrängungswettbewerb geworden, in          durch die zunehmenden Fliehkräfte in
dem es ums Überleben geht; k.o.-System       ihrem Menschsein deformiert. Stress
sozusagen. Aber nicht immer überlebt         und Alkoholkonsum nehmen zu. So-
der Tüchtige; entscheidend ist die Kapi-     lidarität in den Betrieben wird immer
talkraft.                                    schwieriger. Die Angst durchlöchert
                                             Gewissen und verbiegt den aufrechten

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3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Kunst in der Akademie

Performative Kunst im Kirchenraum
Boller Bußtag der Künste 2018

Justyna Koeke, »HIGH HEELS SKULPTUR«. Performance bei der Verleihung des Landeskirchlichen Kunstpreises am 3. März 2016 in der Schlosskirche Stuttgart

In den 20 Jahren seines Bestehens hat der                gibt es in der Evangelischen Landeskirche
Boller Bußtag der Künste primär die ›bilden-             Württemberg Initiativen, die sich für die
den Künste‹ in Gestalt von Malerei und Skulp-            Entwicklung neuer experimenteller Gottes-
tur in den Blick genommen. Der diesjährige               dienstformen einsetzen. Sie werden bei der
Boller Bußtag setzt einen neuen Akzent. Er               Gestaltung des Bußtags mitwirken. Beispiele
legt damit eine Spur, die in den nächsten                dieser innovativen Praxis sind etwa die litur-
Jahren weiter verfolgt werden soll.                      gischen Aktionen anlässlich der Verleihung
                                                         der beiden landeskirchlichen Kunstpreise                     Der Boller Bußtag der Künste findet
Ebenfalls in den letzten zwei Jahrzehnten hat            2012 und 2015/16 (siehe Fotos).                              am Mittwoch, 21. November 2018
                                                                                                                      um 16:00 Uhr statt. Offizielles Ende
das Schlagwort der ›Performativität‹ kunst-                                                                           ist gegen 20:00 Uhr.
theoretische Diskussionen bestimmt und                   Dies alles gibt Anlass, der Performativität
auch die künstlerische Praxis in unterschied-            künstlerischer Aktionen und gottesdienst-                    Leitung: Prof. Dr. Hans-Ulrich
lichsten Bereichen geprägt. Erika Fischer-               licher Formen verstärkte Aufmerksamkeit zu                   Gehring, Evangelische Akademie
                                                                                                                      Bad Boll
Lichte, Theaterwissenschaftlerin aus Berlin,             schenken. Der Festsaal der Kurhauses Bad
der diese Diskussion wichtige Einsichten                 Boll, zugleich der Kirchsaal der Herrnhuter                  Informationen und Anmeldung:
verdankt, stellt den Begriff der Aufführung              Gemeinde, in dem in diesem Jahr der Bußtag                   Doris Korn, Tel 07164 79-307,
ins Zentrum. Er beinhaltet die Dimension                 stattfinden wird, bildet dazu den geeigneten                 doris.korn@ev-akademie-boll.de
einer leiblichen Präsenz von Akteur_innen                Raum und Rahmen.
und Zuschauer_innen, die Entstehung von
Bedeutung im und durch den Prozess und                   Neben einem performativ gestalteten Got-
den Ereignischarakter des Geschehens.                    tesdienst wird Dr. Frank Hiddemann, derzeit
                                                         Pfarrer in Görlitz, zum Thema ›Performative
Konkreten Niederschlag findet diese Ent-                 Kunst im Kirchenraum‹, vortragen. Dieser
wicklung in der aktuellen Einrichtung eines              Thematik ist nicht nur seine Dissertation
Masterstudiengangs ›Körper, Theorie und                  gewidmet. Frank Hiddemann kann hier auch
Poetik des Performativen‹ an der Staatlichen             auf eine Fülle experimenteller Gottesdienste
Akademie der Bildenden Künste Stuttgart.                 und Kunstaktionen seiner eigenen Praxis
Aber auch die Praktische Theologie, vor allem            rekurrieren.
die Gottesdiensttheorie, hat diesen Ansatz
des Performativen aufgegriffen. Schließlich                            Studienleiter Prof. Dr. Hans-Ulrich Gehring

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3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Solidaritäten

Solidaritäten in Konkurrenz
Von Prof. Dr. Matthias Möhring-Hesse                 soll nicht widersprochen werden, jedoch              also Menschen aus: Gemeinsame Inte-
                                                     soll den so Rufenden etwas »mehr« an                 ressen zu haben und zu verfolgen, heißt
So unterschiedlich gewerkschaftliche                 Realismus empfohlen werden. Auch                     notwendig, besondere Interessen zu
und kirchliche Milieus auch ticken                   in den Milieus, in denen man Solidari-               haben und zu verfolgen. Dabei greifen
mögen, zumindest in einer Überzeu-                   tät hoch- und wertschätzt, sollte man                Solidaritätsbeziehungen unterschiedlich
gung stimmen sie überein: In Solidarität             mit der Konkurrenz der Solidaritäten                 weit aus: Solidaritäten bestehen im sozi-
überwinden Menschen ihre Konkurrenz.                 rechnen – und gerade deswegen diese                  alen Mikrobereich, etwa zwischen Men-
Mehr noch: Solidarität ist das »Gegen-               Konkurrenz für all diejenigen, die auf               schen in unmittelbarer Nachbarschaft.
gift« zur Konkurrenz und zu deren                    Solidarität besonders angewiesen sind,               Es gibt aber auch Solidaritäten mit
giftigen Auswirkungen. Entsprechend                  aushalt- und annehmbar machen.                       einer hohen räumlichen und zeitlichen
gestimmt stößt den Aktivisten in der                                                                      Ausdehnung. In diesem Sinne können
Erwerbslosenszene wie auch in der Sozi-              ›Solidarität‹ – wovon genau reden wir?               viele der in der Bundesrepublik über den
alen Arbeit für geflohene Menschen auf,              Mit dem Begriff ›Solidarität‹ kann eine              Sozialstaat »laufenden« Leistungssys-
wenn die Solidarität mit Erwerbslosen                für moderne Gesellschaften typische                  teme als Formen der institutionalisierten
und prekär lebenden und arbeitenden                  Form von sozialen Beziehungen bezeich-               Solidarität gelten.
Menschen und die Solidarität mit den                 net werden. Wir haben es immer dann
nach Deutschland geflohenen Menschen                 mit Solidarität zu tun, wenn Menschen                Konkurrenz von Solidaritäten. Mit
in Konkurrenz zueinander geraten. Dass               die bewusste Bezugnahme aufeinander                  unterschiedlichen Mitmenschen haben
das so ist, erfahren Erwerblose und                  dazu dient, gemeinsame Interessen                    Menschen unterschiedliche gemeinsame
von Prekarität Betroffene als Mangel                 gemeinsam nach eigenen Möglichkeiten                 Interessen. Die geteilten Gemeinsam-
an Geld, Zeit oder öffentlicher Auf-                 zu verfolgen. Dabei verpflichten sich                keiten können in Konkurrenz zueinan-
merksamkeit. Zumindest erfahren die                  die Beteiligten auch dazu, Leistungen                der geraten – und zwar in dem Maß,
Aktivisten der Solidaritätsarbeit von und            zugunsten der jeweils anderen »Soli-                 wie sich die auf diese Gemeinsamkeiten
mit Erwerbslosen, dass ihre Leute Soli-              dargenossen« zu übernehmen bzw. von                  gründenden Solidaritäten gegenseitig
daritätsverluste als Folge der Solidarität           diesen Unterstützung anzunehmen. In                  ausschließen. Dann muss sich jeder
mit Geflohenen beklagen und deswegen                 Solidaritäten »gibt« und »nimmt« man.                einzelne entscheiden, welche der kon-
gelegentlich den Geflohenen ihre Soli-               Auch wenn man aktuell bereit ist, einsei-            kurrierenden Gemeinsamkeiten für ihn
darität verweigern.                                  tige Belastungen zu »ertragen« rechnen               wichtiger sind und welche sie aufgrund
                                                     die »Solidargenossen« langfristig damit,             von begrenzten Ressourcen wie Geld,
Dass Solidaritäten in Konkurrenz unter-              dass die Bilanz von »Geben« und »Neh-                Zeit und Aufmerksamkeit zurückstellen
einander geraten und dass in der Folge               men« ausgeglichen ist.                               müssen. Vermutlich werden die Konkur-
davon bei zumindest einigen »zu wenig«                                                                    renzen zwischen Solidaritäten als Folge
an Solidarität ankommt, führt zu einem               Nach »außen« sind solidarische Bezie-                der Individualisierung weiter zunehmen.
Ruf nach »mehr« Solidarität. Diesem                  hungen notwendig exklusiv, grenzen

Vor der Erwerbslosentagung 2018 wurde von der Neuen Arbeit gGmbH Denkfabrik, Stuttgart ein Solidaritätsmarsch mit vielen Kooperationspartnern, entlang verschiedener

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3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Solidaritäten

Solidaritäten mit Erwerbslosen und Soli-                   Organisationen läuft. Die nach Deutschland
darität mit Flüchtlingen. Die Konkurrenz                   Geflohenen sind aber auch auf Solidarität mit
                                                                                                                       »Qual der Wahl«
zwischen Solidaritäten kann für die, die auf               ihnen angewiesen, vor allem auf die Unter-
                                                                                                                       Eingeschworen auf die eigene
diese Solidaritäten angewiesen sind, äußerst               stützungsleistungen zum Zweck der Aufnah-
                                                                                                                       Solidarität wird in der »Innen-
unangenehm werden – nämlich immer dann,                    me und Integration. Auch diese Solidarität ist
                                                                                                                       perspektive« von Solidaritäts-
wenn andere, diese Solidaritäten »abwäh-                   im Wesentlichen sozialstaatlich und kommu-
                                                                                                                       beziehungen die Konkurrenz
len« können und als Folge davon die Soli-                  nal organisiert. In dieser Solidarität »stecken«
                                                                                                                       zwischen Solidaritäten und die
daritätsleistungen ausbleiben, auf die man                 alle EinwohnerInnen der Bundesrepublik, die
                                                                                                                       Notwendigkeit, zwischen ihnen
angewiesen ist. Genau dies ist der Fall bei der            im Vorgriff darauf, dass andere zu Einwoh-
                                                                                                                       zu wählen, nicht selten negiert
eingangs angesprochenen Konkurrenz zwi-                    nerInnen werden, diese unter sich »aufneh-
                                                                                                                       oder – wenn nicht verneint –
schen der Solidarität mit Erwerbslosen sowie               men« und integrieren.
                                                                                                                       zumindest negativ bewertet.
den von prekären Arbeits- und Lebenssitua-
                                                                                                                       Gerne verweist man dann
tionen Betroffenen und der Solidarität mit                 Die beiden Solidaritäten überlagern sich.
                                                                                                                       auf »objektive Interessen« als
den nach Deutschland geflohenen Menschen.                  Zur Solidarität mit den nach Deutschland
                                                                                                                       Folge objektiver Lebenslagen
Beide Gruppen erleben die Konkurrenz dieser                geflohenen Menschen sind nämlich alle Ein-
                                                                                                                       (Erwerbsarbeit, Arbeitslosigkeit
»Solidaritäten mit ...« als eine Konkurrenz der            wohnerInnen der BRD angehalten, also auch
                                                                                                                       oder Familie). Dies ist aber
aus diesen Solidaritäten erwachsenden Unter-               all diejenigen, die selbst auf sozialstaatliche
                                                                                                                       weder notwendig und unver-
stützungsleistungen. Menschen, die dauer-                  Leistungen angewiesen sind. Während sie in
                                                                                                                       meidbar, noch ist dies sonder-
haft oder immer wieder erwerbslos sind oder                den auf Erwerbslosigkeit und Prekarität zuge-
                                                                                                                       lich erfolgreich. Man muss die
anderweitig in prekären Arbeits- und Lebens-               schnittenen Solidaritäten aktuell als Adressa-
                                                                                                                       jeweils eigene Solidarität nicht
verhältnissen stecken, sind – u.a. in Form von             tInnen von Solidaritätsleistungen unterwegs
                                                                                                                       zurückstufen, um anderen
Erwerbsloseninitiativen – untereinander so-                sind, sind sie in den auf Flüchtlingen zuge-
                                                                                                                       die »Qual der Wahl« zuzuge-
lidarisch. Sie sind aber auch darauf angewie-              schnitten Solidaritäten auf der »Geber«-Seite
                                                                                                                       stehen; und man kann ihnen
sen, dass man mit ihnen solidarisch ist und                integriert. Auch sie sind daher verpflichtet,
                                                                                                                       gegenüber die Wichtigkeit der
dass sie in dieser Solidarität Unterstützung               die nach Deutschland geflohenen Menschen
                                                                                                                       eigenen Solidarität einladend
erhalten. Nur so können sie auf Augenhöhe                  in Sachen Aufnahme und Integration nach
                                                                                                                       vorlegen und versuchen, sie
mit allen anderen und mit gleichen Rechten                 eigenen Möglichkeiten zu unterstützen. Geld,
                                                                                                                       gerade in der Konkurrenz zu
in dieser Gesellschaft leben. Entsprechende                und Arbeitsplätze, Wohnraum oder medizi-
                                                                                                                       anderen wichtigen Solidari-
Solidaritätszusammenhänge sind in der Bun-                 nische Leistungen, Zeit von Freiwilligen und
                                                                                                                       täten für sie bedeutsamer zu
desrepublik über den Sozialstaat organisiert.              öffentliche Aufmerksamkeit und gesellschaft-
                                                                                                                       machen. Das aber setzt gerade
Daher haben sie eine arbeitsgesellschaftliche              liche Anerkennung: Sobald es in den beiden
                                                                                                                       voraus, anzuerkennen, dass die
und eine kommunale Logik – und hängen                      Solidaritäten um dieselben Leistungen geht,
                                                                                                                       einzelnen in der Konkurrenz
deswegen an der Zugehörigkeit zum Kreis der                geraten sie in Konkurrenz untereinander.
                                                                                                                       der sich ihnen anbietenden
Erwerbspersonen oder zu einer Kommune.
                                                                                                                       Solidarität die »Qual der Wahl«
                                                           Dies wird man sich eingestehen – und aushal-
                                                                                                                       haben.
Auch ImmigrantInnen sind untereinander                     ten müssen. Damit dies aber auch Erwerbslo-
solidarisch, wobei diese Solidarität – soweit              se und von Prekarität Betroffene genauso wie
wir das wissen – vor allem über ethnische                  die nach Deutschland Geflohenen aushalten
Communities und über zivilgesellschaftliche                können, muss man die Solidarität in den

Stationen organisiert. Der Solidaritätsmarsch entstand bei der Erwerbslosentagung 2017 in Herrenalb in einer Zukunftswerkstatt. Siehe auch Kaleidoskop, S. 11

SYM 3/2018                                                                                                                                                9
3 September 2018 - Evangelische Akademie Bad Boll
Solidaritäten

                                  beiden Gruppen entsprechend organisie-            automatisch – und muss gegebenenfalls
                                  ren. Dabei muss vor allem »nach innen« die        gegenüber den jeweiligen »Gebern« durch-
Solidarität mit geflohenen
                                  Notwendigkeit der Solidarität mit den jeweils     gesetzt werden. Weil über den Sozialstaat
Menschen
                                  anderen plausibel und so für die Akzeptanz        vermittelt, geschieht dies in den beiden in
Dabei steht für die Solida-
                                  der Solidarität mit der jeweils anderen Grup-     Frage stehenden Solidaritäten auf dem Wege
ritätsarbeit von und mit Er-
                                  pe gesorgt werden.                                der Sozialpolitik: Sozialstaatliche Leistungs-
werbslosen und von Prekarität
                                                                                    systeme müssen so ausgestattet werden, dass
Betroffenen an, die Solidarität
                                  Sozialpolitische Entschärfung. Weil die bei-      sie den Ansprüchen der jeweils Anspruchs-
mit geflohenen Menschen für
                                  den angesprochenen Solidaritäten zumindest        berechtigten genügen. Zugleich müssen sie
die »eigenen Leute« plausibel
                                  auch sozialstaatlich organisiert und vermittelt   bei den jeweils verpflichteten »Gebern«, die
zu machen, so dass diese sich
                                  sind, können sie durch Sozialpolitik beein-       im Gegenzug die notwendigen Solidaritäts-
selbst als AdressatInnen der
                                  flusst werden. So kann auf diesem Weg auch        verpflichtungen auch abfragen – und dabei
Solidarität mit Flüchtlingen
                                  die Knappheit der Solidaritätsleistungen und      die Belastungen zwischen den »Gebern« auch
angesprochen wissen. Selbst-
                                  darüber das Ausmaß und die Schärfe ihrer          gerecht – und d.h. im Zweifel nach deren
verständlich haben auch sie
                                  Konkurrenz bearbeitet werden. Sozialpoli-         Leistungsfähigkeit – verteilen. Denn nur bei
die »Qual der Wahl« – und
                                  tik ist damit ein ausgezeichneter Weg, die        deren gerechten Verteilung werden die Belas-
können die Solidarität mit Er-
                                  Konkurrenz der beiden Solidaritäten sowohl        tungen von denen akzeptiert werden, die der
werbslosen für sich so wichtig
                                  für die von Erwerbslosigkeit und Prekarität       Sozialstaat in ihre Solidaritätspflicht »ruft«
machen, dass für die Solidari-
                                  Betroffenen als auch für die nach Deutsch-        und deswegen belastet.
tät mit Flüchtlingen – zumin-
                                  land geflohenen Menschen aushaltbar zu
dest jenseits sozialstaatlicher
                                  machen. Gerade wenn wir sozialstaatliche          Erwerbsloseninitiativen und -projekte sollten
Verpflichtung – kein Raum
                                  Leistungen als Solidaritätsverpflichtungen        an einer solchen Sozialpolitik mitwirken.
mehr ist. Jedoch sollte eine
                                  verstehen, wollen wir die Knappheit dieser        Auf diesem Wege werden sie dazu beitragen,
solche Abwahl in entsprechen-
                                  Unterstützung nicht tolerieren: Jede und          dass die Solidaritätspflichten gegenüber den
der Solidaritätsarbeit nicht
                                  jeder, die oder der der jeweiligen Solidarität    nach Deutschland geflohenen Menschen
toleriert und schon gar nicht
                                  zugehört und auf Unterstützung angewiesen         erfüllt werden, dass die dazu notwendigen
gefördert werden. Denn die
                                  ist, hat Anspruch darauf. Im Gegenzug ist die     Belastungen gerecht verteilt werden und dass
nach Deutschland geflohenen
                                  jeweilige Solidargemeinschaft verpflichtet,       – nicht zuletzt – die »eigenen Leute« ihren
Menschen sind in besonderem
                                  diese Unterstützung in einem ausreichenden        Verpflichtungen im Rahmen dieser Solidarität
Maße auf Solidarität ange-
                                  Maße bereit zu halten. Werden hingegen Un-        nachkommen (können). Zugleich sorgen sie
wiesen; und die Solidarität
                                  terstützungsleistungen knapp gehalten, dann       auf dem Wege der Sozialpolitik dafür, dass
mit ihnen als zukünftige
                                  kommt die jeweilige Solidargemeinschaft           die Konkurrenz entsprechender Solidaritäts-
EinwohnerInnen ist von hohem
                                  ihren Verpflichtungen nicht nach. Das aber        leistungen überwunden und dass so die Kon-
moralischem Rang.
                                  kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass      kurrenz der sie begründenden Solidaritäten
                                  die jeweils verpflichteten »Geber« auch in an-    für die eigenen Leute aushaltbar wird.
                                  deren Solidargemeinschaften zum »Geben«
                                  verpflichtet sind.                                       Die Langversion dieses Beitrags finden Sie unter
                                                                                             www.ev-akademie-boll.de/online-dokumente.
                                                                                                         Siehe auch Kaleidoskop S. 11 und
                                  Dass Solidargemeinschaften ihren Verpflich-                                       den Kommentar S. 34.
                                  tungen gerecht werden, geschieht nicht

                                                                                                               Dr. Matthias Möhring-
                                                                                                               Hesse ist Professor an der
                                                                                                               Katholisch-Theologischen
                                                                                                               Fakultät an der Universität
                                                                                                               Tübingen. Er war Referent
                                                                                                               bei der Erwerbslosenta-
                                                                                                               gung 2018 vom 2.-3. Juli
                                                                                                               »Solidarität und Konkur-
                                                                                                               renz«, die Studienleiter
                                                                                                               Karl-Ulrich Gscheidle, KDA
                                                                                                               Reutlingen, geleitet hat.

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Kaleidoskop

Projekte für einen gelungenen Übergang von der Schule ins Studium
Das Phänomen Studienabbruch ist Thema des Beitrags von Dr. Ulrich Heublein auf S. 14-15. Bei der Tagung Mitte Juni wurden
auch Beispiele vorgestellt, die solchen Entwicklungen vorausschauend begegnen. Von SüdwestMetall gibt es das Förderpro-
gramm MINToring: Das Programm begleitet junge Erwachsene beim Übergang von der Schule an die Hochschule und bietet
Schüler_innen praxisnahe Studienorientierung und Unterstützung auf dem Weg in ein MINT-Studium. Studienabbrüche sollen
so vermieden werden. Engagierte Studierende werden zu MINToren für angehende Ingenieure und Naturwissenschaftler. Sie
begeistern für MINT, informieren über das Spektrum der Studiengänge und stehen während der ersten vier Semester mit Rat
und Tat zur Seite: https://bit.ly/2njONwj. Ein anderes Projekt ist das »Maschinenhaus – Campus für Ingenieurinnen und Inge-
nieure« vom VDMA (Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau), eine Initiative für mehr Studienerfolg in den Ingenieur-
wissenschaften. Da in den Fächern Maschinenbau und Elektrotechnik die Abbruchquoten besonders hoch sind, wurden fünf
wissenschaftliche Studien und Befragungen durchgeführt, die Themen wie Studienabbruch, Qualitätsmanagement in der Lehre
sowie Verbesserungsbedarfe untersucht haben. Daraus haben sich fünf Teilprojekte entwickelt. Genaue Informationen finden
sich hier: https://bit.ly/2LYzU1f.

                                             Ohrenkuss – Magazin, gemacht von Menschen mit Down-Syndrom
                                             Unser Titelbild stammt dieses Mal von Britt Schilling für die Ohrenkuss-Ausgabe
                                             zum Thema Humor. Das Magazin Ohrenkuss ist eine ganz besondere Zeitschrift,
                                             deren Texte ausschließlich von Menschen mit Down-Syndrom verfasst werden. 50
                                             Autor_innen im Alter von 16 bis 60 Jahren schreiben für Ohrenkuss. Die Themen
                                             sind Liebe, Musik, Arbeit, Mode, Wunder, Essen und Trinken – alles was uns alle
                                             bewegt. Am Anfang war der Ohrenkuss ein Forschungsprojekt am Medizinhisto-
                                             rischen Institut der Uni Bonn. Katja de Bragança (siehe Foto), Humangenetikerin,
                                             begründete den Ohrenkuss – zunächst gefördert von der Volkswagen-Stiftung. So
                                             sind die ersten vier Hefte entstanden, mehr waren nicht geplant. Aber die Mitar-
                                             beitenden wollten unbedingt weitermachen. Katja de Bragança gab ihre Uni-Stelle
                                             auf und widmete sich fortan hauptberuflich dem Ohrenkuss.

                                             Was sie antrieb: Katja de Bragança wollte das Vorurteil widerlegen, Menschen mit
                                             Down-Syndrom könnten nicht lesen und schreiben. Sie wollte mit dem Magazin
                                             die Gedankenwelt und Texte von Menschen mit Down-Syndrom wahrnehmbar
                                             und öffentlich machen. Ohrenkuss zeichnet sich durch gute Texte, trendiges Lay-
                                             out und tolle Fotos aus und erscheint alle sechs Monate. Im September werden 20
                                             Jahre Ohrenkuss mit einer großen Party gefeiert. Es lohnt sich, die Zeitschrift zu
                                             abonnieren (sie erscheint zweimal im Jahr) und in der informativen und super-
                                             schönen Website rumzustöbern: www.ohrenkuss.de.

Solidaritätsmarsch von Stuttgart nach Bad Boll
Vom 30. Juni bis 1. Juli machte sich eine Gruppe unter dem Motto »Solidarität statt Konkurrenz« auf den Weg von Bad Cannstatt
bis nach Bad Boll. Der Marsch gegen Armut, Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit sollte in der Evangelischen Akademie
Bad Boll enden, wo am 2. Juli dann die gleichnamige Erwerbslosentagung 2018 stattfand. Initiator war Martin Tertelmann,
Kopf der Denkfabrik, einer Abteilung des Stuttgarter Sozialunternehmens Neue Arbeit. Eine bunte Gruppe aus verschiedenen
gesellschaftlichen Bereichen hatte sich zu dem Marsch zusammengefunden und verschiedene Stationen angesteuert, wo sie
empfangen wurden. Start des Marschs war »Das Kaufhaus« in Bad Cannstatt, dann ging es weiter, u.a. vorbei an der Esslinger
Tafel »Carisatt«, einem Flüchtlingsheim und dem Esslinger Berberdorf – eine deutschlandweit einmalige »Hüttensiedlung« für
Menschen in Wohnungsnot. Nach einem sozialpolitischen Nachtgebet in der Ottilienkapelle in Plochingen gab es die Möglich-
keit, im dortigen Gemeindehaus zu übernachten. Am Sonntag, 1. Juli, machte sich die Gruppe nach einem Gottesdienst in der
Stadtkirche St. Blasius wieder auf den Weg und am frühen Nachmittag kam die erschöpfte Gruppe in Bad Boll an, wo sie nach
gemeinsamem Grillen noch eine Lesung auf dem Blumhardt-Friedhof genießen konnte. Am nächsten Tag, dem 2. Juli, begann
dann die Erwerbslosentagung in der Evangelischen Akademie Bad Boll. Siehe auch den Beitrag in der Kontext-Wochenzeitung:
https://bit.ly/2Mbvnrp und zwei Beiträge im aktuellen SYM S. 8-10 und S. 34.

SYM 3/2018                                                                                                                   11
Werkstätten

Behinderte Frauen stärken
Endlich gibt es Frauenbeauftragte in den Werkstätten

Seit Januar 2017 muss es in jeder Werkstatt für behinderte Menschen eine Frauenbeauftragte geben. So sehen es
das Bundesteilhabegesetz (BTHG) und die novellierte Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO) vor. Vereine wie
Weibernetz u.a. haben seit vielen Jahren wegweisende Vorarbeit geleistet. Das Bundesfrauenministerium fördert
darum auch deren Projekt »Politische Interessenvertretung behinderter Frauen – für Chancengleichheit und Schutz
vor Gewalt« von 2018 bis 2021. Martina Waiblinger hat mit der Geschäftsführerin der Werkstatträte Baden-
Württemberg Silke Frisch und mit Rosi John, einer ehemaligen stellvertretenden Werkstatträtin vom Werkstattrat
Baden-Württemberg, gesprochen.

Wie kam das Thema Frauenbeauftragte          SF: Ja, das ist ein ganz neues Amt und      Was können Sie dazu aus Ihren Erfah-
in den Werkstätten auf ?                     wir versuchen zunächst Frauen zu            rungen als Vertrauensperson sagen?
Silke Frisch (SF): Nach einer Studie des     motivieren, sich der Aufgabe zu stellen.    RJ: Aus der Arbeit als Werkstatträtin
Bundesministeriums für Familie, Se-          Werkstatträte sind meistens Männer,         kenne ich verschiedene Strukturen und
nioren und Jugend, erleben Frauen mit        und Frauen mit Behinderungen muss           Vorgänge. Deshalb habe ich jetzt einen
Behinderungen im Laufe ihres Lebens          man oft noch mehr ermutigen, für sich       Leitfaden entwickelt – darin steht zum
zwei- bis dreimal soviel sexuelle Gewalt     zu sprechen. Es gibt natürlich auch         Beispiel: Was gehört zu einer Sitzung?
als der weibliche Bevölkerungsdurch-         berechtigte Ängste und Fragen: Was          Wie schreibt man ein Protokoll? Als
schnitt. Das darf nicht sein! Wir sind       sind meine Aufgaben? Was muss ich           Vertrauensperson möchte ich unter-
froh, dass die Frauenbeauftragten jetzt      tun? Überfordert mich das? Uns ist dabei    stützen und ermutigen. Es geht auch
im Gesetz stehen. Dies eröffnet viele        wichtig, den Frauen zu sagen, dass sie      darum, zum Beispiel schreibschwache
Möglichkeiten, Frauen zu stärken – dass      keine Beratung und keine Therapie           Menschen zu motivieren, teilzunehmen
sie ihre Rechte kennenlernen und durch-      machen. Dazu sind gelernte Fachkräfte       – ihnen kann man zum Beispiel ein Dik-
setzen können und dass sie in ihren          da. Aber Frauenbeauftragte können gut       tiergerät hinstellen. Ferner überlegen
Bedürfnissen wahrgenommen werden.            zuhören und die Frauen an die entspre-      wir: Wen könnten wir zu den Treffen
                                             chenden Beratungsstellen weiterleiten.      einladen? Mir fällt da zum Beispiel Pro
Was sieht das Gesetz vor?                    Das alles ist Thema in den Schulungen.      Familia ein. Dann ist es wichtig, sich als
Rosi John (RJ): In jeder Werkstatt soll es   Ferner hat jede Beauftragte eine Vertrau-   Ansprechpartnerin bei den Frauen durch
eine Frauenbeauftragte und mindestens        ensperson, mit der sie alles besprechen     Anschläge oder Flyer bekannt zu ma-
eine Stellvertreterin geben – je nach        kann. Die enge Zusammenarbeit mit           chen. Die Frauenbeauftragte kann zum
Größe der Werkstatt. Wir empfehlen,          der Vertrauensperson ist sehr wichtig       Beispiel eine Sprechstunde anbieten
die Ämter von Werkstattrat und Frau-         – wenn es zum Beispiel um schwierige        oder – mit Genehmigung der Leitung –
enbeauftragter zu trennen – einerseits       Themen und die eigene Abgrenzung            einen Kummerkasten aufstellen. Aber
ist es für manche schwierig, die beiden      geht. Manche treibt das um, was sie         wir müssen die Frauenbeauftragten auch
Funktionen auseinanderzuhalten und           hören. Natürlich sind auch die Schulun-     vor Überforderung schützen. Wenn eine
außerdem ist das jeweils genug Arbeit        gen neu für uns. Von »Weibernetz« gibt      Frau das Gefühl hat, das ist mir zu hei-
für eine Person. Ferner gibt es für die      es aber bereits ein tolles Curriculum.      kel oder zu viel, muss sie wissen, wohin
Frauenbeauftragten jeweils eine Vertrau-     Auch die Lebenshilfe macht Schulungen       sie sich wenden kann und bei wem sie
ensperson. Ich zum Beispiel wurde jetzt      – da sind wir, die Werkstatträte Baden-     Unterstützung erhält.
als Vertrauensperson ausgewählt, weil        Württemberg, Kooperationspartner und
ich durch meine Arbeit als Werkstatträ-      Referenten.                                 Mit welchen Themen müssen sich die
tin viel Erfahrung habe.                                                                 Frauenbeauftragten befassen?
                                             Info: In Baden-Württemberg sind es          SF: Es geht natürlich auch um Gewalt,
Info: In Deutschland leben ca. 4 Millio-     97 Träger mit verschiedenen Standor-        aber man darf die Problematik nicht
nen Frauen mit Behinderungen.                ten und Zweigwerkstätten. Es gibt 197       auf sexuelle Übergriffe verkürzen. Es ist
                                             Werkstatträte – eigentlich bräuchte         wichtig, dass es auch um die positiven
Frauenbeauftragte in den Werkstätten         man ebenso viele Frauenbeauftragte          Seiten von Frau sein gehen kann. Das
sind noch Neuland. Was ist zu berück-        und Stellvertreterinnen, die alle auch      Thema darf nicht nur negativ gesehen
sichtigen?                                   geschult werden müssen.                     werden. Partnerschaft, Freundschaft

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Werkstätten

                                                                                                                        Roswitha John, ehemalige
                                                                                                                        Werkstatträtin

                                                                                                                        Roswitha John ist jetzt 66
                                                                                                                        Jahre alt. Von 2008 bis 2017
                                                                                                                        hat sie in einer Werkstatt ge-
                                                                                                                        arbeitet und war fünf Jahre in
                                                                                                                        verschiedenen Funktionen im
                                                                                                                        Werkstattrat. Roswitha John
                                                                                                                        hatte 30 Jahre in Kliniken und
                                                                                                                        Altenpflegeheimen gearbeitet
                                                                                                                        – ihr Lieblingsbereich war die
                                                                                                                        Kinderchirurgie. Durch Krank-
                                                                                                                        heit und folgende Arbeitslo-
                                                                                                                        sigkeit »habe ich den Faden
                                                                                                                        in meinem Leben verloren«,
                                                                                                                        erzählt sie. Drei Jahre konnte
                                                                                                                        sie nur sporadisch arbeiten,
                                                                                                                        dann hat ihr jemand empfoh-
                                                                                                                        len, sich an die Lebenshilfe zu
                                                                                                                        wenden. »Ich bin froh, dass
                                                                                                                        es die Lebenshilfe gibt. Sie
                                                                                                                        haben mir geholfen, aus der
                                                                                                                        negativen Tretmühle rauszu-
                                                                                                                        kommen.« Roswitha John hat
Silke Frisch, Geschäftsführerin der Werkstatträte BW (vorne) und Rosi John, ehemalige stellvertretende Werkstatträtin
                                                                                                                        begonnen in einer Werkstatt
                                                                                                                        zu arbeiten. Nach zwei Jahren
und Liebe sind ja ganz tolle wichtige Themen,               man könnte einen Frauenstammtisch einrich-                  war sie bereits Vorsitzende im
aber oft gibt es dazu viele Fragen und Ängste.              ten oder gemeinsam etwas Kreatives machen.                  Gesamtwerkstattrat, später die
RJ: Es gibt auch verschiedene Arten von Be-                                                                             stellvertretende Vorsitzende
lästigung – manche Frauen fühlen sich schon                 Info: Das »Weibernetz«, ein Netzwerk von                    der Werkstatträte Baden-
belästigt, wenn man sie schief anschaut.                    betroffenen Frauen – hat schon vor über                     Württemberg. Sie konnte an
Und es gibt geistig behinderte Menschen, die                zehn Jahren Frauenbeauftragte gefordert und                 Fortbildungen teilnehmen, mit
sich nicht wehren können, weil sie Ängste                   selbst ausgebildet.                                         Politikern sprechen, Kontakte
haben oder nicht sprechen können. SF: Es ist                                                                            knüpfen und sich mit anderen
auch ganz wichtig zu schauen: Wie geht es                   Wie ist die Stimmung jetzt in                               austauschen. »Das war sehr
den Frauen in der Werkstatt? Haben sie die                  den Werkstätten?                                            interessant«. Leider war es
gleichen Möglichkeiten wie die Männer, die                  SF: Es ist auf alle Fälle ein großer Bedarf da              damit vorbei, als sie letztes
gleiche Bezahlung, werden sie in gleichem                   und es tut gut, jetzt die Frauenbeauftragten                Jahr in Rente ging. Immerhin
Maße gefördert? Eigentlich alles Themen, wie                zu haben. Anfangs braucht es einen langen                   ist sie noch Vertrauensperson
sie in Betrieben auf dem 1. Arbeitsmarkt auch               Atem, aber dann kommen die Frauen und                       für Werkstatträte und für
auftauchen.                                                 nutzen die Angebote. RJ: Es gibt sehr viel                  Frauenbeauftragte. Sie sagt:
RJ: Die Frauenbeauftragte kann auch Frau-                   Spielraum und da die Frauenbeauftragten                     »Ich mache das gerne, aber auf
en unterstützen, die bestimmte Arbeiten –                   auch das Recht haben, an den Werkstattrats-                 Dauer möchte ich nur noch
aufgrund ihrer Behinderung – nicht ausüben                  sitzungen teilzunehmen, profitiert dieser si-               die Stellvertretung machen.«
können. Da kann sie mit dem Gruppenleiter                   cher auch davon, wenn sie Probleme kennen-                  Sie möchte sich jetzt mehr
sprechen. SF: Es geht oft auch um praktische                lernen und sich mit den Frauenbeauftragten                  auf ihre kreativen Talente und
Themen: Ist die Toilette sauber? Gibt es einen              austauschen können.                                         Erfahrungen stützen. Sie hat
Mülleimer für die Monatshygiene? Können                                                                                 bereits als Assistentin bei VHS-
wir zum Essen einen Tisch nur für Frauen                    Info: Vom 13.-14. Mai 2019 findet in der                    Kursen mitgearbeitet und wird
haben? Manche Frauen wollen auch einmal                     ­Evangelischen Akademie Bad Boll eine                       bald einen eigenen Kurs leiten
mit einer Expertin über Geschlechtlichkeit,                  Tagung statt für Frauenbeauftragte in den                  können.
Sexualität und Partnerschaft sprechen. RJ: Ja,               Werkstätten und deren Vertrauenspersonen.

SYM 3/2018                                                                                                                                           13
Studienabbruch

Studienabbruch –                                                                     jederzeit Neu- und Umorientierungen
                                                                                     nicht nur erlaubt, sondern auch legitim
                                                                                     sind. Dies ist nicht nur eine Frage per-

eine Katastrophe?
                                                                                     sönlicher Freiheit und freier Berufswahl,
                                                                                     es herrscht vielmehr die Überzeugung
                                                                                     vor: Eine Tätigkeit, die vom Einzelnen
                                                                                     als sinnstiftend und zufriedenstellend
                                                                                     erlebt wird, erbringt durch hohe indi-
                                                                                     viduelle Motivation auch den stärksten
                                                                                     gesellschaftlichen Nutzen. Hinter
                                                                                     jedem Studienabbruch steht eine solche
                                                                                     Neuorientierung. Studienabbruch ist
                                                                                     deshalb zunächst vollkommen gerecht-
                                                                                     fertigt.

                                                                                     Als problematisch ist ein Ausstieg
                                                                                     aus dem Studium allerdings dann zu
                                                                                     bewerten, wenn Studierende abbrechen
                                                                                     müssen, die für den akademischen Bil-
                                                                                     dungsweg sowohl fachlich hinreichend
                                                                                     vorbereitet als auch motiviert sind, die
                                                                                     also nicht an sich selbst scheitern, weil
                                                                                     sie im Grunde andere Vorstellungen und
                                                                                     Befähigungen haben, sondern denen
                                                                                     bestimmte Umstände und Bedingungen
                                                                                     den Verbleib an der Hochschule unmög-
                                                                                     lich machen. Alle, die studieren wollen
                                                                                     und können, sollten einen Hochschul-
                                                                                     abschluss erreichen. Auch ein sehr
                                                                                     später Studienabbruch, wenn schon ein
                                                                                     Großteil des Studiums absolviert wurde,
                                                                                     ist kaum akzeptabel. Wenn das Studi-
                                                                                     um abgebrochen wird, dann sollte das
Von Dr. Ulrich Heublein                   Studienaufgabe auf Null zurückfahren       frühzeitig erfolgen – das ist eine Frage
                                          zu wollen?                                 sowohl des sorgsamen Umgangs mit
Das Thema Studienabbruch ist in der öf-                                              den gesellschaftlichen Mitteln, die an
fentlichen Diskussion. Gemeinhin wird     An den Universitäten und Fachhoch-         die Hochschulen fließen, als auch mit
es als ein problematisches Ereignis im    schulen in Deutschland brechen derzeit     individueller Lebenszeit.
Lebenslauf angesehen, als ein Makel in    im Bachelorstudium 28 Prozent und im
der Bildungsbiographie. Studienabbre-     Masterstudium 19 Prozent der Studi-        Um einen solchen ungerechtfertigten
cherinnen und Studienabbrecher schei-     enanfängerinnen und Studienanfänger        oder zu späten Ausstieg aus dem Stu-
nen versagt zu haben, sie waren nicht     eines Jahrgangs ihr Studium ab und         dium zu vermeiden, ist es wichtig, die
in der Lage, die Anforderungen eines      verlassen das Hochschulsystem wieder.      Ursachen für diese Prozesse zu verste-
Hochschulstudiums zu erfüllen. Und        Zwischen den verschiedenen Studienfä-      hen. Dabei lässt sich ein Studienabbruch
dazu kommt noch, dass für ihr Studium     chern gibt es dabei beträchtliche Diffe-   einfach erklären. Im Grunde handelt
gesellschaftliche Ressourcen geflossen    renzen: Hohem Studienabbruch,              es sich um eine Passungsfrage, indivi-
sind, ohne dass sie die damit verbunde-   z.B. in Mathematik, Physik und Che-        duelle Studienvoraussetzungen und
nen Erwartungen einlösen konnten. Die     mie, steht geringe Studienaufgabe z.B.     individuelles Studienverhalten einerseits
Schlussfolgerung muss dementspre-         in Sozialpädagogik gegenüber. Mögen        müssen mit institutionellen Bedingun-
chend sein, den Studienabbruch so weit    diese Zahlen auch einigen Leserinnen       gen und Anforderungen an das Studium
wie möglich zurückzudrängen. Aber         und Lesern hoch erscheinen, so darf        andererseits korrespondieren. Ohne
ist eine solche Sicht auf den Studien-    nicht vergessen werden, dass nach unse-    diese Korrespondenz kann ein Studium
ausstieg gerechtfertigt? Kann es darum    rem Verständnis von freiheitlicher und     nicht erfolgreich absolviert werden. So
gehen, an unseren Hochschulen die         selbstverantwortender Lebensgestaltung     einfach diese Formel anmutet, so kom-

14                                                                                                                SYM 3/2018
Studienabbruch

pliziert sind die Prozesse, die sich dahinter                                        ßen. Wichtig ist auch soziales Integriertsein,
verbergen. Denn der Studienabbruch ist nicht                                         d.h. sich aktiv in die studentischen Netzwerke
das Resultat einer plötzlichen Entscheidung,                                         einzubringen. Wer lediglich Kontakte zu alten
sondern vielmehr eines langfristigen Prozes-      Mit der Diskussion über den        Freunden und Freundinnen zu Hause pflegt,
ses, dessen Voraussetzungen häufig schon          Studienabbruch ist häufig          verzichtet auf den studienstützenden Aus-
vor Studienaufnahme bestehen. Insgesamt           die Frage verbunden, was           tausch der Studierenden untereinander. Zu
sind es viele Einflussfaktoren, die sich auf      nach einem Studienabbruch          den überraschenden Befunden gehört, dass
diesen Prozess auswirken und ihn zu einem         kommt. Welchen Weg sind            Erwerbstätigkeit, die für viele Studierende
komplexen Geschehen gestalten.                    Studienabbrecherinnen und          zur Studienfinanzierung notwendig ist, nicht
                                                  Studienabbrecher in der Lage,      zwangsläufig abbruchfördernd sein muss.
Das Deutsche Zentrum für Hochschul- und           nach ihrer Exmatrikulation         Sie kann sogar zum Studienerfolg beitragen,
Wissenschaftsforschung (DZHW) hat sich            einzuschlagen? Gelegentlich        nämlich dann, wenn sie einen bestimmten
im Rahmen bundesweit repräsentativer              werden Befürchtungen laut,         Umfang nicht überschreitet und fachnah
Untersuchungen intensiv mit den Ursachen          dass es bei diesem Übergang        ausgeübt wird, wie es z.B. auf studentische
des Studienabbruchs befasst. Die Befunde          zu langen Phasen der Orientie-     Hilfskrafttätigkeiten zutrifft. Unter diesen
machen offensichtlich, dass beim einzelnen        rungslosigkeit oder sogar der      Umständen hilft Erwerbstätigkeit nicht nur
Studierenden in der Regel nicht ein Problem       Arbeitslosigkeit kommt. Solche     das Studium zu finanzieren, sondern vermit-
allein zum Studienausstieg führt, sondern         Annahmen haben keine empi-         telt auch studienrelevante Kompetenzen und
dass es immer mehrere Gründe gibt, die zu         rische Basis, eher im Gegenteil,   vertiefte Einblicke in die Wissenschaft.
einer kumulierenden Wirkung führen. Von           kann festgestellt werden, die
wesentlicher Bedeutung sind dabei schon           Wirtschaft interessiert sich       Die Komplexität der Problemlagen, die den
Aspekte, die, wie erwähnt, zur Studienvor-        nicht nur für erfolgreiche         Studienabbruch verursachen, hat Auswirkun-
phase gehören. Dazu zählt die Herkunft der        Studierende, sondern auch          gen auf die Möglichkeiten zur Prävention und
Studierenden. Studierende, deren Eltern kei-      für jene, die aus dem Studium      Intervention. Zum einen machen die Analysen
nen akademischen Abschluss haben, schei-          aussteigen. Sie offeriert ihnen    deutlich, dass es nicht möglich ist, mit einer
tern häufiger als Studierende mit akademisch      vielfältige berufliche Angebote.   einzelnen Maßnahme den Studienabbruch
gebildeten Eltern. Auch die Schulwahl spielt      In Baden-Württemberg haben         zu vermeiden. Zum anderen weisen sie aber
eine große Rolle: Der Weg über ein allge-         44% der Studienabbreche-           daraufhin, dass es bei allen notwendigen
meinbildendes Gymnasium führt zu einer hö-        rinnen und Studienabbrecher        erfolgsfördernden Aktivitäten innerhalb der
heren Erfolgswahrscheinlichkeit im Studium        schon ein halbes Jahr nach         Hochschulen auch einer besseren Passung
als der Besuch anderer studienvorbereitender      ihrer Exmatrikulation eine         der Studienvorbereitung an den Schulen mit
Schulen. Und schließlich ist ebenfalls die        berufliche Ausbildung auf-         den Anforderungen eines Hochschulstudi-
schulische Leistung von Bedeutung. Sehr gute      genommen. 32 Prozent sind          ums bedarf.
Noten und eine gute fachliche Vorbereitung        in Berufstätigkeit. Von ihnen
auf das Studium sind mit höheren Erfolgs-         haben nicht wenige schon vor       Dr. Ulrich Heublein war Referent bei einer Ta-
chancen verbunden.                                ihrer Studienaufnahme eine         gung am 15. Juni im Hospitalhof Stuttgart mit
                                                  Berufsausbildung abgeschlos-       dem Titel »Wie viele Studienabbrecher_innen
Nicht minder bedeutsam ist die Studienmo-         sen. Lediglich 11 Prozent sind     will sich unsere Gesellschaft leisten – Studien-
tivation. Studierende, die ihre Studienwahl       zu diesem Zeitpunkt noch           abbruch als bildungspolitische Herausforde-
in hohem Maße von beruflichen Aussich-            arbeitslos und 13 Prozent in       rung« unter der Leitung von Studienleiterin
ten und Karrieremöglichkeiten abhängig            Übergangstätigkeiten wie z.B.      Claudia Schmengler. Siehe auch S. 11 Kalei-
machen, die dabei bewusst auf ein Studium         Praktika oder auch Elternzeit.     doskop: Best Practice zum Thema.
in ihrem Wunschfach verzichten oder gar
kein Wunschfach haben, fehlt häufig über
kurz oder lang die motivationale Basis für die
                                                                                                             Dr. Ulrich Heublein ist
hohen Studienanforderungen. Im Studium                                                                       Leiter des Projektbereichs
selbst sind dann diejenigen Studierenden                                                                     Studienerfolg/Studienab-
erfolgreich, die es vermögen, eigenaktiv und                                                                 bruch, DZHW-Außenstelle
selbstständig zu studieren. Sie entwickeln ih-                                                               Universität Leipzig im
                                                                                                             Deutschen Zentrum für
ren eigenen Studienplan, suchen die Gesprä-                                                                  Hochschul- und Wissen-
che mit den Lehrenden und sind vor allem in                                                                  schaftsforschung GmbH
der Lage, sich die vielfältigen Unterstützungs-                                                              (DZHW).
möglichkeiten und inhaltlichen Angebote an
ihren Hochschulen eigenständig zu erschlie-

SYM 3/2018                                                                                                                           15
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