Europa - seine Zukunft in Vielfalt

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Europa - seine Zukunft in Vielfalt
Nr. 344 / März 2019

Analysen &
Argumente
In der Perspektive des ‚C‘

Europa –
   sein christliches Erbe und
seine Zukunft in Vielfalt
Arnd Küppers

››   In Zeiten von Globalisierung, Migration und wachsen-              rungen neu zu interpretieren. Aus Europas Wurzeln
     der sozialer Vielfalt ist eine neue Debatte über die Iden-        entspringen seine Lebensadern.
     tität Europas entbrannt. Will man dieses Feld nicht den
     vermeintlichen „Rettern des Abendlandes“ überlassen,         ››   Die christliche Kultur Europas besteht weniger aus
     ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit der europäi-             unverrückbaren Inhalten als vielmehr in einer bestimm-
     schen Geschichte und Kultur notwendig. Dazu gehört                ten Form. Ein historisches und bleibendes Kennzeichen
     untrennbar und wesentlich das Christentum.                        ist die Aufnahme von außerhalb Europas liegenden
                                                                       Elementen. Das betrifft auch die europäischen Werte,
››   Das jüdisch-christliche Erbe ist bestimmend für das               in deren Mittelpunkt die Würde und die Freiheit jedes
     Selbstverständnis Europas und der Moderne. Es gilt,               Menschen stehen. Europa hat in seinen kulturellen
     sich dieses Erbe kritisch anzueignen und angesichts               Grundlagen damit die besten Voraussetzungen, die
     heutiger Herausforderungen und sozialer Verände-                  wachsende gesellschaftliche Vielfalt zu integrieren.

                                                                                                            www.kas.de
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Analysen & Argumente                                                              März 2019

Inhaltsverzeichnis

Das säkulare Europa und sein christliches Erbe                                              2
Das Christentum – weniger Inhalt als vielmehr Form der europäischen Kultur                  3
Die christliche Kultur als Fundament sozialer Vielfalt                                      4
Europas kulturelle Wurzeln sind seine Lebensadern                                           6
Impressum                                                                                   8

Anfang Oktober 2017 versammelten sich 150.000 Polen an den Außengrenzen ihres Lan-              Mit dem Rosenkranz
des zum Rosenkranzgebet, um für die Rückbesinnung Europas auf seine christliche Identi-         gegen die „Islamisie-
tät zu beten. In Zeiten des verstärkten Zuzugs von Muslimen nach Europa wurde damit ein               rung“ Europas
zumindest zweideutiges Zeichen gesetzt. Das sahen nicht nur kritische Kommentatoren
so. Der Regisseur Maciej Bodasiński, einer der Organisatoren des Events, stellte selbst den
Zusammenhang her, indem er erklärte: „Es gibt eine Gefahr, die noch kaum abzusehen ist:
In dieses geistlich so schwache Europa kommt eine neue Zivilisation, in einem seit vielen
Jahrhunderten ungekannten Ausmaß. Das bedroht unsere Zivilisation. Denn geistlich viel
stärkere Menschen nehmen Raum ein und dominieren schon an manchen Orten.“1

Nicht überraschend war, dass sich auch die Regierung unter der von Jarosław Kaczyński              Das Narrativ vom
mit straffer Hand geführten nationalkonservativen PiS-Partei hinter die Rosenkranz-Aktion          „Wettbewerb der
stellte. Kaczyński ist von dem Europapolitiker Elmar Brok einmal als „dumpfer katholischer                Kulturen“
Fundamentalist“2 bezeichnet worden. Interessanterweise gab er diese wenig schmeichel-
hafte Charakterisierung in dem Zusammenhang einer Stellungnahme ab, in der es eigent-
lich um den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ging, den Brok – zumindest
noch im Frühjahr 2016 – wesentlich günstiger beurteilte. Schaut man auf die politische
Agenda der PiS in Polen und auf diejenige der Fidesz in Ungarn, erschließt sich diese
Differenzierung allerdings nicht unmittelbar; Kaczyński und Orbán erscheinen vielmehr
als Brüder im Geiste. Einer der wenigen Unterschiede ist, dass Orbán tatsächlich nicht
katholisch ist, sondern Protestant, genauer gesagt: bekennender Calvinist. Aber ansonsten
kämpft Orbán genauso wie Kaczyński gegen die angeblich von Brüssel und Berlin propa-
gierten Ideen von Masseneinwanderung und Multikulturalismus und möchte das „christli-
che Europa“ verteidigen. Der ungarische Ministerpräsident sieht Europa in einem „Wettbe-
werb der Kulturen“ und meint: „Es ist offensichtlich, dass die Christen diesen Wettbewerb
verlieren werden, wenn man viele Muslime nach Europa lässt.“3

Das säkulare Europa und sein christliches Erbe

Ob es einem nun passt oder nicht: In Zeiten von Globalisierung und Migration ist die Frage      Das christliche Erbe
nach der kulturellen Identität Europas mit Macht in den politischen Diskurs zurückgekehrt –        als Leerstelle im
und viele Verantwortungsträger in Politik und Gesellschaft scheinen nicht so recht zu wissen,   politischen Diskurs
wie sie damit umgehen sollen. Man glaubt es Orbán sofort, wenn er sagt: „Wann immer ich im                  Europas
Europäischen Rat vom christlichen Europa spreche, schauen mich die anderen an, als ob ich
aus dem Mittelalter stammen würde.“4 Denn in der Tat ist Europa in den letzten Jahrzehnten
den Fragen nach seinem jüdisch-christlichen Erbe und nach dessen Bedeutung für die Gegen-
wart konsequent ausgewichen. Besonders deutlich hat sich das in den Debatten des euro-
päischen Verfassungskonvents gezeigt, der in den Jahren 2002 und 2003 den Entwurf jenes
Verfassungsvertrags für die Europäische Union ausgearbeitet hatte, der dann später durch
ablehnende Referenden in Frankreich und den Niederlanden scheiterte. Der Konvent konnte
sich mit Blick auf die Präambel des Verfassungsentwurfs weder auf einen Gottesbezug noch
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auf einen Verweis auf das christliche Erbe Europas verständigen. Stattdessen gab es am Ende
– mehr im Stil einer Verschleierung als in dem eines Bekenntnisses – nur den dürren Hinweis
auf die „kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas“.

Die Hilf- und Sprachlosigkeit weiter Teile Europas in der inzwischen von der extremen poli-           Die von Nationalis-
tischen Rechten befeuerten – und leider von ihr allzu oft auch dominierten – Identitäts-De-           ten und Populisten
batte resultiert nicht zuletzt aus dieser Verweigerung einer intellektuell redlichen Auseinan-        instrumentalisierte
dersetzung mit den christlichen Wurzeln unseres Kontinents. Dabei hat es an mahnenden                      Identitätsfrage
Stimmen nicht gefehlt – und zwar nicht nur aus dem Raum der Kirchen. Besonders ein-
drücklich war 2001 die Friedenspreisrede von Jürgen Habermas, der schon damals auf die
„unabgeschlossene Dialektik des [...] abendländischen Säkularisierungsprozesses“5 hinwies.
Gegenüber dem unreflektierten Ideal eines säkularen Multikulturalismus mahnte er an, über
das Thema „Säkularisierung in der postsäkularen Gesellschaft“6 nachzudenken.

In der Sache war Habermas bereits 1999 noch deutlicher geworden, als er feststellte: „Das             Christlich-jüdisches
Christentum ist für das normative Selbstverständnis der Moderne nicht nur eine Vorläufer-           Erbe bestimmend für
gestalt oder ein Katalysator gewesen. Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von           das Selbstverständnis
Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzi-                            der Moderne
pation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen
sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik.
In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu
interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen
Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser
Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“7

Dieses Zitat hat es in sich. Denn Habermas betont hier nicht nur die jüdisch-christlichen            Kritische Aneignung
Wurzeln der europäisch-abendländischen Moderne, sondern er zeigt sich von der bleibenden            des Erbes notwendig
kulturellen und politischen Bedeutung dieses Erbes überzeugt. Darin liegt die Revision einer
These, die Habermas in jüngeren Jahren selbst einmal vertreten hatte und die unter europä-
ischen Intellektuellen nach wie vor verbreitet ist: dass es nämlich im Zuge des neuzeitlichen
Aufklärungs- und Modernisierungsprozesses zu einer Erosion und letztlich zum Bedeutungsver-
lust des Religiösen komme. Dieser Vorstellung widerspricht Habermas seit 20 Jahren sehr nach-
drücklich; er hält sie für „postmodernes Gerede“. Kämpferische Säkularisten sind deswegen
unzufrieden mit ihm. Zugleich spricht Habermas von der kritischen Aneignung und Neu-​Inter-
pretation des christlichen Erbes, die in der Geschichte Europas immer wieder stattgefunden
haben und die auch heute, unter ganz neuen gesellschaftlichen Voraussetzungen, notwendig
sind. Insofern die Kritik und der Wandel der Religion integraler Bestandteil dieses Modells sind,
können religiöse Fundamentalisten mit Habermas natürlich ebenfalls nichts anfangen.

Das Christentum – weniger Inhalt als vielmehr Form der europäischen
Kultur

Europa hat in diesem Modus der Aneignung und Interpretation von Anfang an existiert,                   Europas Identität
mehr noch: Es ist auf diesem Weg überhaupt erst zu dem geworden, was es ist. Der                     beruht auf externen
französische Philosoph Rémi Brague spricht von der „exzentrischen Identität“ Europas. Er                        Wurzeln.
meint damit, dass Europa sein Selbstverständnis nicht aus seiner eigenen Mitte heraus
entwickelte, sondern es sich auf etwas außerhalb seiner selbst Gelegenes, Früheres bezog
und darauf aufbaute.

Der Anfang dieses Europas liegt im Römischen Reich. Das Äußere, das Frühere, auf das
Rom sich kulturell gründete, war die griechische Antike. Die eigenen Anfänge lagen für
die Römer im Dunkeln; niemand hatte sie aufgeschrieben. Das aber war ein Unding: Die
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führende Macht der damaligen Welt hatte in der Geschichte dieser Welt keinen Ort. Also             Jüdische Wurzeln und
schufen die Römer sich diesen Ort, indem sie ihre eigene Geschichte und Kultur mit der               hellenistisches Erbe
griechischen verbanden. Der Dichter Vergil, ein Zeitgenosse Cäsars, hat diesem römischen                 im Christentum
Selbstverständnis mit seiner Schrift Aeneis ein Denkmal gesetzt. Im Stile der homerischen
Epen entfaltete er die Sage des Prinzen Aeneas, der sich aus dem untergehenden Troja
rettete und von Kleinasien nach Latium zog. Dort gründete sein Sohn Ascanius, auch Iulus
genannt, die Stadt Alba Longa – nach dem Mythos die Mutterstadt Roms. Hier zeigen sich
kritische Aneignung und neue Interpretation par excellence. Und dieses kulturelle Selbst-
verständnis ist eben nicht nur typisch „römisch“, sondern es ist auch typisch europäisch.
Denn die römische Sage fand im Mittelalter und in der Renaissance ihre Fortsetzung und
kündete damit „von einer trojanischen Herkunft der Europäer“8.

Auch das Christentum baut seine Identität auf etwas auf, das vor ihm liegt und dem es
untrennbar verbunden bleibt: dem Judentum. „Das Christentum verhält sich zum Alten
Bund, wie die Römer sich zu den Griechen verhielten. Die Christen wissen – auch wenn sie
dauernd Gefahr laufen, es zu vergessen und es auch wiederholt vergaßen – dass sie dem
jüdischen Volk und dessen Erfahrung Gottes aufgepflanzt sind.“9 Es ist deshalb völlig rich-
tig, nicht bloß von der christlichen, sondern von der jüdisch-christlichen Kultur Europas
zu sprechen.

Die europäische Kunst- und Kulturgeschichte gibt reichlich Zeugnis davon, dass die Kir-
che, die sich als Erbin des Römischen Reiches verstand, nicht nur ihre jüdischen Wurzeln,
sondern auch das hellenistische Erbe in sich aufnahm und tradierte. Mit Händen greifbar
ist das in Rom auf dem von Kolonnaden eingefassten Petersplatz. Der Obelisk in der Mitte,
in dessen Fuß – der Legende nach – die Asche Cäsars und in dessen Kreuzspitze eine
Reliquie des Kreuzes Christi eingearbeitet sein sollen, ist ein treffendes Symbol dafür, wie
das Christentum auch die heidnische Kultur Europas in sich aufgenommen und auf diese
Weise bewahrt hat.

Die christliche Kultur als Fundament sozialer Vielfalt

Brague meint deswegen, dass „das Christentum weniger ein Inhalt als vielmehr die Form              Christentum als Form
der europäischen Kultur“10 ist. Und er fügt hinzu: „Wenn dem so ist, so wäre ein Eintreten             der europäischen
für das Christentum weder Parteilichkeit noch Eigennützigkeit, denn mit dem Christentum                 Kultur begreifen
wird die gesamte europäische Kultur verteidigt.“11 Das muss man jenen entgegenhalten,
die die gesellschaftliche und kulturelle Vielfalt des heutigen Europas als eine Bedrohung für
dessen christliche Identität sehen. Denn das Christentum selbst ist integraler Bestandteil der
exzentrischen Kultur Europas, auf dessen Grundlage diese Vielfalt erst wachsen konnte. Um
das zu erkennen und den „Rettern des Abendlandes“ entgegenhalten zu können, muss man
aber zunächst einmal die Bereitschaft zeigen, sich mit den kulturellen Grundlagen und der
Geschichte dieser europäischen Identität zu befassen. Genau daran hapert es aber allzu oft.

Die Gegner eines freiheitlichen und offenen Europas dagegen wissen sehr wohl, Versatzstü-           Instrumentalisierung
cke aus der europäisch-abendländischen Geschichte für ihre politische Agenda auszubeuten           der Erinnerung an die
und zu instrumentalisieren. So fand die eingangs geschilderte Gebetsaktion an den Grenzen          einigende Bedrohung
Polens am 7. Oktober statt, dem Tag des Rosenkranzfestes. Diese Symbolik war klug gewählt.                    von außen
Denn dieses Fest wurde einst von Papst Pius V. zum Gedenken an die Seeschlacht von Lepanto
begründet. Dort schlugen die christlichen Alliierten der Heiligen Liga 1571 die Flotte des Osma-
nischen Reiches vernichtend und beendeten dessen Traum von einer türkischen Vorherrschaft
im gesamten Mittelmeerraum. Die Bedrohung durch das Osmanische Reich – die Türken
vor Wien – haben das durch Reformation und Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert
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zutiefst gespaltene Europa wie nichts anderes geeint und erstmals das Bewusstsein von einer
europäischen Schicksalsgemeinschaft entstehen lassen. Diese Erfahrung ist nach wie vor
tief in dem kollektiven Gedächtnis der europäischen Völker verankert. Und gewiss hat diese
Erinnerung implizit eine Rolle gespielt, als Ende 2015 hunderttausende arabische Muslime, vor
allem junge Männer, nach Europa kamen. Das mag man als Ungerechtigkeit gegenüber diesen
Menschen empfinden – und es ist ganz offensichtlich ungerecht. Diesen Faktor aber außer
Acht zu lassen, ihn noch nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen, ist geschichtsvergessen und
politisch gefährlich. Dieses Beispiel zeigt außerdem, dass es gerade in einem von wachsender
Vielfalt und Multikulturalität gezeichneten Europa wichtig ist, sich mit dem eigenen christlichen
Erbe auseinanderzusetzen, das von ganz unterschiedlichen Einflüssen geprägt wurde. Denn
nur dann wird ersichtlich, dass christliche Werte den Grund gelegt haben, auf dem die Vielfalt
in Europa wachsen konnte.

Im Johannes-Evangelium sagt Jesus zu Pontius Pilatus: „Mein Königtum ist nicht von dieser            Ziel des Evangeliums
Welt“ (Joh 18,36) – ein Wort, das ausdrückt, dass das Christentum keine politische Religion im       ist nicht eine „christ-
engeren Sinn ist, also nicht auf die Errichtung weltlicher Herrschaft, sondern auf das Heil der          liche Zivilisation“,
Seelen gerichtet ist. Aber gerade diese christliche Absage an die in der Antike allgegenwärtige          sondern das Heil
Verquickung von weltlicher Herrschaft und Religion hatte eine enorme mittelbare Bedeutung                  aller Menschen.
für die politische Geschichte des europäischen Abendlandes. Schon die Kirchenväter haben
diese Dialektik zum Gegenstand theologischer und sozialethischer Reflexion gemacht. Bei
Irenäus von Lyon findet sich der Gedanke, dass Christus nichts Neues in die Welt gebracht
habe, insofern er dem, was vorher war, nichts hinzugefügt habe. Aber trotzdem habe er,
indem er in die Welt kam, alles neu gemacht.12 Irenäus betont damit: Es geht dem Christen-
tum zunächst einmal nicht um die Veränderung der äußeren Welt, sondern der inneren Welt.
„Perfectio non in annis, sed in animis“13 – der Fortschritt vollzieht sich nicht in den Jahren,
sondern in den Seelen – hat Paulinus von Aquileia, ein Weggefährte Karls des Großen, diese
Sichtweise auf den Punkt gebracht.

Auch das kann und muss man denen entgegenhalten, die sich heute zu Verteidigern der
christlich-abendländischen Zivilisation Europas aufschwingen. Um noch einmal Rémi Brague
zu zitieren: „Christus ist nicht gekommen, um eine Zivilisation zu erbauen, sondern, um
die Menschen aller Zivilisationen zu retten. Das, was man ‚christliche Zivilisation‘ nennt, ist
nichts anderes als die Gesamtheit der ‚Nebenwirkungen‘, die der Glaube an Christus auf
die Zivilisationen hatte, die seinen Weg gekreuzt haben. Wenn man an Seine Auferstehung
glaubt, und an die Auferstehung eines jeden Menschen in Ihm, sieht man alles in einem
anderen Licht und handelt auch demzufolge, und zwar in jedem Bereich. Aber es dauert
sehr lange, bis man sich dessen bewußt ist und das auch in die Tat umsetzen kann. Daher
befinden wir uns vielleicht erst am Anfang des Christentums.“14

Mit anderen Worten: Christen zeichnen sich vor allem dadurch aus, wie sie auf die Welt              Die „Identitären“ sind
schauen und wie sie ihren Mitmenschen begegnen. Das sollen sie im Licht der Erlösungstat            die eigentliche Bedro-
Christi und in seiner Nachfolge im Geist der Liebe tun. Das ist, wie Brague zu Recht hervor-        hung des christlichen
hebt, ein sehr anspruchsvoller Gedanke. Nimmt man ihn ernst, dann müsste man sehen,                         Abendlandes.
dass Europas christliche Identität nicht durch den Zuzug einiger hunderttausender Muslime
gefährdet wird, sondern dann, wenn es seine Augen vor der Not in der Welt verschließt
und Menschen an seinen Grenzen sterben lässt. Aus dieser Einsicht sollen hier gar keine
vorschnellen Ableitungen mit Blick auf die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik versucht
werden. Es gibt aus Sicht christlicher Sozialethik immer eine legitime Pluralität politischer
Optionen. Denn aus der Bibel lassen sich nicht unmittelbar politische Handlungsanweisun-
gen ableiten. Doch gibt es für diejenigen, die die christlichen Gebote ernst nehmen, Grenzen
und rote Linien. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck hat das jüngst sehr nachdrücklich
jenen „Verteidigern des christlichen Abendlandes“ ins Stammbuch geschrieben, die keine
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Berührungsängste gegenüber Nationalisten, Ethnopluralisten und Kulturrassisten der soge-
nannten „Neuen Rechten“ zeigen, die etwa in der „Identitären Bewegung“ ein Sammelbe-
cken gefunden haben. Er erinnert daran, dass der intellektuelle Vordenker der Identitären,
der französische Publizist Alain de Benoist, wohlweislich eben nicht das christliche Abend-
land verteidigen möchte, sondern ein Neuheidentum propagiert. Wie einst die National-
sozialisten sieht er in dem „Judäo-Christentum“ die Wurzel der Degeneration Europas und
möchte zu der vorchristlichen Kultur der nordischen Rassen zurückkehren. „Das zeigt:“, so
Bischof Overbeck: „Die Demagogen der Neuen Rechten geben vor, Europa gegen Angriffe
von außen zu verteidigen; in Wahrheit aber höhlen sie Europa von innen aus. Nichts von
dem, was Europa und seine Kultur ausmacht, würde übrig bleiben, wenn diese Ideologie
sich durchsetzen würde.“15

In einem vielzitierten Diktum hat der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal fest-
gestellt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht
garantieren kann.“16 Er wollte damit darauf hinweisen, dass auch die beste Verfassungs-
und Rechtsordnung für ihren Fortbestand darauf angewiesen ist, dass sie durch allgemein
geteilte Wertüberzeugungen getragen wird. Zugleich, und darin liegt die Dialektik seiner Aus-
sage, darf die Unterscheidung zwischen Wert- und Rechtsordnung nicht eingeebnet werden.

Auch die Einsicht in diese Dialektik gehört zum christlichen Erbe Europas. Die Wurzeln liegen         Die Trennung von
auch hier bereits im Judentum, denn anders als in den anderen antiken Hochkulturen des              Kirche und Staat ist
Orients war der König Israels eben kein Gottkönig, sondern ein Mensch. Im Römischen Reich           Teil des christlichen
kämpften dann die christlichen Theologen gegen die heidnische Vorstellung einer „politi-                           Erbes.
schen Theologie“. Das ist das Thema von Augustinus Schrift De Civitate Dei (Vom Gottesstaat),
dem ersten staatstheoretischen Klassiker des christlichen Abendlandes. Zentral in seiner
Argumentation ist die Unterscheidung von civitas terrena und civitas Dei. Die civitas terrena,
der Erdenstaat, das ist das Römische Reich als geschichtlich fassbare Größe; die civitas Dei,
der Gottesstaat, ist dagegen die metaphysische, Raum und Zeit übersteigende Gemein-
schaft der Christen mit Gott – hier auf Erden repräsentiert von der Kirche, aber keineswegs
identisch mit ihr. Die darin enthaltene Spannung und die daraus resultierenden Konflikte
sind entscheidende Katalysatoren für die Entwicklung der zentralen politischen Institutionen
Europas gewesen. Insofern gehört auch die Trennung von Religion und Politik, von Kirche
und Staat zum christlichen Erbe Europas. Jene Säkularisten und Laizisten, die Kirche und
Christentum ganz aus dem öffentlichen Raum verbannen möchten, sehen nicht, dass sie
an dem Ast sägen, auf dem sie selbst sitzen.

Europas kulturelle Wurzeln sind seine Lebensadern

Auch die anderen grundlegenden Werte, die Europa ausmachen, sind kulturgeschichtlich                  Die europäischen
untrennbar mit dem christlichen Erbe verbunden. Hier fehlt der Raum, um das näher zu               Werte sind von ihren
entfalten: die Zusammenhänge der biblischen Rede von der Gottebenbildlichkeit mit den               kulturellen Wurzeln
Ideen von Menschenwürde und personaler Freiheit, von dem Glauben an die Gotteskind-                   nicht zu trennen.
schaft aller Menschen mit der Überzeugung von der Universalität der Menschenrechte, von
dem Gebot der Nächstenliebe mit dem Prinzip der Solidarität. Auch die Anfänge der Euro-
päischen Union, kurz nach den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus und des
Zweiten Weltkrieges, sind ohne den Glauben an die christlichen Ideale der Versöhnung und
des Friedens undenkbar. Die Reden von deren Gründungsvätern, Robert Schuman, Alcide
de Gasperi oder Konrad Adenauer, sind voll von diesen Motiven. Die letzten Jahre haben
einen Eindruck davon gegeben, dass das alles keine Selbstverständlichkeit ist. Das europäi-
sche Friedens- und Einigungsprojekt könnte tatsächlich an sein Ende kommen, wenn seine
Anfänge und die Wurzeln Europas in Vergessenheit gerieten und verleugnet würden.
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1    https://www.deutschlandfunk.de/polen-rosenkranz-beten-an-den-landesgrenzen.1773.de.html?dram:article_
     id=397736.
2    http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/kohl-zur-fluechtlingskrise-die-loesung-liegt-nicht-in-europa-​
     14182262.html.
3    https://www.welt.de/politik/ausland/article146497225/Am-Ende-werden-die-Muslime-mehr-sein-als-wir.html.
4    https://www.deutschlandfunk.de/viktor-orban-retter-des-christlichen-abendlandes.886.de.html?dram:article_id=357457.
5    Jürgen Habermas, Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, 8. Aufl., Frankfurt a.M.
     2016, 11.
6    Ebd., 12.
7    Jürgen Habermas, Ein Gespräch über Gott und die Welt, in: Ders., Zeit der Übergänge. Kleine Politische Schriften
     IX, Frankfurt a.M. 2001, 173–196, hier: 174 f.
8    Rémi Brague, Europa – seine Kultur, seine Barbarei. Exzentrische Identität und römische Sekundarität, 2. Aufl.,
     Wiesbaden 2012, 44.
9    Ebd., 63 f.
10   Ebd., 196.
11   Ebd., 197.
12   Vgl. Irenäus von Lyon, Adversus haereses, IV, 34, 1, zit. n. Brague a.a.O., 64.
13   Paulinus von Aquileia, Liber exhortationis, vulgo de salutarisbus documentis, in: Patrologia latina, Bd. 99 (1864), 246A.
14   Rémi Brague, Christen und „Christianisten“, Interview mit Gianni Valente, http://www.30giorni.it/articoli_id_5435_
     l5.htm#.
15   Franz-Josef Overbeck, Kultur als Leitbegriff Christlicher Sozialethik, in: Stimmen der Zeit 235 (2017), 815–823, hier: 822.
16   Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Ders., Kirche und
     christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsge-
     schichte 1957–2002, 2. Aufl., Berlin 2007, 213–230, hier 229.

Alle Internetquellen abgerufen am 30.10.2018.
Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.                                                       Nr. 344              8
Analysen & Argumente                                                               März 2019

Impressum

Der Autor
Dr. Arnd Küppers studierte katholische Theologie, Philosophie und Rechtswissenschaften in
Bielefeld, Bonn und Freiburg. Seit 2010 ist er Wissenschaftlicher Referent und Stellvertreten-
der Direktor der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle in Mönchengladbach.
Seit Dezember 2018 ist er außerdem Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Beirats von
Ordo Socialis.

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Herausgeberin: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. 2019, Sankt Augustin/Berlin
Gestaltung: yellow too Pasiek Horntrich GbR
Satz: Janine Höhle, Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

ISBN 978-3-95721-522-2

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