Europas ältestes Sterbehospiz? Das Nürnberger Krankenhaus "Hundertsuppe", 1770-18131
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Europas ältestes Sterbehospiz? Das Nürnberger Kranken- haus »Hundertsuppe«, 1770-18131 Michael Stolberg Summary The First Hospice for the Dying in Europe? The ‘Hundertsuppen’-Hospital in Nuremberg, 1770-1813 Hospices for terminally ill and dying patients have so far been considered an ‘invention’ of the late 19th century. Based on the analysis of admission journals and other archival sources, this paper presents the hospital ‘Hundertsuppe’ in Nuremberg as an institution Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr which already exhibited most characteristics of a modern hospice 100 years before that. Established, in 1770, as a hospital for chronic diseases, it served almost from the start pri- marily as an institution for fatally ill, poor patients, who could spend the last months, weeks or days of their life in relative comfort, with nursing and spiritual and medical care. This primary function was explicitly accepted by those in charge of the hospital. It is evi- denced by an extraordinarily high mortality of almost 70 %, with almost two-thirds of the patients staying for less than 3 months and ‘consumption’ being the foremost cause of death. In conclusion, the ‘Hundertsuppe’ is discussed as an exemplary case of an institu- tion for the dying which arose due to the insufficient care for incurable and dying patients in the new ‘curative’ hospitals; the first English hospices in the late 19th century and the influential St. Christopher’s Hospice in the 1960s, commonly attributed to charismatic individual founding figures like Howard Barrett and Cicely Saunders, are shown to have originated from similar contexts. Einführung Am 22. Oktober 1770 wurde der schwindsüchtige Nadlergeselle Johann Andreas Bock in das Nürnberger Stadtalmosenamts-Krankenhaus in der Judengasse eingeliefert. Im Volksmund »Hundertsuppe« genannt, war das Krankenhaus erst kürzlich eröffnet worden, und Bock war einer der ersten Patienten. Er sollte nicht lange bleiben. Neun Tage später war er tot. Einen Tag nach seinem Tod wurde eine 69-jährige Patientin mit »Wassersucht« aufgenommen, einer anderen damals gefürchteten, oft tödlich verlaufenden Krankheit. Sie starb am folgenden Tag. Der nächste Patient, der schwind- süchtige Nagelschmiedsgeselle Löwlein, blieb etwas länger am Leben. Er wurde nach seiner Aufnahme am 11. November über mehrere Wochen hinweg versorgt, bis er kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, verstarb. Auch die lungensüchtige Metzgerstochter, die wenige Tage nach ihm, am 15. November, aufgenommen wurde, blieb noch mehrere Wochen am Le- ben, bis sie nach gut anderthalb Monaten, am 4. Januar des folgenden Jah- res, verschied. Wenige Tage nach ihrem Tod, am 7. Januar, kam eine aus- 1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Geschichte der Palliativmedizin« (STO 193/5-1 und 193/5-2). MedGG 28 • 2009, S. 153-178 © Franz Steiner Verlag Stuttgart Franz Steiner Verlag
154 Michael Stolberg gezehrte Borstenmacherstochter in Behandlung – und starb zehn Tage spä- ter.2 Die Liste ließe sich fortsetzen. Von den ersten 24 Patienten verstarben 21 im Krankenhaus.3 In der Folgezeit stieg der Anteil jener Patienten, die als »genesen« wieder entlassen wurden, etwas an, doch die Sterblichkeit blieb sehr hoch. Von 526 Patienten, die in den ersten 30 Jahren von Juli 1770 bis Juni 1800 versorgt wurden4, verstarben 366 – also fast 70 %; 36 weitere wurden zudem mit ungewissem Ausgang in andere Häuser verlegt oder verließen das Haus vorzeitig. Dabei trug die Einrichtung den Namen »Krankenhaus« offenbar zu Recht. Es handelte sich keineswegs um eines jener traditionellen Pfründnerhospitäler, die – eher einem modernen Alten- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr und Pflegeheim vergleichbar – alte und arbeitsunfähige Menschen für ihre letzten Lebensjahre versorgten. Die Hälfte der aufgenommenen Patienten war jünger als 44 Jahre, und die meisten fanden sich mit der Diagnose einer klar umschriebenen, oft schwerwiegenden Krankheit ein. Wie kam es aber dann zu dieser Sterblichkeitsrate, die weit höher war, als aus anderen Krankenhäusern jener Zeit überliefert ist?5 Waren die Verhält- nisse unhygienisch, die Ernährung unzureichend, die medizinische Behand- lung schlecht? Das war der Verdacht, den Georg Wolfgang Eichhorn äu- ßerte, ein rühriger Nürnberger Arzt, der sich damals energisch um eine Verbesserung der örtlichen Gesundheitsversorgung bemühte und den Bau eines modernen allgemeinen Krankenhauses forderte. Im Vergleich zur »Hundertsuppe«, so stellte er 1801 fest, sei selbst die Sterblichkeit von bis zu 25 % im Hôtel-Dieu und dem Krankenhaus Bicêtre in Paris, die man einst »für die ärgsten Mördergruben gehalten«, noch gering.6 Doch der verant- wortliche Krankenhausarzt, Johann Jakob Baier, legte eine Liste der Auf- nahmediagnosen aus den vergangenen zwei Jahren vor, in der »Lungen- sucht« und »Auszehrung« mit großem Abstand vorherrschten.7 Diese Liste 2 StAN, C23/I 2, Aufnahmebuch. 3 Eine weitere Patientin wurde nach zwei Monaten entlassen, aber 1772 wiederaufge- nommen und verstarb dann ebenfalls im Krankenhaus. 4 Insgesamt verzeichnen die Aufnahmebücher 556 Einträge; davon entfallen 30 auf Patienten, die das Haus schon einmal – und im Einzelfall bis zu dreimal – aufgesucht hatten. 5 Im Würzburger Juliusspital beispielsweise lag die Sterblichkeit im frühen 19. Jahrhun- dert nur bei gut 5,9 %; vgl. die Beiträge zu Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995). Weitere Daten zu zeitgenössischen Häusern in den Beiträgen zu Labisch/Spree (2001). 6 StAN, D15 S14 Nr. 13, Auszug aus dem Konferenzprotokoll vom 29.5.1801 zu einem Bericht Eichhorns. 7 StAN, D15 S14 Nr. 13, »Verzeichniß der Kranken, welche vom 1sten Jenner 1798, bis zum 1. September des gegenwärtigen Jahres sind in das Krankenhauß aufgenommen worden, woraus die dem H. Dr. Eichhorn so unbegreiflich große Sterblichkeit, jedem, der nur einigen Begriff von Krankheiten hat, sehr begreiflich werden wird.« Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 155 zeige, so Baier, »daß ein grosser, ja wol der gröste Theil der aufgenomme- nen Personen« komme, »damit sie nicht ohne allen Beystand auf der bloßen Erde liegen und unter tausend Qualen verschmachten dürffen, sondern doch wenigstens auf einem Bette ihr Leben beschliessen können«.8 »Dieser Beweis«, so wies denn auch der Vertreter des Almosenamts die Kritik an der hohen Sterblichkeit zurück, »würde nur von Gewicht seyn wenn lauter Kranke um curirt zu werden allda aufgenommen würden.« Der größte Teil der Patienten komme aber gar nicht, »um curirt zu werden, sondern [um] unter wolthätiger Pflege zu sterben«. Viele Arme würden »lediglich zu Er- reichung des Endzwecks aufgenommen, damit ihre Leiden in den lezten Lebenstagen erträglicher gemacht werden, und sie nicht bey dem Mangel aller Bedürfnisse auf eine verzweiflungsvolle Art aus der Welt gehen dür- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr fen«.9 Geschichte der Sterbehospize – zum Stand der Forschung Die unmissverständlichen Worte, mit denen das Krankenhaus »Hundert- suppe« hier von den Verantwortlichen als Zuflucht für Todkranke und Sterbende charakterisiert wurde, bergen aus historischer Sicht eine kleine Sensation. Angeregt durch die rasche, weltweite Ausbreitung von Sterbe- hospizen in den letzten 30 Jahren, haben sich Historiker auf die Suche nach möglichen Vorläufern und Prototypen des berühmten Londoner »St. Chris- topher’s Hospice« gemacht, dessen Gründung durch Cicely Saunders im Jahr 1967 weithin als Initialzündung der modernen Hospizbewegung gilt.10 Einige Autoren haben in diesem Zusammenhang auf die abendländischen Spitäler und Hospize als angebliche Vorläuferinstitutionen verwiesen. Doch die mittelalterlichen Hospize boten in erster Linie eine Herberge für Reisen- de und Pilger, und die vormodernen Hospitäler dienten (vereinzelt) der medizinischen Behandlung von heilbaren Kranken oder versorgten (zu- meist) ein breites Spektrum von gebrechlichen, pflegebedürftigen und inva- liden Menschen sowie zuweilen auch »Irre« und Epileptiker.11 Manche der zur Heilung aufgenommenen Kranken ließen zwar binnen weniger Wochen ihr Leben, und viele der alten und gebrechlichen Insassen starben letztlich 8 StAN, D15 S14 Nr. 13, Rechtfertigungsschreiben des Dr. Baier vom Herbst 1801 (undatierte Kopie). 9 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801. 10 Humphreys (1999); Humphreys (2001); Clark (2000); s. a. den Überblick bei Lewis (2007), S. 20-42. Zur weiteren Entwicklung und Ausbreitung des Hospizwesens vgl. insbesondere Siebold (1992); Stoddard (1992); Buck (2005); zu den deutschen Ent- wicklungen vgl. Seitz/Seitz (2002). 11 Die Geschichte von Hospital und Krankenhaus in der Vormoderne erfreut sich seit einigen Jahren wieder lebhaften Interesses. Hier seien nur beispielhaft einige neuere Arbeiten und Überblickswerke genannt: Montandon (2001); Matheus (2005); Watzka (2005); Jütte (1996); Aumüller/Grundmann/Vanja (2007); Scheutz/Sommerlechner/Weigl/Weiß (2008). Franz Steiner Verlag
156 Michael Stolberg irgendwann, oft nach Jahren oder Jahrzehnten, im Hospital. Als Zuflucht für Todkranke und Sterbende aber fungierten diese Häuser allenfalls gele- gentlich, am Rande. Während sich Vertreter der Palliativmedizin weiterhin dennoch auf diese Tradition berufen oder gar das alte, im Französischen bis heute für »Kran- kenhaus« gebräuchliche Wort »hospice« als Bezeichnung für ein Sterbehos- piz missverstehen, kommt die jüngere Geschichtsforschung einmütig zu dem Schluss, dass die Charakterisierung des vormodernen Hospitals als »Vorläufer« des modernen Sterbehospizes irreführend ist.12 Die älteste bis- lang bekannte Einrichtung, die primär der Aufnahme von todgeweihten und sterbenden Kranken diente, datiert vielmehr nach bisherigem Wissens- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr stand auf das Jahr 1879. Damals gründeten die »Sisters of Charity« »Our Lady’s Hospice for the Dying« in Harold’s Cross bei Dublin als Ergänzung zum »St. Vincent’s Hospital«, das sie in der Stadt selbst unterhielten.13 Das von manchen Autoren als ältestes Hospiz genannte, 1843 gegründete »Hospice« der »Dames du Calvaire« in Lyon erweist sich dagegen bei ge- nauerer Betrachtung als Einrichtung für pflegebedürftige Frauen, insbeson- dere für solche, die an chronischen Geschwüren litten und regelmäßig ver- bunden werden mussten, nicht als Einrichtung für Todkranke und Sterben- de.14 Dem Dubliner Hospiz folgten bald das »Free Home for the Dying«, »St. Luke’s House« und »St. Columba’s Hospital« sowie weitere, ähnliche Einrichtungen in London, in denen Krebsleidende und andere terminal Kranke aus den Reihen der »ehrbaren Armen« für die letzten Wochen oder Monate ihres Lebens medizinisch und pflegerisch betreut wurden.15 Wenn das Nürnberger Krankenhaus »Hundertsuppe«, wie die Verantwort- lichen behaupteten, tatsächlich in erster Linie ein Ort war, an den schwer- kranke Menschen kamen, um »unter wolthätiger Pflege zu sterben«, wäre es somit nach heutigem Wissensstand die mit Abstand älteste medizinische Einrichtung nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, die, in mo- 12 So formulieren Clark/Seymour (1999), S. 66: »The idea that hospices, as places con- cerned specifically with the care of the dying have a history stretching back into early times is however misleading, and serves little purpose in advancing our understanding of such care in the past.« 13 Butler (1980); Healy (2004). Bereits 1870 hatten die »Sisters of Charity« St. Patrick’s in Cork eröffnet, das primär für Krebskranke konzipiert war, aber in der Praxis vor al- lem Schwindsüchtige aufnahm (vgl. Healy (2004), S. 3f.). Als unbegründet hat sich dagegen die Behauptung von Goldin (1981), S. 390, entpuppt, die »Irish Sisters of Charity« hätten bereits in den 1830er Jahren in Australien ein Sterbehospiz eröffnet; vgl. Kerr (1993); Clark/Seymour (1999), S. 67. Zu Planung und Eröffnung des – tat- sächlich erst 1890 von den »Sisters« gegründeten – »Sacred Heart Hospice« in Dar- linghurst/Sydney s. insbesondere Donovan (1979), S. 230f. 14 Siehe dagegen Martin (1908), S. 103-106; Reymond (2001); Desfourneaux (2002). 15 Goldin (1981); Clark/Seymour (1999); Murphy (1989); zur jüngeren Entwicklung vgl. beispielsweise Clark (1999); Hayley/Sachs (2005). Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 157 derner Begrifflichkeit, als Sterbehospiz fungierte. Im Folgenden soll das Haus vor diesem Hintergrund genauer untersucht werden. Die Analyse kann sich hierbei auf eine vergleichsweise gute archivalische Überlieferung stützen. Es sind nicht nur diverse Untersuchungsberichte und ärztliche Gut- achten, Budgetaufstellungen, Aufzeichnungen über die vorhandenen Betten und sogar Nachlassverzeichnisse und Aussagen einzelner ehemaliger Patien- ten überliefert. Es gibt auch zwei über den gesamten Zeitraum von 1770 bis 1813 parallel geführte handschriftliche Aufnahmebücher.16 Sie verzeichnen für jeden einzelnen Patienten zumindest Name, Geschlecht, Alter, Diagnose und den Aufnahme- und Sterbe- bzw. Entlassungstag, meist auch den Beichtvater sowie den Beruf des Patienten und den Namen und Beruf der Eltern, manchmal ergänzt durch die Angabe des Familienstands oder der Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr Pfarrei oder durch Hinweise auf Besonderheiten des einzelnen Falls, wie die Verlegung in ein anderes Haus oder die unmittelbare Übernahme als Kran- kenwärterin. Die »Hundertsuppe« Mit rund 25.000 Einwohnern, einer alten Handelstradition und vielfältigen gewerblichen Aktivitäten war die Reichsstadt Nürnberg eine der größten und bedeutendsten Städte im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Die Ge- sundheitsversorgung der Stadt galt in vielfacher Hinsicht als vorbildlich. Mit dem Heilig-Geist-Spital verfügte Nürnberg über eine weithin bekannte Einrichtung, die im Gegensatz zu vielen anderen Hospitälern der Frühen Neuzeit stets auch eine dezidiert kurative Funktion erfüllte, indem man hier, nach dem Willen des Stifters, Betten für mindestens 128 heilbare Kranke vorhielt, die von Ärzten und Chirurgen versorgt wurden.17 In einem Bericht über die städtische Krankenversorgung entwarf das für die Armenpflege zuständige Almosenamt 1769 denn auch ein insgesamt recht befriedigendes Bild der ärztlichen Betreuung jener Armen, die sich nicht, wie die Mehrheit der Bevölkerung, aus eigenen Mitteln eine ausreichende Pflege und medizi- nische Versorgung zu Hause leisten konnten und niemand hatten, der sich um sie kümmerte.18 Seit langem habe die städtische Obrigkeit für die Ar- menkranken vorzügliche Einrichtungen unterhalten. Patienten mit hitzigen, ansteckenden Krankheiten würden im Schauhaus versorgt. Patienten mit 16 StAN, C23/I 2 und C23/I 3. Für das erstgenannte Journal zeichnete der Hausmeister verantwortlich; auf den hinteren Seiten enthält es weitere Eintragungen, beispielsweise über den Bestand an Betten und Büchern und Aufstellungen über die Verpflegungs- kosten. Das zweite Aufnahmebuch stammt von unbekannter Hand und weist eine deutlich sauberere, an Kanzleischrift angenäherte Schrift auf. Es stimmt mit dem vom Hausmeister geführten Buch weitestgehend überein, ist aber manchmal knapper gehal- ten, und teilweise fehlt die Diagnose. Vielleicht wurde es vom zuständigen Vertreter des Almosenamts geführt. 17 Knefelkamp (1989); Knefelkamp (2005), S. 184-189. 18 StAN, D1 209, Bericht des Stadtalmosenamts vom 22.7.1769. Franz Steiner Verlag
158 Michael Stolberg Syphilis, Krätze und ähnlichen Leiden fänden im Sebastiansspital Unter- kunft. Probleme, so räumte man jedoch ein, gebe es mit der Betreuung von Armenkranken, die in diesen beiden Häusern keine Aufnahme finden könn- ten. Das seien vor allem jene, die an langwierigen, nicht-ansteckenden Krankheiten litten. Sie würden zwar durch »besonders verpflichtete Kran- kenwärter und -wärterinnen« versorgt, zu diesen »auf die Stube und in die Kost« gegeben. Doch Wart und Pflege seien oft schlecht. Die Wärter und Wärterinnen seien »mehrentheils aus der lüderlichsten Sorte« und achteten eher auf den eigenen Vorteil. Die Zimmer seien häufig wenig geeignet und schlecht geheizt, die Kost mangelhaft, so dass die Kranken auch selten wie- derhergestellt würden. Auch der Stadtarzt Johann Jakob Baier beklagte das Fehlen einer stationären Einrichtung für Patienten mit langwierigen Krank- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr heiten, »welche doch dabey von aller Menschen Hülfe verlassen waren, ja wohl bisweilen von denen Haußherren nicht länger in dem Hause wolten gedultet [sic] werden«. Zwar hätten sich immer »Weiber« gefunden, die die- se Kranken »zu sich auf die Stube genommen und sie gegen ein bestimmtes Wart-Geld zu versorgen versprochen haben«. Doch die Zimmer seien »durchgängig klein« und »zumal wann mehrere Menschen beysammen lie- gen sollen, höchst ungesund«.19 Das Almosenamt schlug deshalb vor, für diese Fälle ein kleines Krankenhaus für 20 bis 30 Patienten einzurichten. Damit könne man »ohne viel größern Aufwand« einer höheren Zahl von Patienten zugleich eine bessere Versorgung bieten. Da sie »nicht wie bisher in der ganzen Stadt vertheilt, sondern an einem Ort gröstentheils beysam- men wären«, würden die Ärzte und Chirurgen die Kranken nämlich »öfters besuchen und mehr Fleis in die Cur adhibiren«.20 Ein geeignetes Gebäude hatte man schon gefunden: das ehemalige Wirts- haus »Zur weißen Cronen« in der Judengasse, das aufgrund der Insolvenz des Vorbesitzers einer Stiftung zugefallen war.21 Es biete ausreichend Platz. Im Erdgeschoss könnten ein paar Zimmer für die Wärter und in den bei- den darüberliegenden Stockwerken die Krankenstuben eingerichtet werden. Als Krankenwärter sollten zwei gut beleumundete, verheiratete, kinderlose Bürger mit ihren Ehefrauen dienen, die »eine solche Profession haben, wel- che sie dabey zu treiben im Stande wären«. Man würde ihnen »ein gewisses Einkommen« verschaffen, das sie durch ihre gewerbliche Arbeit ergänzen könnten. Im Frühjahr 1770 wurde das Vorhaben, mit geringen Modifikati- onen, genehmigt: Es sollten zunächst nur ein Wärterehepaar eingestellt und nur acht bis zehn Patienten in eine Stube im Erdgeschoss aufgenommen werden, um das Haus dann nach und nach für weitere Kranke herzurich- 19 StAN, D1 209, Bericht von Dr. Johann Jakob Baier, 5.8.1769 (Abschrift). 20 StAN, D1 209, Bericht des Stadtalmosenamts vom 22.7.1769. 21 Das Gasthaus befand sich dem Nürnberger Stadtlexikon, Stichwort »Wunderburggas- se«, zufolge in der spätmittelalterlichen, ursprünglich der Familie Welser gehörenden sogenannten »Wunderburg« (http://online- service.nuernberg.de/stadtlexikon/start.fau?prj=lex, letzter Zugriff: 27.11.2009). Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 159 ten. Die laufenden Ausgaben sollten aus der Wochen-Almosen-Kasse finan- ziert werden, also aus den wöchentlich eingesammelten, freiwilligen Spen- den der Bürgerschaft.22 Im Juli 1770 wurden die ersten sechs Patienten auf- genommen.23 Das alte Gebäude hatte einige Mängel. Das verantwortliche Almosenamt gestand selbst ein, dass das Erdgeschoss mit der Krankenstube feucht sei.24 Die Pläne, in den oberen Stockwerken mehrere Krankenstuben einzurich- ten, wurden aber offenbar nicht verwirklicht. Schon im Jahr 1794 schlug das Amt vielmehr vor, das Krankenhaus aufzulösen und die Kranken in das viel geräumigere Sebastiansspital vor der Stadt zu verlegen, das für Pa- tienten mit Geschlechtskrankheiten, Krätze und Krebsschäden bestimmt Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr war. Gegner wandten jedoch ein, das Sebastiansspital sei zu abgelegen, und der moralische Makel, der dem Haus als »Franzosenhaus«, also als Einrich- tung für Geschlechtskranke, anhänge, würde dazu führen, dass sich die Kranken nicht gerne dorthin bringen lassen würden. Im Übrigen wäre es viel einfacher, wenn der Krankenwärter ins Parterre des Krankenhauses ziehen würde und die Patienten in dem gesünderen 1. Stock untergebracht würden.25 Als Dr. Eichhorn das Krankenhaus im Jahr 1800 besuchte, wa- ren die meisten Kranken aber immer noch gemeinsam in einer Stube im Erdgeschoss untergebracht.26 Erst 1813 wurde das Haus schließlich, vor allem wegen der schlechten räumlichen Verhältnisse, geschlossen, und die Insassen kamen in eine neu eingerichtete Abteilung des nahen Heilig-Geist- Spitals.27 Bis dahin verzeichneten die Aufnahmebücher insgesamt 1005 Aufnahmen. Die Verantwortung für Wart, Pflege und Verköstigung übernahm als Hausmeister für mehr als 30 Jahre der Gürtler Peter Grüßmeyer (auch Greismeier oder Grüßmayer), dem später seine Frau Maria Clara zur Seite trat. Sie erledigte die anfallenden Arbeiten, nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1800, als »Hausmeisterin« dann offenbar allein.28 Ihnen ging eine 22 StAN, D1 209, Antrag des Stadtalmosenamts vom 7.3.1770 und Genehmigungs- schreiben des Rats der Stadt vom 8.3.1770. 23 StAN, C23/I 2, Aufnahmebuch; vier Patienten kamen am 9. Juli, zwei weitere folgten am 10. und 11. Juli. 24 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801. 25 StAN, D15 S14 Nr. 12. 1803 wurde ähnlich ergebnislos eine Umnutzung des Schul- gebäudes von St. Jakob als Krankenversorgungsanstalt für 25 bis 30 Patienten erwo- gen (StAN, B1/II, Bauamt Akten, LIX/3a). 26 StAN, D15 S14 Nr. 13, Auszug aus dem Konferenzprotokoll vom 29.5.1801. 27 StAN, C23/I 2, Vermerk im Anschluss an den letzten Patienteneintrag im Juli 1813. 28 StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808; die Hausmeisterin bekam 1808 wie schon 1770 vierteljährlich 13 fl. Franz Steiner Verlag
160 Michael Stolberg Magd oder Wärterin zur Hand29, die wie die Hausmeister im Krankenhaus schlief – vermutlich, wie aus anderen Häusern überliefert, gemeinsam mit den Patienten in der Krankenstube. Geschultes Pflegepersonal gab es da- mals an den meisten städtischen Krankenhäusern noch nicht. Bemühungen um eine geregelte Krankenpflegeausbildung steckten erst in den Anfängen.30 Soweit die soziale Herkunft bekannt ist, stammten die Wärterinnen oder Mägde aus ähnlich ärmlichen Verhältnissen wie die Kranken, die sie pfleg- ten. Die 24-jährige Anna Maria Karrin etwa, die 1775 als Wärterin genannt wurde, war die Tochter eines Tagelöhners und lag mehrere Wochen selbst mit »einer Art Lungensucht« als Patientin im Krankenhaus. Eine ehemalige Krankenwärterin, die 20-jährige Elisabeth Eckertin, musste später aus un- bekannten Gründen für acht Wochen ins Zuchthaus, wurde nach ihrer Ent- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr lassung krank in einer Gasse aufgegriffen und kam nunmehr ihrerseits als Patientin ins Krankenhaus.31 Im Einzelfall übernahmen umgekehrt ehema- lige Patientinnen den Posten einer Krankenwärterin. So wurde die 46- jährige Malerswitwe Susanna Christina Kerstin zunächst von Februar bis zum 1. Mai 1791 wegen »Mattigkeit« und »weiblichen Umständen« behan- delt und trat unmittelbar anschließend »die Krankenwartt« an.32 Das Almosenamt betonte um 1801 rückblickend, »daß bey Verpflegung der Patienten im Krankenhaus, ohne deren Bedürfnissen Abbruch zu thun, auf alle mögl. Menage Rücksicht genommen worden seye«.33 Tatsächlich scheinen Ausstattung, Versorgung und Verpflegung einfach, aber nach zeitgenössischen Maßstäben annehmbar gewesen zu sein. Die Kosten der Versorgung waren denn auch nicht unerheblich. In den 30 Jahren von 1770 bis 1800 gab man einer Aufstellung des Almosenamts zufolge34 insge- samt rund 21.000 fl. aus, also rund 700 fl. pro Jahr. Der Vergleich der zu unterschiedlichen Zeitpunkten gleichzeitig vorhande- nen Zahl der Patienten und der Zahl der Betten lässt vermuten, dass die Patienten – anders als in manchen anderen zeitgenössischen Krankenhäu- sern – jeweils ihr eigenes Bett hatten und es sich nicht mit anderen Kranken teilen mussten. Einzelne Patienten brachten sogar ihr eigenes Bett mit. So ist in den Nachlassverzeichnissen von verstorbenen Patienten aus den Jahren 29 StAN, C23/I 175; die Magd, Kunigunda Bollmannin, erhielt 1808 wie schon 1770 vierteljährlich 4 fl. 30 Beltz (1762); Olbrich (1986); Quellensammlungen bei Panke-Kochinke (2003); Häh- ner-Rombach (2008). 31 StAN, C23/I 2. Sie war von Ende August bis Ende November 1771 im Krankenhaus und wurde dann entlassen. Ihre Mutter war eine der ersten Patientinnen gewesen, die in das Krankenhaus aufgenommen wurden, und war dort verstorben. 32 Im August wurde sie in diesem Amt offiziell bestätigt. 33 StAN, D1 528, undatierter Bericht des Stadtalmosenamts mit Zahlen über die Ausga- ben in den 30 Jahren seit Gründung des Hauses. 34 StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801. Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 161 1790 bis 1792 in mehreren Fällen ausdrücklich eine »Bettstatt« aufgeführt, meist bestehend aus einem Strohsack, Unter- und Oberbett und mehreren großen und kleinen Kissen und Polstern, in blau und weiß mit Bettwäsche bezogen, wie teilweise ergänzend hinzugefügt wird.35 Dr. Eichhorn äußerte sich zwar 1801 nach seinem Besuch empört über die nachlässige Pflege und Reinlichkeit. Allerdings hatte er für seine Inspektion ausgerechnet den Tag gewählt, an dem der langjährige Hausmeister Peter Grüßmeyer zu Grabe getragen wurde. Um ein unvoreingenommenes Bild der Verhältnisse zu gewinnen, ließ das Almosenamt daraufhin »ohne Aus- wahl und mithin ohne alle Rücksicht auf eine von dieser oder jener zu er- wartende vortheilhafte Aussage«36 mehrere ehemalige Patienten befragen, Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr die aus dem Haus wieder entlassen worden waren. Sie zeichneten insgesamt ein ausgesprochen positives Bild. Fast einhellig beschrieben sie den Wärter und seine Leute als freundlich und die Wartung als gut.37 Die Speisen seien gut gekocht. Kritisch äußerte sich in manchen Punkten nur Louisa Sophia Carolina Reisin, Witwe des Porträtmalers und Zeichenprofessors Carl Jo- hann Georg Reis, eine Frau also, die vermutlich mehr als die meisten ande- ren Insassen von früher einen gewissen Komfort gewohnt war und ein be- sonders respektvolles Verhalten erwartete. Sie klagte über das ungebührli- che Betragen der Magd und monierte auch als Einzige eine ungenügende Heizung, obwohl ausreichend Holz vorhanden sei. Auch das Essen reichte ihr nicht. Andere erzählten dagegen, sie hätten das gute Essen gar nicht auf- essen können, weil es so viel gewesen sei.38 Nur ganz vereinzelt finden sich denn auch Patienten im Aufnahmebuch vermerkt, von denen es hieß, sie hätten das Haus »freiwillig« verlassen, sie seien gar »heimlich wieder aus dem Kranckenhaus geschlichen« oder hätten sich »nicht gewohnen kön- nen«.39 35 StAN, D1 528. Die Betten wurden demnach offenbar nach dem Tod der Patienten ebenso wie die übrigen Habseligkeiten im ehemaligen Tanzsaal der »Hundertsuppe« versteigert, blieben aber vereinzelt auch im Besitz des Hauses. StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808, bezif- ferte die Kosten für eine Bettstatt auf 25 fl. 30 kr. Auch im Aufnahmebuch StAN, C23/I 2 wird eine altersschwache Patientin erwähnt, die ihr eigenes Bett mitbrachte und darin offenbar ihre letzten Monate im Krankenhaus schlief. 36 StAN, D1 18, Schreiben des Stadtalmosenamts vom 18.7.1801; s. a. StAN, D15 S14 Nr. 13, Bericht des Stadtalmosenamts vom 2.10.1801. 37 StAN, D15 S14 Nr. 13. 38 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussage der 22-jährigen Schlosserstochter Anna Dorothea Raumin, Juli 1801. 39 StAN, C23/I 2, Einträge über die 32-jährige Hufschmiedsfrau und Dienstmagd Bar- bara Schlenckin, die wegen »weiblicher Umstände« ins Krankenhaus kam, und über den Münzarbeiter Franz Samuel Amon, der wegen offener Schäden aufgenommen wurde. Franz Steiner Verlag
162 Michael Stolberg Die räumlichen Verhältnisse im Krankenhaus waren beengt. Jahrzehntelang waren zumindest die meisten Patienten, also Frauen, Männer und Jugendli- che durcheinander im gleichen Zimmer untergebracht.40 Zwangsläufig mussten sie in der großen Krankenstube Leiden und Sterben ihrer Mitpati- enten fast hautnah miterleben. Manche waren zudem für die übrigen Kran- ken eine besondere Belastung. So wurden vorübergehend auch einzelne »Ir- re« aufgenommen, die später in die »Prison« oder auf den »Turm« gebracht wurden, wo man sie gegebenenfalls mit Riemen oder Ketten anschloss.41 Auch von Kranken mit epileptischen Anfällen wird berichtet. Eine Patien- tin, die eigentlich wegen offener Geschwüre gekommen war, fiel gleich in der ersten Nacht nach ihrer Aufnahme in einem Anfall aus dem Bett.42 Der 15-jährige epileptische Sohn der armen Kunigunde Polsterin wurde schließ- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr lich »schon der übrigen Kranken wegen« aus dem Krankenhaus in eine Stube im Schauhaus verlegt, denn ein »oefterer Anfall von dieser Krank- heit«, so erklärte das Almosenamt, müsse »den übrigen Patienten, die [...] nach der Einrichtung dieses für nicht ansteckende Krankheiten bestimmten Hauses in einem Zimmer beysammen sind, Schrecken und Unruhe verur- sachen«.43 Manchmal brachten ledige oder verwitwete Mütter auch ihre kleinen Kinder mit. Die 26-jährige Steinleinin beispielsweise verbrachte mehrere Monate mit ihrem fünfjährigen unehelichen Sohn in der Kran- kenstube. Das uneheliche Kind der gleichaltrigen Schweikertin war gar erst drei Monate alt. Über sein Schicksal nach dem raschen Tod der Mutter – sie starb innerhalb von fünf Tagen an Wassersucht – ist nichts bekannt.44 Allerdings sind die räumlichen Gegebenheiten auch im Verhältnis zu den teilweise erbärmlichen Lebensbedingungen zu sehen, aus denen viele der Patienten kamen, und in anderen Krankenhäusern lagen regelmäßig viele Patienten gemeinsam in einem Zimmer, ja nicht selten zu zweit in einem Bett. Nur auf eine Geschlechtertrennung wurde zumindest in den größeren Häusern in der Regel geachtet, schon aus steter Sorge um die »Moral« der Patienten. 40 In einer undatierten, vermutlich aus den 1790er Jahren stammenden Aufstellung der vorhandenen Betten erwähnt der Schreiber, vermutlich der Hausmeister Grüßmeyer, allerdings eine vordere und eine hintere Krankenstube (StAN, C23/I 2). 41 Andrea Reiter arbeitet derzeit in Würzburg an einer Dissertation über den Umgang mit »Irren« in Nürnberg um 1800 und ihre Unterbringung und Internierung. Rückbli- ckend waren zudem Patienten mit offener Tuberkulose für die weniger ernsthaft Er- krankten eine große Gefahr, doch damals galt die Ansteckungsfähigkeit der Schwind- sucht keineswegs als gesichert. 42 StAN, C23/I 2. 43 StAN, B10 331, Schreiben des Stadtalmosenamts vom 8.6.1803. 44 Der Vater war ein Soldat; möglicherweise kam das Kind zu der ebenfalls genannten Taufpatin. Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 163 Ein – leider undatierter und daher womöglich erst aus der Zeit nach der Verlegung ins Heilig-Geist-Spital stammender – Wochenplan über die »Speißen im Krankenhauß« könnte einen ungefähren Eindruck von der gebotenen Ernährung bieten.45 Danach bekamen die Patienten jeden Mor- gen und Abend (Mehl-)Suppe mit schwarzem oder weißem Brot und täg- lich einen Seidel Bier. Zu Mittag gab es an fünf Tagen in der Woche Fleisch – freitags allerdings nur »ein wenig« und am Samstag manchmal Rind- fleisch, manchmal aber auch Fleischsuppe, und montags ein Viertelpfund Blutwurst sowie ein Viertelpfund Leberwurst. Dazu bekamen die Patienten jeweils Mus, zerhackte Gerste oder dergleichen. Nur mittwochs gab es kein Fleisch, sondern Spätzle, Kartoffelknödel oder Ähnliches.46 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr Auch über die medizinische Behandlung äußerten sich die Befragten über- wiegend zufrieden. Eichhorn hatte behauptet, nur zwei der Patienten hätten überhaupt Arzneien bekommen, als er das Haus besuchte. Die Befragten erklärten dagegen, sie hätten die vom Arzt oder Chirurgen verschriebenen Arzneien erhalten. Manche hatten zwar den alten Krankenhausarzt selten oder gar nur einmal zu Gesicht bekommen, weil dieser selbst erkrankt war. Aber zumindest von dem Krankenhauschirurgen Riederer, so berichteten sie, seien sie »fleißig besuchet worden«. Er sei fast jeden Tag ins Kranken- haus gekommen.47 Auch eine Erlanger Patientin, Tochter eines verstorbe- nen Bergarbeiters, deren Leib und Füße aufgeschwollen waren, schloss sich dem günstigen Urteil an, obgleich sie wohl, anders als die Nürnberger Pati- enten, nicht damit zu rechnen hatte, womöglich erneut dort Zuflucht su- chen zu müssen. Sie sei »gehörig gewartet« worden, und während ihres acht- oder neunwöchigen Aufenthalts hätten sich auch die anderen Insassen nie beklagt. Sie danke im Gegenteil »noch vielmals für die gehabte Pflege, Wart und Behandlung«.48 Über die Art der medizinischen Behandlung ist leider nichts Genaueres überliefert. Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass im Durchschnitt für jeden Patienten immerhin fast zwei Gulden allein für Medikamente ausgegeben wurden. Insgesamt hatten die Kosten für die medizinische Versorgung im engeren Sinne in den Jahren von 1770 bis 1800 mit 2700 fl. einen Anteil an 45 Der Plan fand sich auf einem lose beigelegten Zettel in StAN, C23/I 3. 46 Einer Kostenaufstellung aus dem Jahr 1808 zufolge erhielt die Hausmeisterin für die Verköstigung jedes Patienten, einschließlich eines täglichen Seidels Bier, wöchentlich 1,27 fl. Dazu kamen noch die Kosten für Licht, Seife und Arzneien. Zur zeitgenössi- schen Krankenhauskost vgl. Thoms (2005) und Kühne (2006). 47 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussageprotokoll der Anna Dorothea Raumin; ähnlich laute- ten die Aussagen der 24-jährigen Schneiderstochter Helena Maria Maurerin und der 57-jährigen Portenmacherstochter Anna Elisabeth Engelhardin. 48 StAN, D15 S14 Nr. 13, Aussageprotokoll der Augusta Louisa Behneldtin vom 10.7.1801; sie war deutlich früher als die anderen Zeugen, nämlich vom 9.11.1796 bis zum 17.1.1797, in Behandlung gewesen. Franz Steiner Verlag
164 Michael Stolberg den Gesamtkosten von mindestens rund 13 %.49 1200 fl. entfielen auf die Arzneikosten, 1500 fl. auf die Saläre der Ärzte und Chirurgen. Dazu kamen noch medizinische Kräutertees, die im Krankenhaus gekocht wurden. Wir können also von einer eingehenden medizinischen Behandlung ausgehen. Dass sich die Ärzte und Chirurgen dabei auch einschlägiger, »palliativer« Mittel bedienten, wie man sie damals schon nannte50, und gezielt Schmer- zen, Atemnot, Übelkeit, Schlaflosigkeit und dergleichen bekämpften, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, ist aber angesichts des zeitgenössischen ärztlichen Interesses an der palliativen Behandlung Todgeweihter zu vermu- ten51. Die seelsorgerische Betreuung – das Haus stand grundsätzlich Patienten aus Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr allen christlichen Konfessionen offen – wurde offenbar von Geistlichen aus der Stadt geleistet. Mit großer Sorgfalt verzeichneten selbst die knappen Einträge im Patientenaufnahmebuch die jeweilige Pfarrei des Erkrankten beziehungsweise den Namen des Beichtvaters, vermutlich um diesen gege- benenfalls rasch holen zu können. Die wenigen Bücher, die das Kranken- haus besaß, wie die »Heiligen Andachts-Übungen für Christen«52 oder J. F. Starcks »Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen«53, lassen sich im weiteren Sinne der Erbauungsliteratur zurechnen. In den Kostenaufstellun- gen wird auch Kommunionswein erwähnt54, was heißen könnte, dass im Haus auch Messen abgehalten wurden. Eine eigene Kapelle gab es in dem ehemaligen Wirtshaus vermutlich nicht, auch ein Altar – ein wesentliches Element des vormodernen Hospitals – wird nirgends erwähnt. Sehr klar und unmissverständlich wurden dagegen Vorkehrungen für den möglichen – und vielfach offenbar bald erwarteten – Tod getroffen. Seit den 1780er Jahren wurde in der Regel im Aufnahmebuch vermerkt, wer für die Beerdigungskosten aufkommen würde, ob ein Grab vorhanden war und wer den Grabzettel hatte, und zwar offenbar bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme: Der Eintrag findet sich auch bei später als genesen entlassenen 49 Zum Vergleich: Im Krankenhaus St. André in Bordeaux lag der Anteil der Kosten für Arzneimittel trotz einer wachsenden Bedeutung der medizinischen Versorgungsfunkti- on bei unter 1 % (Dinges (1999), S. 251). Unklar bleibt, ob Arzt und Chirurg in der »Hundertsuppe« darüber hinaus noch aus dem laufenden Budget für einzelne Kran- kenbesuche honoriert wurden. 50 Stolberg (2007). 51 Vgl. Behrends (1790); Paradys (1796). 52 Das Werk wird im Aufnahmebuch »Schmidbaur« zugeschrieben, aber gemeint ist vermutlich das ohne Nennung des Autors 1770 in Frankfurt und Leipzig erschienene Buch mit diesem Titel. 53 Das Werk erschien in zahlreichen Auflagen. 54 StAN, C23/I 175, Schreiben der Kgl. Baierischen Polizei-Direction zu Nürnberg vom 14.11.1808; Kostenaufstellung vom 29.7. bis zum 5.8.1808; für den Wein wurden 1 fl. 35 kr. veranschlagt. Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 165 Patienten. Oft nimmt diese Angabe sogar ebenso viel Raum ein wie alle übrigen Angaben zum Patienten, seinem Stand, seinem Alter und seiner Diagnose. Manchmal hatten, nach Auskunft des Kranken, Angehörige oder Bekannte versprochen, sie würden die Kosten übernehmen. Andere waren in einer »Leichencassa« und hatten gegen einen kleinen Mitgliedsbeitrag in der Größenordnung von wöchentlich einem Kreuzer Anrecht auf eine Geldauszahlung, die ihnen im Todesfall ein ordentliches Begräbnis sicherte. In manchen Fällen zahlte die Leichenkasse 10 oder 18 fl., ja in einem Fall sogar 22 fl. aus. Eine ordentliche Beerdigung, das wissen wir aus anderen Quellen, war auch einfachen Zeitgenossen wichtig. Und sie war nicht ganz billig. Ein gewöhnlicher Sarg kostete schon 1 fl. 30 kr. bis 2 fl. Eine Bestat- tung in der »Gemeingruben« kostete 3 fl. 30 kr. bis 4 fl. Und für eine or- Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr dentliche Beerdigung wurden um 1790 fast zwischen 5 fl. 18 kr. und 6 fl. 48 kr. angesetzt, die an das Seelhaus bzw. an die Seelfrau zu zahlen waren.55 Anders als in manch anderen zeitgenössischen Häusern56 liefen die Patien- ten auch nicht Gefahr, nach ihrem Tod gegen ihren Willen seziert zu wer- den. Patienten und Krankheitsspektrum Dank der beiden parallel geführten Aufnahmebücher lässt sich die Zusam- mensetzung der Patienten im Hinblick auf Aufnahmediagnose, Geschlecht und Alter recht genau untersuchen. Die Analyse wird sich im Folgenden auf die ersten 30 Jahre, vom Juli 1770 bis zum Juni 1800, beschränken. Für diese Zeit ist die archivalische Überlieferung für das Haus deutlich reicher als für die Jahre danach. Zudem scheinen sich Charakter und Funktion der Anstalt nach der Kritik Eichhorns an der hohen Sterblichkeit und den nachfolgenden Untersuchungen verändert zu haben. Die Zahl der jährlich Aufgenommenen verdoppelte sich fast, von 18,5 (Juli 1770 bis Juni 1800) auf 34,5 (August 1800 bis Juli 1813), und es kamen nun offenbar auch vermehrt leichtere Fälle zur Aufnahme. Die Sterblichkeit unter den Neuauf- genommenen sank mit 178 von 433 deutlich auf 41 %. Sie lag damit aller- dings immer noch weit höher als an anderen Krankenhäusern.57 55 StAN, D1 528, den Verzeichnissen der Verlassenschaften jeweils beigelegte Blätter mit Aufstellungen zu den Beerdigungskosten. 56 Stukenbrock (2001); Sahmland (2008). 57 Im Juli 1800 wurde kein Patient neu aufgenommen. Von August 1800 bis Juli 1813 gab es 449 Neuaufnahmen. Nicht eingerechnet wurden 15 Patienten, die im August 1813, bei der Schließung des Krankenhauses, in andere Häuser verlegt wurden, sowie eine Patientin mit »weiblichen Umständen«, für die beide Aufnahmebücher keine ent- sprechende Angabe machen. Manche der vor Juli 1800 Aufgenommenen starben erst nach diesem Zeitpunkt, so dass die Gesamtzahl der tatsächlichen Todesfälle, die im Haus vorkamen, etwas höher lag. Franz Steiner Verlag
166 Michael Stolberg Die Krankheiten der Patienten lassen sich anhand der in den Aufnahmebü- chern verzeichneten Diagnosen nur in Umrissen rekonstruieren. Im Um- gang mit vormodernen Krankheitsbezeichnungen ist bekanntlich große Vorsicht geboten und eine »Übersetzung« in moderne Krankheitsbegriffe nur begrenzt sinnvoll.58 Diagnosen wie »Abzehrung« oder »Wassersucht« bezeichneten damals zwar Krankheiten, zielen aber nach heutigem Ver- ständnis auf vorstechende Symptome unterschiedlicher Krankheiten, und Begriffe wie »unvermöglich« oder »entkräftet« beschrieben gar einen Zu- stand, der nach heutigem Verständnis durch Alter oder Hunger ebenso wie durch Krebsleiden und andere schwerwiegende Krankheiten verursacht werden kann. Da für unsere Fragestellung vor allem die Schwere und Be- handlungsbedürftigkeit der Krankheit interessiert, erweist sich ein genauerer Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr Blick auf die Statistik der Aufnahmediagnosen dennoch als aufschlussreich (vgl. Tab. 1). 59 Die größte Gruppe bildeten die 109 Patienten mit »Schwindsucht«, »Lun- gensucht« und »Auszehrung«. Hinter diesen Diagnosen ist aus heutiger Sicht in vielen Fällen eine Lungentuberkulose zu vermuten. In etwas gerin- gerem Maße gilt das auch für die sechs Patienten mit »Blutsturz«60 und die 13 Patienten mit »Stöcken« oder »Stecken in der Brust«, die hier ebenfalls dieser Gruppe mit insgesamt 128 oder rund 25 % der Aufnahmen zugeord- net werden. Viele dieser Patienten waren im frühen oder mittleren Erwach- senenalter. Bei einer Sterblichkeit von 81 % hatte diese Gruppe mit insge- samt 90 Todesfällen auch einen wesentlichen Anteil an der hohen Gesamt- sterblichkeit. Eine zweite große Gruppe mit 76 Aufnahmen kam mit Diagnosen wie »Entkräftung«, »Mattigkeit«, »unvermöglich« oder, in sieben Fällen, einfach »Alter« ins Haus. Im weiteren Sinne lassen sich dieser Gruppe auch 13 Pa- tienten zurechnen, die in erster Linie wegen »Hunger« ins Haus kamen. Hier überwiegen die hohen Altersgruppen, und es verschwimmen zuweilen die Grenzen zu Fällen von bloßer Pflegebedürftigkeit, denen das Haus ei- gentlich nicht offenstehen sollte. Mehrere Patienten blieben zwei Jahre im Haus, die 77-jährige Ursula Barbara Lebenderin, die 1778 mit der Diagnose »Alter« aufgenommen wurde, starb gar erst acht Jahre später. Die »Entkräf- tung« konnte allerdings im Einzelfall auch bereits so weit fortgeschritten sein, dass der Tod schon unmittelbar vor der Tür stand. Die mit »Leibsent- kräftung« aufgenommene 80-jährige Anna Elisabetha Falknerin etwa lebte 58 Vgl. am Beispiel der umfangreichen Journale des Würzburger Juliusspitals die aus- führlichen Überlegungen in Bleker/Brinkschulte/Grosse (1995). 59 Die folgenden Zahlen sind berechnet nach StAN, C23/I 2; bei dort fehlenden Anga- ben wurde ergänzend StAN, C23/I 3 herangezogen. 60 Damit könnte aber im Einzelfall beispielsweise auch eine Gebärmutterblutung oder dergleichen gemeint sein. Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 167 nach ihrer Ankunft im Krankenhaus nur noch fünf Tage, die »unvermögli- che« Margaretha Haßmännin gar nur vier. Eine dritte große Gruppe lässt sich im weiteren Sinne den chirurgischen Krankheiten zurechnen: 63 Patienten mit Geschwüren und »offenen Schä- den«, dazu 17 mit Verletzungen und Verbrennungen sowie neun Patienten mit einem »Vorfall« oder »Leibschäden«.61 Die Sterblichkeit lag deutlich unter dem Durchschnitt, und manche der Betroffenen mögen das Haus vor allem auch deshalb aufgesucht haben, weil dort eine regelmäßige wundärzt- liche Betreuung gewährleistet war. Dazu kam, dass offene Schäden und schwere Bruchleiden als besonders abstoßend und ekelerregend galten. Die Gruppe der Patienten mit Geschwüren an Füßen und Schenkeln geht Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr mehr oder weniger fließend über in die der 47 Patienten mit Schwellungen an Füßen oder Händen. Bei manchen dieser Patienten dürften die Schwel- lungen freilich rückblickend nicht lokal bedingt, sondern Ausdruck einer »Wassersucht« gewesen sein, eine Diagnose, die mit 28 nur bei einer kleinen Zahl der Patienten gestellt wurde, aber mit einer der höchsten Sterblich- keitsraten behaftet war. Unter den Zeitgenossen war die Wassersucht wegen ihres oft tödlichen Verlaufs gefürchtet. Im medizinischen Schrifttum galt sie als Prototyp einer unheilbaren Krankheit. Die Diagnose wurde damals ge- stellt, wenn Füße und Beine, der Bauch oder der ganze Leib aufschwollen.62 In der Begrifflichkeit der modernen Medizin dürften sich darunter viele Patienten mit Herz- oder Niereninsuffizienz oder auch Leberkrankheiten befunden haben. Nicht selten verband sich die Wassersucht mit Atembe- schwerden (»Stöcken in der Brust«) und Druck- oder Engegefühlen im Brustkorb (»Engbrüstigkeit«). Dementsprechend reichte das Spektrum der Krankheitsbilder von Patienten, die primär unter dicken Beinen litten, bis hin zu Todkranken, die schnappend und röchelnd nach Luft rangen. Man- che »wassersüchtige« Patienten, wie die 38-jährige Schmiedstochter Mezne- rin, starben erst viele Monate nach ihrer Aufnahme. Andere hatten nur noch Stunden oder Tage zu leben. Der 40-jährige wassersüchtige Nagel- schmiedsgeselle H. L. Wagner etwa lebte nach seiner Verlegung aus dem Schauhaus gerade noch eine Woche. Die 69-jährige Lenzin, die am 1. No- vember 1770 aufgenommen wurde, war schon am folgenden Tag tot, eben- so die wassersüchtige und obendrein dem Verhungern nahe Elisabetha Scherblin. Eine ähnlich hohe Sterblichkeit wie bei der Wassersucht errechnet sich mit 85 % für die Patienten mit »Schlag« und »Schlaganfällen«.63 Hier war das 61 Darunter wurden offenbar sowohl Bruchleiden als auch Verletzungsfolgen – in einem Fall ein ausgekugeltes Hüftgelenk – verstanden. 62 Stolberg (2003), S. 205f. 63 Zum zeitgenössischen Verständnis vgl. Stolberg (2003), S. 125-129. In etlichen Fällen wird ausdrücklich auch auf Lähmungen hingewiesen, so dass der Begriffsgebrauch hier dem heutigen nahekommt; aber im Einzelfall könnte es sich nach heutigem Er- Franz Steiner Verlag
168 Michael Stolberg Spektrum der Liegedauer recht breit. Viele der Erkrankten starben erst nach Monaten, einzelne nach mehreren Jahren, andere überlebten dagegen schon die ersten Tage nach Aufnahme nicht. Das mag auch an den besonderen Schwierigkeiten gelegen haben, den Ausgang – in modernen Begriffen – eines akuten Schlaganfalls oder Herzinfarkts abzuschätzen. Deutlich geringere Sterblichkeitsraten finden sich bei den Patienten mit »Gicht« und »Gliederkrankheiten« – nach heutigen Begriffen vermutlich in vielen Fällen Arthrosen und rheumatische Gelenkerkrankungen –, mit »Nervenumständen«, »Nervenkrankheiten« und »Melancholie« sowie mit »Frauenkrankheiten« – bei den Letztgenannten handelte es sich offenbar in den meisten Fällen um Frauen mit einer gestörten oder unterbrochenen Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr Monatsblutung, die damals für sich genommen bereits als krankhaft und gefährlich galt. Auffällig ist das völlige Fehlen von Krebs als Aufnahmediagnose. Krebs war schon damals durchaus eine gefürchtete Krankheit, und gerade in ei- nem Haus, in das viele Schwerkranke und Sterbende aufgenommen wur- den, würde man Krebskranke erwarten. Vermutlich verbergen sich denn auch rückblickend manche Krebsleiden unter anderen Diagnosen, wie »bö- ser Schaden«, »weibliche Umstände«, »offener Schaden an der linken Brust« oder, bei vorherrschendem Kräfteverfall und Gewichtsverlust, »Auszeh- rung« oder »Schwindsucht«. Von der 62-jährigen Dienstmagd Anna Sophia Sixtin hieß es beispielsweise, sie habe »einen bösartigen offenen Schaden an dem lincken oberen Arm oder Achsel, ist auch an allen Gliedern sehr entkräfftet«. Sie starb rund zehn Wochen nach ihrer Aufnahme. Da Krebs damals insbesondere mit stinkendem geschwürigem Zerfall assoziiert (und deshalb, in Form von Brust- und Gebärmutterkrebs, vorwiegend bei Frauen diagnostiziert) wurde und solcher Gestank vielfach noch als Quelle einer »Ansteckung« oder »Infektion« gefürchtet war, könnte es aber auch sein, dass Krebskranke ähnlich wie die Syphilitiker und andere Patienten mit »ansteckenden« Hautläsionen bevorzugt in das Sebastiansspital eingeliefert wurden. Diagnose Frauen Männer Gesamt Letalität Auszehrung, Schwindsucht, Lungensucht, 75 53 128 81 % Stecken in der Brust, Blutsturz Wassersucht 22 6 28 89 % Schwellungen, insbes. von Füßen und/oder 35 12 47 60 % Armen Schlag, Schlaganfall, Lähmung 15 11 26 85 % Alter, Entkräftung, matt, unvermöglich 62 14 76 87 % Hunger 11 2 13 54 % Nervenkrankheit, Nervenumstände, Melan- 22 3 25 56 % cholie, schwere Krankheit (Epilepsie), messen auch um sehr plötzliche, dramatische Erkrankungen anderer Art, etwa einen Herzinfarkt, gehandelt haben. Franz Steiner Verlag
Europas ältestes Sterbehospiz? 169 Kopfschwäche, Kopfschmerzen gynäkologische Leiden (»weibliche Um- 17 17 59 % stände«, »Mutterwesen«) Fieberkrankheiten 5 3 8 25 % Gicht, Gliederkrankheit, »contract« 23 9 32 53 % Wunden, Knochenbrüche, Verbrennungen, 20 6 26 69 % Leibschäden, Vorfälle offene Schäden, Geschwüre, Beulen 47 16 63 56 % Schmerzen 4 4 25 % sonstige64 14 3 17 29 % ohne Angabe 8 2 10 70 % Gesamt 380 140 520 70,4 %65 Open Access Download von der Verlag Österreich eLibrary am 05.06.2022 um 10:12 Uhr Tab. 1: Aufnahmediagnosen und Sterblichkeit 1770-1800 Das Zahlenverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Patienten war sehr unausgeglichen. Frauen stellten mit 404 von 556 Aufnahmen die weit überwiegende Mehrheit. Dies gilt mehr oder weniger ausgeprägt für alle Diagnosegruppen. Abgesehen von den »gynäkologischen« Fällen war der Anteil der Frauen bei den »unvermöglichen«, »alten« und »entkräfteten« Patienten sowie in der relativ kleinen Gruppe der »Nervenkranken« beson- ders hoch. Dagegen lag der Anteil der Männer bei den »Schwindsüchtigen« und »Ausgezehrten« und bei den – manchmal womöglich verletzungsbe- dingten – Geschwüren und offenen Schäden und in der (insgesamt kleinen) Zahl von Fieberkranken höher als in den übrigen Gruppen. Die Gründe für den hohen Anteil weiblicher Patienten lassen sich nur ver- muten, denn im weiteren Sinne »gynäkologische« Leiden hatten daran mit insgesamt 17 Aufnahmen nur einen geringen Anteil. Vermutlich lagen die Gründe in der größeren sozialen und wirtschaftlichen Vulnerabilität insbe- sondere älterer Frauen. Die Pflege und Versorgung von Schwerkranken und Sterbenden war oft eine schwere Belastung, zeitlich, finanziell und emotio- nal. Wahrscheinlich konnten sich selbst Männer aus den ärmsten Schichten bei Verwitwung im Durchschnitt leichter erneut verheiraten als Frauen und sich so eine häusliche Versorgung bis ans Lebensende sichern.66 Die durchschnittliche Liegezeit der Patienten ähnelte weit mehr der in pri- mär kurativ ausgerichteten Häusern als jener in Hospitälern des traditionel- len, multifunktionalen Typs. Sie war vergleichsweise kurz. Fast zwei Drittel 64 Hierunter fallen vereinzelte, auch ausgefallene Diagnosen wie »durch Schrecken« oder »verunreinigtes Geblüt«. 65 Die geringfügige Diskrepanz zur oben genannten Mortalität von knapp 70 % bei 526 Patienten ergibt sich daraus, dass sich die Zahl hier auf die Gesamtzahl der Aufnah- men – und nicht auf die etwas niedrigere Zahl der individuellen, teilweise mehrfach aufgenommenen Patienten – bezieht, aber wiederum abzüglich jener, die das Haus vorzeitig verließen oder verlegt wurden. 66 Leider verzeichnen die Aufnahmebücher nicht systematisch, ob die Patienten ledig, verheiratet oder verwitwet waren. Franz Steiner Verlag
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