Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik

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Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
SWP-Studie

  Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.)

Facetten des Nordkorea-Konflikts
         Akteure, Problemlagen und Europas Interessen

                                                   Stiftung Wissenschaft und Politik
                                                               Deutsches Institut für
                                                Internationale Politik und Sicherheit

                                                                      SWP-Studie 18
                                                                     September 2018
Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
Kurzfassung

Auch nach dem Gipfeltreffen von US-Präsident Donald Trump und Nord-
koreas Staatschef Kim Jong Un am 12. Juni 2018 in Singapur zählt die Krise
um Nordkoreas Atom- und Massenvernichtungswaffenprogramm zu den
gefährlichsten und komplexesten der Welt. Im Zentrum des Konflikts steht
das ungeklärte, angespannte Verhältnis zwischen Nordkorea und den USA,
fokussiert auf das Thema Atomwaffenbesitz. Darum gruppieren sich weitere
Konfliktlagen, die durch gegenläufige Interessen Chinas, Japans, Nordkoreas,
Russlands, Südkoreas und der USA gekennzeichnet sind. Zudem gibt es etwa
zwischen Konfliktlagen in der Sicherheits-, Menschenrechts- und Wirt-
schaftspolitik vielfältige Wechselwirkungen.
   Für Deutschland und Europa ist eine friedliche Lösung des Konflikts –
oder zumindest die Vermeidung einer militärischen Eskalation – von zen-
traler Bedeutung. Europa kann und sollte darauf hinwirken, dass Nordkorea
als Herausforderung für die globalen Ordnungsstrukturen behandelt wird.
Eine Bearbeitung der unter den Begriff »Nordkorea-Konflikt« subsumierten
Problemlagen, die darauf zielt, einen Krieg zu vermeiden, die globalen Ord-
nungsstrukturen zu festigen und die Situation der Menschen in Nordkorea
zu verbessern, erfordert einen langen Atem und wird nur schrittweise
Erfolge zeitigen.
Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
SWP-Studie

Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.)

Facetten des Nordkorea-Konflikts
Akteure, Problemlagen und Europas Interessen

                                                  Stiftung Wissenschaft und Politik
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                                                                     SWP-Studie 18
                                                                    September 2018
Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
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ISSN 1611-6372
Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
Inhalt

5    Problemstellung und Schlussfolgerungen          46   Nichtverbreitung:
                                                          Einhegung eines Regelbrechers
7    Interessen, Interdependenzen und ein
                                                          Oliver Meier
     gordischer Knoten
     Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier            52   Menschenrechtspolitik:
                                                          Kein Trade-off erforderlich
12   Nordkorea:
                                                          Hanns Günther Hilpert / Frédéric Krumbein
     Zwischen Abwehrpolitik und Einflussstreben
     Eric J. Ballbach                                57   Diplomatie:
                                                          Immer wieder neu auf »Los«!
19   Südkorea:
                                                          Volker Stanzel
     Zwischen allen Stühlen oder an allen Tischen?
     Hanns Günther Hilpert / Elisabeth Suh           63   Sanktionen:
                                                          Entwicklung, Bedeutung, Ergebnisse
25   USA:
                                                          Hanns W. Maull
     Zwischen den Extremen
     Marco Overhaus                                  69   Militärische Optionen:
                                                          Risikoreich und (zu) wenig erfolgversprechend
30   China:
                                                          Michael Paul
     Zwischen Schlüsselrolle und Marginalisierung
     Anny Boc / Gudrun Wacker                        75   Cyberspace:
                                                          Asymmetrische Kriegführung und digitale Raubzüge
35   Russland:
                                                          Matthias Schulze
     Ein möglicher Vermittler?
     Margarete Klein                                 80   Mikado statt gordischer Knoten:
                                                          Der Nordkorea-Konflikt und die Rolle Europas
41   Japan:
                                                          Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier
     Im Abseits
     Hanns Günther Hilpert / Elli Pohlkamp           92   Anhang
                                                     92   Abkürzungen
                                                     93   Die Autorinnen und Autoren

                                                          Verzeichnis der Karten und Grafiken

                                                      4   Karte 1 Nord- und Südkorea im regionalen Umfeld
                                                     11   Grafik 1 Die Entwicklung des Konflikts um das
                                                                   nordkoreanische Nuklearprogramm
                                                     49   Grafik 2 Nordkoreanische Atomtests,
                                                                   Oktober 2006 bis September 2017
                                                     72   Grafik 3 Nordkoreas ballistische Raketen
                                                     83   Grafik 4 Nordkoreanische Raketentests 1984–2017

                                                                Online-Dossier zur SWP-Studie
                                                                http://bit.ly/SWP18TDNK_Einleitung
Facetten des Nordkorea-Konflikts - SWP-Studie Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier (Hg.) - Stiftung Wissenschaft und Politik
Karte 1

Nord- und Südkorea im regionalen Umfeld
Problemstellung und Schlussfolgerungen

Facetten des Nordkorea-Konflikts.
Akteure, Problemlagen und Europas
Interessen

Die Krise um Nordkoreas Atom- und Massenvernich-
tungswaffenprogramm zählt auch nach dem Gipfel-
treffen von US-Präsident Donald Trump und Nord-
koreas Staatschef Kim Jong Un am 12. Juni 2018 in
Singapur zu den gefährlichsten und komplexesten
der Welt. Die Risiken einer militärischen Eskalation
sind immens, angesichts der Involvierung von vier
Atommächten ist der Einsatz von Kernwaffen nicht
auszuschließen. Aber selbst unterhalb der Schwelle
zur offenen Gewaltanwendung bleibt der Konflikt
brisant. Nordkorea fordert die internationale Gemein-
schaft offen und direkt heraus, indem es Beschlüsse
des UN-Sicherheitsrats sowie andere globale Normen
und Regeln ignoriert. Die Weiterverbreitung von
Waffen und Waffentechnologie droht Instabilitäten
in anderen Weltregionen zu verschärfen. Die Glaub-
würdigkeit des nuklearen Nonproliferationsregimes
steht infrage. Asymmetrische Strategien wie nord-
koreanische Cyber-Angriffe und -Raubzüge stellen die
Staatengemeinschaft vor neue Herausforderungen.
   Die Trump-Administration strebt eine nachhaltige
Konfliktlösung auf der Grundlage einer Einigung auf
höchster politischer Ebene zwischen Pyongyang und
Washington an. Ein solcher Dialog ist eine wichtige,
aber keine ausreichende Voraussetzung für eine
nachhaltige Bearbeitung des Konflikts. Denn im Nord-
korea-Konflikt verbinden sich verschiedene Problem-
konstellationen zu einer unübersichtlichen Gemenge-
lage. Diese zu entwirren erfordert ein schrittweises
Vorgehen, bei dem die divergierenden Interessen der
beteiligten Akteure und deren historische Sensitivi-
täten zu berücksichtigen sind.
   Zwar steht im Zentrum des Konflikts die ungelöste
Frage des Verhältnisses zwischen Nordkorea und den
USA, fokussiert auf das Thema Atomwaffenbesitz.
Pyongyang sieht seine eigene Sicherheit dadurch
gewährleistet, dass es die Vereinigten Staaten nuklear
abschrecken kann. Washington ist hingegen nicht
bereit, eine gegenseitige Verwundbarkeit zu akzeptie-
ren, und droht mit militärischer Eskalation.
   Um diesen Gegensatz gruppieren sich jedoch an-
dere Konfliktlagen, die durch gegenläufige Interessen
Chinas, Japans, Nordkoreas, Russlands, Südkoreas

                                               SWP Berlin
                          Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                          September 2018

                                                        5
Problemstellung und Schlussfolgerungen

             und der USA gekennzeichnet sind. Die Anrainer-            würde ein militärischer Konflikt auch erhebliche
             staaten verfolgen den Konflikt zwischen Pyongyang         sicherheitspolitische Verwerfungen mit sich bringen.
             und Washington nicht nur wegen der unmittelbaren          Ostasien könnte dauerhaft zum Krisengebiet werden.
             Auswirkungen eines möglichen Kriegs, sondern auch         Europas Allianzbeziehungen zu den USA wären tan-
             im Hinblick auf ihre eigenen außen- und sicherheits-      giert, etwa wenn der Nato-Verteidigungsfall aktiviert
             politischen Interessen mit Sorge. Chinas Großmacht-       wird.
             ambitionen werden durch ein nuklearisiertes Nord-            Europa und Deutschland sind in Ostasien keine
             korea herausgefordert und würden durch eine mili-         Akteure, die unmittelbar auf das Konfliktgeschehen
             tärische Eskalation mit anschließender Wieder-            einwirken könnten. Europa hat aber Möglichkeiten,
             vereinigung unter südkoreanisch-amerikanischen            indirekt auf die am Konflikt beteiligten Mächte
             Vorzeichen einen Rückschlag erleiden. Südkorea, das       Einfluss zu nehmen. Es kann europäische Erfahrun-
             besonders exponiert ist und innerkoreanisch Aus-          gen mit der Bewältigung von Konflikten einbringen,
             söhnung und Entspannung anstrebt, versucht einen          es kann durch politische, ökonomische und huma-
             Dialog zwischen den USA und Nordkorea zu fördern,         nitäre Angebote positive Anreize geben. Es sollte
             ohne gleichzeitig die Beziehungen zu anderen Par-         die USA vor militärischen Antworten warnen und
             teien zu beschädigen. Russland ist zwar direkt in         gegenüber China die Umsetzung der im UN-Sicher-
             Ostasien präsent, sieht seine Politik im Nordkorea-       heitsrat vereinbarten Sanktionen anmahnen.
             Konflikt aber eher als abhängige Variable seiner             Europa vermag seinen wirtschaftlichen und politi-
             Beziehungen zu den USA. Eine Vermittlerrolle strebt       schen Einfluss geltend zu machen, um Drittstaaten
             Moskau wohl nur unter bestimmten Umständen an.            zu einer strikten Umsetzung von Sanktionsbeschlüs-
                Die totalitäre Herrschaftsform Nordkoreas, die         sen zu drängen. Europa kann und sollte darauf hin-
             katastrophale Menschenrechtslage in dem Land und          wirken, dass Nordkorea als Herausforderung für die
             die mangelnde Transparenz sind weitere Hindernisse        globalen Ordnungsstrukturen behandelt wird. Teil-
             für eine friedensfördernde Einbindung Nordkoreas in       und Zwischenlösungen mit Pyongyang mögen not-
             internationale Zusammenhänge.                             wendig sein, um den Konflikt zu entschärfen. Dabei
                Auch historische Hypotheken erschweren eine            muss aber vermieden werden, dass solche Lösungen
             Konfliktlösung. Altlasten aus Kolonialzeit, Korea-        die in multilateralen Regimen vereinbarten Normen
             Krieg und Kaltem Krieg bestimmen noch heute die           und Regeln beschädigen. Eine faktische Anerkennung
             Wahrnehmungen und beschränken die Handlungs-              der Tatsache, dass Nordkorea über Atomwaffen ver-
             möglichkeiten wichtiger Akteure. So bringen bei-          fügt, kann beispielsweise eine unvermeidliche Vor-
             spielsweise Japans historisch belastete Rolle in Korea,   aussetzung für die Einigung auf einen Abrüstungs-
             die nicht abschließend geklärte Frage der von Nord-       prozess sein. Eine formelle Aufwertung Nordkoreas
             korea verschleppten japanischen Staatsbürger und          zum Atomwaffenstaat würde aber das Nichtverbrei-
             die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA        tungsregime dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen.
             Tokio in eine prekäre Position.                           Auch in der Menschenrechtspolitik ist Europa gefor-
                Zudem gibt es zwischen den verschiedenen Kon-          dert, den Druck auf Nordkorea sichtbar und nach-
             fliktlagen vielfältige Interferenzen. Solche Wechsel-     haltig aufrechtzuerhalten, diesen Komplex aber zu-
             wirkungen, etwa zwischen Sicherheits-, Menschen-          gleich von den sicherheitspolitischen Fragen strikt
             rechts- und Wirtschaftspolitik, können beabsichtigt       zu trennen.
             sein (etwa wenn Sanktionserleichterungen als An-             Es spricht viel dafür, dass eine Bearbeitung der
             reize für Abrüstungsbemühungen in Aussicht gestellt       unter dem Begriff »Nordkorea-Konflikt« subsumierten
             werden) oder unbeabsichtigt (etwa wenn Sicherheits-       Problemlagen, die darauf zielt, einen Krieg zu ver-
             garantien gegenüber Nordkorea zu einer Schwächung         meiden, die globalen Ordnungsstrukturen zu festigen
             von Allianzen der USA mit Verbündeten führen).            und die Situation der Menschen in Nordkorea zu ver-
                Für Deutschland und Europa ist eine friedliche         bessern, langen Atem erfordert und nur schrittweise
             Lösung des Konflikts – oder zumindest die Vermei-         erfolgreich sein wird. Der von der Trump-Administra-
             dung einer militärischen Eskalation – von zentraler       tion in Singapur eröffnete politische Dialog mit Nord-
             Bedeutung. Die Folgen eines Kriegs in Korea wären in      korea kann einen solchen Prozess befördern. Aus-
             Europa zu spüren. Neben den ökonomischen Impli-           reichen dürfte er nicht.
             kationen einer militärischen Auseinandersetzung in
             einer der wirtschaftlich bedeutendsten Weltregionen

             SWP Berlin
             Facetten des Nordkorea-Konflikts
             September 2018

             6
Interessen, Interdependenzen und ein gordischer Knoten

Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier

Interessen, Interdependenzen und ein
gordischer Knoten

Am 12. Juni 2018 trafen in Singapur zum ersten Mal                   So bleibt zunächst nur die Hoffnung, dass der
die Staats- und Regierungschefs der Demokratischen                präzedenzlose Versuch, einen seit mehr als einem
Volksrepublik Korea (DVRK) und der Vereinigten Staa-              halben Jahrhundert andauernden Konflikt durch die
ten von Amerika aufeinander. Die Einschätzungen                   Aufnahme von Gesprächen auf höchster Ebene zu
über die Ergebnisse des historischen Gipfeltreffens               entschärfen oder vielleicht sogar dauerhaft zu lösen,
von Kim Jong Un und Donald Trump könnten weiter                   erfolgreich sein wird. Ein solcher Durchbruch käme
nicht auseinanderklaffen. Während der US-Präsident                dem sprichwörtlichen Durchschlagen eines gordi-
von einem Durchbruch sprach und auf der Heimreise                 schen Knotens gleich. Denn bei dem gemeinhin als
twitterte, dass es nun keine nukleare Bedrohung                   Nordkorea-Konflikt bezeichneten Problem handelt es
durch Nordkorea mehr gebe, 1 vermissen andere in                  sich tatsächlich um einen ganzen Komplex vielfälti-
der kargen Schlusserklärung des Gipfels 2 Substanz                ger, ineinander verschachtelter Problemlagen. Die
und Perspektive. Sie beklagen, dass Nordkorea ohne                unterschiedlichen Interessen der beteiligten Akteure,
eigene Gegenleistung eine immense politische Auf-                 die historischen Hypotheken zwischen ihnen kom-
wertung erfahren habe, und verweisen darauf, dass                 plizieren die Auflösung dieser Konfliktlagen.
Pyongyang keine konkreten Abrüstungsschritte in                      Bei all dem ist klar: Die Bedeutung dieses multi-
Aussicht stellt. Wie der weitere politische Prozess               dimensionalen Konflikts für Sicherheit und Welt-
verlaufen solle, in dem solche Schritte vereinbart                frieden ist kaum zu überschätzen. Zunächst geht es
werden könnten, sei unklar. 3                                     um die Situation der Menschen in Nordkorea, deren
                                                                  Recht auf ein sicheres und gutes Leben die eigene
  1 Donald J. Trump, twitter.com, 13.6.2018,  (Zu-            Koreas ist zudem eine unbearbeitete Hinterlassen-
  griff am 10.8.2018).                                            schaft des Kalten Kriegs, die nach wie vor Ursache für
  2 The White House, »Joint Statement of President Donald J.      Spannungen ist. Die koreanische Halbinsel ist eine
  Trump of the United States of America and Chairman Kim
                                                                  der am stärksten militarisierten Regionen der Welt.
  Jong Un of the Democratic People’s Republic of Korea at
                                                                  Nordkorea bedroht durch seine Raketen und Massen-
  the Singapore Summit«, Sentosa Island, Singapur, 12.6.2018,
                                                                  vernichtungswaffen zudem die Staaten in der Region.
   (Zugriff am 1.7.2018).                        nen ein Sicherheitsrisiko dar. Nordkoreanische Rake-
  3 Siehe beispielsweise die Aussagen der Sachverständigen        ten können auch Nordamerika und Europa erreichen.
  Michael Green (Center for Strategic and International           Nordkoreas asymmetrische militärische Aktivitäten,
  Studies) und Bruce Klingner (The Heritage Foundation) in        etwa im Cyber-Raum, stellen die globale Sicherheit
  einer Anhörung des Kongressausschusses für Auswärtige           vor eine komplexe und neuartige Herausforderung.
  Angelegenheiten am 20.6.2018: House Foreign Affairs                Schließlich droht die Gefahr, dass die fortgesetzten
  Subcommittee on Asia and the Pacific Hearing (Hg.), »The        und schweren Verletzungen multilateraler Regel-
  Trump-Kim Summit: Outcomes and Oversight«, Testimony
                                                                  werke die Effektivität und Legitimität internationaler
  by Michael Green, Senior Vice President for Asia, Japan
                                                                  Ordnungsstrukturen unterminieren. Seit mehr als 20
  Chair, Center for Strategic and International Studies, Testi-
                                                                  Jahren provoziert Pyongyang beispielsweise die inter-
  mony by Bruce Klingner, Senior Research Fellow for North-
  east Asia, Asian Studies Center, Washington D.C.: The Heri-
                                                                  nationale Gemeinschaft, indem es sich weigert, Be-
  tage Foundation, 20.6.2018.                                     schlüssen des UN-Sicherheitsrats Folge zu leisten.

                                                                                                                  SWP Berlin
                                                                                             Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                                                                                             September 2018

                                                                                                                           7
Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier

             Dabei versucht Nordkorea immer wieder, den Kon-                        Dynamik geführt, deren Folgen momentan noch
             flikt zwischen China und USA zu seinen Gunsten                         schwer abzuschätzen sind.
             auszunutzen. Die Einigkeit der internationalen Ge-                         Angesichts der Vielschichtigkeit des Nordkorea-
             meinschaft, insbesondere ein koordiniertes Vorgehen                    Konflikts und der hier skizzierten Unterschiede im
             der relevanten Großmächte und der regionalen Nach-                     Gesellschafts- und Politikverständnis der Beteiligten
             barn Nordkoreas, ist aber Voraussetzung für eine                       ist es für die wissenschaftliche Analyse umso wich-
             friedliche Bearbeitung des Konflikts.                                  tiger, die unterschiedlichen Interessen und Strategien
                                                                                    der relevantesten Akteure im Blick zu behalten und
                                                                                    den Konflikt nicht auf den Umgang mit Nordkoreas
             Der Blick auf Nordkorea                                                Atomwaffen- und Raketenprogrammen zu verkürzen.
                                                                                    Die hier versammelten Beiträge verschiedener Auto-
             Bei all dem ist Nordkorea nicht der irrationale                        rinnen und Autoren leuchten die Problemlagen,
             Eremitenstaat, als der er gelegentlich geschildert                     die unter dem Sammelbegriff »Nordkorea-Konflikt«
             wird. Mit seiner Politik versucht Pyongyang zwar,                      gebündelt werden, denn auch aus unterschiedlichen
             externe gesellschaftliche Einflüsse zu minimieren,                     Blickrichtungen aus. Sie betrachten die Problematik
             aber sie ist nicht isolationistisch. 4 Doch auch wenn                  des Umgangs mit Nordkorea zunächst aus der Per-
             Teile der politischen Führung immer wieder inter-                      spektive relevanter Staaten und deren Interessen.
             nationale Kontakte hatten und haben, sind die Ent-                     Der zweite Teil ist einzelnen Problem- und Konflikt-
             scheidungsträger anders sozialisiert als ihre Gegen-                   feldern gewidmet.
             über in den meisten anderen Staaten. Die DVRK, ein                         Dabei durchziehen zwei Fragen als rote Fäden die
             totalitäres Staats- und Gesellschaftssystem unter der                  jeweiligen Analysen: (1) Welche Interessen der betei-
             Herrschaft einer Familiendynastie, nunmehr in der                      ligten Akteure müssen berücksichtigt werden, um
             dritten Generation, hat eine einzigartige Regierungs-                  Fortschritte in Richtung einer nachhaltigen und um-
             form herausgebildet.                                                   fassenden friedlichen Konfliktlösung zu erreichen?
                Die politische Führung betrachtet die internatio-                   Und wie verlaufen die Konfliktlinien in den betref-
             nale Ordnung allein nach Maßgabe harter, macht-                        fenden Konfliktfeldern? (2) Welche europäischen
             politischer Kriterien. Militärische Fähigkeiten und                    Interessen sind betroffen und welche Instrumente
             ihre glaubwürdige Zurschaustellung genießen für                        kann Europa nutzen, um zu einer friedlichen Lösung
             Nordkorea eine Bedeutung, die vielen im Westen                         des Konflikts beizutragen?
             anachronistisch erscheint. Die Tatsache, dass Nord-                        Diese Studie wird ergänzt durch ein Themen-
             korea als erster und einziger Staat überhaupt aus dem                  dossier auf der SWP-Webseite (http://bit.ly/SWP18
             nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) und der                       TDNK_Einleitung). Dort finden sich die Beiträge dieser
             Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO)                        Studie, andere Analysen aus der SWP und weiterfüh-
             austrat, ist ein Indiz dafür, dass Pyongyang zu inter-                 rende Informationen. Durch Einscannen der in den
             nationalen Absprachen und Verträgen ein instrumen-                     Beiträgen eingefügten QR-Codes ist es möglich, direkt
             telles Verhältnis hat.                                                 zu den entsprechenden Abschnitten des Themendos-
                Dem Schutz der Menschenrechte misst die Regie-                      siers zu gelangen.
             rung allenfalls eine untergeordnete Rolle zu. Sie ist
             aber durchaus an einer guten ökonomischen Ent-
                                                                                              Online-Dossier zur SWP-Studie
             wicklung des eigenen Landes interessiert, sicherlich
                                                                                              http://bit.ly/SWP18TDNK_Einleitung
             auch, um die eigene Machtposition zu stärken. 5 Dies
             hat zu einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen

                 4 Eric J. Ballbach, »North Korea’s Engagement in Inter-            Eine kurze Geschichte des
                 national Institutions: The Case of the ASEAN Regional              Nordkorea-Problems
                 Forum«, in: International Journal of Korean Unification Studies,
                 26 (2017) 2, S. 35–65.                                             Die Beiträge dieser Studie nehmen überwiegend
                 5 Rüdiger Frank, »Die Wirtschaft Nordkoreas: Status und
                                                                                    Bezug auf die aktuelle Konflikt- und Interessen-
                 Potenzial, Reformen und Gegenreformen«, in: Eun-Jeung Lee
                                                                                    konstellation. Die Krise zwischen Pyongyang und
                 (Hg.), Länderbericht Korea, Bonn 2015 (Schriftenreihe Bundes-
                                                                                    Washington ist im Kern sicherheitspolitischer Natur:
                 zentrale für politische Bildung, Bd. 1577), S. 551–573.

             SWP Berlin
             Facetten des Nordkorea-Konflikts
             September 2018

             8
Interessen, Interdependenzen und ein gordischer Knoten

Nordkorea sieht seine Sicherheit durch die USA                        nen und einen Friedensvertrag schließen. Die IAEO
bedroht und glaubt, Angriffe auf die staatliche Sou-                  verifizierte das »Einfrieren« des Nuklearprogramms.
veränität nur nuklear abschrecken zu können. Die                         Die zweite Nuklearkrise begann Anfang der 2000er
USA und deren Verbündete in der Region sind nicht                     Jahre, nach der Wahl von George W. Bush zum US-
bereit, Nordkorea eine solche Abschreckungsfähigkeit                  Präsidenten. Er zählte Nordkorea zusammen mit dem
zuzugestehen. 6                                                       Irak und dem Iran zu einer »Achse des Bösen« und
   Der gegenwärtige Konflikt hat seine Ursache im                     konfrontierte das Land 2002 mit der Anschuldigung,
Korea-Krieg (1950–53). Dieser Konflikt zementierte                    es betreibe geheime Anlagen zur Urananreicherung.
die Teilung Koreas in ein mit den USA verbündetes                     Nordkorea erklärte daraufhin erneut und letztmalig
Südkorea (Republik Korea, RK) und das mit der So-                     seinen Austritt aus dem NVV. Um den Konflikt zu
wjetunion verbündete, heute aber unabhängige                          entschärfen und friedlich zu lösen, trafen sich nebst
Nordkorea. Anders als Deutschland konnte Korea die                    Nordkorea und den USA die Länder Südkorea, China,
Teilung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht                    Japan und Russland zu mehrjährigen Sechsparteien-
überwinden. 1992 ertappte die IAEO Nordkorea bei                      gesprächen (2003–2007). Die gemeinsamen Erklä-
dem Versuch, die Abtrennung von Plutonium zu                          rungen vom September 2005 und Februar 2007 sahen
verheimlichen. Pyongyang verweigerte Sonderinspek-                    mit der Vereinbarung der nuklearen Abrüstung Nord-
tionen der Atombehörde und kündigte 1993 erstmals                     koreas im Austausch gegen Hilfslieferungen und
seinen Austritt aus dem NVV an (den das Land dann                     Sicherheitsgarantien eine Beilegung des Konfliktes
kurze Zeit später »suspendierte«). Die erste Nuklear-                 vor. Auch damals versuchten die Teilnehmer gar
krise kulminierte 1994 in der nordkoreanischen                        nicht erst, Einvernehmen in der Frage des Atom-
Drohung, Plutonium aus abgebrannten Brennstäben                       machtstatus Nordkoreas herzustellen. Dennoch wur-
abzutrennen. 7 Der ehemalige US-Präsident Jimmy                       den die Vereinbarungen der sechs Parteien nicht um-
Carter entschärfte den Konflikt bei einem Besuch in                   gesetzt. Die DVRK führte ihre Anstrengungen in der
Pyongyang und bereitete damit den Abschluss des                       ballistischen und nuklearen Aufrüstung fort und
Rahmenabkommens von 1994 (Agreed Framework)                           erklärte im April 2009 in Reaktion auf die Verurtei-
vor. 8 Dieses Abkommen war nur möglich, weil die                      lung eines Raketentests durch den UN-Sicherheitsrat,
USA nicht auf die Klärung des nordkoreanischen                        es werde nicht mehr an den Sechsparteiengesprächen
Atommachtstatus drängten. Nordkorea verpflichtete                     teilnehmen.
sich zum Verzicht auf nukleare Rüstung und erhielt                       Bereits mit dem ersten nordkoreanischen Atomtest
im Gegenzug Zusagen für die Lieferung von 500 000                     2006 war der Konflikt in eine neue Phase eingetreten,
Tonnen Heizöl jährlich und für den Bau von zwei                       in der die internationale Gemeinschaft weiter auf
Leichtwasserreaktoren, wozu eigens die Korean Pen-                    der umfassenden, irreversiblen und verifizierbaren
insula Energy Development Organization (KEDO)                         nuklearen Abrüstung Nordkoreas bestand, sich die
gegründet wurde. In langfristiger Perspektive wollten                 Aussichten für eine solche Lösung aber in dem Maße
beide Seiten sich gegenseitig diplomatisch anerken-                   verschlechterten, wie das nordkoreanische Atom-
                                                                      programm Fortschritte machte. Die Politik der »stra-
                                                                      tegischen Geduld« von US-Präsident Barack Obama
                                                                      war faktisch das Eingeständnis, dass der internatio-
  6 Siehe etwa Hanns Günther Hilpert/Oliver Meier, Kurs-
                                                                      nalen Gemeinschaft die Mittel fehlten, um die ge-
  korrektur im Umgang mit Nordkoreas Atomprogramm? Verhand-
  lungsoptionen im Lichte des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages,
                                                                      wünschte umfassende Abrüstung herbeizuführen.
  Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Juli 2013 (SWP-             Wir befinden uns gegenwärtig in der dritten
  Aktuell 31/2013),  (Zugriff             eigenen Nuklearwaffenstatus forciert. Seitdem Kim
  am 6.6.2018).                                                       Jong Un 2011 die Macht in Nordkorea übernommen
  7 Die Typologie der drei Krisen um das nordkoreanische              hat, wurden die Atom- und Raketenprogramme
  Atomprogramm ist zu finden in: Robert S. Litwak, Preventing         beschleunigt. 2017 erprobte das Land erfolgreich drei
  North Korea’s Nuclear Breakout, Washington, D.C.: Wilson            Langstreckenraketen, die theoretisch US-amerika-
  Center, Februar 2017.
  8 KEDO, Agreed Framework between the United States of Ame-
  rica and the Democratic People’s Republic of Korea, in: kedo.org,
  21.10.1994,  (Zugriff am 7.5.2018).

                                                                                                                      SWP Berlin
                                                                                                 Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                                                                                                 September 2018

                                                                                                                               9
Hanns Günther Hilpert / Oliver Meier

             nisches Territorium treffen können. 9 Auf dieser Basis
             verkündete Kim Jong Un in seiner Neujahrsansprache
             am 1. Januar 2018, sein Ziel sei erreicht, die USA
             nuklear abschrecken zu können. 10 Die USA wollen
             eine solche nukleare Abschreckungskapazität nicht
             hinnehmen. Bis Jahresanfang 2018 verfolgte die
             Trump-Administration eine Politik des »maximalen
             Drucks«. Der Singapur-Gipfel markierte öffentlich-
             keitswirksam den Schwenk zur Diplomatie.
                Eröffnet diese Situation die Möglichkeit, die Lage
             auf der koreanischen Halbinsel zu stabilisieren? Oder
             droht im Gegenteil eine Verschärfung der Krise, falls
             die Diplomatie erneut scheitert? Was können wir in
             Europa dazu beitragen, einen Krieg in Korea zu vermei-
             den und die Abrüstung Nordkoreas voranzutreiben?
             Diese Fragen greifen die Autorinnen und Autoren aus
             unterschiedlichen Perspektiven immer wieder auf.

                  9 Hans M. Kristensen/Robert S. Norris, »North Korean
                  Nuclear Capabilities, 2018«, in: Bulletin of the Atomic Scientists,
                  74 (2018) 1, S. 41–51.
                  10 Kim Jong Un, »New Year’s Address«, Pyongyang,
                  nkleadershipwatch.org, 1.1.2018,  (Zugriff am
                  6.6.2018).

             SWP Berlin
             Facetten des Nordkorea-Konflikts
             September 2018

             10
Interessen, Interdependenzen und ein gordischer Knoten

           Die Entwicklung des Konflikts um das nordkoreanische Nuklearprogramm   Grafik 1
Grafik 1

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                                                                                                                      September 2018

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Eric J. Ballbach

               Eric J. Ballbach

               Nordkorea: Zwischen Abwehrpolitik und
               Einflussstreben

               Nordkoreas Nuklearstreben zählt zweifelsohne zu den      obwohl Pyongyangs Versuche, die Unterhaltung eines
               drängendsten Problemen der internationalen Politik.      Nuklearprogramms zu legitimieren, einen stetigen
               Will man dieser Herausforderung realistisch begeg-       Wandlungsprozess durchlaufen.
               nen, ist es essenziell, die Motive zu kennen, die
               Pyongyangs außenpolitischem Vorgehen zugrunde            Diskurswandel im Zuge des
               liegen. Da es keine offizielle Nukleardoktrin Nord-      Irakkriegs 2003
               koreas gibt, lassen sich diese Triebkräfte am ehesten
               durch eine sorgfältige Analyse jenes dynamischen         Bis in die frühen 2000er Jahre betonen nordkorea-
               Diskurses ermitteln, in dem sie zum Tragen kommen.       nische Quellen da capo, dass das Nuklearprogramm
               Welche Grundzüge – und vor allem Wandlungen –            lediglich der Energiegewinnung diene und man nicht
               kann man darin ausmachen? Die Bedeutung des              nach dem Besitz von Nuklearwaffen trachte. Erst der
               Nuklearprogramms für die Machthaber in Pyongyang,        Irakkrieg 2003 markierte hier einen erkennbaren
               das wird dabei deutlich, geht weit über sicherheits-     Wendepunkt, als sich dieses Legitimationsargument
               politische Erwägungen hinaus; es fungiert vielmehr       parallel zur generellen außen- und sicherheitspoli-
               als zentraler Bestandteil sowohl der nationalen Iden-    tischen Strategie des Landes wandelte. Denn seitdem
               titätsbildung als auch der Herrschaftsstabilisierung.    verwies Nordkorea vermehrt auf das »naturgegebene
               Die Regierung in Pyongyang folgt also – entgegen         Recht« zur Produktion von Nuklearwaffen, um den
               der noch immer weit verbreiteten Wahrnehmung             Staat und die Nation vor der »feindlichen Politik«
               Nordkoreas als eines »inhärenten Anderen« – einer        (hostile policies) der USA zu schützen. 1 In einem ent-
               so rationalen wie konsistenten und auf außen- und        sprechenden Agenturbericht aus dem Jahr 2003 wurde
               innenpolitischen Beweggründen basierenden Argu-          ausgeführt, die zentrale Lektion aus dem Irakkrieg
               mentation.                                               laufe auf die Feststellung hinaus, dass ausschließlich
                                                                        eine »gewaltige militärische Abschreckungskraft«
                                                                        einen Krieg auf der koreanischen Halbinsel verhin-
               Nordkoreas Legitimationslinien                           dern und die Sicherheit der koreanischen Nation
               im Wandel                                                wahren könne. 2

               Um Nordkoreas Motive in der Nuklearfrage nachzu-         Nordkoreas nuklearer Durchbruch
               vollziehen, ist es unerlässlich, zuvorderst die von
               Pyongyang selbst postulierten Legitimationslinien im     Einen weiteren wichtigen Wendepunkt sowohl in
               Hinblick auf die eigene Nuklearisierungs-Strategie zu    Nordkoreas außen- und sicherheitspolitischer Stra-
               identifizieren. Dies ist möglich, da Nordkorea in Form
               von Statements der Führung sowie durch konkrete
                                                                          1 Vgl. etwa Institut für die Wiedervereinigung des Vater-
               Gesetzesinitiativen und Rechtsvorschriften regel-
                                                                          landes, »Nordkorea: Zur militärischen Abschreckung berech-
               mäßig über das Nuklearprogramm informiert und die          tigt«, in: Hyondok Choe/Du-Yul Song/Rainer Werning (Hg.),
               eigenen diesbezüglichen Triebfedern zu erkennen            Quo Vadis North Korea? Social Conditions, Development Tendencies,
               gibt. Denn Nordkoreas Erklärungen sind keineswegs,         Perspectives, Köln: PapyRossa, 2003, S. 30, 36.
               wie weithin angenommen, lediglich Propaganda ohne          2 Vgl. »Statement of FM Spokesman Blasts UNSCs Discus-
               analytischen Wert. Stattdessen zeigt sich in diesen        sion of Korean Nuclear Issue«, Korean Central News Agency
               Ausführungen ein hohes Maß an Kohärenz, und dies,          (KCNA), 6.4.2003.

               SWP Berlin
               Facetten des Nordkorea-Konflikts
               September 2018

               12
Nordkorea: Zwischen Abwehrpolitik und Einflussstreben

tegie als auch in dessen zentralen Legitimationsversu-             mals in einem Erstschlag einsetzen oder weiter-
chen stellte Nordkoreas erster Nukleartest im Oktober              verbreiten werde. 4
2006 dar. In einer an nationale wie internationale                    Nach dem ersten Atomtest strich Nordkorea die
Beobachter gerichteten Meldung des nordkoreani-                    historische Signifikanz des Nuklearmachtstatus
schen Außenministeriums präsentierte sich die DVRK                 immer wieder heraus. Der Test wurde entsprechend
als Opfer einer permanenten ausländischen Aggres-                  als nationales Ereignis von größter Bedeutung dar-
sionspolitik, die eine schlagkräftige Verteidigung                 gestellt – als Erfüllung des lange gehegten Wunsches
unabdingbar mache:                                                 nach nationaler und militärischer Stärke. 5 Gleich-
                                                                   wohl – und dies ist eine zentrale Feststellung
  »Ein Volk ohne glaubwürdige militärische Ab-                     hinsichtlich der prinzipiellen Möglichkeit einer
  schreckung wird einen tragischen Tod erleiden                    diplomatischen Lösung der Nuklearfrage – maxi-
  müssen, und die Souveränität seines Landes wird                  mierte Nordkorea den diplomatischen Spielraum
  zwangsläufig mutwillig verletzt werden. [...] Das                durch wiederholte Verweise darauf, dass man dem
  Atomprogramm der DVRK wird als glaubwürdige                      ultimativen Ziel einer vollständig entnuklearisierten
  militärische Abschreckung dienen, um die höchs-                  koreanischen Halbinsel grundsätzlich verpflichtet
  ten Interessen des Staates und der Sicherheit der                bleibe. 6
  koreanischen Nation vor dem drohenden Angriff
  der USA zu schützen, einen neuen Krieg zu verhü-                 Die Institutionalisierung des
  ten und Frieden und Sicherheit auf der koreani-                  Nuklearmachtstatus
  schen Halbinsel unter allen Umständen standhaft
  sicherzustellen. Die DVRK wird als verantwor-                    Während nordkoreanische Ausführungen bis 2008
  tungsbewusste Atommacht ihrer internationalen                    nahelegen, dass der Übergang Nordkoreas zur
  Verpflichtung im Bereich der nuklearen Nicht-                    Nuklearmacht bis zu jener Periode noch revidierbar
  verbreitung jederzeit aufrichtig nachkommen.« 3                  war, so hat sich der interne Diskurs parallel zum
                                                                   außenpolitischen Verhalten des Landes seither maß-
Wie in dem Zitat ersichtlich wird, spielt das Image                geblich verändert.
einer verantwortungsvollen Atommacht neben dem                        Zum einen forcierte Pyongyang die Selbstdarstel-
Bedrohung/Verteidigungs-Nexus eine zentrale Rolle in               lung als »nuclear outlaw«. Nordkorea, so ein Sprecher
Nordkoreas Versuchen, das eigene Nuklearprogramm                   des Außenministeriums, strebe gar nicht danach, von
zu legitimieren. Angesichts der Tatsache, dass sich                der internationalen Gemeinschaft als Atommacht
Nordkoreas Übergang zur Nuklearmacht durch des-                    anerkannt zu werden. Vielmehr gebe man sich mit
sen Austritt aus dem NVV außerhalb internationaler                 dem Stolz und dem Selbstbewusstsein zufrieden, die
Ordnungsstrukturen vollzog, versicherten nordkorea-                Sicherheit der Nation und die Souveränität des Landes
nische Offizielle wiederholt, das Land werde den                   zuverlässig verteidigen zu können. 7 Diese Argumen-
internationalen Nonproliferationsverpflichtungen
nachkommen. Ferner betonte etwa das nordkorea-
                                                                     4 »DPRK Foreign Ministry Spokesman Totally Refutes UNSC
nische Außenministerium im November 2006, dass
                                                                     Resolution«, KCNA, 17.10.2006.
das Nuklearprogramm ausschließlich defensiv aus-
                                                                     5 Vgl. Rodong Sinmun, zitiert in: Jongwoo Nam, The Geo-
gerichtet sei und das Land Nuklearwaffen somit nie-
                                                                     graphical Construction of National Identity and State Interests by
                                                                     a Weak Nation-State: The Dynamic Geopolitical Codes and Stable
  3 »DPRK Foreign Ministry Clarifies Stand on New Measure            Geopolitical Visions of North Korea, 1948–2010, Ph.D. Disser-
  to Bolster War Deterrent«, KCNA, 3.10.2006: »A people with-        tation, University of Illinois, 2012, S. 186.
  out reliable war deterrent are bound to meet a tragic death        6 So betonten etwa auch hochrangige nordkoreanische
  and the sovereignty of their country is bound to be wantonly       Diplomaten, dass eine vollständig entnuklearisierte Halb-
  infringed upon. […] The DPRK’s nuclear weapons will serve          insel zum letzten Wunsch sowohl von Kim Il Sung als auch
  as reliable war deterrent for protecting the supreme interests     von Kim Jong Il zählte. Vgl. »North Korea Repeats Offer for
  of the state and the security of the Korean nation from the        Nuclear Talks«, Reuters, 19.6.2013,  (Zugriff am 19.3.2018).
  plement its international commitment in the field of nuclear       7 KCNA, 24.5.2010, zitiert in: Peter Hayes/Scott Bruce,
  non-proliferation as a responsible nuclear weapons state.«         »North Korean Nuclear Nationalism and the Threat of

                                                                                                                        SWP Berlin
                                                                                                   Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                                                                                                   September 2018

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Eric J. Ballbach

               tationslinie findet sich auch im ersten ausführlichen                 Nordkorea seinen selbsternannten Status als Nu-
               Beitrag zu einer sich sukzessive herauskristallisieren-               klearmacht dann auch konstitutionell. So heißt es in
               den Nukleardoktrin. In einem am 21. April 2010                        der neuen Präambel, dass Kim Jong Il die DVRK in
               veröffentlichten Memorandum, das zudem Auf-                           einen politisch und ideologisch mächtigen Nuklear-
               schluss über Nordkoreas Perzeption der Abschre-                       staat transformiert habe – eine Einschätzung, die
               ckungsdynamik auf der koreanischen Halbinsel gibt,                    sich ebenfalls in »Nuklearwaffen und Frieden« findet,
               heißt es, Nordkorea sei nicht durch die Bestimmun-                    einem der bedeutendsten Texte zu Nordkoreas Nu-
               gen des NVV oder des internationalen Rechts gebun-                    klearstrategie aus der jüngeren Vergangenheit. 11 Die
               den. Als primäre Mission der nuklearen Bewaffnung                     Kernaussage des Textes ist unmissverständlich: Nord-
               wird deutlich die Abwehr von Aggressionen und                         korea hat den Übergang zur Nuklearmacht erfolg-
               Angriffen auf die Nation genannt. Gleichwohl halte                    reich vollzogen, was auch zu einem grundlegenden
               die DVRK ausnahmslos an der Politik fest, Nuklear-                    Wandel von Nordkoreas Status innerhalb der inter-
               waffen nicht gegen Nicht-Atommächte einzusetzen                       nationalen Gemeinschaft geführt habe. In einem von
               bzw. damit zu drohen, solange diese sich nicht in                     der nordkoreanischen Nachrichtenagentur KCNA
               Kooperation mit Nuklearstaaten an einer Invasion                      veröffentlichten Bericht heißt es entsprechend: »Falls
               beteiligen. 8                                                         die DVRK sich mit den USA an einen Tisch setzt, dann
                                                                                     zu einem Dialog zwischen Atommächten, nicht,
                     Seit 2008 verband die interne Propa-                            damit eine Seite die andere dazu zwingt, Atomwaffen
                     ganda Nordkoreas Identität mit dem                              abzubauen.« 12 Diese Darstellungen legen nahe, dass
                      Image eines starken Nuklearstaats.                             der Weg zur Denuklearisierung Nordkoreas aller
                                                                                     Voraussicht nach beschwerlich, komplex und (poli-
                  Zum zweiten betonte Pyongyang nun zusehends                        tisch wie auch ökonomisch) außerordentlich kost-
               die über das Motiv der Sicherheit hinausgehende                       spielig werden wird.
               Bedeutung des Nuklearprogramms. Die interne Pro-                         Seit 2015/16 hat ein weiterer Schlüsselbegriff Ein-
               paganda verband in den kritischen Jahren seit 2008                    zug in den nordkoreanischen Nuklearstaatsdiskurs
               die Identität des nordkoreanischen Staates eng mit                    gehalten: der Präventivschlag. Solche atomaren An-
               dem Image einer starken Nuklearmacht. Insbesondere                    griffe seien demnach eine Option, wenn »imminente
               nach dem Tod Kim Jong Ils 2011 wurde dessen poli-                     Versuche zur Zerstörung Nordkoreas« festgestellt
               tisches Erbe unmittelbar mit dem Status als Atom-                     würden. Li Yong Pil, der Direktor eines dem nord-
               macht fusioniert. 9 Bereits in einem kurz nach Kims                   koreanischen Außenministerium angeschlossenen
               Tod in der Parteizeitung Rodong Sinmun veröffentlich-                 Forschungsinstituts zu Fragen der Beziehungen zur
               ten Beitrag wurde Nordkoreas Übergang zur Nuklear-                    USA, führte etwa aus, dass nukleare Präventivschläge
               macht nicht nur als epochales Ereignis bezeichnet,                    kein Monopol der USA seien: »Sollten wir sehen, dass
               welches in seiner historischen Signifikanz in einer                   die USA uns dies antun, würden wir ihnen zuvorkom-
               Reihe mit dem revolutionären Befreiungskampf von                      men. […] Die Technologie dazu haben wir.« 13
               Kim Il Sung stehe, sondern als ausschließliches und
               bedeutendstes Verdienst Kim Jong Ils gewürdigt. 10
               In einer von der Obersten Volksversammlung 2012
               verabschiedeten Verfassungsänderung kodifizierte
                                                                                       11 Vgl. »Haekkwa p’yŏnghwa« [Nukes and Peace], in:
                                                                                       Rodong Sinmun, 24.4.2013.
                    Nuclear War in Korea«, in: NAPSNet Policy Forum, 21.4.2011,        12 »Rodong Sinmun Urges U.S. to Give Clear Answer to Just
                     (Zugriff am 23.3.2018).                              table with the U.S., it has to be a dialogue between nuclear
                    8 »Foreign Ministry Issues Memorandum on N-Issue«, KCNA,           weapon states, not one side forcing the other to dismantle
                    21.4.2010.                                                         nuclear weapons.«
                    9 Hayes/Bruce, »North Korean Nuclear Nationalism« [wie             13 »North Korea Warns It Would Use Nuclear Weapons
                    Fn. 7]; vgl. auch Eric J. Ballbach, »North Korea’s Emerging        First If Threatened«, NBC News, 16.10.2016,  (Zugriff am 22.3.2018):
                    Studies, 14 (2016) 3, S. 391–414.                                  »A preemptive nuclear strike is not something the U.S. has
                    10 »Kim Jong Il tongjiŭi hyŏngmyŏngyusan« [The Revolu-             a monopoly on. If we see that the US would do it to us, we
                    tionary Legacy of Kim Jong Il], in: Rodong Sinmun, 28.12.2011.     would do it first. […] We have the technology«.

               SWP Berlin
               Facetten des Nordkorea-Konflikts
               September 2018

               14
Nordkorea: Zwischen Abwehrpolitik und Einflussstreben

Nordkoreas Nuklearstreben zwischen                       hung des Landes durch die als aggressiv bezeichnete
innen- und außenpolitischen Motiven                      Außenpolitik der USA betonte Pyongyang immer
                                                         wieder, dass letztlich nur die eigene nukleare Ab-
Die Erfassung von Nordkoreas Motiven im Kontext          schreckungskraft Nordkorea vor einem ähnlichen
der Nuklearfrage wird dadurch erschwert, dass diese      Schicksal wie jenem des Irak oder Libyens bewahrt
Motive augenscheinlich nicht statisch sind. Ungeach-     habe. 14 So betrachtet, sind die regelmäßigen Raketen-
tet dessen erlaubt eine sorgfältige Analyse nord-        und Nuklearwaffentests keine Provokationen, die jeg-
koreanischer Publikationen und Statements die Iden-      licher Rationalität entbehren, sondern ein unverzicht-
tifizierung einiger zentraler Beweggründe, die im        barer und inhärenter Bestandteil dieser Abschre-
Folgenden zusammengefasst werden.                        ckungslogik. Eine glaubhafte Demonstration des eige-
                                                         nen Abschreckungspotenzials nach innen und außen
Das Nuklearprogramm als                                  ist für die Machthaber in Pyongyang umso bedeut-
Sicherheitsprojekt                                       samer, als die Abschreckungslogik nicht mit einer
                                                         externen Anerkennung Nordkoreas als Nuklearmacht
Wie für alle Nuklearmächte ist der Faktor Sicherheit,    einhergeht.
verstanden als Schutz vor militärischen Interventio-
nen und Aufrechterhaltung staatlicher Souveränität       Das Nuklearprogramm als
und Regimestabilität, auch für Nordkorea wesentlich      Identitätsprojekt
für das Streben nach eigener nuklearer Bewaffnung.
Denn in Nordkorea herrscht eine allumfassende und        Die Tatsache, dass immaterielle Faktoren wie natio-
historisch konsistente Bedrohungsperzeption. So sieht    nales Selbstbewusstsein, Prestige und Stolz in den
die Führung das Land in einem Zustand kontinuier-        Texten mehrfach angesprochen werden, lässt bereits
licher Bedrohung von außen, verbunden mit einem          erkennen, dass die Bedeutung der Nuklearwaffen
existenziellen und unablässigen anti-imperialistischen   für die Machthaber in Pyongyang weit über die mili-
Kampf. Neben historischen Erfahrungen wie der japa-      tärische bzw. sicherheitspolitische Dimension hinaus-
nischen Kolonialherrschaft oder des Korea-Krieges        reicht. Bezieht man neben den offiziellen Verlaut-
stützt(e) sich diese Bedrohungsperzeption insbesonde-    barungen die Äußerungen nordkoreanischer Vertre-
re auf die Stationierung taktischer US-amerikanischer    ter in direkten Verhandlungen zum Nuklearprojekt
Nuklearwaffen in Südkorea (zwischen 1958 und 1991),      in die Analyse ein, wird offenkundig, dass die ato-
die seit 1976 (nahezu) jährlich stattfindenden gemein-   mare Bewaffnung für den nordkoreanischen Staat
samen Militärmanöver der USA und Südkoreas sowie         heute als zentrales Identitätsprojekt fungiert – auch
auf die Präsenz von US-Truppen in Ostasien.              wenn dessen Selbstwahrnehmung als »große und
   Die Perzeption einer solchen Bedrohung hat sich       starke Nation« sich zunehmend von der Realität ent-
nach dem Ende des Kalten Kriegs weiter verstärkt.        fernt. Basierend auf der Perzeption, das Land werde
Zum einen führten die Entwicklungen in den späten        seit jeher von allen Seiten bedroht und sei daher in
1980er und frühen 1990er Jahren zum De-facto-            einen dauerhaften anti-imperialistischen Kampf
Kollaps der in den 1960er Jahren abgeschlossenen         eingebunden, ist diese Identitätsbildung für die nord-
Verteidigungsbündnisse Nordkoreas mit Moskau und         koreanischen Machthaber aus mehreren Gründen
Peking. Zum anderen trugen die immer wieder              von herausragender Relevanz.
rhetorisch aufgeheizten (und 1994 sogar bis an den
Rand eines neuerlichen Krieges eskalierenden) Bezie-
hungen zu den USA dazu bei, dass Nordkorea den
Besitz einer nuklearen Abschreckungskraft als un-
abdingbaren Garanten souveräner Existenz betrach-
                                                           14 So machten etwa nordkoreanische Unterhändler gegen-
tet, angesichts der militärischen Überlegenheit der
                                                           über den USA nach deren Invasion im Irak deutlich, dass
USA und ihrer regionalen Verbündeten.                      man deren dortiges Verhalten genau beobachte: »Die Lek-
   Im Umkehrschluss verwies Nordkorea seit 2012            tion, die wir [aus dem Irakkrieg] lernen, lautet, dass […] nur
regelmäßig darauf, dass das Nuklearprogramm »unter         der Besitz einer nuklearen Abschreckungswaffe eine Inva-
den gegebenen Rahmenbedingungen in Ostasien«               sion verhindern kann.« Vgl. Jonathan D. Pollack, No Exit:
für die nordkoreanische Führung nicht (mehr) ver-          North Korea, Nuclear Weapons, and International Security, New
handelbar sei. Angesichts der existenziellen Bedro-        York: Routledge, 2011, S. 141.

                                                                                                             SWP Berlin
                                                                                        Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                                                                                        September 2018

                                                                                                                      15
Eric J. Ballbach

                      Diese Konstruktionen dienen dazu,                               fristig aufrechterhalten werden könnte. Denn auch in
                      dauerhafte Grenzen zwischen dem                                 einem totalitären Staat erfordert die Umsetzung und
                      Selbst und dem Anderen zu ziehen.                               Aufrechterhaltung eines solch kosten- und ressour-
                                                                                      cenintensiven Projekts ein Mindestmaß an innen-
                  Zum einen dienen diese Konstruktionen dem                           politischer Legitimation – insbesondere angesichts
               Zweck, dauerhafte Grenzen zwischen Innen und                           einer Vielzahl dringlicher wirtschaftlicher und
               Außen, dem Selbst und dem Anderen zu ziehen –                          sozialer Herausforderungen.
               sie »schreiben« nordkoreanische Identität und for-
               cieren im Angesicht äußerer Feinde innenpolitische                     Das Nuklearprogramm als
               Geschlossenheit. Solche historisch konsistenten                        historisches Projekt
               Bedrohungsdiskurse durchziehen nach wie vor die
               gesamte staatliche Rhetorik über die USA und tragen                    Dem Nuklearprogramm wird im nordkoreanischen
               so dazu bei, öffentliche Ängste zu normalisieren und                   Diskurs eine herausragende historische Bedeutung
               zu institutionalisieren. Insbesondere in autoritären                   beigemessen. Der Ursprung dieses Motivs liegt in der
               Staaten wie Nordkorea, in denen Bedrohungsdiskurse                     Erfahrung des »nationalen Ruins«, des vollständigen
               strikt hegemonial kontrolliert werden und gleichzei-                   Verlustes staatlicher Unabhängigkeit, Souveränität
               tig die Möglichkeiten freier Informationsgewinnung                     und koreanischer Identität durch die japanische Kolo-
               stark beschränkt sind, entfalten solche Diskurse                       nialherrschaft in Korea (1910–1945). Diese Erfahrung
               Wirkungsmacht. Auf gesellschaftlicher Ebene begün-                     stellt den Ausgangspunkt des nordkoreanischen
               stigen sie die Herausbildung einer »permanenten                        »nation building« dar: Denn neben die Abgrenzung
               Belagerungsmentalität«, welche die nordkoreanische                     von externen Anderen tritt damit jene von der
               Führung als strategischen Bestandteil ihrer Bemühun-                   eigenen Geschichte als ehedem kolonialisierter und
               gen betrachtet, die Gesellschaft und die politische                    militärisch unterlegener Staat. 16 Folglich wird die
               Klasse zusammenzuhalten. 15 Nordkorea kann dem-                        Verhinderung des Verlusts nationaler Unabhängig-
               nach durchaus als »camp society« im Sinne Giorgio                      keit und Souveränität, und zwar mit allen dafür
               Agambens betrachtet werden – als eine Gesellschaft,                    notwendigen Mitteln, als zentrale Lektion aus dem
               in welcher der Ausnahmezustand zum Paradigma des                       Erleben des nationalen Ruins betrachtet, der im
               Regierens wird und ein der Legitimationsstrategie der                  gesellschaftlichen und politischen Diskurs die Rolle
               Führung inhärentes Element darstellt.                                  von Nordkoreas »Nie wieder« einnimmt.
                  Zum anderen werden durch die omnipräsenten                             Von dieser historischen Erfahrung wird eine direkte
               Bedrohungsszenarien angemessene staatliche Reak-                       Linie zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen
               tionen nahegelegt. Repräsentationen von Gefahren                       mit den USA um Nordkoreas Nuklearprogramm
               und Konflikten dienen damit der Rechtfertigung                         gezogen, die von Nordkorea immer wieder als »show-
               politischer Maßnahmen, die darauf abzielen, diese                      down« bezeichnet wird, der über die Souveränität
               Bedrohungen einzuhegen. Der entsprechende Diskurs                      und Unabhängigkeit Nordkoreas entscheide. 17 Da
               betont die Signifikanz sicherheitspolitischer Maß-                     Friede nie garantiert und Krieg nur über Abschre-
               nahmen sowie den Status von Sicherheitsakteuren,                       ckung verhindert werden könne, stelle militärische
               stellt die präferierte Versorgung dieser Akteure mit                   Schlagkraft die einzige Option dar, diese primären
               Ressourcen für bestimmte nationale Projekte – seien                    nordkoreanischen Staatsziele sicherzustellen. 18
               sie ideologisch und/oder politisch – sicher und lenkt                  Indem das Nuklearprogramm innerhalb dieses
               die Öffentlichkeit gleichzeitig von drängenderen sozia-                übergreifenden historischen Bezugssystems verortet
               len Problemen ab. So betrachtet, lassen die Bedro-                     wird, wird die Auseinandersetzung mit den USA zum
               hungskonstruktionen Nordkoreas Nuklearprogramm
               innenpolitisch angemessen und logisch erscheinen.
               Es ist mehr als wahrscheinlich, dass ohne derlei aus-                    16 Vgl. Eric J. Ballbach, »The History of the Present: Foun-
               geprägte Bedrohungs- und Konfliktkonstruktionen                          dational Meta-Narratives in Contemporary North Korean
               das Nuklearprogramm auch in Nordkorea nicht lang-                        Discourse«, in: S/N Korean Humanities, 1 (2015) 2, S. 79–100.
                                                                                        17 Vgl. etwa Ri Jong Chol, Songun Politics in Korea, Pyong-
                                                                                        yang: Foreign Languages Publishing House, 2012, S. 41.
                    15 Selig Harrison, Korean Endgame: A Strategy for Reunification     18 Song Baek Jo, The Leadership Philosophy of Kim Jong Il,
                    and U.S. Disengagement, Princeton: Princeton University Press,      Pyongyang: Foreign Languages Publishing House, 1999,
                    2002, S. xvii.                                                      S. 200.

               SWP Berlin
               Facetten des Nordkorea-Konflikts
               September 2018

               16
Nordkorea: Zwischen Abwehrpolitik und Einflussstreben

gegenwärtigen Kapitel in den Bemühungen Koreas                          politik verstanden werden. 21 Während eine Auto-
um Unabhängigkeit und Souveränität erklärt.                             nomie- oder auch Abwehrpolitik »der Bewahrung
                                                                        oder Stärkung der eigenen Unabhängigkeit von ande-
Das Nuklearprogramm als                                                 ren Staaten« bzw. einer »Abwehr neuer oder der Ver-
Verhandlungsmasse                                                       minderung bestehender Abhängigkeiten von anderen
                                                                        Staaten« dient, versuchen Staaten, durch eine Ein-
In der Vergangenheit diente das Nuklearprogramm                         flusspolitik »bestimmte Interaktionsprozesse mit
den Machthabern in Pyongyang zudem als Möglich-                         anderen Staaten und die daraus hervorgehenden
keit, der internationalen Gemeinschaft Zugeständnisse                   Politikergebnisse in ihrem Sinne zu lenken«. 22 In der
abzuringen. Angewiesen auf externe Hilfe, hat Nord-                     Praxis setzt Nordkorea also dann auf eine Abwehr-
korea wiederholt solche Hilfen mittels außenpoli-                       politik, wenn die Sicherheit des Landes bzw. das
tischer Konfrontation und nuklearer Drohungen                           Überleben des Regimes als gefährdet betrachtet
vom Ausland zu erpressen versucht. Zuletzt hatte sich                   werden oder wenn gegenüber anderen Staaten Auto-
Nordkorea im Februar 2012 im sogenannten Leap Day                       nomiegewinne möglich sind bzw. Autonomieverluste
Agreement zu einem Raketen- und Nukleartestmora-                        drohen. Die wiederholte Nichteinhaltung oder die
torium sowie zur Rückkehr an den Verhandlungs-                          Auflösung bestehender Verpflichtungen aus bi- oder
tisch verpflichtet und dafür im Gegenzug Nahrungs-                      multilateralen Vereinbarungen sowie die Ablehnung
mittelhilfen bekommen. 19 Gleichwohl haben sich die                     neuer Verpflichtungen fallen ebenso darunter wie die
Vorzeichen durch Nordkoreas faktischen Übergang                         grundlegend skeptische Haltung gegenüber Koopera-
zur Nuklearmacht grundlegend verändert. Mehrfach                        tion, welche asymmetrische Interdependenzen, das
betonte Pyongyang seither, dass die nordkoreanischen                    heißt Abhängigkeiten zuungunsten Pyongyangs, zu
Nuklearwaffen nicht mehr verhandelbar seien. Den-                       schaffen oder zu verstärken droht.
noch hat es exakt dies nun im Zuge der jüngsten An-                        Wenn Nordkorea im Kontext der Nuklearfrage
näherung an die internationale Gemeinschaft in Aus-                     hingegen eine Einflusspolitik betreibt, sucht es nach
sicht gestellt, was die Frage aufwirft, wie sich diese                  Mitteln, die geeignet sind, die gewünschte Beeinflus-
wechselhafte Politik erklären lässt.                                    sung zu ermöglichen, zu gewährleisten und auszu-
                                                                        bauen. Gegenüber den mächtigeren Staaten Ostasiens
                                                                        trachtet Pyongyang daher sowohl bilateral als auch
Nordkoreas Außenpolitik in der                                          im Rahmen multilateraler Institutionen danach, sich
Nuklearfrage: Zwischen Autonomie-                                       Mitsprachemöglichkeiten zu sichern. 23
streben und Einflusspolitik

Nordkoreas Außenpolitik in der Nuklearfrage deckt
sich in vielerlei Hinsicht mit der generellen außen-
politischen Strategie des Landes, die auf einer »deut-                    21 Vgl. Eric J. Ballbach, »Between Autonomy and Influ-
lich realpolitischen Sichtweise der Staatenwelt«                          ence? Multilateralism and North Korean Foreign Policy in
                                                                          the Six-Party Talks«, in: Rüdiger Frank u. a. (Hg.), Korea
basiert und in welcher Souveränität und Macht »die
                                                                          2013 – Politics, Economy and Society, Leiden/Boston: Brill, 2013,
zentralen Kategorien in der kognitiven Wahrneh-
                                                                          S. 215–239; Paik Hak-soon, »Die Außenpolitik Nordkoreas:
mung und Bewertung internationaler Zusammen-
                                                                          Autonomie oder Annäherung«, in: Eun-Jeung Lee/Hannes B.
hänge« darstellen. 20 Konkret schlägt sich dies in einer                  Mosler (Hg.), Länderbericht Korea, Bonn: Bundeszentrale für
dualen Strategie aus Autonomiestreben und Einfluss-                       politische Bildung, 2015, S. 497–507.
maximierung nieder, die als zwei Formen von Macht-                        22 Vgl. Rainer Baumann/Volker Rittberger/Wolfgang
                                                                          Wagner, Macht und Machtpolitik: Neorealistische Außenpolitik-
                                                                          theorie und Prognosen für die deutsche Außenpolitik nach der
  19 Vgl. etwa Hanns Günther Hilpert/Oliver Meier, Kurs-                  Vereinigung, Tübingen 1998 (Tübinger Arbeitspapiere zur
  korrektur im Umgang mit Nordkoreas Atomprogramm? Verhand-               internationalen Politik und Friedensforschung, Nr. 30),
  lungsoptionen im Lichte des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages,        (Zugriff am 6.6.2018).
  Aktuell 31/2013).                                                       23 Vgl. grundlegend auch Joseph M. Grieco, »The Maas-
  20 Patrick Köllner, »Nordkoreas Außen- und Sicherheits-                 tricht Treaty, Economic and Monetary Union and the Neo-
  politik im Zeichen der Krisen«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte,     Realist Research Programme«, in: Review of International
  53 (25.8.2003) 35/36, S. 25–31 (26).                                    Studies, 21 (1995) 1, S. 21–40.

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                                                                                                        Facetten des Nordkorea-Konflikts
                                                                                                                        September 2018

                                                                                                                                         17
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