GLOBALE UMORDNUNG - STUDIEN - Rosa-Luxemburg-Stiftung
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STUDIEN MALTE DANILJUK GLOBALE UMORDNUNG GEOPOLITISCHE UND GEOÖKONOMISCHE VERÄNDERUNGEN IM UMFELD DER EU – AKTUELLE KONJUNKTUREN DER ENERGIEPOLITIK
MALTE DANILJUK GLOBALE UMORDNUNG GEOPOLITISCHE UND GEOÖKONOMISCHE VERÄNDERUNGEN IM UMFELD DER EU – AKTUELLE KONJUNKTUREN DER ENERGIEPOLITIK Studie im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
MALTE DANILJUK ist Fellow für Energiepolitik und Geostrategie am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er ist Mitarbeiter der Zeitschrift LuXemburg und arbeitete 2011 und 2012 als Referent für internationale Politik und soziale Bewegungen für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Er veröffentlicht zu den Themen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik unter anderem auf Telepolis und in den Blättern für deutsche und internationale Politik. IMPRESSUM STUDIEN 06/2016 wird herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig V. i. S. d. P.: Stefan Thimmel Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 2194-2242 · Redaktionsschluss: Februar 2016 Illustration Titelseite: Frank Ramspott/iStockphoto Layout/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling
Zusammenfassende Thesen ZUSAMMENFASSENDE THESEN Im Rahmen des Projektes «Geopolitische und geoöko- 3. Der Zuwachs in der nordamerikanischen Förde- nomische Veränderungen im Umfeld der EU» ließ die rung lässt sich eindeutig auf die Ausweitung der un- Rosa-Luxemburg-Stiftung die Ursachen und Auswir- konventionellen Förderverfahren zurückführen, insbe- kungen der aktuellen Umbrüche in der globalen Ener- sondere auf den Einsatz von Fracking. Bisher wurde gielandschaft untersuchen. Im Mittelpunkt stand die dieser Boom zu großen Teilen von mittleren und klei- Frage, ob Zusammenhänge zwischen den verschiede- nen Förderunternehmen getragen. Seit dem Verfall des nen Krisen im Umfeld der Europäischen Union und den Ölpreises stagnieren Förderung und Erschließungsvor- globalen energiepolitischen Umbrüchen bestehen. haben auf hohem Niveau. Mit einem Rückgang der Öl- Anhand von Originaldaten der großen Energieagentu- und Gasförderung in Nordamerika ist in naher Zukunft ren und der BP Statistical Review 2015 wurden die ak- jedoch nicht zu rechnen. Stattdessen verschiebt sich tuellen Entwicklungen auf regionalen Energiemärkten die Unternehmensstruktur schnell hin zu weniger und nachvollzogen, in Relation zur weltweiten Angebots- kapitalstärkeren Unternehmen, die aber zunehmend situation und der Preisentwicklung gesetzt sowie au- effizienter fördern. ßen- und sicherheitspolitische Debatten im Umfeld der 4. Innenpolitische Konflikte in Förderregionen füh- energiepolitischen Umbrüche rekapituliert. ren nicht zwangsläufig zu niedriger Förderung von Anhand der hier dargestellten Ergebnisse lassen sich Rohstoffen und zu sinkenden Exporten. Die Beispiele folgende Eckpunkte in der Energiepolitik mit direkten Irak und Nigeria verdeutlichen, dass die IOC unter be- außen- und sicherheitspolitischen Konsequenzen fest- stimmten Bedingungen in der Lage sind, die Förder halten: inseln zu sichern. Gleichzeitig zeigt sich in Ländern wie Libyen, dem Sudan und Syrien, dass etwa China 1. Der Preissturz bei Rohöl geht auf die schnell zuneh- als größter ausländischer Investor genau dazu nicht in mende Menge der Förderung in Nordamerika, speziell der Lage ist, sondern durch die dortigen Bürgerkriege in den USA zurück. Im Juni 2014 wurde damit ein lang- und internationalen Interventionen massive Verluste fristiger Trend wirksam, der in der energiepolitischen bei seinen internationalen Direktinvestitionen hinneh- Fachöffentlichkeit lange bekannt war. Dieser Trend zur men muss. «De-Konventionalisierung» der Erdöl- und Erdgasför- 5. Spätestens ab dem Jahr 2011 realisierte sich die derung sorgt für tendenziell zurückgehende Förder- zunehmende Förderung in einem außen- und sicher- zahlen in den etablierten Regionen. Zweitens hatte er heitspolitischen Elitendiskurs innerhalb der USA, der einen steigenden Rohölpreis zur Bedingung, und drit- darauf abzielt, den technologischen Vorteil in macht- tens bringt er grundsätzlich diejenigen International Oil politische Kategorien zu übersetzen. Dabei wurden Companies (IOC) und Staaten in eine stärkere Positi- vor allem China und Russland als potenzielle Gegner on, die einen gesicherten Zugang zu Kapital und Know- ausgemacht. Europa, Lateinamerika und Teile Asiens how aufweisen. Die USA als vormals größter Impor- stellen hingegen Regionen dar, in denen mithilfe einer teur verfolgen eine Strategie der Importsubstitution neuen Energiepolitik engere Bündnisbeziehungen eta- und der Regionalisierung des Energiebezugs, die dazu bliert werden können. Sie sind Austragungsort einer führte, dass seit 2008 mehr als 4,4 Millionen Barrel am neuen Konjunktur machtpolitischer Auseinanderset- Tag zusätzlich auf den internationalen Märkten zur Ver- zungen, bei denen der Absatz von potenziellen Ener- fügung stehen. gieüberschüssen eine zentrale Rolle spielt. Hingegen 2. Der Fracking-Boom ist weder ein spontanes kon- geht die Bedeutung des Nahen und Mittleren Ostens junkturelles Ereignis noch eine technische Revolution, für die US-Außenpolitik generell zurück. sondern das Ergebnis energiepolitischer Steuerungs- 6. Diese Orientierungen und die tatsächlich steigen- maßnahmen, die spätestens im Jahr 2005 unter der de inländische Förderung ermöglichten es Präsident Regierung George W. Bush konkrete Formen annah- Barack Obama, in seiner zweiten Amtszeit eine neue men. Ihre Voraussetzung besteht darin, dass die ame- außen- und sicherheitspolitische Schwerpunktsetzung rikanische Bundesregierung einen hohen Anteil an vorzunehmen. Spätestens ab 2011 hatte die Regierung Schiefervorkommen in der staatlichen Ölreserve vor- die von den Vorgängern entwickelte energiepolitische hielt und seit Jahrzehnten die Forschung und Entwick- Strategie voll adaptiert. Der Green New Deal wurde lung von Schieferressourcen vorantreiben ließ. Explizi- hintangestellt und eine energiepolitische Orientierung tes Ziel dieser Strategie war es, den globalen Preis für eingeleitet, die sich spätestens in der Ukraine-Krise Rohöl zu drücken und eine größere außenpolitische manifest politisch ausdrückte. Spätestens zu diesem Handlungsfreiheit zu erreichen. Mit dem Energy Policy Zeitpunkt diskutierte die US-Regierung die Strategie, Act of 2005 ermöglichte die damalige Regierung einen das weltweite Ölangebot so stark auszuweiten, dass es vereinfachten Zugang zu Förderlizenzen auf Land der zu einem supply shock kommt. Dort, wo Kapital- und Bundesbehörden, sie senkte radikal die Umweltstan- Technologieexport möglich ist, etwa von Fracking- dards und erleichterte die Kapitalisierung von Erschlie- Technologie in die Ukraine, um deren «Abhängigkeit ßungsprojekten. von Russland» zu reduzieren, setzen die USA Schwer- 3
Zusammenfassende Thesen punkte, während in anderen Regionen von einem ener- cherung der Handelsrouten und greifen erst öffentlich giepolitischen Rückzug gesprochen werden kann und erkennbar ein, wenn das Leben von Bürgern der USA amerikanische Einsätze erst dadurch ausgelöst wer- bedroht ist. den, dass strategische Interessen oder das Leben ame- 10. China hat sich in den vergangenen Jahrzehnten rikanischer Bürger unmittelbar in Gefahr sind. zu einem einflussreichen Faktor in der globalen Ener- 7. Die von der Europäischen Union im vergange- gieökonomie entwickelt. Dies betrifft schon lange nen Jahr gestartete Initiative zur Schaffung einer Eu- nicht mehr nur seine Rolle als inzwischen größter Net- ropean Energy Union reiht sich in diese neue trans- toimporteur von fossilen Energieträgern. Die chinesi- atlantische Orientierung ein. Bisher war die EU kein schen Energieunternehmen haben eine außerordent- aktiver Bestandteil der weltweiten Energiepolitik, da lich hohe internationale Reichweite entwickelt, womit sie weder eine einheitliche Außen- und Sicherheitspo- den traditionellen westlichen IOC erstmals in der Ge- litik, geschweige denn eine gemeinsame Energiepoli- schichte eine relevante Konkurrenz entstanden ist, die tik verfolgte. Die aktuelle deutsche Bundesregierung sich bei konkreten internationalen Projekten durchaus unterstützte die transatlantische Neuausausrichtung durchsetzen kann. Gleichzeitig verfügt das Land über zunächst maßgeblich, was auch vor dem Hintergrund einen enormen Kapitalzugriff und eine extrem hohe einer extrem hohen Importabhängigkeit zu verstehen technologische Adaptionsfähigkeit. Die chinesische ist. Seit Februar 2015 verfolgt die deutsche Außen- Strategie der Internationalisierung stößt an Grenzen, und Wirtschaftspolitik allerdings auch eine Perspekti- wo langfristige Investitionsprojekte im Ausland militä- ve der kontinentalen Integration, die mit Blick auf den risch gesichert werden müssen. In Libyen, im Sudan Iran und das Nordstream-2-Projekt mit Russland in Wi- und in Syrien steigen die Kosten für die chinesischen derspruch zur zuvor vertretenen Linie gerät. Die aktuel- Unternehmen durch bürgerkriegsbedingte Abschrei- len Initiativen aus dem Europäischen Rat zielen genau bungen enorm. Die aktuelle Strategie der chinesischen darauf ab, die Importe aus Russland durch andere An- Regierung, eine räumliche Verbindung nach Russland bieter zu ersetzen, wobei mittelfristig nur die USA und und in die Europäische Union unter Umgehung des Kanada über die Kapazitäten verfügen, die in Europa Nahen und Mittleren Ostens zu verfolgen, wird zukünf- benötigten Mengen an fossilen Energieträgern aufzu- tig eine wichtige Rolle für die Volkswirtschaften in die- bringen. In dieser Politik würde sich eine seit fast zehn sen Regionen spielen. Jahren anhaltende Tendenz zur regionalen Desintegra- 11. Den volkswirtschaftlichen Effekt der niedrigen tion des europäischen Energiebezugs fortsetzen. Rohölpreise beschreibt der IWF als ein «gigantisches 8. Die russische Wirtschaft wird durch die aktuelle Konjunkturprogramm für die entwickelten Volkswirt- Konjunktur vor allem hinsichtlich des Zugangs zu Ka- schaften», von dem vor allem die USA profitieren. pital und Know-how eingeschränkt. Bisher lassen sich Bereits in den vergangenen Jahren ermöglichten die keine unmittelbaren Effekte auf die Energieförderung extrem niedrigen Energiepreise auf dem nordameri- feststellen. Allerdings sinken die Einnahmen aus Ener- kanischen Binnenmarkt eine deutlich erhöhte Binnen- gieexporten, zum einen aufgrund fallender Energie- nachfrage durch Einsparungen bei Energiekosten der preise, zum anderen durch die reduzierte Abnahme Privathaushalte und Kostenvorteile in der Produktion in den Staaten der Europäischen Union. Die russische durch niedrigere Nettoproduktionskosten. Die Kom- Regierung setzt strategisch auf eine stärkere Koopera- bination aus Niedrigzinspolitik, historisch niedrigen In- tion mit China und weitet ihre Pipeline-Anbindung an flationsraten sowie Steigerung der Produktivität durch verschiedene Staaten der EU aus, um perspektivisch Hochtechnologiepolitik führt zu wirtschaftlichem andere, regional weit entfernte und damit tendenziell Wachstum und enormen Exportüberschüssen. Die ak- teurere Anbieter unterbieten zu können. tuelle Außenpolitik zielt vor allem auf handelspolitische 9. Saudi-Arabien und die Golfstaaten verfolgen be- Maßnahmen, um künftig weltweit Absatzmärkte für ei- reits seit dem Jahr 2004 eine starke Aufrüstung und ne hoch produktive US-Wirtschaft durch Freihandels- seit 2011 auch eine ausdrücklich expansionistische Po- abkommen abzusichern. litik, die im Kern auf die Schaffung einer sunnitischen 12. Die aktuellen handelspolitischen Maßnahmen – Allianz beziehungsweise eines islamischen Staates im die Transatlantischen und Transpazifischen Freihan- Nahen Osten und Nordafrika ausgerichtet ist. Langfris- delsabkommen (TTIP und TPP) – sind stark energiepoli- tig formiert sich hier ein politisches Gegengewicht zum tisch motiviert. Für die in den USA aktiven IOC besteht Irak und dem Iran, das in den betreffenden Staaten auf das Ziel darin, mithilfe von Freihandelsabkommen das erhebliche Vorräte an Erdöl und Erdgas zurückgreifen seit 1975 bestehende Exportverbot für unverarbei- kann. Dabei verbinden sich missionarische Projekte tete fossile Energieträger zu umgehen. Gerade auch mit einem direkten militärischen Interventionismus. vor dem Hintergrund, dass für die in der Fracking-In- Dafür besteht bisher eine weitgehende Handlungsfrei- dustrie aktiven Unternehmen in den USA die Schul- heit für Saudi-Arabien, die Golfstaaten und die regio- dentilgungsrate durchschnittlich 80 Prozent an den nalen Mächte Türkei und Ägypten, wobei Saudi-Ara- Nettoeinkommen ausmacht, besteht die dringen- bien im vergangenen Jahr seinen Führungsanspruch de Notwendigkeit, neue Absatzmärkte etwa auf dem innerhalb dieser Gruppe deutlich durchsetzen konnte. größten Energiemarkt der Welt, in Europa, zu erschlie- Die USA konzentrieren sich in der Region auf die Si- ßen. 4
Zusammenfassende Thesen 13. Der hoch technisierten Modernisierung der Bin- tionalstaatlich geprägten Wirtschaftspolitik dieser nenwirtschaft steht eine aggressive Politik nach au- Länder, die chinesische Investitionen in Iran, Sudan, ßen gegenüber, wie sich exemplarisch am Umgang Libyen und Syrien erst attraktiv gemacht hat. Die hier mit Russland im Rahmen des Ukraine-Konflikts zeigen dargestellten Länderbeispiele verdeutlichen, dass die lässt. Eine deutlich größere Tragweite haben mögli- chinesischen Direktinvestitionen zeitlich in allen Fällen cherweise Konflikte in Ländern, in denen die IOC nicht den politischen Konflikten vorausgingen beziehungs- ausreichend beteiligt sind, der chinesische Anteil an weise – im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Kau- den Auslandsdirektinvestitionen jedoch ein bestimm- salitätsmodells –: Ein bestimmtes Maß chinesischer tes Maß überschreitet – Iran, Sudan, Libyen und Sy- Investitionstätigkeit hat gravierende politische Konflik- rien. Dies gilt natürlich unter der Bedingung einer na- te in den betreffenden Ländern zur Folge. 5
Inhalt INHALT Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Historische Genese der Erdölökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Beginn des Ressourcen-Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Die Siebzigerjahre-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Die Rentenstaaten und der Epochenbruch von 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Globalisierung und «Neuer Imperialismus» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Die globale Energielandschaft im Umfeld des Preissturzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Der Preissturz vom Juni 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Der Fracking-Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Strategische Planungen für den Fracking-Schock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Von der Energiesicherheit zur politischen Gestaltungsmacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Freihandelsstrategie in Richtung des europäischen Energiemarktes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Russland und die Ukraine-Krise: Technologieexport als Geopolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Greater Middle East: Die neue Hegemonie Saudi-Arabiens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Greater Middle East: Sichere Förderinseln im Irak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 China: Expansion ohne Konfrontation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Energie im Kontext von Friedens- und Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 America’s T-Strategy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Einleitung EINLEITUNG In den vergangenen Jahren eskalierten im Umfeld der ne ein direkter Zusammenhang zwischen Rohstoffvor- Europäischen Union verschiedene Konflikte zu Kri- kommen und der Wahrscheinlichkeit, dass gewalttäti- sen, die gewalttätig ausgetragen werden. Neben der ge Konflikte auftreten (u.a. Ross 2004). Ukraine-Krise waren dies seit dem Jahr 2011 vor allem Für diese Untersuchung habe ich eine handlungsori- die Konflikte im Irak, in Syrien und in Libyen. Im Rah- entierte Analyse der wichtigsten Akteure in der Ener- men der «Weltumordnung» verfestigen sich «Zonen giepolitik anhand fachpolitischer Debatten gewählt, der Unsicherheit» (Candeias 2014). Im Sommer 2014 was neben dem Feld der Energiepolitik auch die Au- verdichteten sich die Hinweise, dass energiepolitische ßen- und Sicherheitspolitik einbezieht. Zudem sollen Aspekte in den aktuellen Konfliktverläufen eine Rolle die grundlegenden Tendenzen in Nachfrage, Angebot spielen. Gleichwohl konterkarierten die Geschehnis- und Preisentwicklung dargestellt werden und, soweit se klassische Annahmen über den Rohstoffimperia- nötig, durch Einflüsse durch andere Energieträger, ins- lismus, wie sie etwa im Kontext der dritten Golfkriegs besondere durch erneuerbarer Energien, ergänzt wer- im März 2003 eine gewisse Konjunktur erlebt hatten. den. Unter den regionalen Zusammenhängen, die ich Mit einem Ansatz des «Neuen Imperialismus» (David in dieser Arbeit einbezogen habe – für den nordameri- Harvey) ließe sich nicht erklären, warum in disponier- kanischen Kontinent die USA und Kanada, Saudi-Ara- ten Förderregionen wie Libyen oder dem Südsudan bien und die Mitglieder des Golf-Kooperationsrates, in nach anfänglich erfolgreichen westlichen Interventio- den Krisenregionen den Iran, den Irak, Syrien und Liby- nen ein Regulierungsdefizit auftrat, dass dafür sorgte, en, natürlich Europa, Russland und die Ukraine sowie dass die Ölförderung in beiden Regionen massiv ein- China –, nehmen im Ergebnis die USA einen besonde- brach. Zum Zweiten zeichnete sich bereits im Sommer ren Umfang ein. 2014 ab, dass trotz der eskalierenden Konflikte in ener- Zunächst stellte sich schnell heraus, dass die Ener- giepolitisch wichtigen Regionen und bei gleichzeitig giepolitik in den USA eine besondere Bedeutung für weiter steigender Nachfrage der Weltmarktpreis für die aktuellen energiepolitischen Umbrüche aufweist. Rohöl sank. Dies widersprach offensichtlich den do- Anders als in den meisten anderen Regionen, für die minanten Annahmen über einen durch die Nachfra- ich mich im Wesentlichen auf den BP Statistical Index ge bestimmten Preis für Rohöl. Diese Erzählung hat- verlassen musste, weisen die USA mit der Energy In- te ausgehend von der Peak-Oil-Debatte vor allem die formation Agency (EIA) eine besonders gute Quellen- energiepolitischen Debatten in den vergangenen zehn lage auf, und schließlich haben die USA generell ein Jahren dominiert. Demnach wäre es auszuschließen, außerordentliches Gewicht in den internationalen dass angebotsseitige Faktoren den Preis senken, da Beziehungen. Angesichts eines Zeithorizonts für die die wesentlichen Ölfelder ihr Fördermaximum erreicht Untersuchung, der auf ein halbes Jahr begrenzt war, haben beziehungsweise der technische Aufwand zur fielen diesem Schwerpunkt zwangsläufig die Behand- Erschließung unverhältnismäßig steigt. Aus dieser Per- lung anderer Regionen und Themenkomplexe zum Op- spektive konnte unmöglich der Fall eintreten, dass in fer. Insbesondere die Behandlung des Iran und Libyens einer Situation der krisenbedingten Verknappung, be- kommt, was ihre außen- und sicherheitspolitische Be- ziehungsweise der bloßen Risiken einer solchen, der deutung betrifft, in dieser Arbeit zu kurz. Ebenso konn- Weltmarktpreis für das Fass Rohöl sinkt. te ich das Feld der Sanktionen als Methode in der Au- Im Rahmen des Forschungsprojektes soll die Außen- ßen- und Energiepolitik an dieser Stelle nur anreißen, und Energiepolitik zentraler Akteure hinsichtlich der das ich hiermit ausdrücklich zur intensiveren Bearbei- Frage untersucht werden, welche Auswirkungen die tung empfehle. energiepolitischen Veränderungen auf globale Macht- Eine Schwerpunktverschiebung zum ursprüngli- konstellationen und regionale Konfliktverläufe haben. chen Vorhaben stellt auch der eher ausführliche Rück- Im Fokus standen dabei energiepolitische Aspekte in blick auf die Rolle der Energiepolitik in den internati- den Krisenstaaten im weiteren Umfeld der Europäi- onalen Beziehungen dar. Im Zentrum der aktuellen schen Union und die großen Akteure an den globalen Geschehnisse steht mit dem Preissturz seit Juni 2014 Energiemärkten. Für diesen Zusammenhang zwischen der Mechanismus der Preisbildung auf den Energie- sicherheitspolitischen Fragestellungen und Energiepo- märkten. Bis in linke Debatten hinein dominiert die litik spricht vor allem der Umstand, dass in Phasen der Annahme, dass eine «unsichtbare Hand des Marktes» großen historischen Umbrüche immer auch energie- einen relevanten Einfluss auf den Rohölpreis habe. politische Fragestellungen eine Rolle spielten. Exem- Genannt sei hier nur Heiner Flassbeck, nach dessen plarisch seien hier nur der Jom-Kippur-Krieg und das Meinung ein «Rückzug des Kapitals aus dem Roh- Ölembargo der arabischen Opec-Mitglieder im Jahr stoffsektor» verantwortlich für den Preissturz sei.1 Bei 1973, der erste Golfkrieg nach dem Jahr der interna- einer ersten Annäherung an das Thema fällt auf, dass tionalen Umbrüche 1979 und der zweite Golfkrieg ge- gen der Irak im Jahr 1991 genannt. Aber auch jenseits 1 Flassbeck, Heiner: Auf finanzialisierten Märkten fallen die Ölpreise wie die Akti- dieser historischen Zäsuren besteht auf kleinerer Ebe- enkurse – alle anderen Erklärungen sind Schall und Rauch, telepolis, 14.10.2014. 9
Einleitung der Rohölpreis von 1945 bis 1970, also während der dieser sei «auf dem Weg der Differenz bei einer radika- 25 Jahre Wiederaufbau und Industrialisierung absolut len Heterogenität angekommen». Sobald er auf gewis- stabil war, ja trotz explodierender Nachfrage und enor- se Übereinstimmungen stößt, verfalle er in einen radi- mer Ausweitung der Geldmenge, das heißt des verfüg- kalen Reduktionismus. «Von einer solchen Position aus baren Kapitals, inflationsbedingt sogar sank. Vor die- kann weder die Gesellschaftsformation noch der Staat sem Hintergrund habe ich mich entschieden, einen adäquat gedacht werden» (ebd.: 40). historischen Rückblick auf die politische Ökonomie Demgegenüber verteidigte Stuart Hall ein Herange- des Erdöls voranzustellen. Um an dieser Stellen, ein hen, das auf der Grundlage detaillierter empirischer Ergebnis vorwegzunehmen: Die Erdölökonomie ist bis Beschreibung generalisierbare Gemeinsamkeiten und heute hochgradig monopolisiert, durch Kartellabspra- Tendenzen, übergeordnete Merkmale – Strukturen – chen und staatliche Regulierung dominiert. Der Erdöl- sucht. Ein strukturalistisches Herangehen erlaube es, preis bildet vor allem Machtverhältnisse in den interna- zu konzeptualisieren, seine Stärke liegt in der «Dezen- tionalen Beziehungen ab. trierung von Erfahrung» (ebd.: 35). Insofern würde ich Zu den Hinweisen, was von dieser Arbeit nicht zu beim methodischen Herangehen am ehesten von einer erwarten ist, gehört auch, dass ich die aktuellen poli- «strukturalistischen Analyse der internationalen Bezie- tischen Umbrüche aus einer energiepolitischen Per- hungen» sprechen. spektive systematisiere. Diese Arbeit bietet keinen Als eine herausragende Quelle, nicht erst für diese Großentwurf für die Erklärung einer globalen Konjunk- Arbeit, haben sich Veröffentlichungen aus der Tradition tur, auch wenn ich am Ende darauf hinweise, welche des amerikanischen Neorealismus in den internatio- Richtung der Debatte ich für sinnvoll halte. Ein Teil die- nalen Beziehungen erwiesen. Ohne die Arbeiten von ser Diskussion, die ein neues Interesse an der Geopo- Meghan O’Sullivan und Robert Blackwill wäre dieser litik abbildet, wurde bereits in der Prokla 181 («Geo- Text um einige Erkenntnisse ärmer. Ihre Fokussierung politische Konflikte nach der ‹neuen Weltordnung›») auf den Aspekt von «Sicherheit» in den internationalen begonnen, in der auch die bestehenden Theoriegebäu- Angelegenheiten bietet in einer Welt, die zunehmend de aufbereitet werden (Salomon 2015). In den Groß- als unsicher erlebt wird, einen relevanten Zugang zu entwürfen, welche die Begriffe der globalen Ordnung den Themenfeldern der globalen Beziehungen. Mit in großen Teilen der linken Debatte prägen, bestimmt den Vertretern des Neorealismus verbindet mich zu- die Unbestimmtheit. Hier sei nur auf das «Empire» und dem, dass ihre Analysen einen außerordentlich hohen die «Multitude» von Michael Hardt und Antonio Negri Gebrauchswert für die praktische Politikgestaltung auf- (2003, 2004) verwiesen, an denen sich eine Kritik an- weisen, auch weil sie den stilistischen und inhaltlichen bringen lässt, die Stuart Hall bereits Anfang der 1980er Zugang zu ihren Arbeiten vorsätzlich einfach gestalten. Jahre am entstehenden Poststrukturalismus formulier- Insofern kann ich zugestehen, dass ausgerechnet ei- te. Dieser Ansatz sei «unfähig, seine allgemein gehal- ne Schule im Feld der internationalen Beziehungen, die tenen Feststellungen auf der Ebene konkreter histo- stark von neokonservativen und neoliberalen Grund- rischer Analyse zu veranschaulichen» (Hall 1981: 38) sätzen geprägt ist, tatsächlich interventionistische und weiter, persönlich auf Michel Foucault gemünzt, Wissenschaft betreibt. 10
Historische Genese der Erdölökonomie HISTORISCHE GENESE DER ERDÖLÖKONOMIE Im Jahr 2013 machten Erdöl und verwandte Produkte Nachdem die Holzkohle als wichtigster Energieträ- laut IWF fast 4 Prozent des globalen Bruttoinlandspro- ger von Stein- und Braunkohle abgelöst worden war, dukts aus. Dies entspricht einer gigantischen Geldmen- entwickelte sich zunächst der Bergbau zur wirtschaft- ge. Als wichtigster fossiler Energieträger findet Erdöl in lichen Basis der Industrie. Dadurch verlagerte sich die fast allen Aspekten des modernen Lebens eine Verwen- Energieförderung unter die Erdoberfläche, auf der sie dung, mit Erdöl wird Elektrizität erzeugt, es dient als bis dahin in unmittelbarer Konkurrenz zur Lebensmit- Treibstoff für sämtliche Verkehrs- und Transportmittel. telproduktion und zur Nutzholzgewinnung gestanden Nahezu alle Kunststoffe und die meisten Chemiepro- hatte, was der Industrialisierung effektiv Grenzen setz- dukte basieren auf Erdöl. An jedem einzelnen Tag des te, zumal Transportkapazitäten zu diesem Zeitpunkt Jahres 2015 verbrauchte die Welt etwa 94 Millionen eingeschränkt waren. Mitte des 19. Jahrhunderts be- Barrel Erdöl, was etwa 15 Milliarden Litern entspricht. gann vor allem in den USA die Erschließung von Erd- Um diese Menge täglich zu fördern, zu transportie- ölvorkommen, zunächst für medizinische Zwecke und ren und zu verarbeiten, entstand in den vergangenen für Lampenöl, später als Brennstoff für Industrieanla- 150 Jahren eine eigene Industrie, die bis heute von gen. Zur gleichen Zeit setzte die industrielle Förderung überraschend wenigen Unternehmen dominiert wird. im kaspischen Ölfeld um Baku ein. Seit 1869 wird Roh- Der Index der 500 größten Unternehmen, den die öl an den internationalen Rohstoffbörsen gehandelt. Financial Times erstellt (FT-500), führt aktuell 27 Konzer- Den Wert des Energieantriebs bei der Herstellung in- ne aus den USA, Kanada und Europa, die gut drei Vier- dustrieller Produkte veranschaulichte Karl Marx bereits tel des gesamten Kapitals am Öl- und Gasmarkt kon- am Unterschied zwischen einer mit Wasserkraft und ei- trollieren. Im letzten Viertel finden sich acht, teilweise ner durch Dampfmaschinen betriebenen Fabrik. Die ge- staatliche Unternehmen aus China, Russland und Bra- steigerte Produktivkraft und damit der höhere Gewinn silien. Angeführt wird diese Erdölökonomie von weni- entstehen weder aus Kapital und Arbeit selbst, sondern gen Unternehmen, die bereits seit 100 Jahren existie- aus «einer monopolisierbaren Naturkraft, die wie der ren, wie Exxon, Chevron, Shell und British-Petroleum. Wasserfall nur denen zur Verfügung steht, die über be- Sie waren schon als multinationale Konzerne aktiv, lan- sondere Stücke des Erdbodens verfügen». Unter diesen ge bevor dieser Begriff existierte. Umständen lässt sich der Extraprofit als Grundrente ver- Die besondere Rolle des Energieantriebs geht zurück stehen (Marx 1956 [1896]: 659). Die Kontrolle über das auf die Erfindung einer leistungsfähigen Dampfmaschi- Grundeigentum ermöglicht es dem Unternehmer, die ne im frühen 18. Jahrhundert. Ihr massenhafter Einsatz Differenz zwischen dem individuellen Profit und dem bei der Industrialisierung bildete die Grundlage dafür, Durchschnittsprofit zu kassieren. Diesen Gewinn be- dass die Gewinnung von Brennstoffen sich zur zentra- zeichnet man entsprechend als Differentialrente. len Grundlage der Weltwirtschaft entwickelte. Die Ver- Die globale Erdölökonomie war von Anfang an un- fügbarkeit und die Preise von Energieträgern wirken mittelbar durch diesen monopolistischen Charakter sich unmittelbar auf sämtliche Fertigungskosten aus, der Rentenökonomie geprägt. Der Status der Standard und somit auf die gesamte Volkswirtschaft. Neben die- Oil, die um das Jahr 1900 herum die gesamte Produk- sem volkswirtschaftlichen Kern, der in der politischen tionskette in den USA kontrollierte, bot den Anlass für Ökonomie später unter dem Begriff Rentenökonomie das erste Wettbewerbsgesetz in der modernen Rechts- geführt wurde, hatte die Brennstoffgewinnung vom geschichte, den Sherman Antitrust Act von 1890. ersten Tag an natürlich weitergehende ökologische Ef- Zu diesem Zeitpunkt kontrollierte das Unternehmen fekte, die als gesellschaftliche Folgekosten erst in der 90 Prozent der US-Kerosinexporte und 70 Prozent des zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Gegenstand Weltmarktes. Erst unter Präsident Theodore Roosevelt einer breiteren Debatte wurden. kam es im Jahr 1911 zu einem erfolgreichen Gerichts- So trug die Industrialisierung in England und später im verfahren, das schließlich zur Aufteilung von Standard Rest von Europa wesentlich dazu bei, dass der Kontinent Oil in 34 Einzelunternehmen führte. Daraus entstanden heute über keinerlei natürliche Wälder mehr verfügt. Die nicht nur alle großen Ölunternehmen der USA sondern Holzknappheit nahm in Nord- und Mitteleuropa derartig auch internationale Firmen wie Esso und die Vorläufer dramatische Ausmaße an, dass Holzdiebstahl juristisch der späteren British Petroleum. teilweise dem Landraub gleichgesetzt und dafür die To- Bei der Roosevelt’schen Anti-Trust-Politik handelte desstrafe verhängt wurde. Auch die Emissionen, welche es sich um eine Vorwegnahme der später nach John bei der Verbrennung fossiler Energieträger entstehen, Maynard Keynes benannten Strategie, auf die Klassen- beeinflussten das Gesicht der Industriegesellschaft vom kämpfe innerhalb des eigenen Landes mit einer stärke- ersten Tag an: «Als die Baumwollfabriken in Manchester ren Regulierung der großen Unternehmen zu reagie- ab etwa 1780 ihren Rauch in die Luft bliesen, verschwan- ren und so, in diesem Fall, für niedrige Energiekosten den kurze Zeit später die Moore im Pennines-Gebirge zu sorgen, die teilweise als Lohnvorteile an die heimi- aufgrund der sauren Niederschläge», beschrieb David sche Arbeiterklasse weitergereicht werden konnten. Harvey (2014: 78) die Anfänge der Industrialisierung. Gleichzeitig beförderte Roosevelt unter seiner Präsi- 11
Historische Genese der Erdölökonomie dentschaft eine expansive Außenpolitik, die den Un- tell der sieben größten Erdölunternehmen dieses Modell ternehmen durch Internationalisierung ermöglichte, vorweg: «Exxon war schon 50 Jahre ein multinationaler höhere Gewinne durch die international ungleiche Ent- Konzern, bevor die Bezeichnung in Gebrauch war», hieß wicklung zu realisieren. Die Energiekosten bieten bis es etwa im Rechenschaftsbericht von Shell 1973. heute – neben Außenhandelsbeziehungen sowie Geld- Nach dem Ersten Weltkrieg stieg der Ölverbrauch wertkontrolle – einen der zentralen Ansatzpunkte, um vor allem durch den Automobilverkehr noch einmal auf wirtschaftliche Krisen beziehungsweise Klassen- deutlich an. Britische und US-amerikanische Unter- kämpfe im Inland zu reagieren. nehmen begannen weltweit Erschließungsprojek- Die Abhängigkeit der aufstrebenden Industrieländer te, was zunächst zu einem ersten radikalen Preissturz von billigen Rohstoffen hatte sich als wesentlicher Mo- führte. Nach Mexiko und Venezuela starteten in den tor für den Kolonialismus beziehungsweise später den 1920er Jahren zahlreiche Förderprojekte im Iran und Imperialismus erwiesen. Volkswirtschaftlich gespro- im Gebiet des späteren Irak. Um das folgende Über- chen, suchten die Unternehmer aus den Industrielän- angebot sowie den Streit um Förderkonzessionen bei- dern nach Wegen, sich gewaltsam die Differentialrente zulegen, trafen sich die Direktoren der wichtigsten anzueignen, die aufgrund territorialer und hoheitlicher Erdölunternehmen 1928 im schottischen Ort Achna- Gegebenheiten in den Gesellschaften Irans, Mexikos carry. Dort verabredeten Walter Teagle (Rockefeller- oder Venezuelas verblieben wäre. Dabei setzten die Ka- Gruppen), Henri Deterding (Shell) und John Cadman pitalbesitzer auf hohe Produktivitätsraten durch tech- (Anglo-Persian Oil Company, spätere BP) eine soge- nische Innovationen und einen starken und modernen nannte As-Is-Vereinbarung: Im Rahmen einer weltweit Staat, der ihre Interessen nicht nur gegenüber der Ar- abgestimmten Erschließungs- und Explorationspoli- beiterklasse in den Heimatländern, sondern auch ge- tik erhielt jede der Gesellschaften in Zukunft einen fes- genüber anderen Staaten gewaltsam durchsetzen ten Prozentualen Anteil an den Gesamtgewinnen, be- konnte. Die Kehrseite des Industriekapitalismus in rechnet auf Grundlage der Absätze von 1928. Europa und Nordamerika bildete ein «Kriegskapitalis- Das Ziel war es, «übertriebene Konkurrenz» zu ver- mus» (Beckert 2014) in Asien, Afrika und den Ameri- meiden (Hohensee 1996: 16; Sampson 1976: 84). Zu- kas, wo die Kolonialmächte direkte Gewaltherrschaf- dem wurde der Nahe und Mittlere Osten, orientiert am ten oder abhängige Regime installierten. «Abkommen von San Remo» von 1919, im Rahmen Dabei spielten in allen Fällen internationale Unterneh- des Red Line Agreement von 1928 unter den Unter- men eine zentrale Rolle. Das Modell, dass einzelne Kon- nehmen aufgeteilt. Weitere Vorkommen durften nur in zerne weltweit produzieren und Handel treiben, ist für genau dem Maß erschlossen werden, wie die internati- sich genommen deutlich älter und bereits mit dem Kolo- onale Nachfrage stieg. Außerdem vereinbarten sie die nialismus verbunden. Viel später, in den 1960er Jahren, gemeinsame Nutzung von Transport-, Raffinerie- und begann diese Entwicklung die Geschäftsmodelle in al- Absatzkapazitäten, wobei sich die dafür berechneten len Branchen der Weltwirtschaft zu prägen. In gewisser Kosten, unabhängig vom tatsächlichen finanziellen Weise nahm das in den 1930er Jahren entstandene Kar- Aufwand, an den teuersten Infrastrukturen orientier- Grafik 1: Rohölpreis 1930–1973 schwarz: Tageswert in US-Dollar, grau: Dollarwert von 2014, inflationsbereinigt (Daten: EIA) 12
Historische Genese der Erdölökonomie ten, denen der amerikanischen Unternehmen. Ein ent- hältnis von Angebot und staatlichem Interventionismus sprechendes System hatten die Nachfolger der Stan- betrifft, ist der Ölboom in Texas während der 1930er dard Oil zuvor bereits auf dem amerikanischen Markt Jahre, also bereits in der Anfangsphase des Kartells. Im ausgemacht (Gulf Plus System). März 1929 hatten die Bundesregierung und das Ame- Diese informelle Nebenabsprache begründete das rican Petroleum Institute beschlossen, die landesweite internationale Kartell der westlichen Ölunternehmen. Förderung von Erdöl auf dem Niveau von 1928 einzu- Als diese globale Monopolstrategie im Jahr 1973 durch frieren und Exporte aus den USA zu beschränken, wo- die Arbeit des Subcommittee on Multinational Corpora- mit erstmals ein geschützter Binnenmarkt entstand. tions im US-Kongress öffentlich bekannt wurde, hatte Im Oktober 1930, mitten in der Great Depression, das Kartell bereits über 40 Jahre lang den Weltmarkt für stieß ein «wilder Driller» in Kilgore (Texas) auf ein rie- Erdöl kontrolliert. In dieser Zeit ereigneten sich das Wirt- siges Ölfeld. In der Folge strömten Einzelpersonen schaftswunder der Nachkriegszeit und die weltweite In- und kleinere Unternehmen in die Region, erschlos- dustrialisierung, ohne dass der Preis für das Barrel Roh- sen erfolgreich immer neue Felder und fluteten den öl auch nur einen winzigen Sprung nach oben machte. US-Markt mit Rohöl, sodass der Preis landesweit auf Dass die Nachfrage explodierte, hatte von 1945 bis 10 Cent pro Barrel abstürzte. Dieser East-Texas-Über- 1970 nicht den geringsten Effekt auf den Preis. fluss führte schließlich dazu, dass die Gouverneure der Diese Tendenz zum Monopol stellt ein grundsätzli- Staaten Texas und Oklahoma die wilden Felder durch ches Merkmal der politischen Ökonomie des Erdöls, die Nationalgarde besetzen ließen und mithilfe der das bis heute wirksam ist. Die großen transnationalen Texas Railroad Comission feste Produktionskontingen- Energieunternehmen, damals bekannt als die «Seven te durchsetzten, auch hier nach einer As-Is-Vereinba- Sisters» oder einfach «Big Oil», treten ihren Verhand- rung (ausführlich: Prindle 1981). Mit anderen Worten: lungspartnern und unabhängigen Unternehmen ge- Der Staat intervenierte zugunsten der großen Ölunter- genüber gemeinsam auf. Die beteiligten Unterneh- nehmen mit einer Regulierung der Produktion, obwohl men – nach den drei Erstunterzeichnern traten noch die niedrigen Preise anderen Bevölkerungsgruppen 15 kleinere Erdölunternehmen der «Vereinbarung von und der Volkswirtschaft insgesamt zugutekamen. Achnacarry» bei – handeln mit den jeweiligen Regie- Dies lässt sich nur aus der strategischen Bedeutung rungen langfristige Vorzugsbedingungen bei der Kon- erklären, welche die Erdölmonopolisten bereits zu die- zessionsvergabe aus, nach denen nur ein symboli- sem Zeitpunkt in den USA hatten. Die Fähigkeit der scher Anteil der Gewinne im Land verblieb. Im Iran großen Ölunternehmen zur weltweiten Rationierung waren dies bis zur Verstaatlichung der Ölindustrie im der Produktion beziehungsweise diese globale Kartell- Jahr 1951 etwa 5 Prozent der Einnahmen. strategie garantierte den heimischen Volkswirtschaf- Einen beherrschenden Einfluss auf einen regionalen ten in der Nachkriegszeit stabile und vor allem extrem wie auch auch auf den weltweiten Markt erlangen Ak- niedrige Rohölpreise zwischen 1,70 und 1,90 US-Dol- teure durch einen bestimmten Anteil an den dort an- lar für ein Fass, also 159 Liter Rohöl. Obwohl Nachfra- gebotenen Gütern, der um die 75 Prozent liegt. Ein aus ge und Verbrauch in der Nachkriegszeit durch Wieder- aktueller Perspektive interessanter Vorfall, was das Ver- aufbau, Industrialisierung und Motorisierung massiv Grafik 2: Anteil der Erdölunternehmen an Nationalen Produktionsgemeinschaften 1972 (in %) im Iran-Konsortium von unten nach oben: BP, Shell, Exxon, Mobil, Gulf (sp. Chevron), Texaco, Socal (sp. Chevron), CFP (sp. Total) (Daten: Multinational Hearings) 13
Historische Genese der Erdölökonomie anstiegen, sanken die Preise für Rohöl von 1945 bis es sich bei den «nationalen Produktionsgemeinschaf- 1970 inflationsbereinigt sogar leicht. ten» in den Erdöl fördernden Ländern bis in die 1970er Die Schlüssel zur Kontrolle heißen bis heute techno- Jahre nicht um Staatsunternehmen, sondern um reine logische Überlegenheit, Kapitalausstattung sowie ho- Investitionsgemeinschaften der westlichen Ölfirmen. he außen- und sicherheitspolitische Reichweite. Zwar Das bedeutete, dass eine kleine Anzahl von westlichen hatten es die transnationalen Monopolunternehmen Unternehmen die gesamte Kette der Erdölproduktion bei der Konzessionsvergabe mit Nationalstaaten, al- vom Bohrloch bis zur Tankstelle vollständig kontrollier- so hoheitlichen Körperschaften, zu tun. Diese waren te. Das ist das Geheimnis hinter dem «festen Ölpreis» allerdings auf die Erkundungs- und Fördertechnolo- bis zum Jahr 1970. Die Grundlage der Erdölökonomie gien sowie das Kapital angewiesen, das die wenigen besteht keineswegs in einem «freien Markt», sondern westlichen Erdölmonopolisten und die Regierungen in einem Monopol einiger Konzerne mit Rückende- ihrer Heimatländer kontrollierten. Tatsächlich handelte ckung ihrer Regierungen. 14
Der Beginn des Ressourcen-Nationalismus DER BEGINN DES RESSOURCEN-NATIONALISMUS Vor diesem Hintergrund, dass also wenige westliche Chaos anzurichten, indem sie eine Gesellschaft nach Erdölunternehmen weltweit die Förderung, den Trans- der anderen erst anlockten und sie dann gegeneinan- port und die Verarbeitung kontrollierten, entwickelte der hetzten» (Sampson 1976: 81). Das Ergebnis war sich die Erdölökonomie zum klassischen Exempel für eine unkontrollierte Ölschwemme in Westeuropa, die postkoloniale beziehungsweise imperiale Konfronta erst mit der Kartellvereinbarung von Achnacarry be- tion. Dem westlichen Kartell standen die Interessen der schränkt wurde. Volkswirtschaften in den ehemaligen Kolonien gegen- Die daraus resultierende abgestimmte Haltung des über, die von vergleichsweise jungen Nationalstaaten, Kartells erlebte zuerst Mexiko, wo bereits ab 1908 im agrarischen Strukturen, mangelndem Kapitalzugang großen Umfang Erdöl gefördert wurde. Die internati- und von zunächst schwachen Regierungen geprägt onalen Gesellschaften zahlten auf ihre Gewinne in Me- waren. xiko im Rahmen der damals üblichen Konzessionen Der Staat spielte in der Erdölökonomie bereits inner- 7 Prozent Steuern an die Bundesregierung und weite- halb der angelsächsischen und europäischen Gesell- re 3 Prozent an die Bundesstaaten. Gleichzeitig beein- schaften eine zentrale Rolle. Nach der Anti-Trust-Ge- flussten die konkurrierenden Interessen der Erdölun- setzgebung in den USA, mit der der Staat einen freien ternehmen massiv die mexikanische Innenpolitik. Mit Wettbewerb und niedrige Preise garantieren wollte, dem Amtsantritt von Lázaro Cárdenas del Río im De- waren es vor allem verteidigungspolitische Aspekte, zember 1934 begann eine Phase der nationalistischen die bereits im Umfeld des Ersten Weltkriegs dazu ge- Politik, die den Einfluss der bis dahin regierenden Ge- führt hatten, dass die amerikanische Bundesregierung neräle zurückdrängte. Cárdenas begann eine Boden- direkt Ölreserven aufkaufte und verwaltete. Dazu ge- reform, in deren Rahmen Gemeineigentum an Grund hörten im Rahmen der Naval Petroleum and Oil Shale und Boden (ejido) verfassungsmäßig verankert wurde, Reserve (NPOSR) auch erhebliche Vorkommen an und regte die Gründung von großen Gewerkschafts- Schieferöl und -gas, die erst 100 Jahre später kommer- verbänden an. ziell nutzbar werden sollten. In Großbritannien erwarb Die neu gegründete Sindicato de Trabajadores Pet- die Regierung, ebenfalls aus militärischen Gründen, roleros de la República Mexicana (STPRM) begann im unter Winston Churchill bereits 1914 einen Mehrheits- August 1936 einen landesweiten Streik für einen ein- anteil an der Anglo-Persian Oil Company, der späteren heitlichen Tarifvertrag, der unter anderem die 40-Stun- BP, und schuf damit das erste staatliche Erdölunter- den-Woche und eine Lohnfortzahlung im Krankheits- nehmen. fall enthielt. Zwar bestätigte der Oberste Gerichtshof Ein ständiges Problem für die Kontrolle des Erdölan- die Rechtmäßigkeit ihrer Forderungen, die Gesell- gebots durch das westliche Kartell blieb die Förderung schaften weigerten sich jedoch, sie umzusetzen. Da- in Russland und der späteren Sowjetunion. Im Jahr der raufhin verstaatlichte Präsident Lázaro Cardenas am russischen Revolution stellte das Land etwa 15 Prozent 18. März 1938 den Besitz von insgesamt 17 ausländi- der weltweiten Ölförderung, genug um das Preisgefü- schen Gesellschaften, darunter der Shell und verschie- ge zu destabilisieren. Siebzig Jahre später war die So- dener Nachfolger der Standard Oil. Bis heute ist dieses wjetunion mit unglaublichen 12,6 Millionen Barrel am Datum in Mexiko Staatsfeiertag. Tag – 20 Prozent der weltweiten Gesamtförderung – Als unmittelbare Reaktion einigten sich alle US-ame- der mit Abstand größte Erdölförderer der Welt. Zum rikanischen, britischen und niederländischen Unter- Zeitpunkt der russischen Revolution hielten die Brüder nehmen auf einen Abnahmestopp, einen Boykott für Alfred und Ludvig Nobel, Shell sowie das Bankhaus mexikanische Ölprodukte. Die Unternehmen ließen Rothschild den größten Anteil an den Förderunterneh- mexikanische Rohöltransporte in Frankreich und Bel- men am Kaspischen Meer. gien beschlagnahmen. Zudem stoppte die US-Regie- Im Jahr 1920 übernahm Exxon den größten Teil der rung den Ankauf von Silber aus Mexiko, internationa- Aktien über ein Schweizer Briefkastenunternehmen, le Banken behinderten den Zahlungsverkehr mit dem praktisch zeitgleich verstaatlichten die Bolschewiki die Land. Die Exporte des neuen staatlichen Erdölunter- gesamte Erdölindustrie und bündelten sie im Erdöl- nehmens Pemex fielen von 25 Millionen Barrel im Jahr kombinat Azerneft. Zum einen war damit das Gespenst 1937 auf 14,5 Millionen Barrel im Jahr 1938, die vor der Verstaatlichung beziehungsweise Nationalisierung allem an verschiedene lateinamerikanische Länder so- in der Welt, zum anderen zeigte sich, dass die sowje- wie die Achsenmächte Italien, Deutschland und Japan tischen Ressourcen das Potenzial stellten, aus dem gingen (Meyer 2000: 877). Erst unter dem Druck des unabhängige westliche Unternehmen, insbesondere Zweiten Weltkriegs löste sich der internationale Boy- aus Westeuropa, Rohöl beziehen konnten, solange sie kott langsam auf. sich untereinander nicht auf eine einheitliche Linie, et- Mit dem Ende des Weltkriegs übernahm das interna- wa einen Boykott oder zumindest feste Preise und Ab- tionale Erdölkartell einen festen Platz in der Architek- nahmekontingente, einigen konnten. «Wirklich war es tur der Nachkriegsordnung, die Sam Gindin und Leo den Russen gelungen, in der westlichen Ölbranche ein Panitch als «American Empire» (2012) bezeichnen. Die 15
Der Beginn des Ressourcen-Nationalismus neue globale Ordnung gestaltete sich um internationa- Texaco, Socal, Gulf und Mobil aus den USA, sowie BP le Organisationen wie den Internationalen Währungs- und Shell aus Großbritannien – kontrollierten im Jahr fonds (1944), die Weltbank (1945), die UNO (1945), 1972 genau 70 Prozent der weltweiten Rohölförderung GATT (1947) und die Nato (1949), in denen die USA die außerhalb von Osteuropa und China (ebd.). eigenen Interessen sowie diejenigen ihrer Alliierten in Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte sich allerdings Kanada und Australien, in Westeuropa sowie Japan verstärkt das Problem der hohen sowjetischen Ölförde- effektiv vertreten konnten. Die dominante Tendenz in rung, was auch daran lag, dass die Erdölunternehmen den internationalen Beziehungen bestand darin, dass der ehemaligen Achsenmächte nicht an den Ressour- Formen der direkten kolonialen Kontrolle durch stärker cen im Nahen und Mittleren Osten beteiligt wurden. informelle Beziehungen auf wirtschaftlicher und poli- Aus diesem Widerspruch speiste sich die langsam zu- tischer Ebene ersetzt wurden, wobei der grundsätzli- nehmende Macht der «Unabhängigen», also der west- che Spannungsbogen erhalten blieb, der sich bereits lichen Erdölunternehmen, die nicht unmittelbar vom im Kolonialismus als Auseinandersetzung zwischen Kartell kontrolliert wurden. Der ehemalige italienische direct und indirect rule etabliert hatte. Bis heute bleibt Partisanenkommandant Enrico Mattei baute beispiels- die relative Autonomie der Entwicklungsländer ein – weise nach 1945 die staatliche italienische Erdölgesell- zunächst völkerrechtlich-normatives – Merkmal, das schaft Agip auf, die spätere Eni. Er prägte den Begriff le regelmäßig durch ein direktes Eingreifen imperialer sette sorelle und griff das Kartell unablässig öffentlich Mächte konterkariert wird. an. Er ermöglichte ab 1959 erstmals seit den 1920er Mithilfe des Systems von Bretton Woods lösten die Jahren wieder massive Erdölimporte aus der Sowjet- westlichen Industrieländer die wesentliche volkswirt- union und unterstützte die anderen Produzentenstaa- schaftliche Herausforderung der Zwischenkriegszeit, ten – prominent Algerien – in einer starken Haltung ge- die Währungsstabilität unter der Leitwährung US-Dol- gen das Kartell, indem er etwa den Staaten im Iran und lar, der zunächst über einen proportionalen Goldstan- in Nordafrika spektakuläre 75 Prozent Gewinnbeteili- dard abgesichert war. Zwar blieb der Dollar bis Anfang gung einräumte. Mit den auf dieser Grundlage gewon- der 1970er Jahre dadurch relativ stabil. Die US-Regie- nenen Anteilen lieferte er den «Sieben Schwestern» rung konnte jedoch auf moderate volkswirtschaftliche einen erfolgreichen Preiskampf auf dem heimischen Herausforderungen, etwa erfolgreiche Arbeitskämpfe Markt, der erst mit seinem überraschenden Tod 1962 der heimischen Arbeiterklasse oder Erhöhungen der endete. Kosten für Rohöl infolge von Forderungen der Verbrau- Mit dem Ende der Kolonialregime und der imperialen cherländer, mit einer entsprechenden Abwertung des Neuordnung entwickelte sich die Auseinandersetzung Dollar reagieren. Durch das System der posted prices, um den «Ressourcen-Nationalismus» zu einem zentra- mit dem die großen Gesellschaften die Preise für die len Merkmal der Nachkriegsordnung. Der erste Aus- wichtigsten Ölsorten öffentlich festlegen, und den Be- bruchsversuch aus dem Ölkartell nach den Verstaatli- schluss, dass sämtliches Öl ausschließlich in US-Dollar chungen in Mexiko fand Anfang der 1950er Jahre im gehandelt wird (Dollarfakturierung), erhielten Mitglie- Iran statt und führte zunächst dazu, dass, erstens, die der des Kartells sowie die Institutionen der amerikani- britische Anglo-Iranian Oil Company einen Großteil schen Außen- und Wirtschaftspolitik eine erhebliche ihrer Anteile an US-Unternehmen abgeben musste – globale Steuerungsmacht. ein Vorzeichen für die grundsätzliche Machtverschie- Das Achnacarry-Kartell, und darin insbesondere die bung innerhalb des angelsächsischen Machtblocks. US-Unternehmen, hatten sich während des Zweiten Zweitens stellte der Sturz der Regierung Mossadegh Weltkriegs in sämtlichen Förderländern über langfris- ein deutliches Signal an die Förderländer dar, die Frage tige Konzessionen die Rechte an den Erdölvorkom- der Verstaatlichung beziehungsweise Nationalisierung men gesichert und konnten dadurch für 25 Jahre den von Erdölförderstrukturen bis auf Weiteres nicht ein- Ölpreis niedrig halten, wobei sie immer noch Milliar- mal in Erwägung zu ziehen. dengewinne realisierten, auch weil die Förderländer Als das iranische Parlament am 15. März 1951 die ausschließlich steuerliche Abgaben auf die von den iranische Ölindustrie verstaatlichte, reagierten Großbri- Gesellschaften angegebenen Gewinne erhielten. Diese tannien, die westlichen Mächte und das Kartell nach zunächst extrem niedrigen Abgaben sparten die Kon- dem bereits in Mexiko angewendeten Schema: welt- zerne in den Heimatländern größtenteils aufgrund ge- weiter Boykott iranischen Öls, Blockade der Häfen, neröser Regelungen über den Verzicht auf Doppelbe- diplomatische Isolierung und Finanzsanktionen. Wie steuerung ein, das heißt, rechtlich betrachtet zahlten schon im Fall von Mexiko demonstrierte das Kartell die Steuerzahler in den USA und Großbritannien den erneut seine Fähigkeit, nationale Produktionsausfäl- Großteil der Konzessionsgebühren an die Förderländer. le durch einen Anstieg der Förderung in anderen Re- Von 1962 bis einschließlich 1971 entrichtete et- gionen zu kompensieren und damit den Preis – trotz wa Texaco in den USA auf ihr Nettoeinkommen von Krisensituation – insgesamt stabil zu halten. Der inter- 8,7 Milliarden Dollar nur 2,6 Prozent Steuern, Exxon nationale Boykott endete in diesem Fall mit dem Sturz zahlte auf 19,6 Milliarden Dollar mit 7,3 Prozent auch von Mohammad Mossadegh am 19. August 1953 im noch eine lächerlich geringe Summe (U.S. Congress Rahmen der gemeinsamen CIA- und MI6-Operation 1974: 104). Die sieben größten Ölkonzerne – Exxon, «Ajax». Die britische Niederlage im Suez-Krieg 1956 16
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