Falk Quenstedt (Freie Universität Berlin) - Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung im Brandan und in Christian Krachts Die Toten ...

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Gerhard Helbig: Zur Binnengliederung der deutschen Zustandskonstruktionen mit sein + Partizip II im Lichte der
gegenwärtigen Forschung

                                                Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

            Falk Quenstedt (Freie Universität Berlin)
            Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung im
            Brandan und in Christian Krachts Die Toten

            Das Wunder ist eine zentrale Kategorie religiöser Erfahrung. Als ‚Wunder’
            werden Phänomene bezeichnet, die von der gewohnten Ordnung der Dinge
            abweichen und dadurch Irritationen auslösen. Mit einer mittelalterlichen Dif-
            ferenzierung kann hier unterschieden werden zwischen mirabilia, wenn diese
            Wunder Teil der natürlicher Ordnung bleiben und miracula, wenn Gott die
            natürliche Ordnung dabei zeitweilig außer Kraft setzt.1 Die Wiederauferste-
            hung eines Toten ist ein Mirakel, die Schönheit und Heilkraft einer exotischen
            Pflanze ist ein Mirabile. Im Folgenden soll es, wenn ich von ‚dem Wunderba-
            ren’ spreche, vor allem um mirabilia gehen. Die Grenze zwischen dem Mira-
            kulösen und dem Mirabilen ist jedoch nicht immer eindeutig zu ziehen. Da
            das Wunderbare im Rahmen eines Wahrnehmungsprozesses entsteht, der
            sich wechselseitig zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung entfaltet
            und von einem je spezifischen Vorwissen abhängig ist, wird es hier sowohl
            als ästhetische als auch als epistemische Kategorie verstanden.2 Das Wun-
            derbare kommt darüber hinaus als mögliche Spielart religiöser Erfahrung in
            den Blick, weil es sich bei dieser ebenfalls um eine sinnlich-prozessuale Ver-
            mittlungsform handelt, die einen bestimmten Wissenshorizont voraussetzt.
            Den wechselseitigen Subjekt-Objekt-Bezug verbindet religiöse Erfahrung je-
            doch mit der Mediation von menschlicher und göttlicher Sphäre, Immanenz
            und Transzendenz.3

             1
                 Caroline Walker Bynum: Miracles and marvels. The limits of alterity, in: Vita Reli-
                 giosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag. Hrsg. v. Franz
                 J. Felten u. Nikolaus Jaspert. Berlin 1999, S. 799–817.
             2
                 Vgl. dazu: Jutta Eming, Falk Quenstedt u. Tilo Renz: Das Wunderbare als Konfigu-
                 ration des Wissens – Grundlegungen zu seiner Epistemologie. Working Paper No. 12/
                 2018, Sonderforschungsbereich 980 „Episteme in Bewegung”, 2018,
                 http://www.sfb-episteme.de/Listen_Read_Watch/Working-Papers/No_12_Eming_
                 Quenstedt_Renz_Das-Wunderbare/index.html [12.12.2018].
             3
                 Der Kunsthistoriker Klaus Krüger charakterisiert religiöse Erfahrung im Rekurs auf
                 Charles Taylor als durch „[…] eine reziprok grenzüberschreitende Annährung, ja eine
                 paradoxe Union von Immanenz und Transzendenz geprägt, im Sinne einer prozes-
                 sualen Bezugsform, bei der das eine nicht ohne das andere zu haben ist.” Klaus
                 Krüger: Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz, Göttingen 2016, S. 12.

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Falk Quenstedt

Die Überlagerung von ästhetischer und religiöser Erfahrung ist allerdings nicht
unproblematisch – und das zeigt sich vor allem beim Wunderbaren.4 Ihm wer-
den poetische Verfahren zugezählt, die darauf zielen, Erfahrungen der Ver-
wunderung künstlich herzustellen, Erfahrungen wie Staunen, Verblüffung,
Faszination, Erschütterung oder Furcht. Wenn es um die Vermittlung und Er-
möglichung religiöser Erfahrung geht, macht diese Dimension der Künstlich-
keit das Wunderbare prinzipiell verdächtig. Denn dem inszenierten – also me-
dial vermittelten – Wunderbaren kann immer zum Vorwurf gemacht werden,
dass es nur ästhetischer Effekt sei, ‚Blendwerk’ und ‚Gaukelspiel’. Höchster
Wahrheitsanspruch und ein grundsätzlicher Verdacht auf Fälschung sind hier
kaum voneinander zu trennen. Das gilt auch und vor allem für das Medium
des Erzählens, das in gelehrten Diskursen des Mittelalters regelmäßig der
Lüge bezichtigt wurde.5 Andererseits sind Wunder, wie Augustinus wirkungs-
reich feststellte, nur über Berichte, also Erzählungen, auch jenen zugänglich,
die sie nicht unmittelbar erfahren haben.6 Für die Vermittlung der Wunder ist
Erzählen also unumgänglich, bedarf aber stets der Beglaubigung.
       Ich möchte im Folgenden untersuchen, wie zwei deutschsprachige Er-
zähltexte aus ganz unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusam-
menhängen die Problematiken, die der skizzierte Nexus von Ästhetik des
Wunderbaren, religiöser Erfahrung und nötiger Beglaubigung produziert,
zum Gegenstand autoreflexiver poetischer Verfahren machen. Zunächst
widme ich mich der sogenannten Reise-Fassung des Brandan, einem in der
zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entstande-
nem Erzähltext, der eng mit irischen Erzähltraditionen verbunden ist. Darauf-
hin untersuche ich den Roman Die Toten von Christian Kracht aus dem Jahr
2016, der extensiv japanische Geschichte, Kultur und Literatur verarbeitet.7

4
    Niklaus Largier: Die Applikation der Sinne. Mittelalterliche Ästhetik als Phänomeno-
    logie rhetorischer Effekte, in: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in
    der Literatur des Mittelalters. Hrsg. v. Manuel Braun u. Christopher Young, Berlin
    u.a. 2007, S. 43–60, hier: S. 55f.
5
    Vgl. dazu bspw. Fritz Peter Knapp: Historische Wahrheit und poetische Lüge. Die
    Gattungen weltlicher Epik und ihre theoretische Rechtfertigung im Hochmittelalter,
    in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte,
    Band 54,4 (1980), S. 581–635; Sonja Glauch: Fiktionalität im Mittelalter; Revisited,
    in: Poetica: Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 46,1–2 (2014),
    S. 85–139.
6
    Vgl. Augustinus, „De Civitate Dei”, Buch 22, Kap- 8–9, wo auch das Moment der
    Schriftlegung als Authentifizierung angesprochen wird. Vgl. ausführlich dazu: Gab-
    riela Signori: Wunder. Eine historische Einführung. Frankfurt am Main u.a. 2007, S.
    17 u. 43–46.
7
    Christian Kracht: Die Toten. Köln 2016.

160
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

Ich möchte zeigen, dass beide Texte, wie ich es nenne, eine ‚Mirabilisierung’
des Erzählens betreiben, es zu einem mirabilen Medium stilisieren. Sie tun
dies auf zweierlei Weise: durch narrative Verfahren der Selbst-Beglaubigung,
die metaleptische Strukturen produzieren und durch Hybridisierungen von
Erzähl- und Wissenstraditionen, die unterschiedlichen kulturellen Zusam-
menhängen angehören. Beide Narrative knüpfen auf diese Weise außerge-
wöhnliche transkulturelle Texturen, deren relative Unvertrautheiten und in-
novative Rekontextualisierungen Momente der Verrätselung erzeugen. Sie
wirken potentiell desorientierend, vermitteln einen Eindruck mysteriöser
Fremdheit und evozieren verborgene Sinnebenen. Im Sinne gängiger Defini-
tionen des Heiligen als das ‚ganz Andere’ können solche Dramatisierungen
von Alterität auf die Ermöglichung religiöser Erfahrung zielen. Im Zusam-
menspiel entfalten die beiden Verfahren der Selbst-Beglaubigung und der
transkultuellen Hybridisierung das Wunderbare und lassen so ‚mirabile Tex-
turen’ entstehen.8

8
    Ich verwende den Begriff der ‚Transkulturalität’ hier nicht im ausdrücklichen Gegen-
    satz zum Begriff der ‚Interkulturalität’. Ich ziehe den Begriff aber vor, weil es mir um
    Mischformen einer Vielzahl verschiedener kultureller Traditionen geht; und weil mir
    ‚Transkulturalität’ stärker zu unterstreichen scheint, dass erstens kulturelle Zusam-
    menhänge auf vorgängigen Prozessen der Verflechtung basieren und immer auch
    innerhalb solcher Prozesse zu betrachten sind, d.h. keinesfalls als feste Ordnungen
    aufgefasst werden können, sowie zweitens, dass in kulturellen Selbstbeschreibun-
    gen häufig binäre Logiken der Differenzkonstruktion wirksam werden, die gerade
    transkulturelle Momente, welche quer stehen zu solchen binären Ordnungen, struk-
    turell ausblenden. Das schließt freilich die Wirksamkeit solcher Differenzbildungen,
    die mit produktiven (aber auch destruktiven) Spannungen im Hybridisierungspro-
    zess einhergehen können (also komplexe Formen des Inter) gerade nicht aus, wor-
    auf Homi K. Bhabha mit seinen Konzepten des ‚Dritten Raums’ und der ‚kulturellen
    Übersetzung’ nachdrücklich hingewiesen hat (Homi K. Bhabha: Wie das Neue in die
    Welt kommt. Postmoderner Raum, postkoloniale Zeiten und Prozesse kultureller
    Übersetzung, in: Ders.: Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth
    Bronfen. Dt. Übers. v. Michael Schiffmann und Jürgen Freudl. Tübingen 2000, S.
    317–352). Gerade auch in dieser Hinsicht ist Kritik am Transkuralitätsparadigma in
    der Weise wie es von Wolfgang Welsch geprägt wurde (Wolfgang Welsch: Transkul-
    turalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung, in: Interkulturalität.
    Grundprobleme der Kulturbegegnung. Mainz 1999, S. 45–72) formuliert worden,
    etwa mithilfe des Begriffs der ‚Transdifferenz’ (Lars Allolio-Näcke: Differenzen an-
    ders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz. Frankfurt am Main
    u.a. 2005) oder auch aus der Perspektive einer interkulturellen Hermeneutik: Eber-
    hard Scheiffele: „Interkulturell” contra „transkulturell”, in: Japanisch-deutsche Dis-
    kurse zu deutschen Wissenschafts- und Kulturphänomenen. Hrsg. v. Teruaki Taka-
    hashi u. Tilman Borsche. Paderborn 2016, S. 71–77. Eine mediävistische Bestands-
    aufnahme der Diskussion, ebenfalls in kritischer Auseinandersetzung mit Welsch,

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I.

Die Erzähltradition um Brandan geht zurück auf eine historische Figur, den
irischen Abt, Klostergründer und Heiligen ‚St. Brandan’, der Ende des 5. Jahr-
hunderts in Irland geboren wurde und dort 577 starb. Vermutlich ebenfalls in
Irland entstand – wahrscheinlich im 9. Jahrhundert – eine Reiseerzählung um
die Figur Brandans und entwickelte sich in der Folge zu einem der populärs-
ten Texte des europäischen Mittelalters.9 Diese sog. navigatio erzählt von
Brandans Suche nach dem ‚verheißenen Land der Heiligen’ (der terra repro-
missionis sanctorum), d.h. nach einem paradoxerweise zugleich diesseitigen
wie jenseitigen Paradies in westlicher Richtung. Die Forschung betont, dass
das Besondere dieses Textes gerade darin besteht, dass in ihm „sehr unter-
schiedliche Stoff- und Motivtraditionen zusammenflossen, irisches Erzählgut
vor allem, daneben aber auch antikes, christliches und orientalisches.”10 Zwei
Gattungen der irischen Erzählkultur waren prägend für den Text, sogenannte
Immrama (‚Umher-Ruderei’) und Echtrai (‚Abenteuer’). Während die Imm-
rama ihre Helden auf ziellose Irrfahrten auf dem westlichen Ozean schicken,
bei denen sie episodenhaft an verschiedenen Inselstationen unterschiedli-
chen mirabilia begegnen, führen die Echtrai ihre Helden in jenseitige Anders-
welten, die hinter oder unter dem Meer liegen.
        Mir geht es im Folgenden jedoch nicht um die navigatio, sondern um
die deutsch- und niederländischsprachige sog. Reise-Fassung des Brandan,
die eine eigene Texttradition darstellt. Sie entstand wahrscheinlich Mitte bis
Ende des 12. Jahrhunderts in Mitteldeutschland, von dem vermuteten ,Origi-
nal’ sind nur spätere Zeugen erhalten.11 Ich lege hier die mitteldeutsche Fas-
sung M zugrunde, die allein in einer Sammelhandschrift aus der zweiten
Hälfte des 14. Jahrhunderts überliefert ist.12 Warum es zur Entwicklung einer
eigenständigen deutschsprachigen Fassung einer irischen Erzähltradition

9
     findet sich in der gemeinsamen Publikation des ‚Netzwerk[s] Transkulturelle Ver-
     flechtungen’: Transkulturelle Verflechtungen. Mediävistische Perspektiven. Göttin-
     gen 2016, http://www.univerlag.uni-goettingen.de/handle/3/isbn-978–3–86395–
     277–8 [12.11.2018].
9
     Reinhard Hahn: Nachwort, in: Brandan, die mitteldeutsche „Reise”-Fassung. Hrsg.
     v. Reinhard Hahn u. Christoph Fasbender. Heidelberg 2002, S. 189–231, hier S.
     201; vgl. auch Judith Klinger: Anderswelten, in: Literarische Orte in deutschsprachi-
     gen Erzählungen des Mittelalters. Ein Handbuch. Hrsg. v. Tilo Renz, Monika Ha-
     nauska und Mathias Herweg. Berlin, Boston 2018, S. 13–39.
10
     Hahn [Anm. 9], S. 200.
11
     Clara Strijbosch: The Seafaring Saint. Sources and Analogues of the Twelfth-Cen-
     tury Voyage of Saint Brendan. Dublin 2000, S. 11; Hahn [Anm. 9].
12
     Edition: Brandan: die mitteldeutsche „Reise”-Fassung. Hrsg. v. Reinhard Hahn und

162
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

kam, ist kaum zu klären. Sicherlich hat neben einem allgemeinen Interesse
an mirabilia, das auch andere zeitgenössische Texte bezeugen,13 eine Welle
irischer Klostergründungen in Deutschland in diesem Zeitraum eine Rolle ge-
spielt.14
        Die deutschsprachige Reise weicht von der lateinischen navigatio ge-
rade hinsichtlich der Frage nach Geltung und Beglaubigung der Wunder am
Deutlichsten ab. Während Brandan in der Rahmenhandlung der navigatio
freiwillig auf die Suche nach dem irdischen Paradies geht, fährt der deutsch-
sprachige Brandan der Reise auf das Meer hinaus, weil ihn Gott dazu zwingt.
Denn dieser Brandan ist ein Sünder: In der Rahmenerzählung gerät er über
Wunderberichte, die er in „selzenen buchen”15 (‚seltsamen Büchern’) sucht

13
     Christoph Fasbender. Heidelberg 2002. Zu den verschiedenen Fassungen der
     ‚Reise’: Hahn [Anm. 9], S. 211–220, zur Fassung M: S. 212f.
13
     Die deutschsprachige Erzählliteratur zeigt an ihren Anfängen ein großes Interesse
     an Reiseerzählungen, die ihre Protagonisten in eine meist fernöstliche Fremde füh-
     ren, in der sie in einer Reihe von Episoden Unvertrautem und Monströsem begegnen,
     sowie an jenseitig anmutende, paradiesische Orte gelangen. Solche Texte, wie der
     Herzog Ernst oder der Alexanderroman, weisen Motivparallelen zum Brandan auf,
     bilden gleichfalls Hybride unterschiedlicher Erzähltraditionen und entwickeln kom-
     plexe narrative Strategien, um ein Erzählen vom Wunderbaren zu legitimieren, in-
     dem sie das Erzählte als wahr ausgeben. Das Wunderbare in diesen Texten, begrif-
     fen als ein Wissen, dass sich aus verschiedenen kulturellen Traditionen speist, ist
     Gegenstand meiner Dissertationsschrift mit dem Titel ‚Mirabiles Wissen. Reiseerzäh-
     lungen um 1200 im transkulturellen Kontext arabischer Literatur’, die im Jahr 2021
     als Buch erscheinen wird.
14
     Bei den Mönchen in diesen Klöstern handelte es sich ausschließlich um Iren, die sich
     – gemäß der altirischen Askesetradition einer lebenslangen Wallfahrt in der Fremde
     – dazu entschieden hatten, im deutschsprachigen Raum zu leben. Um diese Klöster
     am Leben zu erhalten, mussten ständig irische Novizen nachkommen. Die irischen
     Mönche blieben daher Fremde in ihrer Umgebung, meistens bevölkerungsreichen
     Orten wie Regensburg oder Würzburg. Die fremden Asketen erwarben sich als welt-
     kundige Gebildete und religiöse Virtuosen ein gewisses Prestige, was ihnen das Pro-
     tektorat von König und Bischöfen einbrachte. Womöglich ging das einher mit einer
     sie umgebenden Aura von Exotik, der zugleich ein religiöse Dimension zukam. Das
     könnte eine bestimmte, zeitgenössische Perspektivierung auch der Brandan-Erzäh-
     lung bedingen, die die Wunder der Fremde, deren Zeuge Brandan wird, nicht nur
     wiedergibt, sondern – wie sein Protagonist und die Mönchsgemeinde, für die er steht
     – selbst als ein Wunder der Fremde ansah. Dass irische Klöster als ‚Schottenklöster’
     bezeichnet wurden, rührt daher, dass die deutsche Bevölkerung diese Mönche
     „scoti” oder eben Schotten (Irland heißt historisch auch scotia minor) nannte. Vgl.
     Helmut Flachenecker: Schottenklöster. Irische Benediktinerkonvente im hochmittel-
     alterlichen Deutschland. Paderborn u.a. 1995.
15
     Brandan, V. 22.

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und findet, weil er sie nicht glauben kann, so in Zorn, dass er das Buch
verbrennt und dessen Dichter verflucht („vor zorne brante er daz buch / unde
tete dem tichter einen vluch”16). Der Text nennt an dieser Stelle einzelne
Gegenstände der Wunderberichte, die Brandan so erzürnen: zum Beispiel
einen Riesenfisch, auf dessen Haut ein Wald wächst, die Existenz von drei
Paradiesen, oder eine Welt, die unter dieser Erde liegt.17
       Die Buchverbrennung Brandans erregt Gottes Zorn. Gott wendet sich
direkt an Brandan und befiehlt ihm, dass dieser zur Strafe (bzw. als Buße)
dafür, dass er seine „wunder” – und damit auch deren „wahrheit sinne”18 –
vernichtet habe, nun ausfahren müsse, um sie mit seinen eigenen Augen zu
bezeugen und am eigenen Leib zu erfahren. Zu Schiff durchreist Brandan
gemeinsam mit einigen Mönchsbrüdern daraufhin orientierungslos eine oze-
anische Welt, in der die Grenze zwischen diesseitigen und jenseitigen Zonen
immer wieder verschwimmt, alles gleichsam „i[n] Fluss” gerät.19 Mehrfach
kommt es zu Begegnungen mit Heiligen und Sündern, aber auch zu regel-
rechten Kämpfen mit Teufeln. Brandan bewährt sich dabei zunehmend in sei-
ner Glaubensstärke, was schließlich – in der Begegnung mit einem fremden
Volk, deren Angehörige sich als neutrale Engel zu erkennen geben20 – auch
zu einer Art Bekehrung oder conversio führt, mit der Brandan seinen immer
noch nicht völlig getilgten Zweifel nun endlich überwindet.21 Während der
Reise schreibt Brandan auf, was er sieht. Er stößt dabei neben anderen auch

16
     Brandan, V. 49f.
17
     Die gesamte Passage: Brandan, V. 24–43.
18
     Brandan, V. 58f.
19
     Julia Weitbrecht: Aus der Welt: Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen
     der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011, S. 198.
20
     Bei den ‚neutralen Engeln’ handelt es sich um eine Gruppe von Engeln, die aufgrund
     ihrer Gleichgültigkeit gegenüber dem Luzifer-Sturz – ihrer ‚Neutralität’ in dieser An-
     gelegenheit – von Gott aus dem Himmel vertrieben, nicht aber in die Hölle verbannt
     wurden. Wie Menschen leben die neutralen Engel auf der Erde und sind prinzipiell
     erlösungsfähig. Die Vorstellung von den neutralen Engeln begegnet prominent zu-
     erst im irischen Schrifttum, namentlich in der navigatio-Fassung des Brandan, und
     wird in der Folge etwa im Parzival Wolframs von Eschenbach oder in Dantes Inferno
     erwähnt. Vgl. grundlegend Coree Newman: The Good, the Bad and the Unholy:
     Ambivalent Angels in the Middle Ages. In: Michael Ostling (Hg.): Fairies, Demons,
     and Nature Spirits: „Small Gods” at the Margins of Christendom. London 2018, S.
     103–122, hier: S. 108; im Besonderen zur Reise-Fassung des Brandan: Clara Strij-
     bosch: Himmel, Hölle und Paradiese in Sanct Brandans ‚Reise’. In: Zeitschrift für
     deutsche Philologie 118 (1999), H. 1, S. 50–68, hier: S. 58f.
21
     Peter Strohschneider: Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswis-
     sen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende. In: Scientia poetica, Band 1
     (1997), S. 1–34, hier: S. 18.

164
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

auf jene Phänomene, welche anfangs seinen Zorn erregt haben, gleich zu
Beginn zum Beispiel auf den Riesenfisch. Brandan stellt damit schreibend
(und durch seine im Erzählen vergegenwärtigte Erfahrung) die ‚wunder’, die
er zuvor zerstörte, gewissermaßen wieder her – allerdings in veränderter
Form. Schon in der Rahmenhandlung wurden die medial durch das Buch ver-
mittelten Wunder in der Ansprache Gottes mit den ‚echten’ Wundern identi-
fiziert, die Vernichtung des Buches mit der Vernichtung der Wunder gleichge-
setzt, weil sie nun nicht mehr erfahrbar („warheit sinne”) seien. Durch das
Schreiben eines neuen Buches – das mit dem vernichteten keinesfalls iden-
tisch sein muss – stellt Brandan den erfahrungsmäßigen Zugang zu den Wun-
dern wieder her und re-kreiert sie damit gleichsam durch die mediale Doku-
mentation ihrer Erfahrung. In der mittelniederländischen Fassung der Reise
wird diese Engführung von tatsächlichem Wunder und seiner medialen Re-
präsentation noch auf die Erzählung selbst übertragen: An einer Stelle wird
dort gesagt, dass das, was wir gerade lesen, Brandan selbst aufgeschrieben
habe.22 Das Medium selbst wird somit zum Objekt des Staunens und Gegen-
stand religiöser Erfahrung. In diesem Sinne wird es durch die Erzählung ‚mi-
rabilisiert’. Denn die Erzählung vollzieht nicht nur die Erfahrung der Wunder
durch Brandan nach, sondern lässt das Publikum die Wunder, ihre Erfahrung
sowie den Umstand, dass diese dokumentiert wurden, als ein Wunder erfah-
ren.
        Damit komme ich zum Aspekt der Transkulturalität, die den Text be-
sonders im Zusammenhang religiöser Erfahrung in seiner Ästhetik kenn-
zeichnet. Denn in welcher Weise gibt die Brandan-Reise Anlass zum Stau-
nen? Um diese Frage zu erörtern, sei ein Erzählabschnitt herausgegriffen:
Am Ende der Seefahrt, nach Brandans conversio bei den neutralen Engeln,
wird das Erzählte zunehmend mysteriös. Brandan gelangt mit seinen Mön-
chen auf offenem Meer an einen rätselhaften Ort, an dem sie plötzlich Stadt-
geräusche, Kirchenglocken und Festgelärm hören – sie sehen aber nur Was-
ser und Himmel.23 Als sie den Anker setzen, wird dieser plötzlich in der Tiefe

22
     Vgl. Reise-Fassung des Brandan in der Version C, V. 1792: Sankt Brandans Reise.
     Hrsg. v. Elisabeth Schmid u. Clara Strijbosch. Münster 2009. Vgl. zu diesem Befund:
     Ebd., S. 126; Clara Strijbosch: Ein Buch ist ein Buch ist ein Buch. Die Kreation der
     Wahrheit in „Sankt Brandans Reise”, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deut-
     sche Literatur, 131,3, 2002, S. 277–289; Beatrice Trînca: Brandans Buch der Welt
     – eine konkretisierte Metapher, in: Spatial Metaphors. Ancient Texts and Transfor-
     mations. Hrsg. v. Fabian Horn u. Cilliers Breytenbach. Berlin 2016, S. 205–219, hier:
     S. 208.
23
      „Do horten sie groze wunne: / die glocken horten sie clingen, / die pfaffen vil wol
     singen, / kirchvolc lute rufen / sie horten schrien und rufen / von weidelichen

                                                                                     165
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festgehalten. Möglicherweise sind Brandan und seine Mönche bei der ein-
gangs erwähnten ‚Welt unter der Erde’ angelangt, die hier eine Welt unter
oder im Meer zu sein schein. Laut bitten sie Gott um Hilfe.24 Ein Einsiedler
und ein Zwerg hören ihre Rufe und eilen mit einem Boot herbei.25 Der Zwerg
trägt den Namen ‚Botewart’ und wird ambivalent dargestellt. Er erscheint
den Mönchen „gruwelich getan”26 und „ungehure”27, singt mit lauter
Stimme, die mit einem Hornstoß verglichen wird,28 „heidnische” Lieder, die
aber auch als „schöne” bewertet werden,29 außerdem trägt er vornehme
Pelz- und Seidenkleider. Der Zwerg übernimmt das Steuer, hilft den Mön-
chen, sich aus der Zwangslage zu befreien und die fremde Gegend wieder zu
verlassen. Er bleibt aber eine irritierende Figur. Clara Strijbosch hat darauf
hingewiesen, dass Zwerge in irischen Echtrai häufig als Herrscher von Un-
terwasserwelten begegnen und auch die Funktion von Führern zwischen den
Welten übernehmen können.30 Botewart scheint auf eine solche Zwergenfi-
gur zurückzugehen. Für ein deutschsprachiges Publikum bleibt dieser Bezug,
der ein bestimmtes Wissen über irische Erzähltraditionen und die Funktion
von Zwergenfiguren darin voraussetzt, höchstwahrscheinlich unverständ-
lich. Diese Konstellation aber bewirkt Irritationen und evoziert einen Ein-
druck des Geheimnisvollen, einen Eindruck, den der Text durch den Hinweis

24
     schranzen, / sie horten schone tanzen / von mannen und von wiben, / sie horten
     vihe da triben, / ros und der rindere genoz. / die nam des wunder michel groz, /
     wand sie in so nahen waren / und nicht sahen offenbaren / wan wazzer und den
     himel.” (V. 1470–1483).
24
     V. 1513f.
25
      „Als die barke in nahen began, / […] / […] sahen sie […] / ein getwerc gruwelich
     getan, / der stunt an dem sture. / ez duchte sie wesen ungehure / der getwerc der
     hiez Botewart. / vil michel groz was im sin bart / und daz har also lanc. / erlichen
     der getwerc sanc / heidenische schone lit. / im was die kel also wit / und die stimme
     also groz, / daz sie als ein horn irdoz. / […] / im was al sin gewant / pfellelin und
     sidin.” (V. 1541–1568). Übersetzung: Als sich das Boot ihnen näherte / […] / […]
     sahen sie […] / einen grausigen Zwerg / der an dem Steuer stand. / Er erschien
     ihnen schrecklich, / der Zwerg, der Botewart hieß. / Er hatte einen gewaltigen Bart
     / und auch sehr langes Haar. / Auf ehrenvolle Weise sang der Zwerg / heidnische,
     schöne Lieder. / Ihm war seine Kehle so sehr weit / und die Stimme so gewaltig, /
     dass sie (laut) wie ein Horn ertönte. / […] / Seine gesamte Kleidung / bestand aus
     Pelz und Seide.
26
     Brandan, V. 1554.
27
     Brandan, V. 1556.
28
     Brandan, V. 1564.
29
     Brandan, V. 1561.
30
     Strijbosch [Anm. 11], S. 234f. verweist auf die Echtra Fergusa maic Léti und auf
     Gerald of Wales.

166
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

auf ‚heidnische’ Gesänge in Bezug auf vorhanden kulturelle (hier religiöse)
Ordnungsmuster noch verstärkt.31 Es wird nahegelegt, dass es mit dem
Zwerg etwas auf sich hat. Was das aber konkret ist, wird verschwiegen. Die
wenigen Informationen, die der Text gibt, bleiben zudem unklar und wider-
sprüchlich.
       Direkt im Anschluss an diese Episode begegnet den Mönchen eine wei-
tere rätselhafte Figur, ein glanzvoller Reiter namens „Helspran”32, dem der
Text eine ausführliche descriptio widmet. Er trägt einen ansehnlichen, herr-
lich geflochtenen, golddurchwirkten Bart, kostbarste Kleider und einen
leuchtenden Karfunkelstein, wird als weise bezeichnet und schließlich gar mit
einem Kaiser verglichen.33 Für die Erzählung ist die Figur besonders bedeut-
sam, da Brandan, als er Helspran sieht, seinen Mitbrüdern mitteilt, dass man
nun alles gesehen habe und fortan versuchen könne, heim nach Irland zu
fahren:

         Als diz wunder besach
         sente Brandan, er do sprach
         ‚lieben brudere alle min,
         waz sule wir hie lenger sin?
         wir han ez allez wol gesehn,
         daz mir solde gesehen
         durch mine sunde, die ich han getan,
         wan ichz wol verdienet han.
         nu bittet die himelische kint,
         daz uns werde ein gut wint
         hin heim zu Yberne. (V. 1815–1825)34

Es bleibt hier nicht nur unklar, wer der Reiter ist und was er bedeutet, son-
dern auch, woher Brandan das Wissen hat, das ihm den Schluss erlaubt, er

31
     Die Bezeichnung ‚Heiden’ gebrauchen mittelalterliche deutschsprachige Texte zu-
     meist für Figuren, die als Muslime markiert werden sollen (lat. saraceni), wenngleich
     die idolatorischen, polytheistischen religiösen Praktiken, die diesen Figuren zuge-
     schrieben werden, das völlige Gegenteil zentraler Glaubensauffassungen des Islam
     darstellen. Daneben kann die Bezeichnung ‚Heiden’ auch für antike, vorchristliche
     Figuren und allgemein Nicht-Christen Verwendung finden.
32
     Brandan, V. 1777.
33
     Brandan, V. 1764–1814.
34
     Übersetzung: Als Sankt Brandan / dieses Wunder sah, sprach er: / ‚Liebe Brüder
     mein, / wozu sollen wir hier länger bleiben? / Wir haben alles das in Gänze gesehen,
     / was ich sehen sollte, / aufgrund meiner Sünde, die ich begangen habe, / wie ich
     es völlig zu Recht verdient habe. / Nun bittet die Heiligen, / dass uns ein günstiger
     Wind entstehe, / der uns heim nach Irland führt.

                                                                                     167
Falk Quenstedt

und die Mönche hätten nun alles gesehen, was zu sehen sei.35 Dieses Wissen
– dessen Vorhandensein die Erzählung anzeigt, das sie aber nicht vermittelt
– macht Brandan an dieser Stelle selbst zu einem Rätsel und nähert ihn den
Figuren des Zwerges und des Reiters an. Clara Strijbosch konnte auch für
diese Episode Bezüge zur irischen Erzählwelt aufzeigen. Ähnlich wie bei den
Zwergen erscheinen dort häufig Reiterfiguren, Herrscher mythischer Wasser-
reiche, die mit besonderer Strahlkraft ausgestattet sind: Sie werden oft an
Ufern erblickt und fungieren als Lotsen. Aber auch dieses fremde Motiv wird
im deutschen Kontext unverständlich. Es kann gerade deshalb aber – zudem
an einem so wichtigen Wendepunkt der Erzählung – besondere Wirkung ent-
falten, ein Geheimnis evozieren. Brandan hat zu diesem verborgenen Wissen
einen Zugang, das Publikum aber nicht. Da zuvor im Text solche rätselhaften
Erkenntnismomente nicht erscheinen, zumindest nicht in dieser Elaboriert-
heit, wäre die Deutung möglich, dass Brandan durch seine conversio einen
Zugang zu diesem verborgenem, mit Gott verbundenem Wissen erlangt hat.
Die Transkulturalität der Erzählung aber ermöglicht das Heraufbeschwören
des Geheimnisses und befördert damit die Selbst-Auratisierung36 des Textes
als ein Mirabile – was ihn in der Rezeption für religiöse Erfahrung öffnet.

II.

Eine solche Zusammenführung der ‚Mirabilisierung’ des Textes als Medium
religiöser Erfahrung mit Hybridisierungen verschiedener kultureller Erzähl-
und Wissenstraditionen erfolgt in ganz ähnlicher Weise in Christian Krachts

35
     Der enigmatische Charakter von Figur und Szene hat die Forschung beschäftigt:
     „The horseman, whom Brendan and his monks see when they have left the country
     of the dwarf, presents something of an enigma, which over the past fifty years
     several scholars have tried to solve.” Strijbosch [Anm. 11], S. 235. Jedoch ist dabei
     kaum bedacht worden, dass es sich um einen absichtsvollen Effekt handeln könnte.
     Auch Walter Haug nennt die Szene „völlig rätselhaft, und behauptet, sie habe „keine
     Funktion, obwohl sie an einer besonders exponierten Stelle” stehe, vgl. Walter
     Haug: Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der
     hochhöfischen Epenstruktur, in: Ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine
     Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1990, S. 379–408, hier: S.
     393.
36
     Zum Begriff der ‚Auratisierung’ im Anschluss an Walter Benjamin vgl. Jutta Eming:
     Luxurierung und Auratisierung von Wissen im „Straßburger Alexander”, in: Fremde
     – Luxus – Räume. Konzeptionen von Luxus in Vormoderne und Moderne. Hrsg. v.
     Jutta Eming, Gaby Pailer, Franziska Schößler und Johannes Traulsen. Berlin 2015,
     S. 63–83.

168
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

Roman Die Toten. Auch in diesem Text zielen dabei beide Momente auf die
Evokation eines Bereichs des Geheimnisvollen. Es sind diese poetologischen
Analogien zwischen dem mittelalterlichen Text und Krachts Roman als Ver-
treter der Gegenwartsliteratur, die einen Vergleich zweier ansonsten ganz
disparater Erzähltexte, die literaturgeschichtlich in keinem direkten Bezug
zueinander stehen, rechtfertigen. Ganz zufällig sind diese Analogien womög-
lich aber nicht: Ein Indiz dafür, dass Kracht sich bei einzelnen Aspekten der
Poetik seines Romans an ‚mittelalterlichen’ Ästhetiken orientiert haben
könnte, sind Interviewaussagen des Autors kurz nach der Publikation von Die
Toten, in denen er sich auffällig affirmativ über mittelalterliche Kunst und
Religiosität äußert und sich von der Moderne distanziert, wenn er von den
„Schrecken der Renaissance” spricht.37
       Parallelen zwischen den Texten zeigen sich nicht nur hinsichtlich poe-
tologischer Momente, sondern auch auf der Handlungsebene. Denn wie die
Brandan-Reise erzählt auch der Roman Die Toten von einer Odyssee seines
Protagonisten, jedoch irrt dieser nicht durch ozeanische Nebelwelten, son-
dern durch das Japan der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, wel-
ches allerdings nicht weniger mysteriös wirkt. Wie im Brandan trägt diese
Reise Züge eines ziellosen und passiv durchlebten Leidensweges: Der
Schweizer Filmregisseur Emil Nägeli, der dem Autor in vielen Aspekten äh-
nelt, befindet sich in einer Lebens- und Schaffenskrise und erlebt gegen Ende
des Textes eine Art conversio: In einem Zustand des Wahnsinns irrt er durch
Japan und dreht mit einer Handkamera, seine Wahrnehmung dokumentie-
rend, einen erlösenden Film, so wie Brandan ein erlösendes Buch schreibt.
Auch Krachts Text verschränkt dabei in metaleptischen Strukturen verschie-
dene mediale Ebenen und legt notorisch die Identität von Erfahrung und fil-
mischer Dokumentation des Irrwegs mit der Erzählung und sogar dem ge-
druckten Buch, Die Toten, nahe: Am Ende des Romans verlautbart der Erzäh-
ler, Nägeli habe seinen Film „genauso genannt […] wie dieses Buch […].”38
       Christian Kracht ist seit Erscheinen seines ersten Romans Faserland im
Jahr 1995 einer der meistbeachteten Autoren der deutschsprachigen Gegen-

37
     Ijoma Mangold: Christian Kracht: „Ich bin ein schlimmer Nostalgiker”, in: DIE ZEIT
     46, 2016, https://www.zeit.de/2016/37/die-toten-roman-christian-kracht
     [13.12.2018]. Der spielerische Bezug auf den Roman wird mit Blick auf die gesamte
     Interview-Passage deutlich: „Die anonymen Fresken von San Miniato haben es ihm
     [Christian Kracht] aber auch aus einem anderen Grund angetan: Sie stammten aus
     einer Zeit, in der ‚die Schrecken der Renaissance’ noch nicht die Zentralperspektive,
     das Individuum und die Künstlerpersönlichkeit hervorgebracht hätten. ‚Aber’, unter-
     bricht er sich, ‚was hat das mit meinem Roman zu tun?’”
38
     Die Toten, S. 206.

                                                                                     169
Falk Quenstedt

wartsliteratur, was mit der Qualität seiner Texte zusammenhängt, zu einem
sicherlich nicht geringem Ausmaß aber ebenso mit der raffinierten, oft pro-
vokativen medialen Selbstinszenierung des Autors, die als Teil seiner literari-
schen Poetik aufzufassen ist.39 Die Motive der religiösen Erfahrung und des
(umherirrenden) Reisens sind im Werk Krachts allgegenwärtig, besonders
deutlich im Roman 1979 (2001), wobei Formen von Ironie und ‚Schwarzem
Humor’ eine wichtige Rolle spielen. Das gilt auch für Die Toten, doch steht
hier eine Auseinandersetzung mit dem kunstreligiösen Ästhetizismus der Mo-
derne (im Sinne des fin de siècle oder der décadence) im Mittelpunkt. Der
Künstlerroman knüpft damit an seine direkten Vorgänger, den Kolonialroman
Imperium (2012) und die alternativgeschichtliche Cyberpunk-Dystopie Ich
werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) an, thematisiert
die Ästhetik der Moderne dabei aber nicht mehr nur stilistisch-formal und
über das Inventar der Erzählwelt, sondern auch auf der Ebene der Figuren-
motivation. Dabei wird die Verknüpfung von Ästhetik und religiöser Erfahrung
in Charakterisierungen der Filmkunst Nägelis besonders deutlich: „Am Ende
seines Lebens wird Nägeli sagen, es habe in einhundert Jahren Kino lediglich
fünf Genies gegeben – Bresson, Vigo, Dowshenko, Ozu und ihn selbst.”40
Denn: „es geht diesen Regisseuren in all ihrem Streben nicht nur um die
Unmöglichkeit, die Farbe Schwarz darzustellen, sondern auch um das Aufzei-
gen der Anwesenheit Gottes.”41 Die absichtsvolle Überblendung von Roman-

39
     Es überrascht insofern umso mehr, dass Krachts Schilderung im Rahmen der Frank-
     furter Poetikvorlesung 2018, als Internatsschüler von einem Lehrer missbraucht
     worden zu sein, nahezu ausschließlich ohne Rücksicht auf die Medienkunst dieses
     Autors rezipiert wurde (was nicht bedeutet, dass ich Krachts Aussagen in Zweifel
     ziehen möchte). Da die Vorlesung Krachts auf Wunsch des Autors hin nicht veröf-
     fentlicht ist (so wie auch zuvor seine Rede zur Verleihung des Wilhelm-Raabe-Prei-
     ses, vgl. dazu Hubert Winkels: Vorwort, in: Christian Kracht trifft Wilhelm Raabe: die
     Diskussion um „Imperium” und der Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2012. Hrsg. v. Hu-
     bert Winkels. Berlin 2. Aufl. 2013, S. 7–20) und ich persönlich daran nicht teilge-
     nommen habe, kann ich Krachts Ausführungen zu seiner Poetik, die derart nur aus-
     zugsweise und indirekt über journalistische Berichte zugänglich sind, kaum berück-
     sichtigen. Erwähnt sei aber, dass sich Krachts zweite Vorlesung der Parodie wid-
     mete. Vgl. den ausführlichen Bericht von Kevin Kempke und Miriam Zeh: Der Autor
     ist anwesend – Ein Abschlussbericht zu Christian Krachts Frankfurter Poetikvorle-
     sungen, in: MERKUR-Blog, 23.05.2018, https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/
     05/23/der-autor-ist-anwesend-ein-abschlussbericht-zur-christian-krachts-frankfur-
     ter-poetikvorlesungen/ [13.12.2018].
40
     Die Toten, S. 38f.
41
     Die Toten, S. 39. Die darin zum Ausdruck kommende religiöse Dimension der Kunst
     Nägelis behauptet nicht nur der Erzähler; so erkennt eine der Figuren in einem der
     Filme Nägelis, dass dieser „den Versuch einer Definition des Transzendentalen, des

170
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

figur und Autor wird anhand von Aussagen Krachts in einem Interview mit
Ijoma Mangold erkennbar, das kurz vor Veröffentlichung des Romans er-
schien. In ganz ähnlicher Weise wie der Erzähler von Die Toten formuliert
Kracht, dass ihn „Literatur ohne metaphysische Dimension […] [nicht] inter-
essiere […]: ‚Das Einzige, was ich in der deutschsprachigen Nachkriegslitera-
tur ertragen kann, sind Sebald, Handke, Ransmayr, Clemens Setz und Ce-
lan.’”42 Es handele sich bei den Texten dieser Autoren um „transzendente
Literatur: [um] das Aufzeigen des Göttlichen, des Mysteriums.”43 Die Kenn-
zeichnung der Ästhetik der Romanfigur durch die Erzählinstanz ist der Inter-
viewaussage des Autors (bzw. der Autor-Figur) in Inhalt, Wortwahl und selbst
in der Aufzählung von Namen ganz analog. Dass Kracht den Begriff der Mo-
derne auf Nachkriegsautoren, auf die Literatur der Gegenwart und sich selbst
ausdehnt, zeigt der Klappentext von Die Toten, der – in eindeutiger Zweideu-
tigkeit – Christian Kracht zu den „modernen deutschsprachigen Schriftstel-
lern”44 zählt. Darin zeigt sich ein multimediales Verfahren der Auratisierung
des Textes, das sich mit dem Begriff des Mirabilisierens beschreiben lässt,
weil es in schillernder Weise auf die Evokation eines Geheimnisses verweist.
        Die Toten spielt in den Jahren 1932 und 1933, seine Schauplätze lie-
gen in der Schweiz und in Japan, in Deutschland (Berlin) und den USA (Los
Angeles). Die Dreiergruppe der Hauptfiguren bilden: der schon erwähnte
Schweizer Filmregisseur Nägeli; seine Verlobte, die Schauspielerin Ida von
Üxküll, die bei Einsetzen der Handlung in Japan weilt; und der japanische

42
     Spirituellen darstellte. Nägeli war es ganz offensichtlich gelungen, mit den Mitteln
     der Filmkunst innerhalb der Ereignislosigkeit das Heilige, das Unaussprechbare auf-
     zuzeigen.” S. 25. Gerade diese Überlagerung ästhetischer und religiöser Erfahrung,
     insbesondere mit Blick auf das Alltägliche, ist ein wesentliches Kennzeichen von
     Ästhetiken der Moderne, wie sie etwa bei Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria
     Rilke oder auch Robert Musil zu finden sind, aber auch von modernen Religionsthe-
     orien, etwa bei William James oder Rudolf Otto. Mit Blick auf Otto stellt Braungart
     fest, dass „[i]n dieser Perspektive […] das Kunstwerk zum Abglanz und Vorschein
     […] [wird]. Durch das Kunstwerk eröffnet sich im Reich des Instrumentellen und der
     alltäglichen Zwecke eine Dimension von Transzendenz. Das Kunstwerk wird zum
     Zeichen des Einbruchs und der möglichen Anwesenheit des ganz Anderen.” Wolf-
     gang Braungart: Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Über-
     legungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des
     Heiligen. In: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden. Bd. 2:
     Um 1900. Hrsg. v. Wolfgang Braungart u. Gotthard Fuchs. Paderborn u.a. 1998, S.
     15–29, hier: S. 27.
42
     Mangold [Anm. 37].
43
     Ebd.
44
     Klappentext auf dem Umschlag von Die Toten, 1. A. 2016 (H.v.m., F.Q.).

                                                                                    171
Falk Quenstedt

Kulturfunktionär Masahiko Amakasu,45 der so gut mit der deutschen Sprache
vertraut ist, dass er schon als Vierjähriger Heine-Gedichte rezitiert.46 Dane-
ben gibt es eine Vielzahl von Nebenfiguren, oft historische Charaktere wie
zum Beispiel Charles Chaplin oder Heinz Rühmann. Amakasu fädelt ein kul-
turpolitisches Bündnis zwischen deutscher und japanischer Filmindustrie ein,
um der beginnenden Vormachtstellung Hollywoods entgegenzuwirken und
eine Verkettung von Zufällen führt dazu, dass ausgerechnet Nägeli als Regis-
seur ausgewählt wird.47 In Japan angekommen ist Nägeli von der Alltagsäs-
thetik wie verzaubert und macht im Anblick von Straßenszenen, von Schrei-
nen und Bauernhäusern Erfahrungen, die religiöse Dimensionen anneh-
men.48 Solche Szenen sind jedoch stets durchsetzt mit persiflierenden An-
spielungen auf Jun’ichirō Tanizakis 1932 veröffentlichten ‚Entwurf einer japa-
nischen Ästhetik’, In’ei raisan („Lob des Schattens”).49 Als Nägeli entdeckt,
dass seine Verlobte Ida und Amakasu ein Liebesverhältnis eingegangen sind,
wird er wahnsinnig, irrt ziellose durch Japan und dreht dabei seinen Film. Am
Ende sieht man Nägeli wohlbehalten und arriviert zurück in Zürich, wo er
seinen Film fertig stellt: „Nachdem er ihn zweimal angesehen hat, lächelt er
still und stolz in sich hinein, weil er weiß, daß es ein Meisterwerk ist.”50 Die
anderen beiden Hauptfiguren aber, Ida und Amakasu, die auch in Nägelis
Film Hauptrollen spielen, kommen unerwartet, rasch und äußerst leidvoll zu
Tode. Der Roman endet mit Idas Selbstmord.

45
     Kracht greift die Biografie der historischen Person Masahiko Amakasu auf, erzählt sie
     aber um.
46
     Die Toten, S. 47.
47
     Nägeli wird von der Universum Film AG, kurz UFA, mit umfangreichen Mitteln aus-
     gestattet nach Japan geschickt, um einen Gruselfilm zu drehen, mit Heinz Rühmann
     in der Hauptrolle. Er lässt sich auf eine Zusammenarbeit mit dem von ihm zutiefst
     verabscheuten Hugenberg nur ein, weil Lotte Eisner und Siegfried Kracauer (die
     wichtigsten Filmkritiker der Weimarer Republik, die 1933 als Juden ins Pariser Exil
     flüchten mussten, wovon der Roman auch erzählt) ihn während einer betrunkenen
     Nacht in Berlin dazu überredet haben – mit dem Zweck, die Nazis zu schröpfen.
48
     Nägeli durchläuft gar eine kosmetische Verjüngungskur (S. 157), eine Parodie auf
     die Behandlung Aschenbach in Thomas Manns „Tod in Venedig”.
49
     Jun’ichirō Tanizaki: Lob des Schattens. Entwurf einer japanischen Ästhetik. Zürich
     2007. Auf die vielfältigen Bezugnahmen in „Die Toten” zu Tanizaki und vor allem zu
     „Lob des Schattens”, mit dem sich Kracht auch in einem früheren Japan-Reise-Text
     (Christian Kracht: Lob des Schattens. Japan, 1999, in: Ders.: Der gelbe Bleistift.
     Reisegeschichten aus Asien. Mit einem Vorwort von Joachim Bessing. München
     6
      2009) auseinander gesetzt hat, kann ich leider nicht eingehen. Verwiesen sei nur
     beispielsweise auf das Kapitel 13 (Die Toten, S. 58ff.), das vom Besuch einer Berg-
     hütte erzählt.
50
     Die Toten, S. 205.

172
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

Die Poetik des Romans ist durch ausgestellte Künstlichkeit, Selbstbezüg-
lichkeit, Pastiche und Parodie geprägt, sowie – und das ist wohl etwas Be-
sonderes – durch eine Ästhetik kalkulierter ‚Fehler’, die in eigenwilliger Weise
an Tanizakis Lob des Schattens anknüpft.51 Die Prosa des Textes kenn-
zeichnet eine skurrile Manieriertheit, die schiefe Metaphern und Vergleiche,
fehlende Satzglieder, Konstruiertheiten der Handlung oder Unklarheiten in
der Erzählperspektive aufweist52 – es häufen sich zudem ‚falsche’ Veror-
tungen historischer Ereignisse und Figuren. Weitere Kennzeichen der Poetik
des Romans sind seine Intermedialität53, vor allem durch die Präsenz des
Mediums Film, sowie seine Transkulturalität, die primär in der Allgegenwart
japanischer Kunst und Kultur greifbar wird. Beide Momente sind dabei stets
auf Ästhetiken der (klassischen) Moderne bezogen. So wird der Schutzum-
schlag des Buchs von einem Farbholzschnitt Kawase Hasuis54 geziert und
dem Romantext ein Zitat von Tanizaki, dem klassischen Autor der japani-
schen Moderne, vorangestellt.55 Damit einher geht eine Ausstellung von

51
     Nägeli entdeckt an einer Stelle selbst den Fehler als Quintessenz einer neuen Ästhe-
     tik: „Er muß sich etwas Neues ausdenken, etwas noch nie Dagewesenes, es muß
     fehlerhaft sein, ja, exakt das ist die Essenz; es reicht nicht mehr, durch Film eine
     transparente Membran erschaffen zu wollen, die vielleicht einem von tausend Be-
     trachtern vergönnt, das dunkle, wunderbare Zauberlicht hinter den Dingen er-
     kennen zu können. Er muß etwas erschaffen, das sowohl in höchstem Maße künstlich
     ist, als sich auch auf sich selbst bezieht.” Die Toten, S. 153.
52
     Vgl. Susanne Komfort-Hein: Harakiri, Hitler und Hollywood: „Die Toten”, in: Chris-
     tian Kracht. Hrsg v. Christoph Kleinschmidt. München 2017, S. 67–74, hier S. 70:
     „In längeren Passagen in erlebter Rede lässt sich oft nicht entscheiden, wer spricht:
     der Erzähler oder die Figur. Die Figurenrede wird nahtlos in den Erzählerbericht ver-
     woben. Sie lässt sich nur an der Ausdrucksweise erkennen, an Frageformulierung,
     Vermutungen oder Ausdruck anzeigenden Formulierungen: „Gewiss hatte sie die Tür
     verschlossen …”, „Aber ach! Es war zu spät …” Hier gilt nicht die Perspektive eines
     allwissenden Erzählers, der sich in die Figur hineinversetzt, vielmehr verschmelzen
     Erzählerstimme und Figurenstimme. Dabei bleibt die erlebte Rede meistens beim
     „Jetzt” der Figur, Analepsen und Prolepsen werden als Gedankengänge der Figur
     eingebaut und sind bezogen auf das aktuelle Geschehen. Die erlebte Rede erzeugt
     damit den Eindruck von Unmittelbarkeit, wenngleich die Verwendung der dritten
     Person Singular einen „objektiv-unpersönlich erscheinenden Bericht” suggeriert.”
53
     Vgl. Ebd.
54
     Kawase Hasui (1883–1957) ist ein wichtiger Vertreter des Kunstrichtung des Shin-
     hanga, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts traditionelle Fertigungsweisen und The-
     men des Ukiyo-e mit modernen Themen verband. Vgl. Amy Reigle Newland: A place
     for poetry. Shin-hanga landscape in modern Japan, in: Visions of Japan: Kawase
     Hasui’s masterpieces. Leiden u.a. 2008, S. 9–18.
55
     Das Zitat lautet: „Ich habe nur ein Herz, / niemand kann es kennen außer ich selbst.”
     (Die Toten, S. 7.) Es handelt sich dabei um ein Kurzgedicht, ein tanka, das in einer

                                                                                     173
Falk Quenstedt

Fremdheit, die sich schon im Paratext andeutet, wenn das Publikum noch vor
Beginn der eigentlichen Lektüre auf kanji stößt, mit denen die drei Teile des
Romans betitelt sind: Die kanji: jo (序), ha (破) und kyū (急) – letzteres im
Roman als kiū transkribiert – bedeuten soviel wie ‚Einleitung’, ‚Entwicklung’,
‚Finale’ oder ‚Anfang’, ‚Mitte’, ‚Ausgang’. Japanische Ästhetiken verbinden mit
den Begriffen eine ideale Verlaufsform ästhetischer Vorgänge, vor allem im
Nō-Theater.56 Tatsächlich entspricht der Inhalt der drei Teile von Die Toten
diesen Strukturvorgaben. Sie werden genau in der Mitte des Romans von
einer Figur namens Kono erklärt:
         „das Essentielle am Nō-Theater sei das Konzept des jo-ha-kiū, welches
         besagt, das Tempo der Ereignisse solle im ersten Akt, dem jo, langsam
         und verheißungsvoll beginnen, sich dann im nächsten Akt, dem ha, be-
         schleunigen, um am Ende, im kiū, kurzerhand und möglichst zügig zum
         Höhepunkt zu kommen.”57

Das Wunderbare im Horizont religiöser Erfahrung wird in Die Toten immer
wieder prononciert und zugleich rätselhaft heraufbeschworen, wenn wieder-
holt von einem Zwischenbereich die Rede ist, in dem die Sphären von Alltags-
realität, Film, Theater, Fiktion, Illusion, Erinnerung, Traum und jenseitiger
Anderswelt ineinander verschwimmen, wobei der Erzähler oft vage kosmolo-
gische Zusammenhänge geltend macht. Mehrfach lassen solche Darstellun-
gen momenthafter, epiphanieartiger Erfahrungen einen ‚dritten Raum’ der
Wahrnehmung entstehen, der jedoch – wie der Roman insgesamt – nicht frei
von Komik ist.58

56
     Kalligrafie aus dem Jahr 1963 von Tanizakis Hand erhalten ist: https://en.
     wikipedia.org/wiki/Jun%27ichir%C5%8D_Tanizaki#/media/File:Junichiro_
     Tanizaki%27s_handwriting_1963.jpg [13.12.2018]). Die deutsche Übersetzung des
     Gedichts stammt vermutlich von Kracht selbst. Englische Übersetzungen des Ge-
     dichts („The heart of mine is only one, / it cannot be known by anybody but myself”)
     sind online reichlich zu finden. Zur Einordnung Tanizakis vgl. Irmela Hijiya-Kirsch-
     nereit: Tanizaki Jun’ichirō, in: Dies.: Japanische Gegenwartsliteratur. Ein Handbuch.
     München 2000, S. 59–97.
56
     Vgl. Carl Wolz: Tanz im Noh-Theater. In: The World of Music, Band 17,3 (1975), S.
     56–59, hier: S. 57.
57
     Die Toten, S. 104
58
     Ein Beispiel: „Endlich frühmorgens eingenickt, betritt sie […] für ganz kurze Zeit
     etwas ängstlich das Totenreich, jene Zwischenwelt, in der Traum, Film und Erinne-
     rung sich gegenseitig heimsuchen […]”, Die Toten, S. 173. Ein dabei oft erscheinen-
     des Motiv ist ein „wesenloses Hauchen”, das etwa klingt wie ein langgezogenes „hah”
     und auch mit dem Buchstaben „H” verbunden wird. Damit spielt der Text wahr-
     scheinlich auf Vorstellungen der Atem- oder Hauchseele an, die in vielen Religionen

174
Mirabile Texturen. Erzählen und religiöse Erfahrung

Ein weiterer Bezugspunkt des Romans ist Yukio Mishima, einer der wichtigs-
ten japanischen Autoren der Nachkriegszeit.59 Das erste Kapitel erzählt vom
rituellen Selbstmordes (seppuku) eines Offiziers, der auf mehreren Ebenen
ästhetisiert wird: Zunächst im Erzählen selbst, dann dadurch, dass das Blut
des Selbstmörders eine kakejiku, eine Bildrolle, formschön bespritzt,60 zu-
letzt, weil der Suizid mit einer hinter einem Loch in der Wand versteckten
Kamera gefilmt wird – was dann auf der Handlungsebene für die politischen
Verflechtungen der Romanwelt relevant wird. Die Verbindung von Schönheit,
Schmerz und Sterben ist ein Sujet vieler Texte von Mishima. In der Erzählung
Yūkoku („Patriotismus”) von 1961 wird ebenfalls ein seppuku ästhetisierend
dargestellt.61 Krachts Text bildet das nach, wie etwa das Motiv des schönen
Blutverspritzens zeigt.62 Die Pointe dieser Anspielung ist aber, dass Mishima
seine Erzählung nicht nur selbst verfilmt hat – sondern sich am 25. November
1970 auch selbst in dieser Weise tötete.63 Mishima ist nicht nur für diese
Szene wichtig, sondern bildet eine Kristallisationsfigur des gesamten Ro-
mans, vor allem mit Blick auf die Verbindung des modernen Ästhetizismus
mit politischen Totalitarismus.
        Die Toten thematisiert diese Verbindung ständig, unter anderem im
Hinblick auf Poetiken und konkrete literarische Verfahrensweisen, die mit ei-
ner kunstreligiösen Ästhetik einhergehen können: durch das Aufgreifen vor-
moderner Strukturmodelle und Stoffe, durch narrative und poetische Insze-
nierungsformen epiphanieartiger Momente, durch Verfahren der Beglaubi-
gung, die über den Text hinausweisen, in dem z.B. das Werk existenzielle
Bedeutung für das Leben von Autoren annimmt, wie das bei Mishima in äu-
ßerster Konsequenz und Drastik der Fall ist.

59
     eine Rolle spielen und in synkretistischer Weise für moderne Esoterik einen wichti-
     gen Bezugspunkt bilden.
59
     Irmela Hijiya-Kirschnereit: Mishima Yukio. In: Dies.: Japanische Gegenwartslitera-
     tur. Ein Handbuch. München 2000, S. 238–267.
60
     „[E]ine Blutfontäne spritze seitwärts zur unendlich zart getuschten kakejiku, zur
     Bildrolle hin. Es sah aus, als sei das kirschrote Blut mittels eines Pinsels, den ein
     Künstler mit einer einzigen, peitschenhaften Bewegung aus dem Handgelenk ausge-
     schüttelt hatte, absichtlich quer über die kakejiku geklatscht worden, die dort in
     erlesener Einfachheit im Alkoven hing.” Die Toten, S. 12.
61
     Dt. Übers.: Yukio Mishima: Patriotismus. In: Ders.: Gesammelte Erzählungen. Mit
     einem Nachwort von Donald Keene. Übers. aus dem Amerikanischen (auf Wunsch
     des Autors) von Ulla Hengst. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 99–121.
62
     Ebd., S. 118.
63
     Vgl. zum Verhältnis von Text und Film: Rebecca Mak: Mishima Yukios Yūkoku (Pat-
     riotismus) – Performativität im Text und Textualität im Film. In: Bunron – Zeitschrift
     für literaturwissenschaftliche Japanforschung, Band 1 (2014), S. 79–112.

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Falk Quenstedt

Ich möchte diese Verbindung anhand der Darstellung des Nō in Die Toten –
ebenfalls eine Referenz auf Mishima, der diese theatrale Kunstform moderni-
sierte64 – im Detail nachvollziehen, vor allem im Hinblick auf die transkultu-
relle Textur des Romans. Wie angedeutet, wird in dessen Mitte von einer Nō-
Aufführung erzählt. An ihr nehmen – im „Halbdunkel des Nō-Theaters” – un-
ter anderem Ida, Amakasu und der schon genannte Kono teil. Damit die be-
sondere intertextuelle, intermediale und transkulturelle Faktur des Textes
deutlich werden kann, zitiere ich einen längeren Auszug aus der Episode. Als
die Vorstellung beginnt, fühlt sich

         „[…] Ida, die bereits einige dieser Darbietungen besucht hat, […] plötz-
         lich an ihre Stunden mit Ezra Pound erinnert, an ein ihr lange verloren-
         gegangenes Buch über Nō, und da erscheint auch schon der erste
         Schauspieler, rot maskiert, in gelbseidenes Tuch gehüllt, einen eisernen
         Ring auf dem Kopf, die Hände rot geschminkt, zu einschneidenden, fast
         gleißenden Flötenmelodien, und alles ist vergessen im Bann der Ge-
         schehnisse. Es ist jetzt die Stunde, die die Sehnsucht zurückbringt…

         Die Stunde war’s, wo voll von Heimwehtrieben
         Des Schiffers weiches Herz in Sehnsucht schwimmt
         Am Tag, da weinend er verließ die Lieben,
         Und die auch weich den Pilgerneuling stimmt,
         Wenn er vom fernen Abendglockenklange
         Den Tag betrauert hört, der sanft verglimmt.”65

Dieser Moment der Sehnsucht wird von Kono unterbrochen, der die Ästhetik
des Nō erläutert (vgl. oben). Er beschreibt dabei auch das Stück, das gespielt
wird:

         „Es sei die Geschichte vom kanawa, die dort oben, auf der leicht erhöh-
         ten Bühne erzählt werde, die Geschichte vom eisernen Ring der Eifer-
         sucht. Seht, der Schauspieler trägt die hannya vor dem Gesicht, die
         Dämonenmaske der eifersüchtigen Frau.
         Während der Herrschaft des Tenno Saga lebte eine Prinzessin, die ver-
         gebens liebte, und darüber so zornig wurde vor Eifersucht und Gram,
         daß sie zum Schrein von Kibune ging und sieben Tage lang betete, dass
         sie eine hannya, ein Dämon, werden wolle. Am siebten Tag hatte der
         Gott Mitleid und erschien ihr und sprach: Wenn du zur hannya werden
         willst, musst du zum Fluss Uji gehen und dort fünfundzwanzig Tage im
         Wasser liegen. Sie tat, wie ihr geheißen, […] und flocht sich ihre Haare
         in fünf Stränge und bemalte ihr Gesicht und ihren Körper rot und legte

64
     Yukio Mishima: Sechs moderne Nô-Spiele. Nach der Fassung von Donald Keene aus
     dem Amerikan. übertr. von Gerda v. Uslar. Reinbek bei Hamburg 1962; vgl. auch
     Hijiya-Kirschnereit [Anm. 59], S. 244f.
65
     Die Toten, S. 103f. [Kursivierung im Original].

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