Familienmobilität im Alltag - Herausforderungen und Handlungsempfehlungen - Quartier 2030
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Inhalt 1. Familienmobilität – eine tägliche Herausforderung Zur politischen Relevanz von Familien und ihrer Mobilität ................................................................. 5 2. Vielfältige Familien – vielfältige Aufgaben Wissenswertes zur Alltagsmobilität von Familien in Deutschland .................................................... 9 Familien unterwegs: wer, wie oft, mit wem, wozu? ................................................................................. 11 Was Familien heute bewegt ............................................................................................................................. 17 Familien-Portraits ............................................................................................................................................... 19 3. Handlungsoptionen und Empfehlungen Wie die Mobilität von Familien erleichtert werden kann ..................................................................... 23 Strategische Handlungsempfehlungen ....................................................................................................... 25 Praxisbeispiele ...................................................................................................................................................... 29 Handlungsempfehlungen nach Akteursgruppen .................................................................................... 35 Zum Weiterlesen .................................................................................................................................................. 36 Zusammenfassung .............................................................................................................................................. 37 Impressum ............................................................................................................................................................. 38 Familienmobilität 3
1. Familienmobilität – eine tägliche Herausforderung Zur politischen Relevanz von Familien und ihrer Mobilität Familienmobilität 5
Einleitung amilienpolitik ist heute wichtiger denn je. Denn einer- F Aktivitäts- und Mobilitätsmuster aus. Die daraus entste- seits geht die Anzahl der Fam ilien zurück – unsere Gesell- henden Anforderungen im Alltag nehmen trotz viel- schaft altert, die Haushalte werden kleiner. Andererseits fältiger technischer Erleichterungen zu: Immer mehr sind Familien die Keimzelle der Gesellschaft: im Sinne Mütter sind erwerbstätig, die Erwerbsbiografien werden der biologischen Reproduktion, im Sinne von wirtschaft- lückenhafter und unbeständiger, Schulstandorte werden licher und sozialer Innovation, die vor allem von jungen geschlossen, Einzelhandel und Dienstleister werden zen- Menschen ausgeht, und im Sinne der Sozialisation von tralisiert, Kinder haben immer ausgefeiltere Tages- und Kindern, der Gestaltung gesellschaftlicher Werte und Wochenpläne voller Aktivitäten. Normen. Doch nicht nur das Familienleben hat sich verändert. In Der Begriff Familie ist dabei weniger fassbar denn je. Das den letzten Jahren sind in vielen deutschen Großstädten alte Bild der Kernfamilie – verheiratetes Paar mit Kindern neue Verkehrsangebote und neue Verkehrsanbieter und einer klaren Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau auf den Markt getreten, die z. B. stationsunabhängiges – ist abgelöst worden von großer Vielfalt. „Familie ist, wo Carsharing, Leihfahrräder und Leih-Pedelecs, inner- Kinder sind“: Patchworkfamilien, Alleinerziehende, von städtischen Fahrradgütertransport oder Mobilitätskarten ihren Kindern getrennt lebende Elternteile, multilokale zur integrierten Nutzung verschiedener Verkehrsange- Familien, Regenbogenfamilien, … Auch in der (scheinba- bote bieten. In mehreren ländlichen Räumen Deutsch- ren) Normalfamilie alten Typs haben sich Geschlechterar- lands wird hingegen derzeit neben der Ausweitung von rangements und Arbeitsteilung geändert. flexiblen ÖPNV-Angeboten die Verknüpfung von privaten Mitfahrten oder Pedelecs als Zubringer zu gut vertakteten In diesem Zusammenhang spielen Mobilität, alltägliche Schnellbuslinien getestet. Noch ist allerdings unklar, wie Aktivitäten und Zeitbudgets eine wichtige Rolle. Familien diese neuen Angebote in Stadt und Land gestaltet sein zeichnen sich durch besonders komplexe, zeitlich, räum- könnten und müssten, um auch Familien gezielt anzu- lich und personell auf vielfache Weise verflochtene sprechen und zu entlasten. uf Fr e Ber ize i t Ver der so K in r ge n Ver ke i t k bar ehr Familienmobilität eich smi Err t te l Ko s and te n ta uf w Zei Familien im Spannungsfeld der verschiedenen Anforderungen 6 Familienmobilität
Die politische Bedeutung der Familie zeigt sich in der Mit dieser Broschüre möchten wir die Kernergebnisse des Demografiestrategie der Bundesregierung (BMI 2013) und Projekts einer breiten Fachleserschaft zugängig machen in den regelmäßigen Familienberichten, in denen aktuell und insbesondere regionale Entscheidungsträger und das Thema Familienzeit zum Kerngegenstand gemacht Entscheidungsträgerinnen ermutigen, gemeinsam mit wird (BMFSFJ 2012). Dennoch werden Familien sowohl in den Familien vor Ort zukünftige Mobilitätsoptionen zu der Mobilitätsforschung als auch in der Verkehrspolitik entwickeln. und Verkehrsplanung häufig übersehen. Auch Verkehrs- unternehmen und Carsharing-Anbieter gehen meist nicht Wir danken herzlich allen Mitwirkenden, insbesondere auf Familien als eigene Zielgruppe ein. Vor diesem Hinter- den Familien, die uns im Rahmen von Interviews einen grund hat das BMVI ein Forschungsprojekt zur Mobilität Einblick in ihren Alltag gewährten und den Expertin- von Familien durchgeführt (Dezember 2013-Juli 2015). nen und Experten, die uns mit Ihrer Expertise wertvolle Die Ziele des Projekts waren: Anregungen mit auf den Weg gegeben haben. Und wir wünschen allen, die in diesem vielfältigen Themengebiet 1. eine breite quantitative und qualitative Informations- tätig sind, weiterhin viel Erfolg! basis darüber zu schaffen, wie Familien im Alltag unterwegs sind, um 2. ein Bewusstsein über die Bedeutung von Mobilität im Alltag von Familien zu schaffen und 3. Handlungsempfehlungen zu entwickeln, wie Familien von Mobilitätszwängen und zeitlichen Zwängen entlastet werden können. Familienmobilität 7
Schon gewusst …? Fast 70% der Arbeitswege von 25% der Wege zur Schule bzw. 39% der Mädchen werden in der Eltern werden mit dem Pkw Ausbildungsstätte werden von Grundschulzeit von Vater und/oder Mutter zurückgelegt. Kindern und Jugendlichen als begleitet, aber nur 32% der Jungen. Mitfahrer im Auto zurückgelegt. 97,7% aller Paarhaushalte mit Kindern verfügen mindestens über einen Pkw im Haushalt, aber nur 75,9% der Alleinerziehenden. Ein Drittel der in Großstädten leben- den Eltern nutzt im Alltag Pkw, ÖV und Fahrrad im multimodalen Mix. Mütter führen mehr als doppelt so viele Begleitwege durch wie Väter. 5 km 4 km 3 km 2 km 1 km 0 km Alleinerziehende unternehmen durchschnittlich 4,2 Wege pro Tag, Eltern in Paarhaushalten 3,7 Wege pro Tag, Paare (im Elternalter) ohne Kinder 3,2 Wege pro Tag. 8 Familienmobilität
Um die Alltagsmobilität von Familien differenziert zu Die häufigste Herausforderung im Familienalltag ist der betrachten, wurde eine Typisierung gewählt, die den hohe Betreuungsaufwand. In knapp der Hälfte der Fami- besonderen Herausforderungen von Familien Rechnung lien lebt mindestens ein Kind, das jünger ist als 10 Jahre trägt. Hierzu wurden vier Situationen bestimmt, die für und demzufolge intensiv betreut werden muss (Typen 4, die Alltagsgestaltung und Mobilität der Familien eine 6, 8, 9, 10, 11). Bei etwa der Hälfte dieser Familien treten besondere Herausforderung darstellen. Diese sind: keine weiteren Herausforderungen auf (Typ 4). Umfangreiche Erwerbstätigkeit der Eltern (beide Elternteile Vollzeit erwerbstätig bzw. alleinerziehend Wichtige Ziele zur Gestaltung des alltäglichen Lebens und Vollzeit erwerbstätig) sind für immerhin 26% der Familien schwer erreichbar Geringes Haushaltseinkommen (Unterschreiten von (Typen 3, 5, 7, 9, 10 und 11). In 21 % der Familienhaushalte 60% des Medians des Netto-Äquivalenzeinkommens) sind die Zeitbudgets durch umfangreiche Erwerbstätig- Schlechte Erreichbarkeit wichtiger Ziele vom Wohn- keit der Eltern geprägt (Typen 1, 5, 6 und 10). Knapp 11% standort aus (gewichtete fußläufige Erreichbarkeit von aller Familien verfügen über ein geringes Einkommen Einkaufs- und Freizeitgelegenheiten sowie ÖPNV) (Typen 2, 7, 8 und 11). Bei einem Viertel der Familien (27%) Hoher Betreuungsbedarf (mindestens ein Kind unter überlagern sich zwei oder mehrere der vier definierten 10 Jahren im Haushalt). Herausforderungen. So findet sich die am häufigsten auftretende Kombination (schlechte Erreichbarkeit und Die folgenden Auswertungen beziehen sich schwer- hoher Betreuungsbedarf) bei 9% der Familienhaushalte. punktmäßig auf die Studie „Mobilität in Deutschland“ (MiD) von 2008. Einige Grundauswertungen wurden Während etwa jeder Vierte der Paarhaushalte mit parallel auch mit dem Deutschen Mobilitätspanel (MOP; Kind(ern) keine der hier betrachteten Herausforderungen 2002–2012) unternommen. Bei den Analysen wurden nur aufweist, trifft dies nur für ein Fünftel der Alleinerziehen- diejenigen Haushalte als Familien betrachtet, in denen den zu. Alleinerziehende sind deutlich häufiger in um- mindestens ein minderjähriges Kind lebt (denn Haushalte fangreichem Maße erwerbstätig als Eltern in Paarfamilien mit ausschließlich erwachsenen Kindern lassen sich in (35% gegenüber 19%). Zudem verfügen 25% der Alleinerzie- den Datensätzen nicht von Wohngemeinschaften oder henden über ein niedriges Einkommen, während dies bei anderen Erwachsenenhaushalten unterscheiden). Paarhaushalten mit Kind(ern) nur für 10% zutrifft. Familien mit ... Anteil an den Haushalten in % umfang- reicher schlechter hohem Paare Erwerbs- geringem Erreich Betreuungs- Allein Paar Alle ohne Typ tätigkeit Einkommen barkeit bedarf erziehend familie Familien Kind(er) Singles 1 x 16,8 8,4 9,1 19,4 52,7 2 x 11,2 3,4 4,1 8,3 13,0 3 x 6,1 9,1 8,8 14,6 2,7 4 x 11,7 26,8 25,5 5 x x 4,4 2,9 3,0 6,0 14,7 6 x x 10,2 5,9 6,2 7 x x 3,6 1,6 1,8 3,1 3,0 8 x x 8,0 3,0 3,4 9 x x 2,7 9,4 8,8 10 x x x 3,6 2,0 2,2 11 x x x 1,9 1,4 1,5 12 19,7 26,1 25,6 48,7 13,9 100,0 100,0 100,0 100,0 100,0 Häufigkeit und Kombination von Familiensituationen mit besonderen Herausforderungen Anteil an den jeweiligen Haushalten. Quelle: eigene Analysen. Daten: MiD 2008. 10 Familienmobilität
Familien unterwegs: Wer, wie oft, mit wem, wozu? Eltern sind hochmobil: Im Vergleich zu Singles und Paa- legen etwa die gleichen Distanzen zurück und wenden ren der gleichen Altersgruppe sind sie häufiger unterwegs, dafür täglich ebenso viel Zeit auf wie Paare und Singles. d. h., sie unternehmen mehr Wege. Vor allem die häufigen Begleitwege führen bei den Eltern zu einer hohen Mobi- Etwa 80% der Eltern geben an, jederzeit über einen Pkw lität. Familienmobilität ist von einer großen Spannbreite verfügen zu können. Nur 4% der Familien haben kein außerhäuslicher Pflicht- und Arbeitsaktivitäten geprägt, Auto. Knapp 90% der Eltern und 80 % der Kinder verfü- die etwa zwei Drittel aller Wege einnehmen. Dazu gehören gen über ein eigenes Fahrrad, 12% der Eltern und 57% der die Erwerbsarbeit, Ausbildung, aber auch Familien- und Kinder über eine ÖPNV-Zeitkarte. Haushaltsarbeit wie Einkaufen, Erledigungen und eben die Begleitung von Kindern und anderen Angehörigen. Trotz der hohen Pkw-Verfügbarkeit legen Eltern ein Drittel ihrer Wege mit einem anderen Verkehrsmittel als dem Pkw Diese Vielfalt der Wegezwecke zeigt sich auch bei der Be- zurück – 20% zu Fuß, 9 % mit dem Fahrrad, 5 % mit öffentli- trachtung der außerhäuslichen Aktivitäten am Werktag. chen Verkehrsmitteln. Die Mobilität der Kinder ist geprägt Während bei Paaren und Singles ohne Kinder „einfache“ durch das Mitfahren im Pkw (41%), das Gehen zu Fuß (29%), Aktivitätsmuster (also nur Erwerbstätigkeit/Ausbildung/ das Fahrrad und den öffentlichen Verkehr (je 14%). Dienst/Geschäft oder nur Einkauf/Erledigung, kurz: Versorgungswege) sowie die Kombination aus Erwerbs- tätigkeit und Versorgung weiter verbreitet sind, kommen in Familien alle Aktivitäten in Verbindung mit Begleit- wegen häufiger vor. Dennoch zeigen andere Belastungs- indikatoren der Mobilität, etwa die täglich aufgewendete Wegedauer oder die dabei zurückgelegte Distanz keine überdurchschnittliche Belastung der Familien. Eltern 4,5 Wegezwecke Freizeit 4,0 Begleitung Erledigung 3,5 Einkauf Wege/Tag Ausbildung 3,0 Dienst/Geschäft Erwerbstätigkeit 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 Eltern Kinder Eltern Kinder Paar ohne Single Alleinerziehend Paarfamilie Kinder Wegehäufigkeiten nach Wegezweck und Rolle in der Familie Quelle: eigene Analysen. Daten: MiD 2008 Familienmobilität 11
Unterschiedliche Familientypen: Demnach suchen Kinder einkommensschwacher Familien vielfältige Herausforderungen auch bei Kontrolle weiterer soziodemografischer Rahmen- Nicht alle Familien sind gleich. Bei den untersuchten bedingungen (z. B. Alter) seltener Schule beziehungsweise unterschiedlichen Familientypen stehen im Alltag unter- Ausbildungsort auf. schiedliche Herausforderungen im Mittelpunkt. Zwischen diesen Typen bestehen teils deutliche Unterschiede der Auch in Familien mit umfangreicher Erwerbstätigkeit Mobilität, die vor allem sozioökonomisch (Einkommen) (beide Eltern Vollzeit erwerbstätig) ist die Wegeanzahl und durch Betreuungsnotwendigkeiten (Alter der Kinder) leicht unterdurchschnittlich. Dies betrifft insbesondere bedingt sind, in geringerem Maße auch durch Zeitbud- Einkäufe und Erledigungen, Begleitwege und Freizeit. gets und das räumliche Umfeld, in dem eine Familie lebt. Darin spiegelt sich der Zeitmangel und der Versuch einer Weitere soziodemografische Strukturen (Bildungsniveau, effizienten Organisation des Alltags und der Mobilität Alter, Geschlechterverhältnis) spielen ebenfalls eine wider. wichtige Rolle. Umgekehrt ist die Wegehäufigkeit von Eltern mit Kindern Im Vergleich fallen immer wieder Familien mit geringem unter 10 Jahren besonders hoch und zeigt die vielfältigen Einkommen auf. Sowohl die Eltern als auch die Kinder Verpflichtungen dieser Eltern, insbesondere angesichts dieser Familien unternehmen auffallend wenige Wege der extrem hohen Anzahl Begleitwege. und damit außerhäusliche Aktivitäten, sie legen geringere Distanzen zurück und wenden dafür weniger Reisezeit auf als andere Familien. Auffallend viele (20 % der ein- kommensschwachen Familienhaushalte) besitzen keinen Pkw. Alarmierend erscheint, dass bei den Kindern dieser Familien auch die Häufigkeit der Schul- und Ausbildungs- wege signifikant geringer ist als in Familien mit norma- lem oder hohem Einkommen. Begleitung ja, 25,5% Erwerbstätigkeit ja, 12,4% Versorgung ja 12,4% nein 6,9% nein, 13,1% Versorgung ja 8,4% nein 4,7% nein, 74,5% ja, 40,5% ja Erwerbstätigkeit Versorgung 14,6% nein 25,9% nein, 34,0% Versorgung ja 17,6% nein 16,4% Typologie von außerhäuslichen Aktivitäten von Eltern an einem Werktag Quelle: eigener Entwurf. Daten: MiD 2008. 12 Familienmobilität
Alleinerziehende weisen deutlich höhere Wegehäufigkei- Einfluss von Wohnlage und Erreichbarkeiten ten auf als gemeinsam lebende Eltern. Dies geht vor allem In Wohnlagen mit schlechter Erreichbarkeit – dies sind auf häufigere Einkäufe, Erledigungen und Begleitwege suburbane und ländliche Räume, aber auch Wohnlagen zurück, in geringerem Maße aber auch auf häufigere in städtischer Randlage mit weniger dichten ÖPNV-Net- Freizeitwege. Während sich diese Wege in Paarhaushalten zen – ist die Mobilität der Familien stärker durch das in der Regel auf zwei Personen verteilen, müssen viele Auto geprägt als in urban-großstädtischen Wohnlagen. Alleinerziehende derartige Wege alle selbst durchführen. Allerdings ist der Alltag auch von Familien in der Stadt Bemerkenswert ist, dass auch Kinder von Alleinerzie- stark durch den Pkw geprägt: 54% aller Wege werden hier henden häufiger einkaufen als Kinder in Paarfamilien. noch mit dem Pkw zurückgelegt, gegenüber 70% der Wege Trotz der hohen Mobilitätsbelastung besitzt ein Viertel in Wohnlagen schlechter Erreichbarkeit. Nichtmotorisier- der Alleinerziehenden keinen Pkw. Sie legen ihre Wege te Verkehrsmittel (Fahrrad, zu Fuß) werden im urbanen häufiger als Eltern in Paarfamilien zu Fuß zurück. Raum leicht überdurchschnittlich häufig genutzt. Hier Zudem haben Alleinerziehende seltener als Eltern in leben nur 36% aller Eltern in Haushalten mit mindes- Paarfamilien „sonstige Tage“ – d. h. Tage ohne Wege oder tens zwei Pkw (kein Pkw: 13%); in Wohnlagen schlechter zumindest ohne verpflichtende Wege mit Erwerbs- oder Erreichbarkeit sind dies 59% (kein Pkw: 3%). Haushaltsarbeit. Tage, an denen unterschiedliche Arten von Verpflichtungen kombiniert werden, sind bei Allein- Bei Kindern und Jugendlichen sind die räumlichen erziehenden ebenfalls häufiger als in Paarfamilien. Dies Unterschiede weniger ausgeprägt. Selbst in Wohnlagen zeigt einmal mehr den komplexen Alltag und die höhere mit schlechter Erreichbarkeit liegt deren ÖPNV-Nutzung Alltagsbelastung von Alleinerziehenden. nahezu auf durchschnittlichem Niveau. In der Großstadt bietet sich der ÖPNV aufgrund seiner hohen Qualität zur Insgesamt überwiegt aber im Vergleich von Familien- Nutzung an, im Umland und im ländlichen Raum sind typen eher das Bild großer Gemeinsamkeiten als ausge- Bus und Bahn auch bei weniger dichtem Netz häufig die prägter Unterschiede. Allerdings sind die Gruppen intern einzige Möglichkeit, zur Schule zu kommen. keineswegs homogen. Mit anderen Worten: Jede Familie ist anders. 100% Familien mit … … hohem Betreuungsbedarf 80% … geringem Einkommen … umfangreicher Erwerbstätigkeit Personen (%) 60% … schlechter Erreichbarkeit Alleinerziehend Single 40% Paarfamilie Paar ohne Kinder 20% 0% Eltern Kinder Eltern Kinder Eltern Eltern Kinder Am Stichtag mobil ÖPNV-Zeitkarte Pkw-Besitz Fahrradbesitz Mobilität in unterschiedlichen Familientypen Quelle: eigene Analysen. Daten: MiD 2008. Familienmobilität 13
Geschlechterrollen sind in Familien deutlich Begleitwege konzentrieren sich in starkem Maße auf ausgeprägt die Mütter. Besonders auffallend ist dies in Familien mit Aktivitäten und Mobilität unterscheiden sich stark zwi- kleinen Kindern. Doch selbst in Familien mit umfang- schen den Familienmitgliedern, v. a. zwischen Eltern und reicher Erwerbstätigkeit ist das Bringen der Kinder weit Kindern, aber auch zwischen Müttern und Vätern sowie überwiegend eine Aufgabe der Mütter – insbesondere zwischen Mädchen und Jungen. nachmittags, wenn etwa die Teilzeit erwerbstätige Mutter die Kinder aus der Schule abholt, während der Vater noch In Familien zeigt die Mobilität stärkere geschlechts- am Arbeitsplatz ist. Dennoch übernehmen die Mütter spezifische Muster als in anderen Haushaltstypen. So absolut betrachtet die Rückwege nicht häufiger als die legen Frauen in Familienhaushalten deutlich geringere Hinwege zur Betreuung oder zur Schule. Eher sind auf Distanzen zurück als die entsprechenden Männer und dem Rückweg des Kindes andere Personen als Begleitung wenden dafür weniger Zeit auf. Besonders ausgeprägt dabei (Schulfreunde, andere Eltern, Großeltern usw.). sind die Geschlechterdifferenzen zwischen Vätern und Müttern mit kleineren Kindern im Haushalt. Eher gering sind sie dagegen bei Eltern mit geringem Einkommen, in Familien mit zwei Vollzeit erwerbstätigen Eltern sowie in großstädtischen Wohnlagen. 100% Wege (%) Begleitung durch … 90% Andere Personen Geschwister Vater und Mutter 80% Mutter Vater 70% Unbegleitet 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% 0-5 6-9 10-13 14-17 0-5 6-9 10-13 14-17 Hinweg – Altersgruppe Rückweg – Altersgruppe Begleitung von Kindern und Jugendlichen auf dem Schul- und Ausbildungsweg. Geschwister: Minderjährige aus dem gleichen Haushalt (ggf. auch mehrere), aber keine Erwachsenen Eltern: Erwachsene aus dem gleichen Haushalt, z.T. unter Begleitung weiterer Minderjähriger Quelle: eigene Analysen. Daten: MiD 2008. 14 Familienmobilität
Besonders deutlich werden diese Muster bei der Betrach- Effiziente Organisation der Mobilität tung von Tagesabläufen: Die Verbindung von Begleit- Zeit unterwegs ist häufig verlorene Zeit. Eltern mit ihrem wegen und anderen Wegezwecken betrifft besonders eng getakteten Alltag bemühen sich, Mobilität effizient die Mütter. Während Väter an 30% aller Tage nur der abzuwickeln. Das Koppeln verschiedener Aktivitäten zu Erwerbstätigkeit nachgehen, aber keine außerhäusliche (Wege-) Ketten gilt als Maß der Effizienz von Mobilitäts- haushalts- oder familienbezogene Arbeit übernehmen, mustern. Eltern organisieren jedoch ihre Mobilität nicht gilt dies für Mütter nur an 12% aller Tage. nur nach Effizienz: Sie koppeln nicht generell häufiger ihre Aktivitäten als Aber nicht in allen Facetten der Mobilität zeigen Familien Singles oder Paare. Lediglich in Familien mit kleinen besonders traditionelle Geschlechterrollen. So nutzen Kindern sind Wegekopplungen besonders verbreitet, Frauen in Familienhaushalten häufiger den Pkw für speziell unter den Müttern, aber auch unter Vätern. Gerade berufliche Wege als Frauen aus Haushalten ohne Kinder. bei erwerbstätigen Eltern zeigt sich die Notwendigkeit zu Ihre Verkehrsmittelnutzung ähnelt damit stärker der der Effizienz anhand von Aktivitätskopplungen auf dem Männer. Besonders deutlich zeigen sich Geschlechterun- Arbeitsweg, insbesondere bei Müttern. In urban-groß- terschiede dagegen in Knappheitssituationen: Wenn sich städtischen Umfeldern mit vielfältigen Aktivitätsgelegen- ein Elternpaar einen Pkw teilt, legen Männer immerhin heiten werden ebenfalls besonders häufig Wege mit- 51% ihrer Wege als Pkw-Fahrer zurück, Frauen aber nur einander gekoppelt. 30% (bei mindestens zwei Pkw sind es 66% vs. 57%). Geschlechtsspezifische Mobilitätsmuster zeigen sich bereits bei Kindern. Selbst im Vorschulalter werden für Mädchen mehr Einkaufswege und mehr Begleitwege berichtet als für Jungen. Darüber hinaus werden Mädchen in jeder Altersgruppe auf dem Schulweg häufiger begleitet als Jungen. Familienmobilität 15
Der Schulweg der Kinder nicht zum Haushalt gehören (Freunde, andere Eltern, ...). Knapp ein Drittel der Kinder kommt mit dem ÖPNV Das unbegleitete Zurücklegen der Wege nimmt mit dem (einschließlich Schulbus) zur Schule oder zur Ausbildungs- Alter der Kinder stark zu. stätte (im Folgenden zusammenfassend: Schule), ein Vier- tel zu Fuß, 15% mit dem Fahrrad, ein weiteres Viertel mit Gemeinsame Wege als gemeinsame Zeit dem Pkw als Mitfahrer. In urban-großstädtischen Wohn- Bei gemeinsamen Wegen ist häufig die ganze Familie lagen gehen deutlich mehr Kinder zu Fuß zur Schule (31%) zusammen unterwegs, insbesondere in der Freizeit (18% als in Wohnlagen mit schlechter Erreichbarkeit (24%). der Freizeitwege aller Familienmitglieder) und bei Ver- Entsprechend werden in urbanen Lagen weniger Kinder sorgungswegen (20%). Noch häufiger ist allerdings nur ein mit dem Pkw gebracht (21% gegenüber 28%). Teil der Familie dabei. In der Freizeit sind in der Regel beide Elternteile dabei, bei Begleitwegen oder auf dem Die Schulwege werden mit zunehmendem Alter immer Weg zur Arbeit oder zur Ausbildung häufiger nur ein länger; von der Grundschule zum Jugendalter nehmen Elternteil. die Distanzen um den Faktor drei zu. Auch die Verkehrs- mittelnutzung auf dem Schulweg ändert sich mit dem Bemerkenswert ist, dass Wege selbst für scheinbar lästige Alter stark. Im Grundschulalter ist sie stark vom Gehen zu Pflichtaktivitäten wie dem Einkauf häufig zusammen Fuß geprägt. In weiterführenden Schulen dominiert der unternommen werden. Nur vier von zehn Versorgungs- ÖPNV; auch das Fahrrad gewinnt deutlich an Bedeutung. wegen werden allein unternommen. Gemeinsame Wege Das Gehen zu Fuß und das Mitfahren im Pkw nehmen sind offenbar nicht nur Last, sondern können auch stark ab. Gemeinsamkeit herstellen und Freude machen. Knapp 30% der Schulwege werden unbegleitet zurück- gelegt. Jeweils knapp ein Drittel werden durch die Eltern begleitet (zum Teil unter Begleitung weiterer Geschwister oder anderer Personen) oder durch andere Personen, die 16 Familienmobilität
Was Familien heute bewegt Um die Alltagsmobilität von Familien auch aus der gesehen. In den ländlichen und suburbanen Räumen Innenperspektive zu beleuchten, wurden 32 Interviews sind hingegen lange und schlecht getaktete Rückwege im mit Eltern aus unterschiedlichen Familienhaushalten ÖPNV häufig der Grund, warum bereits auf dem Hinweg geführt. Weitere 23 Familieninterviews wurden aus einer lieber das Auto genutzt wird. Des Weiteren ist der Kosten- Interviewstudie in ländlichen Räumen mit herangezogen faktor ein entscheidender Grund: Sobald am Nachmittag (Herget 2013). Bei der Fallauswahl wurde darauf geachtet, die Streckenfahrkarten zur Schule nicht mehr genutzt sowohl die am häufigsten jeweils in West- und Ost- werden können und Einzelfahrscheine für Freizeitaktivi- deutschland vorkommenden Familientypen zu erfassen täten gekauft werden müssen, führt dies zur Nicht-Nut- als auch gezielt einzelne, besonders belastete Familienty- zung des ÖPNV. Zum Teil werden aus Kostengründen pen mit einzubeziehen (wie z. B. Doppelvollzeiterwerbs- auch Teilstrecken mit dem PKW bis zur günstigeren Zone tätigen-Familien und fernpendelnde Familien), um so das zurückgelegt. Gerade im räumlich-zeitlichen Geltungsbe- Spektrum möglichst vollständig abzudecken. reich der Schülerfahrkarten gibt es jedoch große Unter- schiede in Deutschland. Stadtfamilien ‑ Landfamilien Familien im urbanen Raum nutzen den PKW eher als Für Eltern aus dem suburbanen und dem ländlichen Raum „Mobilitätsreserve“ für Ausflüge, Urlaube, Notfälle (kranke ist die beste Alternative zum eigenen Auto im Grunde das Kinder) und größere Transporte. Im Grunde würde ein Auto der eigenen (Schwieger-)Eltern oder der direkten passendes Carsharing-Angebot vielfach ausreichen, um Nachbarn. Sollte man sich dauerhaft nur noch ein oder ihre Bedürfnisse abzudecken. Teilweise wird jedoch das gar kein eigenes Auto mehr leisten können, ist das private eigene Auto als bequemer, zum Teil auch als günstiger und Autoteilen für diese Eltern die mit Abstand am leichtesten mit mehr Stauraum angesehen. vorstellbare Lösung, zusammen mit dem verstärkten Bilden von Fahrgemeinschaften. Die in Großstädten le- Auch bei der Bewertung des ÖPNV gab es deutliche Un- benden Eltern sehen sich da als deutlich weniger abhängig terschiede zwischen ländlichen, suburbanen und urbanen vom Auto. Sie könnten sich ihren Alltag (zur Not) auch mit Wohnstandorten. In urbanen Lagen wird der ÖPNV sehr mehr ÖPNV plus Fahrrad vorstellen. Lediglich sehr oft genutzt, und es wird wenig Verbesserungspotenzial fahrradaffine und umweltbewusste Familien sowie Familienmobilität 17
Familien mit geringem Einkommen leben bereits einen Alltagsunterstützung und Betreuungsengpässe Alltag ohne eigenes Auto und sehen das Fahrrad als beste Eine regelmäßige Alltagsunterstützung war bei den Alternative zur Pkw-Nutzung an. befragten Familien eher selten. Vor allem die morgendli- chen Begleitwege zur Schule oder zur Kita wurden meis- Große Unterschiede bei der Fahrradnutzung tens nur zwischen den Elternteilen aufgeteilt. Sofern die Die für das Fahrrad noch als angemessen empfundene (Schwieger-)Eltern am gleichen Ort leben, stellen sie in der Entfernung variiert sehr stark zwischen den Familien Regel die zuverlässigste Unterstützung bei der Betreuung (2–15 km). Die Fahrradnutzung variiert auch stark von der Kinder dar. Stadt zu Stadt, von ländlichem Raum zu ländlichem Raum. So gibt es einerseits ländliche Räume wie das Besonders problematisch sind kurzfristige, ungeplante Emsland mit einer jahrzehntelangen Fahrradkultur und Betreuungsengpässe, da auch die Großeltern, Nachbarn sehr guter Fahrradinfrastruktur und andererseits Städte, oder Freunde meistens eine gewisse Vorlaufzeit wün- die jahrzehntelang eine PKW-orientierte Verkehrspolitik schen. In Paarhaushalten werden kurzfristige Engpässe betrieben haben und daher trotz der geringen Höhen- meist untereinander geregelt, bei Alleinerziehenden fehlt unterschiede im Stadtbild als wenig fahrradfreundlich diese Option. Insgesamt fehlen hier Auffanglösungen ex- geschildert werden. terner Anbieter, wie etwa eine mobile Kurzzeitbetreuung oder kurzfristig bestellbare Abholdienste. Beim Fahrradfahren spielen zudem die persönlichen Einstellungen eine zentrale Rolle. Dabei ist Gesundheit/ Sowohl im städtischen Umland als auch im ländlichen Sport ein deutlich häufiger genanntes Argument für die Raum ist es vor allem ein hinreichend großes und stabiles Fahrradnutzung als jegliche Umweltvorteile. Grundsätz- soziales Netz an Verwandten und Freunden in der un- lich schätzen die Eltern am Fahrradfahren, dass sie damit mittelbaren Nachbarschaft, das den Familien bei Betreu- Zeit sparen können und ‑ ähnlich wie mit dem Auto ‑ sehr ungsengpässen und PKW-Ausfällen hilft. Familien, die individuell und flexibel von Haustür zu Haustür gelangen. in der Nachbarschaft gut vernetzt sind, sehen daher auch Gegen das Fahrradfahren sprach manchmal das geringe deutlich entspannter steigenden Pkw-Nutzungskosten Alter der Kinder (zu jung/unsicher zum Fahrradfahren). entgegen als diejenigen, die sehr auf sich alleine gestellt Entsprechend sehnten sich Eltern kleiner Kinder oft da- leben. nach, dass ihre Kinder alt genug sind, um alleine Fahrrad zu fahren. 18 Familienmobilität
Familien-Portraits Um die Komplexität der Familienmobilitätsmuster auf ein nachvollziehbares Maß zu reduzieren, wurden aus den 32 (+23) Familieninterviews sieben „idealtypische Familien“ abgeleitet und in kurzen Familien-Portraits charakteri- siert. Dabei wurden gezielt verschiedene Wohnorte, Erwerbsmodelle und Altersgruppen gewählt. Auch die nach wie vor feststellbaren Unterschiede zwischen Ost- und westdeutschen Erwerbsmustern wurden berücksich- tigt. Die genannten Wohnorte und Familiennamen sind rein fiktiv. Die Portraits sollen typische Begründungszusammen- hänge aus der Perspektive der Familien veranschaulichen und nachvollziehbar machen. Zudem wurden die Fami- lien-Portraits für die Ableitung von Handlungsoptionen und Empfehlungen genutzt (siehe Kap. 3). D U RC H S C H N I T T S FA M I L I E Familie Dittrich Wohnlage Stadtrand (West) Wohnform Einfamilienhaus Erwerbsmodell Vollzeit / Teilzeit Anzahl Kinder 2 (9 und 12 J.) Anzahl PKW 2 Verkehrsverhalten Pkw-orientiert Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Familie Dittrich wohnt am Stadtrand von Bonn. Die für die Verkehrsmittelwahl Eltern fahren mit den Autos zur Arbeit. Damit es morgens Herr Dittrich arbeitet 30 km entfernt. Mit öffentlichen schneller geht, wird der 9-jährige Sohn mit dem Auto Verkehrsmitteln bräuchte er doppelt so lange. Frau an der Schule abgesetzt. Zurück kommt er dann zu Fuß, Dittrich könnte zwar mit dem Fahrrad zur Arbeit, aber gemeinsam mit den Nachbarskindern. Die 12-jährige schlechtes Wetter und die Versorgungs- und Begleitwege Tochter besucht das Gymnasium und fährt dorthin sieben am Nachmittag sprechen für das Auto. Über die Abschaf- Stationen mit der Straßenbahn. Am frühen Nachmittag fung eines Pkw hat Familie Dittrich schon nachgedacht, kommt Frau Dittrich von der Arbeit und fährt die Kinder aber solange zwei Autos finanzierbar sind, „gönnen sie mit dem Auto zu ihren Freizeitterminen. Wenn ihr die sich den Luxus“. In der Nachbarschaft teilen sich zwei Warterei vor Ort zu lästig ist, fährt sie zweimal. Gelegent- Familien ein Auto – dies könnten sie sich prinzipiell auch lich bildet sie Fahrgemeinschaften. vorstellen. Familienmobilität 19
D O PPE LVO L L Z E I T E RW E R B S TÄT IG E N - FA M I L I E Familie Schulz Wohnlage Urban / Großstadt (West) Wohnform Wohnung Erwerbsmodell Vollzeit / Vollzeit Anzahl Kinder 1 (8 J.) Anzahl PKW 1 Verkehrsverhalten Pkw / ÖV Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Familie Schulz lebt in einer großen Altbau-Wohnung in für die Verkehrsmittelwahl Dortmund. Beide Eltern arbeiten Vollzeit in leitenden Für Familie Schulz ist das Auto ein Garant, flexibel den Funktionen. Der Alltag ist klar geregelt: Wer morgens Alltag gestalten zu können. Am Wochenende nutzen sie die Tochter zur Schule bringt, kann nachmittags/abends es, um zu den Großeltern oder ins Ferienhaus im Müns- länger arbeiten. Meist bringt Herr Schulz die Tochter mit terland zu fahren. Frau Schulz schätzt die U-Bahn: „Mor- dem Auto in die bilinguale Schule der Stadt. Die Tochter gens ist die Stadt voll, im Stau zu stehen ist verlorene Zeit. kann dort die Nachmittagsbetreuung nutzen und wird In der Bahn habe ich dann schon meine E-Mails gelesen.“ anschließend von Frau Schulz abgeholt, mit der U-Bahn. Generell versuchen alle, möglichst viel Zeit gemeinsam zu Vieles wird online gekauft, Lebensmitteleinkäufe werden verbringen. fast täglich auf dem Weg nach Hause erledigt. J U N G E FA M I L I E Familie Hübner/Schmidt Wohnlage Stadtrand (Ost) Wohnform Wohnung Erwerbsmodell Vollzeit / nicht erw. Anzahl Kinder 2 (4 J., 6 Mon.) Anzahl PKW 0 Verkehrsverhalten Fahrrad / ÖV Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Familie Hübner/Schmidt lebt in einer 50er-Jahre-Sied- für die Verkehrsmittelwahl lung am Stadtrand von Leipzig. Hier sind die Mieten Familie Hübner/Schmidt fährt gerne Fahrrad: „Das kostet noch erschwinglich. Fast alle Wege erledigen sie mit dem nicht viel und spart Zeit.“ Frau Hübner fährt nicht gerne Fahrrad, mit Anhänger. Bei schlechtem Wetter fahren S-Bahn – wenn die Kinder quengeln, erntet sie vorwurfs- sie Bus oder S-Bahn. Die berufliche Situation der Eltern volle Blicke, und Aufzüge/Rolltreppen sind oft kaputt. Sie ist belastend. Herr Schmidt arbeitet auf einer befriste- denken über einen Pkw nach, denn Besuche bei Freunden ten Stelle, Frau Hübner ist gerade in Elternzeit. In einem in anderen Stadtteilen oder Ausflüge am Wochenende halben Jahr möchte sie wieder einsteigen, jedoch müssen benötigen viel Planung. Carsharing haben sie getestet, dafür beim alten Arbeitgeber erst neue Projekte bewilligt waren jedoch enttäuscht. Sie mussten mühsam zwei sein. Selbst wenn dies klappt, weiß sie noch nicht, wie sie Kindersitze und den Kinderwagen rein- und raustragen, den Anfahrtsweg zur Arbeit (mit ÖV 1 Stunde) mit der sie mussten hinterher noch eine Reinigung bezahlen, und Betreuung der Kinder vereinbaren kann. für die passende Autogröße mussten sie sich eine Woche vorher anmelden. 20 Familienmobilität
M IG R A N T E N - FA M I L I E Familie Melek Wohnlage Urban / Großstadt Wohnform Wohnung Erwerbsmodell Vollzeit / Teilzeit Anzahl Kinder 5 (20, 18, 13, 10, 9 J.) Anzahl PKW 1 Verkehrsverhalten ÖV / Pkw Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Familie Melek wohnt in der zweiten Generation in Ber- für die Verkehrsmittelwahl lin-Neukölln. Ein Netz aus Verwandten lebt in der Nach- Für Herrn Melek ist das Auto unverzichtbar. Fahrrad- barschaft und unterstützt bei Betreuungsengpässen. Die fahren kommt für ihn nur im Sommer mal infrage, Bus Kinder bewältigen ihre Wege weitgehend selbstständig oder Bahn fahren ist ihm grundsätzlich „zu stressig“. Car zu Fuß und mit U- und S-Bahn. Frau Melek fährt mit dem to go hat er schon mal probiert und fand es „gar nicht so Bus zur Arbeitsstelle, Herr Melek kann zu Fuß zur Arbeit. übel“. Carsharing wäre aber eher „was für Notzeiten“. Frau Seine Schicht als DHL-Fahrer beginnt sehr früh, daher Melek hat keinen Führerschein. Ein Fahrrad besitzen nur ist er häufig mittags zu Hause und kocht für die Kinder. Vater und Sohn. Familie Melek ist mit der Mobilität im Eingekauft wird unterwegs, alles ist ja um die Ecke. Zum Großen und Ganzen zufrieden. Schwimmtraining begleitet Herr Melek seine 10-Jährige. Er genießt die Wartezeit als Auszeit. Abends und nachts holt Herr Melek seine Töchter meist mit dem Auto ab. ALLEINERZIEHENDE Frau Walther Wohnlage Urban / Großstadt (West) Wohnform Wohnung Erwerbsmodell Teilzeit Anzahl Kinder 1 (13 J.) Anzahl PKW 1 Verkehrsverhalten Pkw / ÖV Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Frau Walther lebt mit ihrer Tochter zentral in Darmstadt. für die Verkehrsmittelwahl Die Wohnung ist klein, deshalb wird das Auto häufig als Aus finanziellen Gründen fährt Frau Walther nicht in „Zwischenlager“ für Einkäufe/Getränke genutzt. Frau den Urlaub. Auch kleinere Ausflüge finden selten statt – Walthers Arbeitsweg ist kurz, dennoch fährt sie mit meist ist sie „einfach zu platt“. Das liebste Verkehrsmittel dem Pkw. Die Tochter hat eine Schülermonatskarte und ist für Frau Walther der Pkw („Zu Fuß einkaufen? Nein, nutzt die Straßenbahn. Frau Walther holt ihre Tochter Tütenschleppen ist asozial“), auch wenn sie sich das Auto oft abends mit dem Auto bei ihren Freundinnen ab. Sie eigentlich nicht leisten kann. Jede Autoreparatur ist eine würde gerne öfter abends zum Sport oder mal ein Bier Zitterpartie. Die Schülermonatskarte findet sie zu teuer, trinken gehen, müsste dann aber ihre Tochter allein denn die gilt für den Großraum, obwohl die Tochter nur lassen oder eine Betreuung organisieren. Das kann sie sich den Kernbereich nutzt. nicht leisten. Familienmobilität 21
L A N D FA M I L I E Familie Mueller Wohnlage Dorf (Ost) Wohnform Einfamilienhaus Erwerbsmodell Vollzeit / Vollzeit Anzahl Kinder 2 (13 und 9 J.) Anzahl PKW 2 Verkehrsverhalten Pkw-orientiert Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Nach der Geburt der Tochter zog Familie Mueller nach für die Verkehrsmittelwahl Kletzin zu den Eltern. Die Muellers fahren morgens mit Herr Mueller arbeitet 30 km, Frau Mueller 40 km ent- dem PKW in verschiedene Richtungen zur Arbeit. Die fernt. Beide könnten nur einen Teil des Arbeitswegs mit Kinder nehmen den Schulbus in die Stadt. Während die öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Die finanzielle Tochter dort in die Grundschule geht, muss der Sohn zum Situation lässt zwei Autos zu, über die Abschaffung eines Gymnasium noch einen weiteren Bus nehmen. Sonntags PKW wurde noch nicht nachgedacht. Die 9-jährige Toch- werden die Nachmittagstermine der kommenden Woche ter könnte zwar mit dem Fahrrad zur Grundschule, aber besprochen und geklärt, wer wen bringen kann. Unter der Schulweg würde über eine stark befahrene Landstraße der Woche sind Herr und Frau Mueller meist erst gegen 18 ohne Radweg führen. Wenn möglich, werden Fahrdienste Uhr wieder zu Hause. Einkäufe werden auf dem Rückweg mit befreundeten Familien organisiert. Der 13-jährige mit dem Auto erledigt. Sohn denkt über ein Moped nach, um in Zukunft selbst- ständiger unterwegs zu sein. PATC H WO R K FA M I L I E Familie Richter-König Wohnlage Mittelstadt (West) Wohnform Wohnung Erwerbsmodell Vollzeit / Teilzeit Anzahl Kinder 3 (1, 6 und 10 J.) Anzahl PKW 1 Verkehrsverhalten Fahrrad / zu Fuß Der Familienmobilitätsalltag Gründe und Alternativen Familie Richter-König lebt seit drei Jahren in einer für die Verkehrsmittelwahl Wohnung in Lüneburg. Jeder brachte ein Kind mit in die Die Familie legt großen Wert auf einen gesunden Beziehung, seit einem Jahr haben sie zudem ein gemein- Lebensstil – dies spiegelt sich auch in der Alltagsmobilität sames Kind. Die 10-jährige Tochter aus erster Ehe von wider. Die Kinder könnten zwar auch den Bus nutzen, Herrn Richter lebt die meiste Zeit bei ihrer Mutter und ist doch dieser fährt nur alle 20 Minuten – mit dem Rad sind nur mittwochs und jedes zweite Wochenende bei Familie sie schneller. Am Auto schätzen die Richter-Königs, dass Richter-König. Die meisten Wege legt die Familie zu Fuß man bequem viel transportieren kann und am Wochen- oder mit dem Fahrrad zurück. Unter der Woche wird mit ende auch mal günstig zu fünft einen größeren Ausflug dem Rad eingekauft. Samstags machen sie einen Großein- machen kann. kauf mit dem Auto (insb. Getränkekisten und Babywin- deln). 22 Familienmobilität
3. Handlungsoptionen und Empfehlungen Wie die Mobilität von Familien erleichtert werden kann Familienmobilität 23
Handlungsempfehlungen zur Familienmobilität müssen Um die beschriebene Komplexität auf ein nachvollzieh- den verschiedenen Lebensbedingungen der Familien bares Maß zu reduzieren, wurde das folgende Vorgehen gerecht werden. Je nach Wohnlage, Verkehrsangebot und gewählt (siehe Abbildung unten): Erreichbarkeit von Einrichtungen der Daseinsvorsorge (Kitas, Schulen, Nahversorgung, Freizeitgestaltung) sowie Die Ergebnisse der quantitativen Analysen und qualitati- den individuellen Merkmalen eines Familienhaushal- ven Erhebungen wurden in sieben idealtypischen Famili- tes (Umfang der Erwerbstätigkeit, Einkommen, Alter en-Portraits zusammengefasst (s. Kapitel 2). Parallel dazu und Zahl der Kinder) stehen andere Empfehlungen im wurden aus den Ergebnissen der ExpertInneninterviews Vordergrund. Familienfreundliche Carsharingangebo- und der recherchierten Praxisbeispiele Handlungsopti- te sind beispielsweise in großen Städten mit einem gut onen abgeleitet, die in einem vereinfachten „Delphi-Ver- ausgebauten öffentlichen Nahverkehrssystem durchaus fahren“ hinsichtlich ihrer potenziellen Wirkungen auf die ein unterstützendes Angebot. Im ländlichen Raum ist sieben Familientypen bewertet wurden. Bei der Bewer- hingegen Carsharing oft nicht wirtschaftlich zu betreiben tung waren drei Zieldimensionen (zeitliche, finanzielle und bereits der Weg bis zum Auto ein Problem. und ökologische Entlastung) handlungsleitend, wobei jedoch Maßnahmen, die Familien zeitlich oder finanziell Neben unterschiedlichen Angeboten für Familien in Stadt entlasten können, ein höheres Gewicht haben. Daraus und Land, gibt es besonders breitenwirksame Maßnah- wurden übergeordnete strategische Handlungsempfeh- men und spezifisch auf einzelne Familientypen wirkende lungen abgeleitet und in einem interdisziplinär zusam- Maßnahmen. Über alle Familientypen und Wohnlagen mengesetzten ExpertInnenworkshop diskutiert und hinweg ist Eltern die Verkehrssicherheit der Kinder zu gewichtet. Die strategischen Handlungsempfehlungen Fuß und mit dem Fahrrad ein besonders großes Anliegen. werden im Folgenden näher beschrieben. Sichere Rad- und Fußwege fördern daher die eigenstän- dige Mobilität von allen Kindern und Jugendlichen und entlasten die Eltern. Barrierefreie Haltestellen und ÖPNV-Fahrzeuge entlasten hingegen vor allem Familien mit kleinen Kindern, während Nachtbusangebote vor allem Familien mit Jugendlichen entgegen kommen. Quantitative Familien- ExpertInnen- Praxisbeispiele Analysen Interviews Interviews Auswahl + Ableitung Auswahl + Ableitung Familien-Portaits Handlungsoptionen Bewertung von Handlungsoptionen („Delphi-Befragung + Expertenworkshop) Strategische Handlungsempfehlungen Handlungsemfehlungen nach Akteursgruppen Vorgehen zur Ableitung von Handlungsoptionen und Empfehlungen 24 Familienmobilität
Strategische Handlungsempfehlungen 3. Eigenständige Mobilität von Kindern und Jugendlichen fördern o n ut rd m r Fa s t e r ä t s v m a fö d e zu S e un il it s s t er A m to r s t ü e r ch lt i t e n l b il i g a t ha en ge l i t ä r n a 2 . 4 . in is at n , e n M bew zie t m t i v e n n ze lt ob u ih io i e o b A lt re n r M Flexibilität verbessern Wohnumfeldplanung Standort-, Stadt- und an Familien denken Familien zeitlich Bereits bei der entlasten und 1. 5. Familienmobilität Strategische Handlungsempfehlungen ‑ Übersicht 1_ einsetzen, beschränken sich deshalb nicht auf die Umset- Familien zeitlich entlasten zung einzelner Maßnahmen, sondern bieten häufig ein ganzes Paket familienunterstützender Angebote – von der und Flexibilität verbessern Telearbeit, Teilzeitarbeit über Homeoffice bis zum Jobsha- ring und dem Betriebskindergarten. Viele gute Beispiele zeigen unter anderem die Lokalen Bündnisse für Familien In der Familienphase kumulieren Zeitengpässe und und der Unternehmenswettbewerb Erfolgsfaktor Familie Zeitkonflikte, insbesondere bei doppelerwerbstätigen (siehe S. 36). oder berufstätigen alleinziehenden Eltern, die Klein- und Schulkinder zu versorgen haben. Entlastungen können Familienbewusste Zeitpolitik der öffentlichen Hand – hier vor allem in zwei Gebieten erfolgen: Auch die Kommunen haben Einfluss auf die zeitlichen Belastungen von Familien. Beispielsweise können sie die Familiengerechte Arbeitswelt – Öffnungszeiten von Behörden oder Kinderbetreuungsein- Die Erwerbstätigkeit ist im Familienalltag neben den richtungen gestalten, sie können als Aufgabenträger die Schulen und Kitas der wichtigste externe Taktgeber. Fahrzeiten des öffentlichen Nahverkehrs mit den Schul- Voraussetzung für eine familiengerechte Arbeitswelt ist anfangszeiten oder Ladenöffnungszeiten abstimmen und insbesondere ein „familienfreundliches Betriebsklima“ Betreuungsangebote für die Ferienzeiten organisieren. und ein klares Bekenntnis der Leitungsebene zur Verein- Die Bedeutung und Verbreitung einer Familienzeitpoli- barkeit von Familie und Beruf. Das bedeutet die Akzep- tik nimmt derzeit erkennbar zu. An fünf Standorten in tanz einer souveränen Mitgestaltung der Arbeitszeiten Deutschland unterstützt daher auch das Bundesfamilien- und/oder Arbeitsorte, soweit es betriebsintern möglich ministerium Modellvorhaben zur kommunalen Zeitpoli- ist, sowie eine Abkehr von der präsenzorientierten hin zu tik, die das Ziel haben, die Zeiterfordernisse der Familien einer ergebnisorientierten Arbeitsweise. Arbeitgeber, die besser zu synchronisieren (siehe BMFSFJ 2014 a). sich für eine familienfreundliche Unternehmenskultur Familienmobilität 25
Zu einer familienfreundlichen Zeitpolitik gehören aber Angeboten für den Freizeitverkehr von Jugendlichen auch Nutzungsmischung und Verkehrssicherheitsarbeit. im ländlichen Raum (Discobus) oder einem zielgrup- Dadurch werden einerseits kurze Wege, andererseits eine penspezifischen Marketing. Hier fehlen bislang Finan- selbstständige, sichere Mobilität für Kinder möglich. zierungsmodelle, die insbesondere ländliche Kommunen Dies entlastet Eltern vom Zeitaufwand für Mobilität und unterstützen, Angebote außerhalb des Schülerverkehrs insbesondere von Begleitwegen. Aufgrund der unter- zu entwickeln. Der barrierefreie Zugang zu Bahnhöfen, schiedlichen Rahmenbedingungen im städtischen und Haltestellen und Fahrzeugen ist dabei eine wichtige ländlichen Raum erfordert dies lokal angepasste Strategi- Voraussetzung, damit Familien mit Kinderwagen Busse en und Lösungen. und Bahnen überhaupt nutzen können. Viele Bahnhöfe, Haltestellen und Fahrzeuge wurden bereits in den letzten 2_ Jahren entsprechend umgerüstet, u. a. im Hinblick auf die Alternativen zur Mobilität im PBefG § 8 Abs. 3 gesetzte Frist bis zum Januar 2022. mit dem Auto gezielt Sichere Fortbewegung zu Fuß und mit dem Rad – Der Ausbau von kinderfreundlichen, sicheren Fuß- und fördern Fahrradwegenetzen sowie Fahrradabstellanlagen ver- bessert nicht nur die Verkehrssicherheit, sondern auch Auch wenn das Auto viele Mobilitätsprobleme von Fami- die Aufenthaltsqualität in der Stadt. Lösungsansätze sind lien lösen kann, sind viele negative Folgen zu bedenken, dabei möglichst kleinräumig in den Stadtteilen und im die insbesondere zu Lasten der Kinder und Jugendlichen Wohnumfeld zu suchen. Dabei bietet die Erarbeitung gehen. Dazu zählen: von Nahmobilitätskonzepten eine gute Möglichkeit, die nachweisbare motorische Defizite bei Kindern und Interessen verschiedener Zielgruppen einzubinden und Jugendlichen, unterschiedliche Verkehrsträger aufeinander abzustim- erhöhtes Gefährdungspotenzial durch geringe eigene men. Voraussetzung ist die systematische Beteiligung von Erfahrung im Straßenverkehr, Familien. Mütter und Väter sind in der Regel bestens in- durch Bewegungsmangel reduzierte Leistungsfähig- formiert, welche Schwachstellen auf dem Weg zur Schule keit im Unterricht, oder zum Fußballspielen dringend zu beseitigen sind. In tägliches Verkehrschaos insbesondere vor Grund- weniger dichten Siedlungsräumen fehlen häufig sichere schulen (Stau, Parken in zweiter Reihe, …) straßenunabhängige Radwege oder Schutzstreifen, die zusätzliche Belastungen der Umwelt durch Feinstaub- verschiedene Ortschaften miteinander verbinden und und Treibhausgasemissionen. Kindern und Jugendlichen damit eine eigenständige und sichere Mobilität ermöglichen. Doch es gibt noch weitere Argumente: Durch eine eigenständige Mobilität der Kinder mit dem Rad oder zu Multimodale Verkehrsangebote familienfreundlich gestalten – Fuß bzw. bei weiten Wegen mit Bus und Bahn werden die In Großstädten werden derzeit multimodale Verkehrs- Eltern zeitlich entlastet, die Kinder knüpfen oder festigen angebote ausgebaut. Dort wird es in Zukunft immer ein- soziale Kontakte, ihre Selbständigkeit wird gefördert, ihre facher, an zentralen Haltestellen auf ein Leih-Auto oder Wahrnehmung der Umwelt geschärft und die Grundlage ein Leih-Fahrrad umzusteigen. Diese Mobilitätsangebote für späteres Mobilitätsverhalten im Erwachsenenalter werden mit einer Mobilitätskarte oder per Handy-App zu geschaffen. Folgende Maßnahmen werden in diesem einem transparenten Gesamtpreis zu buchen sein. Um Zusammenhang vorgeschlagen: diese multimodalen Verkehrsangebote familiengerecht zu gestalten, sind neben ausreichend dimensionierten Öffentlichen Nahverkehr für Familien attraktiver machen – Fahrradabstellanlagen auch familientaugliche Carsha- Busse und Bahnen können für Familien noch attraktiver ring-Angebote (ausreichend große Autos, Kindersitze, werden. Zum Beispiel mit günstigen Familientarifen, mit übertragbare Mitgliedschaft für alle Haushaltsmitglieder) einem auf die Schulanfangs- und Schulendzeiten abge- sowie der Verleih von Lastenrädern und Anhängern wich- stimmten Fahrplan, einem besseren Angebot außerhalb tig. Zudem sollte darauf geachtet werden, dass sich häufig der Spitzenzeiten (Teilzeitbeschäftigte!), spezifischen genutzte Dienstleistungs- und Versorgungsangebote 26 Familienmobilität
(z. B. Post, Bankautomat, Reinigung, Reparaturservice, Vertrauen in die Angebote vor Ort stärken – Lebensmittelladen) im direkten Umfeld der „Mobilitäts- Viele Eltern fühlen sich heute unter Druck, ihre Kinder stationen“ befinden. optimal zu fördern und für das unsicher gewordene Berufsleben vorzubereiten. Die Wahl der besten Schule, 3_ des besten Kinderarztes, des besten Fußballvereins usw. hat jedoch meist deutlich weitere Wege zu Folge, die sich Eigenständige Mobilität dann nur noch mit dem Auto bewältigen lassen. Die von Kindern und Folge: mehr Begleitwege und höherer Zeitaufwand für die Eltern sowie weniger selbst gestaltete Freizeit für die Kin- Jugendlichen unterstützen der und weniger Kontakte mit Gleichaltrigen im direkten Wohnumfeld. Hier braucht es pro-aktive Beratungen und Informationen der Kommunen, welche die Bedürfnisse der Die eigenständige Mobilität von Kindern und Jugend- Eltern ernst nehmen und sie über nahräumliche Alterna- lichen ist eine zentrale Stellschraube der Familien- tiven aufklären. mobilität. Können Kinder und Jugendliche ihre Wege weitgehend selbstständig zurücklegen, werden nicht nur Aufsuchende Elternarbeit zum Thema Verkehrssicherheit – die Eltern zeitlich entlastet: Die Kinder werden in ihren Immer mehr Eltern sind davon überzeugt, dass die Sicher- Kompetenzen, sich im öffentlichen Raum zu bewegen, heit ihrer Kinder im öffentlichen Raum nur mit dem Auto gefördert, und es wird ihre Leistungsfähigkeit und Ge- gewährleistet werden kann. Das tägliche Verkehrschaos sundheit gestärkt. vor vielen Grundschulen und Kitas ist ein Ausdruck dieser Entwicklung. Dabei überschätzen viele Eltern die Die Umsetzung dieser Strategie beinhaltet viele der be- Gefahr eines Unfalls beim Radfahren oder zu Fuß und reits genannten Einzelmaßnahmen. Sie gelingt allerdings unterschätzen die Gefährdungen, wenn sie ihr Kind mit nur mit einem abgestimmten Handeln verschiedener dem Auto bringen. Hier helfen gezielte Elternabende und Akteure. Ein bewegungsförderndes, attraktives Woh- Aufklärungskampagnen, die Folgen bestimmter Entschei- numfeld, eine entsprechende Straßenraumgestaltung, dungen aufzuzeigen und Lust auf ein anderes Mobili- sichere und lückenlose Fuß- und Fahrradwegenetze, ein tätsverhalten zu wecken. Kampagnen wie „Mehr Frei- schulisches Mobilitätsmanagement oder auch Mobilitäts- raum für Kinder“ des Landes Nordrhein-Westfalen oder bildung erfordern, dass Schulen, planende Verwaltung, „Osnabrück sattelt auf“ sowie die Aktionstage „Zu Fuß zur Polizei, Verkehrsunternehmen und Eltern gemeinsam Schule“ des VCD vermitteln augenzwinkernd Informatio- und konkret die eigenständige Mobilität von Kindern und nen („Flirten auf dem Schulweg geht nur ohne Mamataxi. Jugendlichen in den Blick nehmen und gezielt unterstüt- Fahr mehr Rad“), sie unterstützen Kommunen, mehr Platz zen. Ein wichtiges Ziel ist dabei, die Eltern zu unterstüt- für Kinder vor ihrer Haustür zu schaffen, und motivieren zen, auf die Fähigkeiten ihrer Kinder zu vertrauen und die Kinder, Fahrrad zu fahren oder zu Fuß zu gehen. ihnen etwas zuzutrauen. Netzwerkbildung zwischen Familien stärken – 4_ Unterstützung und Entlastung in der Organisation des Familien in ihrer Selbst- Alltags erfahren Eltern jedoch nicht nur durch Insti- tutionen wie Kommunen, Verkehrsdienstleister oder organisation stärken, Arbeitgeber, sondern auch durch selbst aufgebaute soziale Mobilitätsverhalten Netzwerke mit Großeltern, Freunden, Nachbarn usw., mit denen z. B. Fahrgemeinschaften organisiert werden, Kin- bewusst machen der gemeinsam zu Fuß begleitet werden („Walking-Bus“) oder ein Auto geteilt wird. Familien- und Nachbarschafts- zentren mit ihren familientypischen Beratungs- und Familien beeinflussen ihre Mobilität auch durch eigene Freizeitangeboten können hier einen wichtigen Beitrag Entscheidungen, z. B. bei der Wahl typischer Zielorte leisten, damit Eltern wohnortnahe Kontakte knüpfen für die Kinder (Schule, Hobby) oder dem Wohnstandort. können. Dies ist auch ein wichtiges Betätigungsfeld für Nicht immer werden dabei die Folgen mit bedacht. Hier ehrenamtliches Engagement, zum Beispiel in Mehrgene- ist Folgendes wichtig: rationenprojekten. Familienmobilität 27
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