Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...

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Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
Carsten Nicolai

„Farben hören, Töne sehen. Ich
entwerfe den Prozess, aber ich
bin nicht der Autor. Der Prozess
ist der Autor. Man kann einen
Prozess ewig weiterlaufen
lassen, würde sozusagen ewig
Bilder oder Sound produzieren.“
Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
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Farben hören

Unsere fünf Sinne verdanken wir einem evolutionären    sche Karten erinnerten. Chladni war überzeugt, etwas
Zufall: fünf nah beieinander liegende Formen von       Aussergewöhnliches entdeckt zu haben: die bildliche
Sinneserfahrung, dennoch sind sie deutlich voneinan-   Darstellung des Klanges, eine direkte Verbindung zwi-
der getrennt, jeder für einen anderen Zweck und mit    schen den Sinnen, die für ästhetische Wahrnehmung
anderen Eigenschaften. Im Laufe der Moderne jedoch     stehen – Sehen und Hören. Angesichts der entstan-
haben Künstler und Naturwissenschaftler immer wie-     denen Muster soll er in seiner Überraschung ausge-
der versucht, diese Trennung der Sinneserfahrungen     rufen haben: „Der Klang malt!“ Chladnis Experimente
zu überwinden, um den nicht wegzudenkenden Unter-      haben in die grundlegenden Lehrbücher der Physik
schied zwischen Sehen, Hören, Schmecken, Tasten        Eingang gefunden. Sie haben auch eine ganze Reihe
und Riechen zu überbrücken. Ernst Chladni, Begrün-     zeitgenössischer Künstler inspiriert. Insbesondere ist in
der der modernen Akustik, strich im Jahr 1786 einen    diesem Zusammenhang der Maler, Wissenschaftler
Violinenbogen über den Rand einer Metallplatte, die    und Musiker Hans Jenny hervorzuheben. Ein Jahrhun-
mit Sand bedeckt war. Indem er dies tat, begannen      dert vor Chladni berichtet der Philosoph John Locke
die Sandkörner unterschiedliche Gestalten zu bilden,   von seiner Verwunderung angesichts eines Falles, wo
von einfachen Linien und Kurven bis zu komplizierten   ein „gebildeter, blinder Mann“ die Farbe Scharlachrot
Mustern, die an Sterne, Labyrinthe oder topographi-    als den Klang einer Trompete empfand.
Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
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Roter Urklang

„Wellen kräuseln sich in Form von konzentrischen Kreisen,
stossen aufeinander, verbinden sich, erzeugen dabei
Schwingungsknoten und Farbpaletten.“

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                                      der sinnlichen Verschränkung nennt, ist vermutlich so     Fälle von den „lediglich metaphorischen“ Aussagen
                                      alt wie die Menschheit; erst in den letzten zweihundert   der Künstler zu unterscheiden. Man denke an Wassily
                                      Jahren ist sie jedoch auch unter Naturwissenschaft-       Kandinsky, der hoffte, dass seine abstrakten Bilder
                                      lern und Künstlern verstärkt ins Bewusstsein gerückt.     musikalische Empfindungen hervorrufen mögen, oder
                                      Der Schriftsteller Vladimir Nabokov stellte zudem fest,   Earle Brown und Cornelius Cardew, deren „grafische
                                      dass bestimmte Vokallaute bei ihm spezielle Farbtöne      Partituren“ aus Formen und Figuren bestanden, die
                                      evozierten. Der Künstler David Hockney berichtet, dass    der Musiker in Klänge übertrug. Synästhesie, so lautet
                                      er unter anderem Bühnenbilder für die Metropolitan        die These, begründet sich in der Verschaltung der
                                      Opera entwarf, indem er einfach die Musik als Farbe       Nervenzellen in der Gehirnmasse und ist zudem wohl
                                      und Form wahrnahm. Und der Komponist Olivier              nicht lediglich die ästhetische Vorstellungsleistung
                                      Messaien erzählte in einem Interview: „Ich habe eine      des Künstlers und des entsprechenden Publikums. Zu-
                                      besondere Begabung – ich kann nichts dagegen tun,         dem ist die synästhetische Erfahrung persönlich und
                                      aber immer, wenn ich Musik höre oder auch nur Noten       nach innen gewandt, sie ist nicht öffentlich oder nach
                                      lese, sehe ich Farben.“ Der Fülle neuerer wissenschaft-   außen gerichtet. In einer Wiederbelebung der Experi-
                                      licher Literatur zum Thema Synästhesie lässt sich         mente Chladnis werden diese Projekten gezeigt.
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Ein roter Urklang wird mit
warmen, dunklen Farben und
hauptsächlich harmonischen
Tönen assoziiert. Dreiklänge
mit dem Basiston im Bass
Weit hinten, hinter den Wortber-
eignen sich besonders gut.
gen, fern der Länder Vokalien und

Konsonantien leben die Blindtexte.

Abgeschieden wohnen sie in Buch-

stabhausen an der Küste des Seman-

tik, eines großen Sprachozeans.

Kreise stossen aufeinander, verbinden sich, erzeugen     die Tonsignale über einen Fernseher abzuspielen,          oder Inhalts. Anstatt des gewöhnlichen empirischen        erlöschen, als ob sie unter einer unerträglichen
dabei auch Schwingungsknoten und Störungsmuster.         um die synästhetischen Möglichkeiten des elektroni-       Inhalts von Fernsehen – der Überflutung mit Bildern       Spannung stünden. Insgesamt gesehen ist „telefun-
Zugleich wissenschaftlich und ästhetisch, überschrei-    schen Signals erkunden zu können. Durch einfache          und Darstellungen – erhalten wir schlichtweg Elekt-       ken“ eine Art abstraktes Schauspiel in zwei Akten und
tet Nicolai mit seinen Projekten die Grenze zwischen     Vorgehensweise wird der Fernseher völlig verwandelt       ronen, Pixel, Licht, Linie und Rahmen. Ungeachtet des     30 kurzen Szenen. Die Protagonisten sind Punkte,
Hören und Sehen, indem er Darstellungen schafft,         und neu interpretiert: das von der kommerziellen          technologischen und konzeptionellen Hintergrundes,        Linien, Blöcke, unterschiedliche Stärken, Intensitäten,
die unmittelbar körperlich, öffentlich zugänglich und    Kultur bevorzugte Medium wird mit seiner Informa-         überraschen die Eleganz, Schlichtheit, Schönheit von      Geschwindigkeiten, und ihre Bühne ist der schwarze
sinnlich begreifbar sind. Nicolais „telefunken“ ist      tionsüberflutung plötzlich zu einer leergefegten          „telefunken“. Die kratzenden Brummtöne, die Impulse       Raum des Fernsehbildschirms. Wie auch Chladni und
sicherlich die Glanzleistung seiner eigenen Synästhe-    Plattform, die der Darstellung abstrakter minimalisti-    und Loops auf der Tonspur 1–20, mit dem gemeinsa-         Jenny zeigt Nicolai, dass Naturwissenschaft und
tik und potenziert diese Einblicke ins Unendliche. Das   scher Kunst dient. Auch der CD-Player erfährt diese       men Titel „impulse to line“ generieren eine faszinie-     Kunst zusammenwirken können, um die künstlichen
Netz der Materie wird jenseits des sinnlichen Reiches    Verwandlung: er ist nicht länger nur ein eigenständiges   rende Anordnung weisser und horizontaler Balken,          Grenzen aufzulösen, die unserem gewöhnlichen
der Flüssigkeiten ausgeworfen und durch den äthe-        Gerät für das Abspielen von Musik, vielmehr wird er       die aufsteigen und fallen, mit einander verschmelzen      sinnlichen Zugang zur Welt gesetzt sind. Er demons-
rischen Bereich der Elektrizität gezogen. Die synäs-     zum Auslösungsmechanismus einer audio-visuel-             und sich wieder trennen, sich vor dem schwarzen           triert, dass die Synästhesie kein seltenes neuronales
thetische Erfahrung, die sich im inneren, organischen    len Assemblage. Um es wie Kant oder Heidegger zu          Hintergrund des Fernsehers ausdehnen und zusam-           Phänomen ist, sondern eine geeignete Beschreibungs-
Raum des menschlichen Gehirns abspielt, wird auf das     sagen, „telefunken“ lenkt unsere Aufmerksamkeit           menziehen. Die Tonspuren 21– 30 „testtones“ erzeu-        möglichkeit für Materie. Oder wie Jenny es vielleicht
äussere, anorganische Wirken von Maschinen über-         auf den transzendentalen Bereich des Fernsehers, auf      gen Lichtblöcke, die pulsieren, flackern, sich krümmen,   formulieren würde: Nicolai erinnert uns daran, dass
tragen. „telefunken“ fordert den Zuhörer auf,            die Bedingungen der Möglichkeit eines jeden Bildes        zittern und in einen Moment ausharren, bevor sie          alle Materie letztendlich kreative Vibration ist.
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Grüne Flucht

„Die bildliche Darstellung des Klanges, eine direkte
Verbindung zwischen den Sinnen, die für ästhetische
Wahrnehmung steht – Sehen und Hören.“

                                      Solche Kreise stossen aufeinander, verbinden sich und     über einen Fernseher abzuspielen, um die synästhe-
                                      erzeugen dabei Schwingungsknoten und Störungs-            tischen Möglichkeiten des elektronischen Signals
                                      muster. Zugleich wissenschaftlich und ästhetisch,         erkunden zu können. Durch einfache Vorgehensweise
                                      überschreitet Nicolai mit seinen Projekten die Grenze     wird der Fernseher völlig verwandelt und neu inter-
                                      zwischen Hören und Sehen, indem er Darstellun-            pretiert: das von der kommerziellen Kultur bevorzugte
                                      gen schafft, die unmittelbar körperlich und sinnlich      Medium wird mit seiner Informationsüberflutung
                                      begreifbar sind. Nicolais „telefunken“ ist sicherlich     plötzlich zu einer leergefegten Plattform, die der
                                      die Glanzleistung seiner eigenen Synästhetik und          Darstellung abstrakter minimalistischer Kunst dient.
                                      potenziert diese Einblicke ins Unendliche. Das Netz der   Auch der CD-Player erfährt diese Verwandlung: er ist
                                      Materie wird jenseits des sinnlichen Reiches der Flüs-    nicht länger nur ein eigenständiges Gerät für das Ab-
                                      sigkeiten ausgeworfen und durch den ätherischen           spielen von Musik, vielmehr wird er zum Auslösungs-
                                      Bereich der Elektrizität gezogen. Die synästhetische      mechanismus einer audio-visuellen Assemblage.
                                      Erfahrung, die sich im inneren, organischen Raum des      Um es wie Kant zu sagen, „telefunken“ lenkt unsere
                                      menschlichen Gehirns abspielt, wird auf das äussere,      Aufmerksamkeit auf den transzendentalen Bereich
                                      anorganische Wirken von Maschinen übertragen.             des Fernsehers, auf die Bedingungen der Möglichkeit
                                      „telefunken“ fordert den Zuhörer auf, die Tonsignale      eines jeden Bildes oder Inhalts.
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8           Grüne Flucht                                                                                                                                                                    Natur und organische Klänge                9

                                                                                                                                                                                                        Die grüne Farbe ist häufig
                                                                                                                                                                                                        mit der Natur und dem
                                                                                                                                                                                                        Leben verknüpft. Es sind die
                                                                                                                                                                                                        leichten Klänge, die nicht
                                                                                                                                                                                                        harmonisch sein müssen.

Nach den über zehn Jahre zurückliegenden Einzel-         Vermittlung seines Kunstschaffens über einen Audio-    to-Album „Unieqav” und „Glass”. Als ein Mitbegründer       Ästhetik der Mathematik geprägt. Codes und Daten,
ausstellungen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am      guide begleitend beim Rundgang durch die Ausstellung   des legendären Deutschen Labels Raster Noton leitet        Spiegelungen und Störungen stehen im Zentrum von
Main und im Museum Haus Konstruktiv in Zürich gibt       hören. Im ganzen Ausstellungsbereich interagieren      Carsten Nicolai außerdem das „Archiv für Ton und           Nicolais Kunst. Anhand von Fehler- und Zufallsstruktu-
die Ausstellung „Parallax Symmetry” einen aktuellen      die Bilder mit Klängen, erweitern optisch Sounds aus   Nichtton” seit 1999. Wer sich für Innovatoren wie Ful-     ren setzt er sich auch mit Modellen der Selbstorgani-
Überblick über Nicolais künstlerische Arbeiten. Etwa     höheren Sphären, die sich aus skelettierten Rhyth-     ler, Nicola Tesla und Nam June Paik interessiert, sollte   sation auseinander, untersucht so die Wahrnehmung
40 seiner multimedialen Werke werden präsentiert,        men und den elementaren Zutaten wie Sinustönen         die Ausstellung „Parallax Symmetry” auf keinen Fall        von Bildern als Zeichenprozess. Als ein Mitbegründer
darunter Sound-Installationen wie „particle noise”       zusammensetzen. Mit seinem streng reduzierten          verpassen. Denn die künstlerisch-wissenschaftlichen        des legendären Deutschen Labels Raster Noton leitet
und „unicolor” sowie mehrere Beispiele aus der seit      Elektroniksound an der Grenze zum Minimal-Techno       Arbeiten Carsten Nicolais sind sehenswert, regen zum       Carsten Nicolai das „Archiv für Ton und Nichtton”
2006 entstehenden Video-Reihe „future past per-          ist Carsten Nicolai nicht nur in der Kunst-, sondern   Nachdenken an und schaffen Raum für Diskussionen.          seit 1999. Wer sich für Innovatoren wie Buckminster
fect”. Übergreifendes Thema der gezeigten Werke ist      auch in der Filmwelt und Musikwelt bekannt.Unter       Kurz: Ein sensorisches Erlebnis der besonderen Klasse.     Fuller, Nicola Tesla und Nam June Paik interessiert,
auch die Fusion von bildender Kunst und Musik, von       seinem Pseudonym Alva Noto veröffentlicht er Al-       Inspiriert von physikalischen Prozessen, Systemen und      sollte zudem die Ausstellung „Parallax Symmetry” auf
naturwissenschaftlicher Erkenntnis, technischem          ben und Filmmusik wie kürzlich den Soundtrack für      Strukturen, verwendet Nicolai Klang- und Lichtmate-        keinen Fall verpassen. Denn die künstlerisch-wissen-
Apparat und Poesie. Die Arbeit „ur-geräusch” bringt      Oscar-Gewinner „The Revenant”. Letzteres ist seine     rial, um einen Kontakt zwischen transphänomenaler          schaftlichen Arbeiten Carsten Nicolais sind sehenswert,
diesen Zusammenschluss gekonnt zum Ausdruck:             inzwischen bereits sechste Zusammenarbeit mit          Realität und phänomenaler Wirklichkeit zu schaffen.        regen zum Nachdenken an und schaffen Raum für den
Hier greift Nicolai den 1919 veröffentlichen Aufsatz     dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto. Zu       Wie die Arbeiten des japanischen Klang- und Video-         Diskussionen. Kurz: Ein sehr sensorisches Erlebnis der
von Rainer Maria Rilke auf, lässt ihn als literarische   weiteren gemeinsamen Projekten zählen das Alva-No-     künstlers Ryoji Ikeda sind auch seine Werke von der        besonderen Klasse.
Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
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Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
12          Carsten Nicolai                                                                                                                                                        Künstler mit wissenschaftlicher Inspiration        13

                                                                                                                                                                              Carsten Nicolai arbeitet mit
                                                                                                                                                                              Installationen, die Farben
                                                                                                                                                                              oder Klänge in bestimmten
                                                                                                                                                                              Verlaufsformen zeigen.

Carsten Nicolai
Kreisen stossen aufeinander, verbinden sich und er-        Tonsignale über einen Fernseher abzuspielen, um die     oder Inhalts. Anstatt des gewöhnlichen empirischen         schen, als ob sie unter einer unerträglichen Spannung
zeugen dabei auch Schwingungsknoten und Störungs-          synästhetischen Möglichkeiten des elektronischen        Inhalts von Fernsehen – der Überflutung mit Bildern        stünden. Insgesamt gesehen ist „telefunken“ eine Art
muster. Zugleich wissenschaftlich und ästhetisch,          Signals erkunden zu können. Durch einfache Vorge-       und Darstellungen – erhalten wir schlichtweg Elekt-        abstraktes Schauspiel in zwei Akten und 30 kurzen
überschreitet Nicolai mit seinen Projekten die Grenze      hensweise wird der Fernseher völlig verwandelt und      ronen, Pixel, Licht, Linie und Rahmen. Ungeachtet des      Szenen. Die Protagonisten sind Punkte, Linien, Blöcke,
zwischen Hören und Sehen, indem er Darstellungen           neu interpretiert: das von der kommerziellen Kultur     technologischen und konzeptionellen Hintergrundes,         unterschiedliche Stärken, Intensitäten, Geschwindig-
schafft, die unmittelbar körperlich, öffentlich zugäng-    bevorzugte Medium wird mit seiner Informations-         überraschen die Eleganz, Schlichtheit, Schönheit von       keiten, und ihre Bühne ist der schwarze Raum des
lich und sinnlich begreifbar sind. Nicolais „telefun-      überflutung plötzlich zu einer leergefegten Platt-      „telefunken“. Die kratzenden Brummtöne, die Impulse        Fernsehbildschirms. Wie auch Chladni und Jenny
ken“ ist sicherlich die Glanzleistung seiner eigenen       form, die der Darstellung abstrakter minimalistischer   und Loops auf der Tonspur 1–20, mit dem gemeinsa-          zeigt Nicolai, dass Naturwissenschaft und Kunst zu-
Synästhetik und potenziert diese Einblicke ins Unend-      Kunst dient. Auch der CD-Player erfährt diese Ver-      men Titel „impulse to line“ generieren eine faszinie-      sammenwirken können, um die künstlichen Grenzen
liche. Das Netz der Materie wird jenseits des sinnlichen   wandlung: er ist nicht länger nur ein eigenständiges    rende Anordnung weisser und horizontaler Balken,           aufzulösen, die unserem gewöhnlichen sinnlichen
Reiches der Flüssigkeiten ausgeworfen und durch            Gerät für das Abspielen von Musik, vielmehr wird er     die aufsteigen und fallen, mit einander verschmelzen       Zugang zur Welt gesetzt sind. Er demonstriert, dass
den ätherischen Bereich der Elektrizität gezogen. Die      zum Auslösungsmechanismus einer audio-visuel-           und sich wieder trennen, sich vor dem schwarzen Hin-       die Synästhesie kein seltenes neuronales Phänomen
synästhetische Erfahrung, die sich im inneren, organi-     len Assemblage. Um es wie Kant oder Heidegger zu        tergrund des Fernsehers ausdehnen und zusammen-            ist, sondern eine geeignete Beschreibungsmöglichkeit
schen Raum des menschlichen Gehirns abspielt, wird         sagen, „telefunken“ lenkt unsere Aufmerksamkeit         ziehen. Die Tonspuren 21– 30 „testtones“ erzeugen          für Materie. Oder wie Jenny es vielleicht formulieren
auf das äussere, anorganische Wirken von Maschinen         auf den transzendentalen Bereich des Fernsehers, auf    Lichtblöcke, die pulsieren, flackern, sich krümmen, zit-   würde: Nicolai erinnert uns daran, dass alle Materie
übertragen. „telefunken“ fordert den Zuhörer auf, die      die Bedingungen der Möglichkeit eines jeden Bildes      tern und in einen Moment ausharren, bevor sie erlö-        letztendlich kreative Vibration ist.
Farben hören, Töne sehen. Ich entwerfe den Prozess, aber ich bin nicht der Autor. Der Prozess ist der Autor. Man kann einen Prozess ewig ...
14   Carsten Nicolai   Künstler mit wissenschaftlicher Inspiration   15
16                                                                                                                                                     17

Blaue Perspektive

„Die Protagonisten sind Punkte, Linien, Blöcke,
unterschiedliche Stärken, Intensitäten, Geschwindigkeiten,
und ihre Bühne ist der weiße Raum und das Rauschen.
Eine geeignete Beschreibungsmöglichkeit für Materie.“

                                      Inspiriert von den physikalischen Prozessen,             hellen und einen dunklen Bereich: Hier treffen der
                                      Systemen und Strukturen verwendet Carsten Nicolai        klassische White Cube und die experimentelle Black
                                      Klang- und Lichtmaterial, um einen Kontakt zwischen      Box aufeinander. Weitere Antagonismen sowie
                                      transphänomenaler Realität und phänomenaler              Geräusch und Stille, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit
                                      Wirklichkeit zu schaffen. Wie die Arbeiten des japa-     eröffnen den Besuchern ein weites Spektrum von
                                      nischen Klang- und Videokünstlers Ryoji Ikeda sind       Interpretationsmöglichkeiten. Die auf Symmetrie
                                      auch seine Werke von der Ästhetik der Mathematik         ausgerichteten Werke weichen mit der Verschiebung
                                      geprägt. Codes, Daten, Spiegelungen und Störungen        der Wahrnehmung einer Parallaxe, besser bekannt als
                                      stehen im Zentrum von Nicolais Kunst. Anhand von         ein durch die veränderte Position im Raum bedingter
                                      Fehler- und Zufallsstrukturen setzt er sich mit Model-   Perspektivwechsel. Der Ausstellungstitel ist eine An-
                                      len der Selbstorganisation auseinander, untersucht so    spielung auf zweierlei naturwissenschaftliche Phäno-
                                      die Wahrnehmung von Bildern als Zeichenprozess. Oft      mene, die für unseren physikalischen Raum Gültigkeit
                                      arbeitet Carsten Nicolai in starken Kontrasten, zum      besitzen: Symmetrie und Parallaxe als dual angeleg-
                                      Beispiel anhand einer klaren Schwarz-Weiß-Struk-         tes Set für die Präsentation Nicolais vielfach auf Inter-
                                      turierung. Auch „Parallax Symmetry” ergibt sich aus      aktion angelegten Arbeiten und nach den über zehn
                                      einem Gegensatz, nämlich der Zweiteilung in einen        Jahre zurückliegenden Einzelausstellungen.
18          Blaue Perspektive                                                                                                                                                                      Gefühle und kalte Farben            19

                                                                                                                                                                                                            Blaue Farbe wird mit dem
                                                                                                                                                                                                            Meer oder Reichtum asso-
                                                                                                                                                                                                            ziiert. Es handelt sich hier
                                                                                                                                                                                                            häufig um volle, disharmoni-
                                                                                                                                                                                                            sche Klänge, die sich langsam
                                                                                                                                                                                                            harmonisch auflösen.

Nach den über zehn Jahre zurückliegenden Einzel-          seines Kunstschaffens über den Audioguide beglei-         „Glass”. Als Mitbegründer des legendären Deutschen        dass Naturwissenschaft und Kunst zusammenwirken
ausstellungen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am       tend beim Rundgang durch die Ausstellung hören. Im        Labels Raster Noton leitet Carsten Nicolai außerdem       können, um die künstlichen Grenzen aufzulösen, die
Main und im Museum Haus Konstruktiv in Zürich gibt        ganzen Ausstellungsbereich interagieren die Bilder        das „Archiv für Ton und Nichtton” seit 1999. Wer sich     unserem gewöhnlichen sinnlichen Zugang zur Welt
die Ausstellung „Parallax Symmetry” einen aktuellen       mit Klängen, erweitern optisch Sounds aus höheren         für Innovatoren wie Buckminster Fuller, Nicola Tesla      gesetzt sind. Die „Synästhesie“, wie sich dieses speziel-
Überblick über Nicolais künstlerische Arbeiten. Etwa      Sphären, die sich aus skelettierten Rhythmen und den      und Nam June Paik interessiert, sollte die Ausstellung    le Phänomen der sinnlichen Verschränkung nennt, ist
40 seiner multimedialen Werke werden präsentiert,         elementaren Zutaten wie Sinustönen zusammenset-           „Parallax Symmetry” auf keinen Fall verpassen. Denn       vermutlich so alt wie die Menschheit; Er demonstriert,
darunter Sound-Installationen wie „particle noise”        zen. Mit seinem streng reduzierten Elektroniksound        die künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeiten Carsten      dass Synästhesie kein seltenes neuronales Phänomen
und „unicolor” sowie mehrere Beispiele aus der seit       an der Grenze zum Minimal-Techno ist Carsten Nicolai      Nicolais sind sehenswert, regen zum Nachdenken an         ist, sondern eine geeignete Beschreibungsmöglichkeit
2006 entstehenden Video-Reihe „future past perfect”.      nicht nur in der Kunst-, sondern auch in der Filmwelt     und schaffen Raum für Diskussionen. Kurz: Ein sehr        für Materie. Oder wie Jenny es vielleicht formulieren
Übergreifendes Thema der gezeigten Werke ist auch         und Musikwelt bekannt.Unter seinem Pseudonym              sensorisches Erlebnis der besonderen Klasse. Inspiriert   würde: Nicolai erinnert uns daran, dass alle Materie
die Fusion von bildender Kunst und Musik, von natur-      Alva Noto veröffentlicht er Alben und Filmmusik wie       von physikalischen Prozessen, Systemen und Struktu-       letztendlich kreative Vibration ist. Mit den Wellen oder
wissenschaftlicher Erkenntnis, technischem Apparat        kürzlich den Soundtrack für Oscar-Gewinner „The Re-       ren, verwendet Carsten Nicolai Klang- und Lichtmate-      Signalimpulsen im Rahmen von „telefunken“ erforscht
und Poesie. Die Arbeit „ur-geräusch” bringt diesen        venant”. Letzteres ist seine inzwischen bereits sechste   rial, um einen Kontakt zwischen transphänomenaler         Nicolai mit Vergnügen diese bewegte und sich in klei-
Zusammenschluss gekonnt zum Ausdruck: Hier greift         Zusammenarbeit mit dem japanischen Komponisten            Realität und phänomenaler Wirklichkeit zu schaffen.       nen Wellen formierende Materie, die gleichermassen
Nicolai den 1919 veröffentlichen Aufsatz von Rainer       Ryuichi Sakamoto. Zu weiteren gemeinsamen Pro-            Codes, Daten, Spiegelungen und Störungen stehen im        durch Naturwissenschaft und Kunst fliesst.
Maria Rilke auf, lässt ihn als literarische Vermittlung   jekten zählen das Alva-Noto-Album „Unieqav” und           Zentrum. Wie auch Chladni und Jenny zeigt Nicolai,
20                                                                                                                                                          21

Gelbe Grenze

„Synästhesie begründet sich in der Verschaltung der Nerven-
zellen in der Gehirnmasse und ist wohl nicht lediglich die
ästhetische Vorstellungsleistung des Künstlers und des
entsprechenden Publikums. Zudem ist die synästhetische
Erfahrung persönlich und nach innen gewandt.“

                                      Unsere fünf Sinne verdanken wir einem evolutionären       erinnerten. Chladni war überzeugt, etwas Ausserge-
                                      Zufall: fünf nah beieinander liegende Formen von Sin-     wöhnliches entdeckt zu haben: die bildliche Darstel-
                                      neserfahrung, dennoch sind sie deutlich voneinander       lung des Klanges, eine direkte Verbindung zwischen
                                      getrennt, jeder für einen anderen Zweck und mit anderen   den Sinnen, die für ästhetische Wahrnehmung stehen
                                      Eigenschaften. Im Laufe der Moderne jedoch haben          – Sehen und Hören. Angesichts der entstandenen
                                      Künstler und Naturwissenschaftler immer wieder            Muster soll er in seiner Überraschung ausgerufen
                                      versucht, diese Trennung der Sinneserfahrungen zu         haben: „Der Klang malt!“ Chladnis Experimente haben
                                      überwinden, um den nicht wegzudenkenden Unter-            in die grundlegenden Lehrbücher der Physik Eingang
                                      schied zwischen Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und       gefunden. Sie haben aber auch eine ganze Reihe
                                      Riechen zu überbrücken. Ernst Chladni, der Begrün-        zeitgenössischer Künstler inspiriert. Insbesondere ist in
                                      der der modernen Akustik, strich im Jahr 1786 einen -     diesem Zusammenhang der Maler, Wissenschaftler
                                      Violinenbogen über den Rand einer Metallplatte, die       und Musiker Hans Jenny hervorzuheben, dessen Foto-
                                      mit Sand bedeckt war. Indem er dies tat, begannen         grafien und Videos vibrierender Platten und heftig
                                      die Sandkörner unterschiedliche Gestalten zu bilden,      wogender Formen vor allem den psychedelischen
                                      von einfachen Linien und Kurven bis zu komplizierten      Zeitgeist der späten 60er Jahre einfingen und in den
                                      Mustern, die an Sterne und topographische Karten          folgenden Jahrzehnten New Age.
22          Gelbe Grenze                                                                                                                                                                        Beginn und hörender Anfang              23

                                                                                                                    Gelbe Töne sind dem roten
                                                                                                                    Urklang ähnlich. Während
                                                                                                                    die roten eine eigene
                                                                                                                    Melodie spielen, grenzen die
                                                                                                                    gelben Töne ab und bilden
                                                                                                                    Übergänge.

Nach den über zehn Jahre zurückliegenden Einzelaus-        Kunstschaffens über den Audioguide begleitend beim       des legendären Deutschen Labels Raster Noton leitet        Spiegelungen und Störungen stehen im Zentrum von
stellungen in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main      Rundgang durch die Ausstellung hören. Im ganzen Aus-     Carsten Nicolai außerdem das „Archiv für Ton und           Nicolais Kunst. Anhand von Fehler- und Zufallsstruktu-
und im Museum Haus Konstruktiv in Zürich gibt die          stellungsbereich interagieren die Bilder mit Klängen,    Nichtton” seit 1999. Wer sich für Innovatoren wie Ful-     ren setzt er sich auch mit Modellen der Selbstorgani-
Ausstellung „Parallax Symmetry” einen aktuellen            erweitern optisch Sounds aus höheren Sphären, die        ler, Nicola Tesla und Nam June Paik interessiert, sollte   sation auseinander, untersucht so die Wahrnehmung
Überblick über Nicolais künstlerische Arbeiten. Etwa       sich aus skelettierten Rhythmen und den elementaren      die Ausstellung „Parallax Symmetry” auf keinen Fall        von Bildern als Zeichenprozess. Als ein Mitbegründer
40 seiner multimedialen Werke werden präsentiert,          Zutaten wie Sinustönen zusammensetzen. Mit seinem        verpassen. Denn die künstlerisch-wissenschaftlichen        des legendären Deutschen Labels Raster Noton leitet
darunter Sound-Installationen wie „particle noise”         streng reduzierten Elektroniksound an der Grenze zum     Arbeiten Carsten Nicolais sind sehenswert, regen zum       Carsten Nicolai das „Archiv für Ton und Nichtton” seit
und „unicolor” sowie mehrere Beispiele aus der seit        Minimal-Techno ist Carsten Nicolai nicht nur in der      Nachdenken an und schaffen Raum für Diskussionen.          1999. Wer sich für Innovatoren wie Buckminster Fuller,
2006 entstehenden Video-Reihe „future past perfect”.       Kunst-, sondern auch in der Filmwelt und Musikwelt be-   Kurz: Ein sensorisches Erlebnis der besonderen Klasse.     Nicola Tesla und Nam June Paik interessiert, sollte zu-
Übergreifendes Thema der gezeigten Werke ist auch          kannt.Unter seinem Pseudonym Alva Noto veröffent-        Inspiriert von physikalischen Prozessen, Systemen und      dem die Ausstellung „Parallax Symmetry” auf keinen
die Fusion von bildender Kunst und Musik, von natur-       licht er Alben und Filmmusik wie kürzlich den Sound-     Strukturen, verwendet Nicolai Klang- und Lichtmate-        Fall verpassen. Denn die künstlerisch-wissenschaft-
wissenschaftlicher Erkenntnis, technischem Apparat         track für Oscar-Gewinner „The Revenant”. Letzteres ist   rial, um einen Kontakt zwischen transphänomenaler          lichen Arbeiten Carsten Nicolais sind sehenswert,
und Poesie. Die Arbeit „ur-geräusch” bringt diesen Zu-     seine inzwischen bereits sechste Zusammenarbeit          Realität und phänomenaler Wirklichkeit zu schaffen.        regen zum Nachdenken an und schaffen Raum für den
sammenschluss gekonnt zum Ausdruck: Hier greift Ni-        mit dem japanischen Komponisten Ryuichi Sakamoto.        Wie die Arbeiten des japanischen Klang- und Video-         Diskussionen. Kurz: Ein sehr sensorisches Erlebnis der
colai den 1919 veröffentlichen Aufsatz von Rainer Maria    Zu gemeinsamen Projekten zählen das Alva-Noto-           künstlers Ryoji Ikeda sind auch seine Werke von der        besonderen Klasse.
Rilke auf, lässt ihn als literarische Vermittlung seines   Album „Unieqav” und „Glass”. Als ein Mitbegründer        Ästhetik der Mathematik geprägt. Codes und Daten,
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     Impressum

     Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg
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     Konzept und Gestaltung Clara Schöttke / Projektbetreuung
     Prof. Silke Juchter / Der Nachdruck aller Texte und Bilder ist
     nur mit Genehmigung des Herausgebers gestattet.
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