FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE - Von "Made in China" zu "Managed by China" - SÜDWIND ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
NEUE SEIDENSTRASSE 2021-08 FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE Von „Made in China“ zu „Managed by China“ VON SABINE FERENSCHILD
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AFWA Asia Floor Wage Alliance (Asiatische Grundlohn Allianz) BCI Better Cotton Initiative BRI Belt and Road Initiative (Initiative Neue Seidenstraße) CPEC China-Pakistan Economic Corridor (Chinesisch-Pakistanischer Wirtschaftskorridor) DIT Duisburg Intermodal Terminal ILO International Labour Organization (Internationale Arbeitsorganisation) KP Kommunistische Partei OAR Open Apparel Registry Fotos: Titel: Dmitry P via Flickr; Wiki Commons (Offene Datenbank Bekleidungsunternehmen) RMB Renminbi SDG Sustainable Development Goals (Ziele für nachhaltige Entwicklung) AUTORIN SSEZ Sihanoukville Special Economic Zone (Sonderwirtschaftszone Sihanoukville) DR. SABINE FERENSCHILD WTO World Trade Organization (Welthandelsorganisation) XPCC Xinjiang Production and Construction Corps Dr. Sabine Ferenschild arbeitet seit 2011 als (Produktions- und Aufbaukorps Xinjiang) wissenschaftliche Mitarbeiterin bei SÜDWIND. XUAR Xinjiang Uyghur Autonomous Region Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsbedingungen (Autonome Region Xinjiang) in der textilen Wertschöpfungskette mit Fokus auf asiatische Produktionsländer. Seit 2013 ABBILDUNGSVERZEICHNIS setzt sie sich mit Arbeitsbedingungen in China Grafik 1: Anzahl größerer Textil- und Bekleidungsbetriebe auseinander. In der Studie „Von weißem Gold u. Beschäftigte in China und goldenem Öl“ (2013) publizierte sie erstmals Grafik 2: Textilproduktion in Xinjiang, 2012 – 2018 zum Baumwollanbau in Xinjiang. 2020 veröf- Grafik 3: Mindestlohn 2021 und Asiatischer Grundlohn im fentlichte sie mehrere Blogbeiträge zur „Neuen Vergleich (2020/21) Seidenstraße“. KARTENVERZEICHNIS SÜDWIND setzt sich für wirtschaftliche, soziale Karte 1: Die Landverbindungen der Neuen Seidenstraße und ökologische Gerechtigkeit ein – weltweit. nach Europa Wir recherchieren, decken ungerechte Strukturen Karte 2: Knotenpunkte der Neuen Seidenstraße in Xinjiang auf, machen sie öffentlich und bieten Handlungs- Karte 3: Demographische Verteilung in Xinjiang (2018) alternativen. Wir verbinden entwicklungs Karte 4: BRI-Projekte in Kambodscha politische Bildungs-, Öffentlichkeits- und Lobby- TABELLEN arbeit und tragen Forderungen in Kampagnen, Gesellschaft, Unternehmen und Politik. Tabelle 1: Monatliche Mindestlöhne im Vergleich (2015, 2021) Seit 30 Jahren. FÖRDERER IMPRESSUM Bonn, April 2021 AUTORIN: studie Dr. Sabine Ferenschild Fast Fashion auf HERAUSGEBER: REDAKTION UND LEKTORAT: der Seidenstraße SÜDWIND e.V. Nathalie Grychtol, Patrick Wulf, 2021-08 Kaiserstraße 201, 53113 Bonn Tel.: +49(0)228-763698-0 Vera Schumacher, Bjarne Beh- info@suedwind-institut.de rens V.i.S.d.P.: Dr. Ulrike Dufner www.suedwind-institut.de GESTALTUNG: BANKVERBINDUNG SÜDWIND: twotype design, Hamburg KD-Bank Für den Inhalt dieser Publikation IBAN: DRUCK UND VERARBEITUNG: ist allein der Herausgeber DE45 3506 0190 0000 9988 77 Brandt GmbH, Bonn verantwortlich. BIC: GENODED1DKD Gedruckt auf Recycling-Papier 2
Der Karakorum Highway verbindet China über INHALTSVERZEICHNIS Xinjiang mit Pakistan. EINFÜHRUNG 4 1. D ER KAMPF UM DIE SPITZE: CHINA ALS GLOBAL PLAYER IM WELTMARKT FÜR TEXTILIEN 6 1.1 Übersicht über die chinesische Textilindustrie 6 1.2 Go West – Vorläuferin der „Neuen Seidenstraße“ 7 1.3 Going Out – noch eine Vorläuferin 8 1.4 Go sustainable? 9 1.5 Ausblick 9 1.6 Soziale Auswirkungen der chinesischen Textilindustrie 10 2. EIN BLICK IN DIE REGIONEN 12 2.1 Pulverfass Xinjiang: Ruhe und Stabilität für die Neue Seidenstraße 12 Ein Blick in Geschichte und Gegenwart 12 Eine neue Phase der Repression 14 Beispiel Huafu Fashion 15 2.2 „Niemanden zurücklassen“ – Kambodscha und die Seidenstraße 15 Energie und Infrastruktur 16 Sihanoukville – das kambodschanische Shenzhen 16 3. AUSBLICK 18 3
Dem Szenario von See- weg-Blockaden durch die USA möchte China mit neuen Landrouten vorbeugen. Fotos: Tolga Türkmenoğlu/ Unsplash EINFÜHRUNG M it dem Begriff „Seidenstraße“ verbinden strecke der „Neuen Seidenstraße“ ist zwar doppelt viele eine alte Handelsroute zwischen so teuer wie die Fracht per Schiff, benötigt aber Europa und Asien aus lange vergangenen nur rund 12 Tage im Vergleich zu den 45 Tagen, die Zeiten. Doch neben der historischen Seidenstraße, ein Schiff auf der maritimen Seidenstraße benö- die vom 2. Jahrhundert v. Chr. bis zum 13. Jahrhun- tigt (vgl. Oltermann 2018: o.p.). Das weitere Wachs- dert die wichtigste Handelsverbindung zwischen tum des Güterzugverkehrs zwischen China und Europa und Asien war (vgl. Gaspers / Heilmann Duisburg ist also – erst recht nach den Handelsver- 2017: o.p.), treibt die Volksrepublik China seit eini- einbarungen zwischen der EU und China von Ende gen Jahren ein global angelegtes Infrastrukturpro- 2020 – sehr wahrscheinlich, trotz der im Vergleich jekt unter dem Namen „Neue Seidenstraße“ oder zum Schiffsverkehr immer noch bescheidenen „Belt and Road Initiative“ voran. Die „Neue Seiden- Gütermengen. straße“ liegt geographisch näher als manch eine*r Während es also aus der Perspektive Duisburgs zunächst denken mag. Dies macht das Beispiel bei der Beteiligung an der „Neuen Seidenstraße“ Duisburg deutlich. Dort endet einer der Eisen- vor allem um die wirtschaftlichen Chancen als Lo- bahnstränge der „Neuen Seidenstraße“. Die eigene gistik-Drehkreuz geht, sind die Interessen Chinas Bedeutung für die „Neue Seidenstraße“ sieht die an dem Projekt vielfältiger: Stadt Duisburg so: „Mit der Seidenstraßeninitiati- Außen- und wirtschaftspolitisch will ve „One Belt – One Road“ baut China ein globales China durch vielfältigere und bessere DIE „NEUE Infrastrukturnetz, Duisburg ist dabei integraler Be- Transportwege die globale Nachfrage nach SEIDEN standteil. Die Zugverbindung ist die erste schnelle chinesischen Produkten steigern, sich den STRASSE“ Güterzugverbindung zwischen Europa und China Zugang zu Rohstoffen sichern und nicht LIEGT NÄHER und gilt daher als das Symbol der neuen Seiden- zuletzt auch durch den Ausbau von Han- Siehe ALS MANCH Karte 1 straße.“ (vgl. Stadt Duisburg 2020: o.p.) delsverbindungen über Land das Risiko EINE*R DENKT. Duisburg hat sich in den letzten Jahren zu ei- möglicher Blockaden von Seewegen (zum nem wahren Logistik-Drehkreuz der „Neuen Sei- Beispiel durch die USA) minimieren (vgl. EINER DER denstraße“ entwickelt. Elektronik, Textilien und Turowski 2020: 4). Für eine (noch) bessere STRÄNGE Bekleidung oder Spielzeug für den deutschen und Integration Chinas in globale Wertschöp- ENDET IN europäischen Markt werden hier umgeschlagen fungsketten bildet die „Neue Seidenstra- DUISBURG. und an ihre Zielorte weitertransportiert. Allein ße“ also die infrastrukturelle Grundlage. zwischen 2016 und 2018 hat sich der Güterverkehr Entlang der verschiedenen Routen werden zwischen Duisburg und China von 20 auf 35 Gü- Produktionszentren geschaffen, über die Roh- terzüge pro Woche nahezu verdoppelt (vgl. Statista stoffe, Vorprodukte und Endprodukte schneller 2020: o.p.). Der Güterverkehr auf der Eisenbahn- und verlässlicher transportiert und mit den Ziel- 4
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE NÖRDLICHE TRANSSIBIRISCHE KARTE 1: DIE LANDVERBINDUNGEN SEIDENSTRASSE ROUTE DER NEUEN SEIDENSTRASSE NACH EUROPA Perm Moskau Jekaterinburg Irkutsk Sabaikalsk Astana Minsk Warschau Shenyang Almaty Khorgos Yingkou Duisburg Ürümqi Peking Poti Aktau Tianjin Tiflis Qingdao Verbindu nach Süd Xian und Japa Suzhou Istanbul SÜDLICHE Lanzhou Schanghai Teheran SEIDENSTRASSE Wuhan Yiwu Chengdu Chongqing Neu Delhi Changsha Shilong Mumbai DIE LANDVERBINDUNGEN DER NEUEN SEIDENSTRASSE NACH EUROPA In Wuhan, der chinesischen Partnerstadt Duisburgs, nimmt eine der Bahnstrecken der „Neuen Seiden- straße“ ihren Anfang. Sie führt von Wuhan in der Provinz Hubei über Xian und Lanzhou in den chine- sischen Provinzen Shaanxi und Gansu, durch Urumqi und Khorgos in der zu China gehörenden Autono- men Region Xinjiang weiter über Almaty und Astana in Kasachstan, Jekaterinburg, Perim und Moskau in märkten verbunden werden können. Chinesische Russland, das weißrussische Minsk und Warschau Konzerne werden dadurch in ihrer internationa- zur Endstation Duisburg. Die südliche Seidenstraße len Expansion unterstützt. Inwiefern sich diese verläuft von Almaty aus über Teheran im Iran und Verknüpfung auf die Textil- und Bekleidungsin- Istanbul in der Türkei nach Duisburg. Auch die direkt der Zentralregierung unterstellte dustrie auswirkt, wird in Kapitel 1 betrachtet. chinesische Stadt Chongqing ist einer der Start- Innenpolitisch sollen die Infrastrukturprojek- punkte der in Duisburg endenden Bahnverbindun- te unter dem Dach der „Neuen Seidenstraße“ Ent- gen. Die Bahnverbindung zwischen Chongqing und wicklungsunterschiede zwischen chinesischen Duisburg wurde bereits im Jahr 2011 als Teil der Regionen verringern sowie neue Wachstums- „Go-West-Strategie“ (s. Kap. 1.2) der chinesischen perspektiven schaffen und so den erreichten Regierung zur Entwicklung der inneren (westlichen) Wohlstand sichern (vgl. Hoering 2020: 12ff.). Neue Provinzen, Städte und Autonomen Regionen Chinas Verbindungen in die asiatischen Nachbarländer aufgenommen. Später wurden sowohl die Bahnver- sollen wirtschaftliche Impulse für die ärmeren bindung als auch die „Go-West-Strategie“ in die chinesischen Provinzen und Grenzregionen wie „Neue Seidenstraße“ integriert. Im Jahr 2018 liefen zum Beispiel die Autonome Region Xinjiang brin- 80 % der für Europa bestimmten 1.400 Güterzüge gen und dadurch u.a. zur Schlichtung innerer aus Chongqing über den am Duisburger Hafen gele- Konflikte beitragen wie zum Beispiel des Konflikts genen DIT-Terminal (Duisburg Intermodal Terminal). zwischen der chinesischen Zentralregierung und Quellen: Rundschau Duisburg 2019: o.p.; Mardell 2019: o.p. der in Xinjiang lebenden Ethnie der Uigur*innen. Gerade letzteres kann nur gelingen, wenn die Ui- gur*innen auch von den Projekten im Kontext der Projekten. Inwiefern die BRI zu besseren Arbeits- „Neuen Seidenstraße“ profitieren (vgl. Gaspers / standards beiträgt, lässt sich aus einem Vergleich Heilmann: o.p.). Inwiefern die „Neue Seidenstra- der Bedingungen in der Sonderwirtschaftszone ße“ dazu beiträgt, innere Konflikte zu entschärfen, mit den Bedingungen an anderen Textilstandor- wird in Kapitel 2 am Beispiel des Uigur*innenkon- ten in Kambodscha schlussfolgern. flikts erörtert. Ein weiteres regionales Beispiel in Ein Hauptaugenmerk dieser Studie liegt auf Kapitel 2 ist Kambodschas Rolle in der „Neuen den Auswirkungen der „Neuen Seidenstraße“ auf Seidenstraße“. Kambodscha ist eines der Schlüs- Arbeitsstandards. Da menschenwürdige Arbeits- selländer der BRI im südostasiatischen Raum und standards ein zentrales Element nachhaltiger verspricht sich starke Entwicklungsimpulse durch Entwicklung sind (SDG 8.7), bilden sie ein Kern- die BRI-Projekte. Die kambodschanische Sonder- kriterium in der Bewertung dieses chinesischen wirtschaftszone Sihanoukville, in der vor allem Großprojekts. Daher werden die Auswirkungen Textilbetriebe angesiedelt sind, gehört zu den BRI- auf Arbeitsstandards in Kapitel 3 diskutiert. 5
Die wachsende konsumfreudige Mittelklasse Chinas ist als Absatzmarkt hochinteressant; auch für ausländische Unternehmen 1. DER KAMPF UM DIE SPITZE: CHINA ALS GLOBAL PLAYER IM WELTMARKT FÜR TEXTILIEN D ie Volksrepublik China ist seit dem Jahr ist deutlich gestiegen. Sie könnten deshalb zu den 2001 Mitglied der Welthandelsorganisa- größten Nutznießenden der „Neuen Seidenstra- tion (WTO) und seitdem zum Land mit dem ße“ gehören (vgl. Barrie 2019: o.p.). größten Anteil an den Weltexporten aufgestiegen (vgl. / Holzmann / Wesseling / Zenglein 2020: 12). Das gilt auch für die Textil- und Bekleidungsexporte (s. Kap. 2.1). Mit einer wachsenden Mittelklasse in 1.1 ÜBERSICHT China wächst zugleich die Binnennachfrage nach ÜBER DIE CHINESISCHE Konsumgütern, zu denen auch Textilien und Be- kleidung gehören. Für internationale Modean- TEXTILINDUSTRIE bieter ist China deshalb nicht nur als „Werkbank der Welt“ von Bedeutung, sondern wird auch als Mit dem Beitritt zur Welthandelsorganisation Absatzmarkt immer interessanter: In den letzten und dem Ende des Welttextilabkommens ab dem Jahren wurde China zu einem der wichtigsten Ab- Jahr 2005 erfolgte ein beispielloses Wachstum der satzmärkte u.a. von Fast Fashion-Anbietern wie chinesischen Textil- und Bekleidungsindustrie. Zara, H&M oder C&A (vgl. Irun 2017: 19). Laut Chinas Statistischem Jahrbuch existierten China ist zwar weltweit führend bei Produkti- im Jahr 2008 rund 50.000 größere chinesische on, Handel und Konsum von Textilien und Beklei- Textil- und Bekleidungsbetriebe mit rund 11 Mio. dung. Doch kämpfen chinesische Textilunterneh- Beschäftigten (vgl. China Statistical Yearbook 2009, men in den letzten Jahren zunehmend mit für sie Tab. 13-2). Mit dieser starken Industriebasis stieg problematischen Entwicklungen wie zum Beispiel China zum wichtigsten Akteur im globalen Tex- steigenden Produktionskosten. Letztere führten til- und Bekleidungshandel auf und erreichte im zu Auftragsverlagerungen in günstigere asiati- Jahr 2013 einen Anteil von rund 40 % (177 Mrd. sche Länder. Der internationale Wettbewerbs- US-Dollar) an den globalen Bekleidungsexpor- druck für chinesische Textilexportunternehmen ten und 35 % (106 Mrd. US-Dollar) an den globa- 6
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE GRAFIK 1: ANZAHL GRÖSSERER TEXTIL- UND BEKLEIDUNGSBETRIEBE U. BESCHÄFTIGTE IN CHINA (2015–2018) KURZER ÜBERBLICK ÜBER DAS BRI-PROJEKT Mit der „Belt & Road-Initiative“ (BRI), besser Anzahl der Betriebe bekannt als „Neue Seidenstraße“, hat der chi- nesische Präsident Xi Jinping im Jahr 2013 ein 40.000 ehrgeiziges Infrastrukturprojekt angekündigt. Der 35.000 Ausbau von Schienen- und Straßenverbindungen 30.000 sowie von Meeresstraßen und Häfen soll der An- 25.000 kurbelung des Welthandels, aber auch geopoliti- 20.000 schen Zielen dienen. Wickelte China zuvor seinen 15.000 Außenhandel primär über den Seeweg ab, so wird 10.000 im Rahmen der BRI der Ausbau von Schienen- trassen über Zentralasien Richtung Europa massiv 5.000 vorangetrieben (vgl. Morazán 2020: 1ff). Über 2015 2016 2017 2018 die verbesserte Infrastruktur und die zahlreichen chinesischen Investitionen in die Partnerländer der BRI baut das Land seine Position als führende Fotos: Zhang Kaiyv/ Unsplash. Anzahl der Beschäftigten Handelsmacht in Konkurrenz zu und im Wettbe- werb mit den USA und der EU aus. 10.000.000 Für den Globalen Süden bergen die Infrastruktur- 8.000.000 projekte der BRI sowohl Chancen als auch Risiken: Einerseits verbessern die BRI-Projekte den Zu- 6.000.000 gang dieser Länder zu Wasser, Transport, Energie und anderen grundlegenden Dienstleistungen, 4.000.000 andererseits erhöhen sie deutlich das Risiko der 2.000.000 Überschuldung. Dies betrifft insbesondere afrika- nische Partnerstaaten der BRI – mit allen bekann- ten sozialen und ökologischen Folgen, die daraus 2015 2016 2017 2018 resultieren, dass Staaten ihre Haushaltsmittel in Textilbetriebe Bekleidungsbetriebe* den Schuldendienst statt in menschliche Entwick- lung stecken müssen. Außerdem gibt es etliche BRI-Investitionen, die ökologisch problematisch *Manufacture of Textile, Wearing Apparel and Accessories sind, z.B. in Kohle- und Atomkraftwerke, sowie Quelle: China Statistical Yearbook 2016 - 2019 Berichte über schwere Arbeitsrechtsverletzungen beim Bau von BRI-Infrastrukturprojekten, die vor allem die lokalen Beschäftigten treffen. Ob die Chancen der besseren Anbindung afrikanischer und zentralasiatischer Staaten an den Welthandel len Textilexporten (vgl. WTO 2014: 58). Fünf Jahre letztlich die Risiken überwiegen, lässt sich noch später sind Chinas Bekleidungsexporte zwar auf nicht abschließend bewerten, da nicht einmal rund 31 % (158 Mrd. US-Dollar) Weltmarktanteil zehn Jahre seit dem Startschuss vergangen sind gefallen, die Textilexporte aber auf knapp 38 % und das letzte dieser Jahre von der Corona-Pan- (119 Mrd. US-Dollar) gestiegen (vgl. WTO 2019: demie überschattet wurde. 119f). Außerdem sank die Zahl der chinesischen Textil- und Bekleidungsunternehmen bis 2018 deutlich, wie Grafik 1 zeigt. Obwohl die Interpre- tation dieser Zahlen schwierig ist, unter anderem, weil sich die Kategorien der statistischen Erfas- 1.2 GO WEST – sung über die Jahre geändert haben, lässt sich ein Trend beobachten. Die Zahl der größeren Betriebe VORLÄUFERIN DER der chinesischen Textil- und Bekleidungsindust- rie nahm ab und es fand ein deutlicher Abbau von „NEUEN SEIDENSTRASSE“ Arbeitsplätzen statt. Im Jahr 2018 gab es landes- Hinter dem o.g. Rückgang der Bekleidungsexpor- weit noch knapp 34.000 Unternehmen mit einem te verbergen sich sowohl interne als auch externe Siehe Grafik 1 Jahresumsatz von mehr als 20 Mio. RMB (ca. 2,5 Zusammenhänge. Zu den zentralen internen Zu- Mio. Euro). Die Zahl der Beschäftigten sank von sammenhängen gehört die sog. „Go West-Strate- 9 Mio. im Jahr 2015 auf 6,7 Mio. im Jahr 2018. Die- gie“ der chinesischen Führung (vgl. GTAI 2019: 1), se Entwicklung scheint sich weiter fortzusetzen. die zwar alle Wirtschaftssektoren betraf, sich am So gaben etwa ein Drittel der marktführenden Beispiel der Textil- und Bekleidungsindustrie aber Unternehmen in einer Umfrage an, ihre Produk- gut veranschaulichen lässt. tion bereits teilweise ausgelagert zu haben oder Der Aufbau des exportorientierten Textilsek- dies in den nächsten zwei bis drei Jahren tun zu tors erfolgte in China bereits mit den Wirtschafts- wollen (vgl. Russell 2020). reformen der chinesischen Führung unter Deng 7
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE Xiaoping ab 1978 (vgl. Ferenschild / Schäfer 2012: Für die Autonome Region Xinjiang, die im folgen- 27f). Basierend auf Staatsbetrieben und der Be- den Kapitel ein Schwerpunkt sein wird, brachte schäftigung von Wanderarbeiter*innen entstan- die Entwicklungsstrategie der Zentralregierung den Textilindustriecluster vor allem in den östli- einen massiven Ausbau der textilen Kette. Xinji- chen Küstenprovinzen (Hebei, Shandong, Jiangsu, ang wurde in der letzten Dekade zum wichtigsten Zhejiang, Fujian, Guangdong). Die ersten Sonder- Baumwollanbaugebiet Chinas entwickelt. Mehr wirtschaftszonen, u.a. Shenzhen in Guangdong als 80 % der chinesischen Baumwolle werden und Xiamen in Fujian, profitierten von ihrer geo- mittlerweile dort angebaut. Dies entspricht mehr graphischen Nähe zu Schnellstraßen oder Häfen als 20 % der globalen Baumwollproduktion. Tex- sowie zu den international angebundenen tilbetriebe aller Verarbeitungsstufen - von Spinne- Metropolen Hongkong, Shanghai oder reien über Stoffherstellung bis zur Bekleidungs- Siehe Guangzhou (vgl. Irun 2017: 16f). Durch die produktion - wurden in Xinjiang aufgebaut. Allein Grafik 2 DIE „GO WEST- Konzentration der industriellen Entwick- die Produktion von Garnen und Stoffen stieg in STRATEGIE“ ALS lung auf die Küstenprovinzen entstand den letzten Jahren um 450 %(vgl. Wulff 2020: 1f). ANTWORT AUF aber im Laufe der Jahre zwischen den sich DIE WACHSENDE wirtschaftlich entwickelnden östlichen POLARISIERUNG ZWISCHEN Provinzen Chinas und den zurückfallen- den westlichen Provinzen und Regionen 1.3 GOING OUT – NOCH CHINAS KÜS eine starke soziale und ökonomische EINE VORLÄUFERIN Polarisierung. Getrieben von dieser Pola- TENPROVINZEN risierung sowie steigenden Produktions- Um Chinas Stellung auf dem Weltmarkt für Tex- UND DEN ÄRME kosten in den Küstenprovinzen schuf die tilien und Bekleidung zu behaupten, reichte die REN REGIONEN Regierung im Rahmen der „Go West-Stra- Suche nach günstigeren Produktionsstandorten IM INNEREN tegie“ Anreize für den Aufbau weiterer innerhalb Chinas aber nicht aus. Denn unter dem Textilcluster in den westlichen Provinzen, Druck steigender Produktionskosten in China be- die in einem ersten Schritt die Provinzen gannen westliche Textil- und Bekleidungsunter- Anhui, Jiangxi, Shanxi, Henan, Hubei und Hunan nehmen in den letzten Jahren zunehmend Auf- umfassten, aber schließlich auch die noch weiter träge an chinesische Nachbarländer zu vergeben. siehe Kasten 1 westlich gelegenen Regionen Nigxia, Qinghei und Dieser Trend hält an und wird verstärkt durch die auf S. 11 Xinjiang einschlossen (vgl. a.a.O.: 26). So sollten ei- Corona-Krise, aber auch durch den Handelskrieg nerseits Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten zwischen den USA und China, der zu steigenden für die Bevölkerung dieser Provinzen geschaffen Zöllen geführt hat (vgl. Taylor 2020: o.p.; Gartner werden, andererseits boten die dortigen niedrigen 2020: o.p.). Lohn- und Standortkosten attraktive Bedingungen Auf den Abzug westlicher Aufträge aus China für die arbeitsintensive Textil- und Bekleidungs- und deren Verlagerung in Länder mit niedrigeren industrie. Diese „Go West-Strategie“ kann (neben Produktionskosten hat China längst reagiert. Die der „Going Out-Strategie“, s.u.) als eine der Vor- nach innen gerichtete „Go West-Strategie“ Chinas läuferinnen der „Neuen Seidenstraße“ verstanden wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von einer werden. Beide verbindet das Interesse der ökono- ebenso intensiv verfolgten „Going Out-Strategie“ mischen Entwicklung und Integration der inneren begleitet. Im Rahmen dieser Strategie werden Regionen Chinas. die chinesischen Unternehmen darin unterstützt GRAFIK 2: TEXTILPRODUKTION IN XINJIANG, 2012 – 2018 Baumwolle 5.000.000 (in 10.000 t) 4.000.000 3.000.000 Stoff (in 100m) 2.000.000 Garn (in 10.000 t) 1.000.000 Kunststofffaser (in 100m) 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Quelle: China Statistical Yearbook 2010 - 2019 8
und ermutigt, im Ausland zu investieren, globale Ressourcen zu nutzen und chinesische Produkte, Dienstleistungen und Technologien international zu verbreiten (vgl. Hederer 2015: o.p.; Holzmann / Wessling / Zenglein 2020: 7ff.). Chinesische Textil- und Bekleidungsunter- nehmen beteiligen sich seit vielen Jahren an die- ser „Going Out-Strategie“, die ebenso wie die „Go Foto: Wikimedia Commons West-Strategie“ heute Teil der Seidenstraßen-Phi- losophie geworden ist. Der Export von Überschuss- produktion in wichtigen Branchen wie Stahl, Bau- industrie oder Textilien bleibt eines der Hauptziele der BRI. Chinesische Unternehmen haben massiv in den Ausbau und die Entwicklung der Textil- und Bekleidungsproduktion in anderen asiatischen Ländern investiert. Bangladesch war das erste Zahlreiche Herstellungsprozesse werden zunehmend in Land, in dem chinesische Textilunternehmen Joint Länder mit noch niedrigeren Arbeitskosten ausgelagert. Ventures aufbauten, um den steigenden Produk- tionskosten in China auszuweichen. Aber auch die Textilsektoren Vietnams und Kambodschas und jüngst auch Usbekistans ziehen chinesische In- Während China im Inland auf Klima- vestitionen an (vgl. Fibre2Fashion 2019: o.p.). So ver- freundlichkeit setzt, fördert es im Zuge „GO WEST“ bergen sich zum Beispiel hinter vietnamesischen der „Neuen Seidenstraße“ den Ausbau von UND „GOING Bekleidungsexporten nach China oder in die EU Kohlekraftwerken in den Partnerländern, häufig chinesische Unternehmen, die in Vietnam zum Beispiel in Pakistan, Bangladesch OUT“ SIND produzieren (vgl. Schmitt 2020a: 2). oder Kambodscha (vgl. Urgewald o.J.: o.p.). HEUTE TEIL Dabei müsste China gerade bei den Projek- DER SEIDEN ten der „Neuen Seidenstraße“ seine Füh- STRASSEN- 1.4 GO SUSTAINABLE? rungsrolle bei einer ökologischen Trans- formation unter Beweis stellen. Nach PHILOSOPHIE. Neben den Bemühungen Chinas, im Rahmen der Ansicht von Expert*innen spielt deshalb „Go West-Strategie“- und der „Going Out-Strate- die „Neue Seidenstraße“ eine entscheidende Rol- gie“ seine Position im Binnen- und Weltmarkt für le bei der Erreichung der globalen Klimaziele (vgl. Textilien und Bekleidung zu behaupten, gewann Shepherd 2020: o.p.). ökologische Nachhaltigkeit in den letzten Jahren an Bedeutung für die chinesische Politik. Die chi- nesische Führung will das Land bis 2060 CO2-neu- tral machen und China gehört zu den Unterzeich- 1.5 AUSBLICK nern des Pariser Klimaabkommens. Für ein Land, Schon vor Corona wurde der eigene Binnenmarkt dessen ökonomisches Wachstum seit 1978 im We- für die chinesische Textil- und Bekleidungsindus- sentlichen von Kohleenergie angetrieben wurde trie wichtiger als der Weltmarkt. Gingen um 2010 und dessen über viele Jahre kaum (ökologisch) re- noch etwa die Hälfte der chinesischen Textil- und gulierte Industrialisierung zu schweren Schäden Bekleidungsprodukte in den Export, so waren es an Land, Luft und Wasser geführt hat, ist das eine 2019 nur noch ein Viertel. Chinesische Anbieter gewaltige Herausforderung. Denn bereits im Jahr konkurrieren aber auch im Binnenmarkt und da 2006 hat China die USA als größten Emittenten vor allem im gehobenen Marktsegment mit aus- von Treibhausgasemissionen (TGE) überholt und ländischen Anbietern (vgl. Schmidt 2020b: 1). So- ist heute für ein Viertel der globalen TGE verant- wohl für die Behauptung auf dem Binnenmarkt wortlich. Um diesem Problem entgegenzuwirken als auch auf den Exportmärkten ist deshalb die enthalten die chinesischen Fünfjahrespläne seit „Neue Seidenstraße“ eine wichtige Unterstützung dem Jahr 2001 soziale und ökologische Ziele. Um- für chinesische Textil- und Bekleidungsunter- weltregulierung und Emissionsstandards sind nehmen. Im Binnenbereich verbindet die „Neue seitdem strikter geworden und grüne Technolo- Seidenstraße“ die neuen Textilproduktionszent- gien werden gefördert (vgl. Grünberg / Holzmann ren z.B. in Xinjiang mit den anderen chinesischen 2021: 4f.). Die chinesische Textil- und Bekleidungs- Provinzen und dem Weltmarkt. Im Exportbereich industrie steht in diesem Kontext vor gewaltigen unterstützen Seidenstraßenprojekte die Entwick- Herausforderungen. Denn sie gehört zu den In- lung von Textilclustern in den Partnerländern der dustrien in China mit dem höchsten Energiever- „Neuen Seidenstraße“. Kapitel 2 wirft deshalb ex- brauch und den größten umweltschädigenden emplarisch einen vertiefenden Blick auf Xinjiang Emissionen (vgl. Ying et.al. 2017: 9). und auf das BRI-Partnerland Kambodscha. 9
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE 1.6 SOZIALE TABELLE 1: MONATLICHE MINDESTLÖHNE IM VERGLEICH (2015, 2021) AUSWIRKUNGEN DER CHINESISCHEN Provinz/Region 2021 2015 TEXTILINDUSTRIE Xiamen 1.700 RMB 212 Euro 1.500 RMB 200 Euro Wenn von steigenden Produktionskosten in der Shenzhen 2.200 RMB 274 Euro 2.030 RMB 272 Euro chinesischen Textil- und Bekleidungsindustrie ge- Aksu 1.540 RMB 193 Euro 1.390 RMB 186 Euro sprochen wird, dann sind steigende Lohnkosten ein bedeutender Faktor dieser Steigerung. Veran- Kambodscha 730.002 Riel 146 Euro 512.000 Riel 102 Euro schaulichen lassen sich die steigenden Lohnkosten Bangladesch 8.000 Taka 76 Euro 5.300 Taka 55 Euro an der Entwicklung der gesetzlichen Mindestlöh- ne in China über die letzten Jahrzehnte. Der jeweils Quelle: WageIndicator.org; Umrechnung nach oanda.com jeweils zum 01.01.2015/21. gültige gesetzliche Mindestlohn ist ein guter Re- ferenzwert für die Lohnentwicklung, da er die je- weilige Lohnuntergrenze markiert. In China gibt es ein sehr komplexes Mindestlohnsystem, das u.a. den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten und 2021 mit den Kalkulationen der Asiatischen Rechnung tragen soll und insgesamt aus Hunder- Grundlohn Allianz (AFWA – Asia Floor Wage Al- ten unterschiedlichen Mindestlöhnen besteht. Um liance) für einen existenzsichernden Lohn in den eine Vorstellung der unterschiedlichen Mindest- drei betrachteten Ländern Bangladesch, Kambod- lohnhöhen in China und im Vergleich auch zu scha und China. zwei Partnerländern der „Neuen Seidenstraße“ zu Innerhalb Chinas existiert also nicht nur ein Siehe Tabelle 1 vermitteln, enthält Tabelle 1 die für 2015 und 2021 Lohngefälle zwischen den östlichen und westli- gültigen monatlichen Mindestlöhne chen Textilclustern, gravierender ist der Abstand der Mindestlöhne von einer existenzsichernden ▸ er Sonderwirtschaftszonen Xiamen, Provinz d Lohnhöhe. Dies gilt auch für Bangladesch und Fujian, und Shenzhen, Provinz Guangdong (in Kambodscha, weswegen die „Neue Seidenstraße“ beiden Provinzen liegen Textilcluster). vielleicht erfolgreich zur Schaffung von Jobs bei- ▸ der Stadt Aksu in der Autonomen Region trägt, aber nicht zur Schaffung menschenwürdi- Xinjiang, einem regionalen Zentrum der ger Arbeitsplätze. Ohne dies für Bangladesch und Textilindustrie; Kambodscha hier weiter ausführen zu können, soll ▸ von Bangladesch und Kambodscha, zwei Län- der Blick auf die Lohnentwicklung in China doch der mit bedeutender Textil- und Bekleidungs- ergänzt werden durch die Ergebnisse einer Befra- industrie und Investitionsziele chinesischer gung der Hongkonger Arbeitsrechtsorganisation Textilunternehmen. Globalisation Monitor zu den Arbeitsbedingun- gen von mehreren hundert Wanderarbeiter*in- Die Entwicklung der Mindestlöhne zeigt (1) das nen, die in den Provinzen Fujian, Guangdong, kontinuierliche, allerdings in China relativ lang- same Wachstum der Mindestlöhne über die letz- ten sechs Jahre, (2) die deutlich niedrigeren Löh- ne im Westen Chinas (Aksu) im Vergleich zu den GRAFIK 3: MINDESTLOHN 2021 UND ASIATISCHER Produktionszentren im Osten Chinas (Xiamen, GRUNDLOHN IM VERGLEICH (2020/21) Shenzhen ) sowie (3) das starke Mindestlohngefäl- le zwischen China einerseits sowie Kambodscha Euro und Bangladesch andererseits. Wenn chinesische 700 Textilunternehmen im Zuge der „Go West-Strate- gie“ oder im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ 600 in Bangladesch und Kambodscha investieren oder 500 dorthin Aufträge vergeben, bedeutet dies also nicht zugleich, dass auch die Textilarbeiter*innen 400 in den Partnerländern von diesen Investitionen 300 profitieren oder dass die Unterstützung der Be- schäftigten das Ziel dieser Investitionen ist. Es 200 geht aus Sicht der Unternehmen vielmehr darum, 100 von den niedrigen Lohnkosten in den Partnerlän- dern zu profitieren (s. auch Kapitel 2). Siehe Xiamen Shenzhen Aksu Kambodscha Bangladesch Grafik 3 Dies zeigt auch der Vergleich der jeweiligen gesetzlichen Mindestlöhne in den Jahren 2015 Mindestlohn 2021 Asiatischer Grundlohn 2021 Quelle: AFWA 2021; WageIndicator.org 10
THEMA MARKE Jiangsu und in Chongqing in verschiedenen In- dustriesektoren, u.a. Schuhe und Bekleidung, ar- beiten. Die Befragung, die von Juni 2018 bis Januar 2019 durchgeführt wurde, zeichnet trotz einiger Verbesserungen in den letzten Jahren (z.B. reale Lohnzuwächse) dieses Bild (vgl. Globalisation Mo- nitor 2019: 2ff.): Foto: Wikimedia Commons ▸ 1 7 % der interviewten Arbeiter*innen (N = 651) gaben an, dass ihre Löhne nicht ihre grundlegenden Bedürfnisse erfüllten. ▸ 93 % berichteten von regelmäßig mehr als 50 Arbeitsstunden wöchentlich, 27 % von mehr Die Löhne von vielen Wanderarbeiter*innen - wie hier im als 70 Arbeitsstunden wöchentlich. Laut Arti- Bausektor – haben sich zwar verbessert, aber noch kein existenzsicherndes Niveau erreicht. kel 36 des Chinesischen Arbeitsgesetzes sind regelmäßig 8 Arbeitsstunden am Tag und nicht mehr als 44 Arbeitsstunden pro Woche erlaubt. trugen laut China Labour Bulletin dazu bei, dass ▸ Nur knapp über die Hälfte der Befragten er- die Industrielöhne in China in vielen Fällen dras- hielt alle vom Gesetz vorgeschriebenen Sozial- tisch gesunken sind (vgl. AsiaNews 2020: o.p.). versicherungen. Lohngewinne aus der Vergangenheit sind also ▸ 51 % der Befragten hatten keine Kenntnis von zumindest temporär verloren gegangen. Und das einer Gewerkschaft im Betrieb. Aussetzen der jährlichen Mindestlohnerhöhun- gen in allen chinesischen Provinzen für das Jahr Der Handelskrieg mit den USA und die wirtschaft- 2021 zeigt, dass die Krise noch lange nicht vorbei lichen Folgen des coronabedingten Lockdowns ist (vgl. CLB 2021: o.p.; s. Kasten). KASTEN 1: hatte auch eine deutliche Reduktion Unterstützung haben, sowie Wander- VON CORONA HART GETROFFEN der Exporte zufolge und führte dazu, arbeiter*innen, denen es an sozialen dass die Investitionen in die chinesi- Netzwerken wie familiärer Unterstüt- Chinas Textil- und Bekleidungsindust- sche Textil- und Bekleidungsindustrie zung fehlt, sind von den Kürzungen rie wurde von den Folgen der Corona- um über 50% einbrachen (vgl. a.a.O.). besonders negativ betroffen. Pandemie besonders schwer getrof- Die Corona-Pandemie hat damit den Der Spielraum chinesischer Textil- fen (vgl. Sedex 2020). Die regional Prozess der Verlagerung der Tex- unternehmen auf den vereinbarten verhängten strengen Ausgangsbe- schränkungen haben im Januar und til- und Bekleidungsproduktion in Bestellmengen und Abnahmepreisen Februar 2020 einen starken Einbruch günstigere asiatische Länder weiter gegenüber den Marken- und Han- in der Produktion verursacht, mit beschleunigt. delsunternehmen zu bestehen, ist negativen Folgen entlang der ge- Der Nachfrageeinbruch ab Mitte März angesichts der Angst vor weiteren samten Lieferkette. Ab April hat die hat die Situation der Textil- und Be- Produktionsverlagerungen und den Ausbreitung der Pandemie in Europa, kleidungsindustrie weiter verschärft. damit einhergehenden Schließungen den USA und Japan zudem zu einem Die Beschränkungen im Einzelhandel von chinesischen Produktionsstätten, starken Nachfragerückgang geführt. in Europa, aber auch in Japan, führten begrenzt. Chinesische Unternehmen, Beide Effekte zusammen haben die zu einem Rückgang der Bestellungen die für den westlichen Absatzmarkt ohnehin schwierige Lage der Textil- bei den Zulieferbetrieben aus China produzieren, sind daher von kurzfris- und Bekleidungsindustrie in China um etwa 74% (vgl. Scheper 2020, tigen Stornierungen bereits bestellter deutlich verschärft. Abb. 2). Viele Unternehmen reagier- Waren sowie nachträglichen Preis- Der im Januar in mehreren Regionen ten mit Zwangsurlaub, reduzierten Arbeitszeiten oder Entlassungen (vgl. nachlässen besonders stark betroffen. Chinas verhängte Lockdown führte ILO 2020: 3f.). Die Kosten des plötz- Bis Mitte des Jahres 2020 war fraglich, zu einer massiven Einschränkung lichen Nachfrageeinbruchs wurden ob es diesen Unternehmen gelingt, der Produktion in der Textilindustrie. dabei überwiegend auf die Produkti- die bereits produzierten Waren auf Millionen von Arbeiter*innen durften über Wochen ihre Wohnung nicht onsbetriebe und deren Beschäftigten dem chinesischen Markt zu verkaufen. verlassen und die Produktionsstätten abgewälzt. Frauen sind dabei stärker Ohne gezielte finanzielle Unterstüt- blieben geschlossen. Dies führte al- von den negativen Folgen betroffen, zung durch den chinesischen Staat lein in den ersten beiden Monaten des da sie einen größeren Anteil der Be- droht daher nicht nur eine weitere Jahres 2020 zu einem Einbruch von schäftigten in der Textilproduktion Prekarisierung der Arbeitsbedin- über 35% in der chinesischen Textil- ausmachen (vgl. Scheper 2020: 16). gungen, sondern auch ein massiver und Bekleidungsindustrie (vgl. Zhang Aber auch informell Beschäftigte, die Arbeitsplatzverlust im Textilsektor in 2020). Der Produktionsrückgang oft keinen Anspruch auf staatliche China. Text: Bjarne Behrens 11
2. EIN BLICK IN DIE REGIONEN E in Blick in die chinesischen Regionen und BRI entwickelt. In Urumqi, der Hauptstadt der Re- die Partnerländer der BRI macht deutlich, gion, kommen die Güterzüge aus verschiedenen dass die BRI nicht nur ein weltumspan- Regionen Chinas zusammen und verlassen China nendes Infrastrukturprojekt ist, sondern auch über die Knotenpunkte Khorgos oder Alashankou, politische, geostrategische und ökonomische In- beide an der Grenze zu Kasachstan (vgl. HKTDC teressen Chinas in diesen Regionen und Partner- 2020: 2). Khorgos lässt sich als Pendant zum Sei- ländern voranbringen soll. denstraßen-Drehkreuz Duisburg bezeichnen. In Die innere Verzahnung dieser Interessen kann der Stadt Khorgos an der Grenze zu Kasachstan besonders gut am Beispiel der Autonomen Region entstand mit dem „Khorgos-East Gate“ ein inter- Xinjiang verdeutlicht werden: Die Region wird nationaler Handels- und Logistikknotenpunkt in- geostrategisch für den Ausbau der BRI benötigt klusive Freihandelszone, in der Unternehmen von und die BRI setzt zugleich wirtschaftliche Impul- Zöllen befreit und Steuern vereinheitlicht sind se zur Entwicklung der Region. Und um das poli- und Duty-Free-Einkauf ermöglicht ist (vgl. Hägele tische Interesse der Zentralregierung an innerer / Kramer 2016: 3). Khorgos ist als Drehkreuz auch Stabilität und Sicherheit zu wahren, will sie ethni- deshalb so wichtig, weil auf dem Weg nach Europa sche Minderheiten wie die Uigur*innen assimilie- und Zentralasien die Schienenwege über unter- ren und übt dazu Zwang und Druck aus. schiedliche Spurbreiten verfügen und die Fracht Eine Kombination von geostrategischen und mit dem Ziel Europa deshalb mehrmals umgela- ökonomischen Interessen Chinas drückt sich aber den werden muss (vgl. Hoering 2018: 50). auch in der Kooperation der BRI mit Kambodscha Auch für den „Chinesisch-Pakistanischen Wirt- aus. Kambodscha ist als Teil des Mekong-Beckens schaftskorridor“ (CPEC) ist der Brückenkopf Xinji- von großem Interesse für China – wegen der geo- ang von elementarer Bedeutung, denn dieser ver- graphischen Nähe zu den südlichen chinesischen läuft über Kashgar in Xinjiang zum internationalen Provinzen und seinem dynamischen Wirtschafts- Hafen Gwadar in Pakistan (vgl. Le Quoc / Nguyen wachstum, das im Exportsektor insbesondere auf 2019: 4). Einerseits braucht die chinesische Zentral- boomenden Bekleidungsexporten aufbaut (vgl. Le regierung also die Autonome Region Xinjiang als Hong Hiep 2020: o.p.). Handelstor nach Asien und Europa, andererseits sollen die BRI-Maßnahmen auch der Entwicklung in Xinjiang dienen und „das Pulverfass politischer 2.1 PULVERFASS XINJIANG: Unruhen durch ökonomische Entwicklung beruhi- gen“ (Hoering 2018: 17). RUHE UND STABILITÄT EIN BLICK IN GESCHICHTE FÜR DIE NEUE UND GEGENWART Siehe SEIDENSTRASSE Seit die Volksrepublik China 1949 gegründet wur- de, hielt sie die frühere Republik Ostturkestan Karte 2 Die Autonome Region Xinjiang im Nordwesten militärisch besetzt und gliederte sie 1955 als Auto- Chinas wurde von der chinesischen Zentralregie- nome Region Xinjiang (Xinjiang = neue Grenze) in rung zu einem der logistischen Drehkreuze der ihre administrative Struktur ein. Dazu gründete die Volksrepublik bereits ein Jahr zuvor formell das militärisch strukturierte „Xinjiang Production and Construction Corps“ (XPCC), in China auch als „Bingtuan“ (= Corps) bekannt (vgl. Ferenschild 2013: KARTE 2: KNOTENPUNKTE DER NEUEN 13; UHRP 2018: 7ff). SEIDENSTRASSE IN XINJIANG Das XPCC ist quasi ein Staat im Staat, betreibt eigene Städte, verfügt über mehr als ein Drittel der CHINA Ackerfläche in Xinjiang und übt Kontrolle über die wichtigsten Wasservorkommen aus. Es betreibt eigene Unternehmen in verschiedensten Sektoren ALASHANKOU und unterhält ein eigenes Gefängnissystem. Das KHORGOS Hauptquartier des XPCC ist in der Hauptstadt Xin- jiangs, Urumqi, angesiedelt. Es ist in 14 Divisionen URUMQI und 176 Regimenter unterteilt und es betreibt 143 Farmen sowie 4.391 Unternehmen. Der 1. Kommis- XINJIANG sar des XPCC ist zugleich auch Parteisekretär von KASHGAR Quelle: d-maps.org Xinjiang (vgl. UHRP 2018: 9). 12
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE KARTE 3: DEMOGRAPHISCHE VERTEILUNG IN XINJIANG NACH HAN- UND UIGURISCHER BEVÖLKERUNG (2018) KASTEN 2: XINJIANG, DAS XPCC UND DIE UIGUR*INNEN. EINE ZEITTAFEL MEHRHEITLICH UIGUR*INNEN 1949 Die Chinesische Volksbefreiungsarmee MEHRHEITLICH HAN-CHINES*INNEN marschiert in Ost-Turkestan ein. 1955 Die KP Chinas gründet die Autonome Region Xinjiang (Xinjiang Uyghur Auto- nomous Region, XUAR). 1990 Unabhängigkeitsdemos in Aksu werden durch das XPCC niedergeschlagen. Das XPCC verfügt über eigene Gefängnisse, in denen in den frühen 1990ern rund 100.000 Gefangene einsitzen. 1997 Proteste von Uigur*innen gegen religiö- se Einschränkungen werden vom XPCC gewaltsam niedergeschlagen (Ghulja Massaker). 1998 Das XPCC wird als „Unternehmen“ klassifiziert und besitzt 30 % der Acker- fläche in Xinjiang. Es kontrolliert aber fast die gesamte Ackerfläche, weil es die Wasserversorgung kontrolliert. Das XPCC-Management erhält denselben bürokratischen Status wie die Regional- regierung Xinjiangs. 2009 Uigur*innen in der Hauptstadt Urumqi protestieren gegen die chinesische Zentralmacht. Der Aufstand wird nieder- Quelle: Eigene Darstellung nach d-maps.com; geschlagen, das XPCC kontrolliert die China Statistic Press (2019) Situation mit bewaffneten Milizen. 2014 Xi Jinping reist erstmals nach Xinjiang und kündigt „ideologische Heilung“ der Der personelle Grundstock des XPCC waren ent- Uigur*innen an. Massive Umerziehungs- lassene Soldaten, die die Grenzregion sichern und programme der ethnischen Minderheiten stabilisieren sollten. Um die mehrheitlich vom im Sinne der Assimilation an die han-chi- muslimischen Turkvolk der Uigur*innen bewohn- nesische Mehrkeitskultur beginnen. Zwi- te Region zu befrieden, siedelte die Zentralregie- schen 2014 und 2018 werden 350.000 rung über Jahrzehnte gezielt Han-Chines*innen in Kader in sog. Dorfteams geschickt, um Xinjiang an, die in China die Bevölkerungsmehr- die Bevölkerung zu erfassen und für Um- heit bilden. Diese Ansiedlungspolitik führte dazu, erziehungsprogramme auszuwählen. dass aus einem niedrigen einstelligen Prozent- 2016 China will die Armut in Xinjiang durch anteil der Anteil der Han-Bevölkerung an der Ge- Industrialisierung und Transfer von samtbevölkerung Xinjiangs bereits in den 1980er Arbeitskräften (erstmals erwähnt) be- Jahren auf rund 40 % stieg (vgl. Klein 2009: 380). kämpfen und legt dazu einen Aktions- plan vor. Uigurische Islamisten verüben Mittlerweile hat Xinjiang eine Bevölkerung von einen Selbstmordanschlag auf die rund 25 Mio. Menschen, von denen knapp 9 Mio. chinesische Botschaft in Kirgistan. Menschen zur Han-Bevölkerung, 11 Mio. zu den 2017 Der XPCC-Parteisekretär Sun Jinlong Uigur*innen und die übrigen zu anderen ethni- kündigt an, dass das XPCC sich künftig schen Gruppen gehören (vgl. China Statistic Press stärker auf den Süden Xinjiangs konzen- 2019: 7). Während der Nordosten Xinjiangs mehr- trieren wird, um die Region zu entwi- heitlich von Han-Chines*innen bewohnt wird, do- ckeln und Arbeitsplätze zu schaffen. Die miniert in den südwestlichen Regionen die uiguri- Masseninternierung von Uigur*innen Siehe Kasten 2 sche Bevölkerung. beginnt. Gegenüber dem Vorjahr steigt Die Zeittafel zeigt, dass Uigur*innen immer die Inhaftierung unter dem Vorwurf des wieder Aufstände und Proteste organisierten. „Extremismus“ um das Fünffache an. 21 Die chinesische Zentralregierung hat deshalb % aller Inhaftierungen in China erfolgen neben dem Versuch der militärischen Kontrolle in Xinjiang 2020 Eine australische Studie weist nach, über die Region auch zahlreiche Entwicklungs- dass Uigur*innen nicht nur interniert anstrengungen unternommen, um Sicherheit und werden, sondern auch Zwangsarbeit für Stabilität zu stärken. Xinjiang war insofern auch internationale Wertschöpfungsketten Teil der „Go West-Strategie“ (s.o.) und ist Teil der leisten müssen. „Neuen Seidenstraße“. Aber auch Entwicklungs- Quelle: ASPI 2020; UHRP 2018; Zenz 2020; Deuber / 13 Giesen 2020Lehr 2020; Gaspers / Heilmann 2017
Foto: Andrew An/ flickr Immer mehr Polizeikräfte werden in Xinjiang eingesetzt, um die Unterdrückung der Uigur*innen durchzusetzen. programme wie das sog. Pairing-Programm sind Anfang 2020 wies eine australische Studie nach, in diesem Kontext zu verstehen: Das Pairing-Pro- dass Uigur*innen zur Arbeit für internationale gramm verknüpft bereits seit der wirtschaftlichen Wertschöpfungsketten gezwungen werden (vgl. Öffnung Chinas im Jahr 1979 ökonomisch entwi- ASPI 2020). Internationale Unternehmen wie ckeltere Provinzen mit armen Regionen in Apple, BMW, Gap, Huawei, Nike, Samsung, Sony China. Diese Partner- oder Patenschaft soll oder Volkswagen, aber auch zahlreiche Textil- INSBESONDERE zu Armutsbekämpfung und Fortschritt unternehmen, könnten von der ökonomischen in den ärmeren Regionen beitragen. Seit Ausbeutung der internierten Personen profitie- DIE UIGURISCHE 1997 wurde für Xinjiang außerdem das ren. Zusätzlich wurden in den letzten Jahren min- BEVÖLKERUNG ähnlich ausgerichtete „Pairing Assistance destens 80.000 Uigur*innen als Arbeiter*innen in IST VON Programm“ eingeführt. Sie alle haben in verschiedene Provinzen Chinas ‚transferiert‘. Dass KONTROLLE, den letzten Jahrzehnten zu Wirtschafts- Uigur*innen zur Teilnahme an diesen Arbeits- UMERZIEHUNG wachstum und steigenden Einkommen transferprogrammen gezwungen werden, steht UND beigetragen. Allerdings profitiert davon – für Beobachter*innen wie die „End Uyghur Forced INHAFTIERUNG wie überall in China – eher die Stadtbevöl- Labor“-Allianz fest. Die Regierung Xinjiangs ver- BETROFFEN. kerung als die Landbevölkerung und auch gab sogar Prämien für die Anstellung bzw. Anfor- eher die Han-Bevölkerung als die anderen derung uigurischer Arbeiter*innen. ethnischen Gruppen. Auch das Einkom- Innerhalb Xinjiangs liegen die Fabriken oft mensgefälle zwischen Xinjiang einerseits und in der Nähe der sog. Umerziehungslager, weil die wohlhabenderen Regionen in China andererseits Arbeit in den Fabriken offiziell als Teil der „Erzie- ist immer noch erheblich (vgl. Tao Song et.al. 2019: hung“ der Uigur*innen gilt. Werden Uigur*innen 9; Xinhua 2020: o.p.). als Arbeitskräfte in andere chinesische Provinzen vermittelt, leben sie in staatlichen Wohnheimen EINE NEUE PHASE DER REPRESSION auf dem Firmengelände oder in der Nähe der Fir- Zwar setzt China in Xinjiang verschiedene Ent- men unter permanenter Überwachung. Zur „Um- wicklungsprogramme um, doch sind die letzten erziehung“ gehören das Verbot der Religionsaus- Jahre vor allem von einer stetig zunehmenden übung und des Kontaktes zu ihren Familien oder Repression geprägt. Insbesondere die uigurische zu Freund*innen. Außerdem werden Mandarin Bevölkerung ist von Kontrolle, Umerziehung und und chinesische Kultur unterrichtet. Das System Inhaftierung betroffen. Ein System von sog. Um- ist nach Einschätzung des internationalen Bünd- erziehungslagern, in dem nach neueren Schätzun- nisses zur Abschaffung der Zwangsarbeit von Ui- gen 1-1,8 Mio. Uigur*innen jeweils über Monate gur*innen, zu dem auch das SÜDWIND-Institut ge- und Jahre festgehalten und ‚umerzogen‘ werden, hört, so umfassend, dass Zwangsarbeit mit großer umfasst in den letzten Jahren auch zunehmend Wahrscheinlichkeit jede Branche in Xinjiang be- Zwangsarbeit (vgl. Ferenschild 2020: o.p.). trifft und jedes Produkt, das dort hergestellt wird. 14
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE Da in Xinjiang mehr als 80 % der chinesischen Verbindung hat mit großer Wahrscheinlichkeit Baumwolle angebaut werden (rund 20 % der Welt- Baumwollgarn von Huafu Fashion den europäi- produktion), dort massiv in den Ausbau von Spin- schen Markt erreicht. Huafu Fashion wiederum ist nereien und weiterer textiler Verarbeitungsstufen eins der Unternehmen, das in der schon erwähn- investiert worden ist und außerdem textile Er- ten australischen Studie im Zusammenhang mit zeugnisse aus Xinjiang in vielen Ländern der Welt dem Risiko der Zwangsarbeit benannt wird. Die weiterverarbeitet werden, ist die Wahrscheinlich- Studie berichtet von 2.048 Arbeiter*innen, die aus keit von Zwangsarbeit in den Lieferketten europäi- dem Bezirk Hotan in Xinjiang im Rahmen eines scher Textilunternehmen sehr hoch. Denn nahezu Arbeitstransfers in die Provinz Anhui gebracht jedes europäische Textilunternehmen beschafft worden seien, um dort u.a. für die Garnfabrik von zumindest Teile seiner Produkte oder Vorproduk- Huafu Top Dyed Melange Yarn zu arbeiten, die wie- te aus China. derum für Kunden wie Adida, Lacoste, Puma, Zara und H&M produziere (vgl. ASPI 2020: 33). BEISPIEL HUAFU FASHION Es ist schwer vorstellbar, dass die „Neue Sei- Das lässt sich am Beispiel des Unternehmens Hua- denstraße“ in Xinjiang einen Beitrag zu nachhal- fu Fashion Co. Ltd. gut veranschaulichen. Das tiger Entwicklung leisten kann, während zugleich Unternehmen ist ein chinesischer Garnproduzent, das XPCC mit seinen militärischen Einheiten für das in über 60 Länder der Welt exportiert und ne- Ruhe und Ordnung sorgt und die Uigur*innen so- ben Produktionsstätten in anderen chinesischen wie andere ethnische Minderheiten von Überwa- Regionen und in Vietnam auch in Xinjiang produ- chung, Internierung, Umerziehung und Zwangs- ziert. In Xinjiang ist Huafu seit dem Jahr 2006 tä- arbeit betroffen sind. Wie lässt sich in diesem tig. Huafu bewirtschaftet in Xinjiang in der Region Klima feststellen, ob außer der Han-Bevölkerung Aksu mehr als 5.300 ha Baumwollfelder und hat Xinjiangs jemand von den Impulsen durch die 2018 eine moderne Spinnerei mit 1 Mio. Spindeln ökonomische Entwicklung und die „Neue Seiden- aufgebaut. Die Huafu-Produktion allein in Xinji- straße“ überzeugt sind? Gar nicht. Anzunehmen, ang ist auf 160.000 Tonnen Garn ausgelegt. Die dass in einem solchen repressiven Umfeld die Firma präsentiert auf ihrer Website ihr Engage- Neue Seidenstraße einen Beitrag zu den UN-Ent- ment in Xinjiang als eine Aktivität im Rahmen der wicklungszielen leistet, wäre wirklichkeitsfremd. „Neuen Seidenstraße“ und verspricht sich viel von der schnellen Zugverbindung nach Europa (vgl. Huafu Yarn o.J.: o.p.). Huafu Fashion war das erste chinesische Mit- 2.2 „NIEMANDEN glied der Nachhaltigkeitsinitiative „Better Cotton ZURÜCKLASSEN“ – Initiative“ (BCI). Die BCI zählt auch europäische Unternehmen wie Adidas, Aldi, C&A, Esprit, H&M, KAMBODSCHA UND DIE Hugo Boss u.v.m. zu ihren Mitgliedern. Über diese SEIDENSTRASSE Siehe Karte 4 Kambodscha gehört zu den wichtigsten Partner- ländern der BRI in Südostasien. Von der BRI ver- KARTE 4: BRI-PROJEKTE IN KAMBODSCHA spricht es sich eine Stärkung der nationalen Ent- wicklungsstrategie, die auch auf Nachhaltigkeit setzt. Im Rahmen der UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG) und der Bekämpfung des Klimawandels will Kambodscha einen angemessenen Beitrag leisten. Dabei will es „niemanden zurücklassen“, will also die ganze Bevölkerung an Entwicklung und Wohl- STUNG TRENG LOWER stand teilhaben lassen (UN DESA 2020: 3). Die In- SE SAN II frastrukturprojekte der BRI sollen dazu die mate- rielle Grundlage legen. Im Jahr 2018 erreichten die chinesischen Direktinvestitionen in Kambodscha KAMBODSCHA einen Anteil von mehr als 40 % an den internatio- nalen Direktinvestitionen im Land. Die chinesischen Investitionen konzentrieren sich vor allem auf die Landwirtschaft und Agro PHNOM PENH industrie, Industrie sowie Infrastruktur und Dienst- DARA SAKOR leistungen/Tourismus. Während chinesische Staatsunternehmen länderübergreifend vor allem in KANDAL Wasserkraftwerke und natürliche Ressourcen inves- tieren, haben sie in Kambodscha erstmals in erheb- SIHANOUKVILLE lichem Umfang auch in die kambodschanische Son- Quelle: Vemaps.com 15
FAST FASHION AUF DER SEIDENSTRASSE derwirtschaftszone Sihanoukville investiert (SSEZ - Sihanoukville Special Economic Zone). Inwiefern dieses Investment ein „gutes Modell der Zusammen- arbeit zwischen China und Kambodscha im Rahmen der BRI und der Nachhaltigkeitsziele Kambodschas“ (UN DESA 2020: 5) sein kann, wird unten diskutiert. ENERGIE UND INFRASTRUKTUR Bis Anfang 2018 wurden im Rahmen der chine- sischen Investitionen zahlreiche Straßen, gro- ße Brücken und ein neuer Containerterminal in Phnom Penh fertiggestellt. Eine Schnellstraße, die die SSEZ mit Phnom Penh verbindet (190 km) und ein Flughafen in Kandal zählen ebenfalls zur BRI und binden Industrieprojekte wie die Sonderwirt- schaftszone effektiv in die neue materielle Infra- struktur der BRI ein. International bekannt wurde insbesondere das Projekt Dara Sakor, für das ein chinesischer Konzern ein großes Küstengebiet für 99 Jahre gepachtet hat. Dieses Gebiet nimmt 20 % der kambodschanischen Küste ein, umfasst Flug- häfen, einen Tiefwasserhafen, einen Industrie- park, Kraftwerke und ein bereits fertiggestelltes Tourismus-Ressort. International bekannt wurde es wegen der Proteste aus der kambodschanischen Bevölkerung, die sich u.a. gegen die wachsende chinesische Minderheit im Land richteten, aber auch wegen der Bedenken der USA, es könnten sich militärische Zwecke mit dieser Investition verbinden (vgl. ebd.; Boisseau du Rocher 2020: 41). nische Wirtschaftsentwicklung. Zum anderen Zu weiteren umstrittenen BRI-Projekten in Kambod- liegt dies aber daran, dass die chinesische Unter- scha gehören zwei im Februar 2020 außerordentlich stützung ohne Konditionen menschenrechtlicher zügig genehmigte Kohlekraftwerke von kambod- Art gewährt wird, was für die international wegen schanisch-chinesischen Joint Ventures. Sie sollen Menschenrechtsverstößen unter Druck stehende bis zum Jahr 2024 fertiggestellt sein. Es ist weder autoritäre Regierung Kambodschas unter Minis- klar, wie die Finanzierung aussieht, noch, terpräsident Hun Sen besonders wichtig ist (vgl. Le 160 vor allem chin. ob es eine gesetzlich erforderliche Überprü- fung der Umweltauswirkungen dieser Kraft- werke gab. Klar scheint nur zu sein, dass Hong Hiep 2020: o.p.; Boissau du Rocher 2020: 32). SIHANOUKVILLE – Unternehmen in der Sonderwirtschaftszone diese Kraftwerke die gegenwärtige Nutzung DAS KAMBODSCHANISCHE SHENZHEN produzieren von Kohlestrom in Kambodscha verdop- Im März 2020 kündigte die Regierung Kambod- schwerpunktmäßig Bekleidung. peln würden – weswegen ein Bündnis aus schas an, Sihanoukville, die Hauptstadt der Preah 256 Nicht-Regierungsorganisationen an die Sihanouk Provinz, zum führenden Industriezen- chinesische Regierung appelliert hat, diese trum Kambodschas zu entwickeln – nach dem 20.000 Kohlekraftwerke sowie 59 weitere BRI-Pro- jekte nicht finanziell abzusichern, falls sie Vorbild des chinesischen Shenzhen. Die Industrie Sihanoukvilles ist fast vollständig auf die SSEZ kon- Beschäftigte arbeiten wegen der Corona-Pandemie in finanzielle unter anderem für die zentriert. Dort produzieren mehr als 160 vor allem chin. Unternehmen der Schieflage geraten würden (vgl. Inclusive De- chinesische Unternehmen mit mehr als 20.000 Sonderwirtschaftszone. velopment International 2020: 1ff.). Neben den Beschäftigten schwerpunktmäßig Bekleidung (vgl. Foto: Wikimedia Commons Kohlekraftwerken hat auch das BRI-Wasser- Buckley / Eckerlein 2020: 4ff.). In der SSEZ ist aller- kraftwerk Lower Se San II in der Stung Treng Provinz dings bisher nur eine Minderheit der knapp 500 erhebliche negative Auswirkungen zur Folge wie Bekleidungsunternehmen Kambodschas ange- den Verlust von Siedlungsgebieten und Biodiversi- siedelt und dementsprechend arbeitet dort bisher tät (vgl. Boisseau du Rocher 2020: 27). nur ein kleiner Teil der rund 700.000 Näher*innen Dass die kambodschanische Regierung trotz Kambodschas (Zahlen für 2017; vgl. GMAC 2018: Kritik aus der Bevölkerung und negativer Umwelt- 9). In der SSEZ wird auch für den europäischen auswirkungen einiger Projekte überzeugt von Markt produziert, wie das Beispiel der kambod- der engen Kooperation mit China im Rahmen der schanischen Niederlassung eines der führenden BRI ist, liegt zum einen an der großen Bedeutung chinesischen Textilunternehmen, der Hongdou einer besseren Infrastruktur für die kambodscha- International Garment Co. Ltd, zeigt. Diese Firma 16
Sie können auch lesen