Feedback - Tafel Deutschland
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AUSGABE 2015 feedback DAS MAGAZIN FÜR FREUNDE, FÖRDERER UND MITARBEITER DER TAFELN IN DEUTSCHLAND WIR KÖNNEN NICHT ALLE SATT BEKOMMEN. ABER VIELE UNTERSTÜTZEN. Klartext: Flüchtlinge und Tafeln — Nachhaltigkeit: Tafeln als Ideengeber Richtungsweisend: Tafeln als starke Marke — N achgefragt im Bundestag: Überfluss und Mangel Über den Tellerrand: Griechenland, Brasilien, Namibia
Liebe Tafel-Freundinnen und Tafel-Freunde, wir freuen uns, Ihnen die neue Ausgabe unseres Verbandsmagazins schen Bundestages in ihren Statements Auskunft (Seite 16 f.). Feedback präsentieren zu können. Bereits zum zweiten Mal inner- halb der letzten fünf Jahre haben wir den Fokus auf das Thema Als Partner der Initiative »Zu gut für die Tonne« setzen sich die Nachhaltigkeit gelegt. Nachhaltigkeit – ein Begriff, der sehr komplex Tafeln für mehr Wertschätzung von Lebensmitteln ein. Besonders und vielfältig ist, und der mittlerweile beinahe inflationär verwen- freut mich, dass Landwirtschaftsminister Christian Schmidt im det wird. Und ein Begriff, der wie kein zweiter für das immer stärker Kurzinterview über den für 2016 ausgelobten Bundespreis der Ini- werdende Interesse der Gesellschaft an einem bewussten Lebens- tiative Auskunft gibt (Seite 15). wandel steht. In dieser Ausgabe möchten wir ganz unterschiedliche Facetten der Nachhaltigkeit beleuchten und dabei der Frage nach- Einen Blick über den eigenen Tellerrand wagen wir auf der Seite 20 gehen, wann und in welcher Form Tafeln nachhaltig handeln. und stellen Ihnen einige europäische und auch internationale Tafel- Projekte vor. Der Bundesverband beging im Jahr 2015 sein 20-jähriges Jubiläum, er arbeitet seit über zwei Jahrzehnten mit anhaltender Wirkung. Die Tafeln agieren als eine der größten europäischen Ehrenamts- Unser Verband wurde in diesem Jahr – und wird auch im nächsten bewegungen im Spannungsfeld zwischen sozialem Engagement Jahr – aufgrund der durch Flüchtlinge zunehmenden Nutzerzahlen und ökologischem Handeln. Gemeinsam mit unseren Partnern besonders stark gefordert. Der Klartext auf den Seiten 4 und 5 befasst versuchen wir, eine Brücke zwischen Überfluss und Mangel zu sich mit dieser neuen, großen Herausforderung und ordnet sie in schlagen. Das unterscheidet uns von kurzlebigen Initiativen und das Aufgabenspektrum unserer Arbeit ein. Seit Juni 2015 ist auch die Projekten. Nachhaltigkeit braucht einen langen Atem. Als Partner Zusammensetzung des geschäftsführenden Vorstandes eine andere. auf Augenhöhe sind die Tafeln in den Nachhaltigkeitsstrategien von Einen kurzen und prägnanten Eindruck von den Personen, die den Unternehmen der Lebensmittelbranche und darüber hinaus mitt- Verband bis zum Jahr 2019 leiten, erhalten Sie anhand der Antwor- lerweile wirksam verankert. Deshalb möchten wir nach 20 Jahren ten des Vorstandes auf den Fragebogen »Auf Herz und Nieren« (Seite Bundesverband einen kleinen Einblick in die bestehenden Koope- 6 und 7). Wie sich die Arbeit der lokalen Tafeln in den letzten Jahren rationen gewähren (Seite 22 ff.). gewandelt hat, veranschaulicht die Auswertung der Tafel-Umfrage (Seite 8). Weitere Neuigkeiten zur Gründung der Tafel-Akademie und In der Rubrik »Rück- und Ausblicke« (ab Seite 28) möchten wir über die Aktivitäten der Jungen Tafel lesen Sie ab Seite 10. schließlich das Jahr Revue passieren lassen, Ihnen das ein oder andere Tafel-Highlight zurück ins Gedächtnis rufen und die für das Den Aufschlag in unserem Themenschwerpunkt Nachhaltigkeit Jahr 2016 geplanten Termine und Ereignisse vorstellen. macht ein Interview mit zwei Wissenschaftlerinnen der Universität Hamburg zur Markenbekanntheit der Tafel (Seite 12). Darin gehen Allen, die das Entstehen dieser Ausgabe möglich gemacht haben, wir der Frage nach, welche Wirkung eine starke Marke erzielen danke ich sehr für ihre Unterstützung. kann. Dass man das Rad nicht immer wieder neu erfinden muss, zeigen die guten Ideen in Sachen Nachhaltigkeit, die viele Tafeln Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre. bereits hatten und die sich auch auf andere Tafeln übertragen lassen. Eine kleine Auswahl ausgezeichneter Ideen mit Nachhaltig- Herzlichst keitsbezug finden Sie auf den Seiten 14 und 18. Lebensmittelverschwendung stoppen und Ernährungsgerechtig- keit gewährleisten – diese grundlegenden Ziele der Tafeln lassen Jochen Brühl sich nur gemeinsam mit der Politik erreichen. Wie Verbesserungen Vorsitzender Bundesverband Deutsche Tafel e. V. erzielt werden können, darüber geben vier Mitglieder des Deut- feedback Ausgabe 2015 Editorial 1
Impressum Feedback. Das Magazin für Freunde, Förderer und Mitarbeiter der Tafeln in Deutschland. Inhalt Herausgeber: Bundesverband Deutsche Tafel e. V., Dudenstr. 10, 10965 Berlin, Tel.: 030/20 05 97 60, E-Mail: info@tafel.de, Inhaltlich Verantwortlicher gemäß § 10 Absatz 3 MDStV: Jochen Brühl, Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V., Spendenkonto: Bank für Sozialwirtschaft; 01 Editorial Über den Tellerrand BIC: BFSWDE33BER IBAN: DE63100205000001118500 20 Nachrichten aus aller Welt Redaktion: Stefanie Bresgott (verantw.), Norma Ostermeyer und Julia Putfarcken Bundesverband intern (Redaktionsassistenz) Layout: Kirchhoff Consult AG, Hamburg 04 Unser Grundsatz muss auch zukünftig Kooperationen und Partner Druck: dierotationsdrucker.de, Esslingen Vertrieb: Trefz GmbH, Schwieberdingen lauten: Tafeln unterstützen, Tafeln und BC DirectGroup GmbH, Berlin versorgen nicht 22 W er helfen will, muss mobil sein Texte: Annika Becker, Karin Binder, Prof. Dr. 06 Auf Herz und Nieren – Silke Boenigk, Stefanie Bresgott, Jochen der neue Vorstand 24 Doppelt nachhaltig: Brühl, Elvira Drobinski-Weiß, Harald Ebner, Imke Eisenblätter, Ryan Harty, recyceln und spenden Dagmar Keßling, Katharina Landgraf, Jana 08 Tafeln im Wandel der Zeit Mertes, Kai Noack, Norma Ostermeyer, 25 Wirtschaft trifft Zivilgesellschaft Julia Putfarcken, Christian Schmidt, Evelin 10 Die neue Tafel-Akademie – Schulz, Katrin Tettenborn, Willy Wagenblast Professionalisierung durch Bildung 26 Gemeinsam Gutes tun Fotos (v. l. n. r): Titel: Kirchhoff Consult AG, Hamburg, Fotonachweise (sofern im 11 Junge Tafel Beitrag nicht angegeben): S. 1: Wolfgang Borrs, S. 16/17: Laurence Chaperon/ Rück- und Ausblicke Katharina Landgraf, www.spdfraktion. de (Susie Knoll/Florian Jänicke), Christian Mang, Büro Ebner, S. 30: MDR, Guido Nachhaltigkeit 28 Augsburg ließ die Köninger, F.C. Hansa Rostock, Privat, Puppen tanzen Bundesverband Deutsche Tafel e. V., 12 D ie Tafeln – Auf dem Weg zur S. 31: Bundesverband Deutsche Tafel e. V., Anestis Aslanidis/Slow Food Deutschland starken Marke 29 Tafelempfang in Berlin Reinzeichnung: Thorsten Lück, Medien und Presse Service Hamburg 14 Tafeln als Ideenschmiede 30 Meldungen aus der Tafel-Landschaft Wenn nicht anders angegeben, wurden 15 3 Fragen an Christian Schmidt 32 Termine 2016 uns die Bilder von privater Seite unentgelt- lich zur Verfügung gestellt. Vielen Dank. 16 Lebensmittelverschwendung 33 Forderungen des Bundesverbandes »Feedback« wurde vollständig durch die stoppen und Ernährungs- Deutsche Tafel e. V. Unterstützung von Anzeigenkunden gerechtigkeit gewährleisten. sowie die Zeitspenden von Autoren und Fotografen ermöglicht. Unser ganz Kann das gelingen? besonderer Dank gilt der freiberuflichen Journalistin Katrin Tettenborn sowie der 18 »Wir sind aus der Region Agentur Kirchhoff Consult in Hamburg, für die Region.« deren Mitarbeitende und Auszubildende »Feedback« sowie weitere Publikationen des Bundesverbandes seit vielen Jahren 19 Hunger und Armut bis 2030 unentgeltlich gestalten. An dieser Aus- besiegen gabe haben mitgewirkt: Jenny Lodders, Rafaela Marquart, Flavia-Oana Petrisor und Holger Ziemann. Die Eigenanzeige verdanken wir dem Büro Artrevier von Stefan Peters aus Berlin. Das aus Gründen der besseren Lesbarkeit vornehmlich verwendete generische Maskulin schließt gleichermaßen weibliche und männliche Personen ein. 2 Impressum feedback Ausgabe 2015
Junge Tafel 11 »Wir sind aus der Region für die Region« 18 feedback Ausgabe 2015 Bundesverband intern 11 Tafelaufbau in Griechenland 20 Übergabe des 750. Tafelfahrzeugs 22 Wirtschaft trifft Zivilgesellschaft 25 Bundestafeltreffen 2015 28 feedback Ausgabe 2015 Inhalt 3
Unser Grundsatz muss auch zukünftig lauten: Tafeln unterstützen, Tafeln versorgen nicht TEXT: JOCHEN BRÜHL »Wir schaffen das«, proklamierte Angela Das Ehrenamt muss entlastet werden Merkel angesichts der steigenden Zahl Was jedoch in der aktuellen Situation auffällt: Während die Politik der Flüchtlinge in Deutschland. Natürlich weitgehend mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint, die eigens schaffen wir das. Deutschland ist eine der aufgestellten Pläne von heute auf morgen über Bord wirft und ein langfristiger Aktionsplan auf sich warten lässt, gibt es eine sehr reichsten Nationen der Welt mit einer große Solidarität der Deutschen gegenüber Flüchtlingen. Dieses Wir, gefestigten Demokratie und einer sehr gut das sind nicht zuletzt auch die Männer und Frauen, die bei den über 900 Tafeln Lebensmittel an Flüchtlinge ausgeben. funktionierenden Infrastruktur. Ob das Wo wären wir ohne bürgerschaftliches Engagement in der Flücht- bundeskanzlerische »Wir schaffen das« lingskrise? Dieser Einsatz für Menschen in Notsituationen ist von jeher originäre Aufgabe der Tafeln. Unsere 60.000 Ehrenamtlichen unter- oder Obamas »Yes, we can« – positive Bot- stützen regelmäßig etwa 1,5 Millionen Menschen. Aktuell kommen schaften sind wichtig. Sie dürfen aber nicht mehr als 200.000 Flüchtlinge hinzu. Das schaffen wir allerdings nicht allein da »Die Tafel« keine Flüchtlingshilfsorganisation ist. Wir unter- zu leeren Worthülsen verkommen. scheiden nicht zwischen den zu uns kommenden Bedürftigen, sondern versuchen, alle Menschen gleichermaßen zu unterstützen. Und wir sa- gen offen, dass bei einer massiven Steigerung der Kundenzahlen, die Tafeln an die Grenze des Machbaren kommen. Verteilt werden kann nur, was uns gespendet wurde. Wenn erste Tafeln einen temporären Auf- nahmestopp gegenüber Neukunden verhängen, wohlgemerkt gegen- 4 Bundesverband intern feedback Ausgabe 2015
über allen Neukunden und nicht nur gegenüber Flüchtlingen, dann ist verstärkt die Armutsquote, aber sie ist nicht die Ursache der Krise. das ein deutliches Warnzeichen in Richtung politisches Berlin! Anfang Hier muss genau unterschieden werden zwischen Anlass und Ursache. Dezember wurde der Millionste Flüchtling in Deutschland registriert. Letztere ist das Ergebnis jahrzehntelanger politischer Fehlentschei- Wenn wie bisher ca. die Hälfte die Hilfe der Tafeln in Anspruch nimmt, dungen. Am deutlichsten wird sie, wenn man die hohe Zahl der Rent- dann müssen wir mit zusätzlichen 500.000 Nutzern rechnen. ner betrachtet, die auf ein langes Erwerbsleben zurückblicken und im Es ist zwingend notwendig das Ehrenamt zu entlasten, sonst wird Alter feststellen müssen, dass ihre Altersversorgung nicht ausreicht. die Bereitschaft zum freiwilligen Engagement langfristig sinken. Nicht Laut einer OECD-Erhebung vom Dezember 2015 haben Rentner in Tafeln müssen sich öffentlich rechtfertigen, warum nicht alle Menschen Deutschland ein deutlich höheres Armutsrisiko als Rentner in ande- bei uns Unterstützung finden, sondern die Politik. Ankündigungen und ren EU-Ländern. Fast jeder zehnte Rentnerhaushalt in Deutschland Durchhalteparolen müssen endlich in Taten überführt werden. Als liegt bei weniger als 50 Prozent des Durchschnittseinkommens. Eine Konsequenz forderte der Bundesverband Deutsche Tafel e.V. erstmals in halbe Million Menschen ist im Alter von der Grundsicherung abhän- seiner Geschichte finanzielle Unterstützung vom Staat, um die beson- gig – ein Armutszeugnis für unseren Staat. Dagegen kämpfen Tafeln deren Herausforderungen der Flüchtlingskrise zu bewältigen. seit Jahren entschieden an. Die Hilfe muss besser koordiniert werden Die Politik muss das Armutsproblem endlich angehen Die Welt 2015 ist aus den Fugen geraten. Die Bemühungen der Zivil- gesellschaft fangen vieles auf, können aber keine nachhaltige Ver- Erschüttert stellen wir fest, dass die von der Politik selbst verschul- besserung erzielen, wenn ihre Arbeit nicht koordiniert wird und dete und durch unzureichende Maßnahmen zur Bekämpfung von ihre Aktivitäten vom Staat zwar dankbar angenommen, nicht aber Langzeitarbeitslosigkeit sogar beförderte Armutsquote von 16 Pro- angemessen unterstützt werden. Bislang ist das Engagement für zent nicht nur achselzuckend hingenommen wird, sondern dieses Flüchtlinge nicht mehr als ein Flickenteppich des guten Willens. offensichtliche Versäumnis nicht eingestanden wird. Der Einsatz der organisierten Zivilgesellschaft, spontanes Engage- Die von einem CSU-Abgeordneten erhobene Forderung, Flücht- ment und staatliche Bemühungen laufen parallel und weitgehend lingen den Zugang zur Tafel zu verweigern, läuft dem demokratischen unkoordiniert nebeneinander her. Was wir brauchen, ist eine Stelle, Grundverständnis nicht nur zuwider, sondern pervertiert in ihrer Be- die die Arbeit der Zivilgesellschaft koordiniert und die zugleich als gründung den Sozialstaat. »Ein großer Teil der aktuellen Tafel-Kunden Schnittstelle zur Bundesregierung dient. Die Schaffung des Amtes sind ältere Menschen, die bedauerlicherweise nicht die Perspektive eines Flüchtlingsbeauftragten der Bundesregierung ist erforderlich, haben, aus dieser Situation wieder herauszukommen«, so die Begrün- damit die dringend benötigte enge Koordination der unterschiedli- dung der Forderung. Deutsche Rentner also sind und bleiben arm. Das chen Akteure in der Flüchtlingshilfe gewährleistet werden kann. Die ist nach Auffassung jenes CSU-Abgeordneten zwar bedauerlich, aber wertvollen Erfahrungen und Anregungen aus der Ehrenamtsarbeit nicht zu ändern. Denn wozu gibt es die Tafeln, die werden es schon sollen durch den Flüchtlingsbeauftragten in die Bundesregierung richten. Endstation Tafel? Solche Äußerungen zeigen das wahre Ge- getragen werden. Wir schaffen das nur gemeinsam! sicht derer, die Altersarmut bewusst in Kauf nehmen, statt planvoll Die Tafeln benötigen in dieser äußerst angespannten Situation eine Besserung herbeizuführen. Sie gießen Öl ins Feuer derer, die ge- Direkthilfe. Wir fordern die Bundesregierung auf, den Tafeln projekt gen Flüchtlinge hetzen. Sie instrumentalisieren die Not und Armut bezogen Finanzierungshilfe zu gewährleisten, um Dolmetscher, Einheimischer, die sich zuvor als Taugenichtse, die dem Steuerzahler Flüchtlingsbetreuer, Koordinatoren zur lokalen Vernetzung mit den auf der Tasche liegen, beschimpfen lassen mussten. Kommunen oder Integrationshelfer beschäftigen zu können. Unsere Die aktuelle Situation legt die Fehler des Staates schonungslos Ehrenamtlichen sind nicht dafür ausgebildet, Menschen, die durch offen. Aber auch die steigenden Armutszahlen in Deutschland bele- Krieg, Gewalt, Terror und Flucht traumatisiert sind, in angemessener gen seit Jahren, dass der Staat sich immer stärker aus der Armutsver- Weise zu begegnen. Ehrenamtliche der Tafeln müssen durch Schulun- sorgung und Armutsbekämpfung zurückzieht und auf gewandelte gen auf diese Herausforderung vorbereitet werden, sonst droht ihr Problemlagen nur langsam reagiert. Nach über zehn Jahren Hartz IV freiwilliges Engagement wegzubrechen. scheint sich die Lage eher verschärft statt verbessert zu haben. Ob die Tafeln die Einführung des Mindestlohns spüren werden und sich die Armut ist kein Kind der Flüchtlingskrise Zahl der Tafel-Kunden reduziert, bleibt abzuwarten. Von zunehmend größerer Bedeutung sind armutsfeste Mindestrenten. Auf die Proble- Nicht nur Flüchtlinge, sondern zunehmend auch Tafeln und Tafel-Mit- me, die eine überalterte Gesellschaft mit sich bringt, muss der Staat arbeiter sind Anfeindungen ausgesetzt. »Uns fehlt es am Nötigsten angemessene Antworten finden. Die Gefahr der Altersarmut wird und ihr gebt es den Syrern!«, »Klar, die sind arm dran, aber das hier ist sich weiter verschärfen. Die Politik darf sich nicht darauf ausruhen, unser Land, kümmert euch um uns«; Äußerungen wie diese werden alte Menschen bei den Tafeln gut aufgehoben zu wissen. Dass Arbeit immer häufiger von außen an die Tafeln herangetragen. Tafel-Ehren- längst keine Garantie mehr für eine gesicherte Existenz ist, verdeut- amtliche werden zunehmend mit solchen Vorwürfen konfrontiert. licht die steigende Zahl der Menschen, die sich trotz Arbeit unterhalb Ich kann nachvollziehen, wie frustrierend die Arbeit unter diesen des Existenzminimums bewegen und von den Tafeln unterstützt wer- Umständen sein kann, wie kräftezehrend und anstrengend Helfen den. Trauriges Beispiel dafür ist die immer weiter steigende Zahl von werden kann. Ehrenamtliche leisten viel, damit es hilfsbedürftigen Alleinerziehenden oder Studenten bei der Tafel. Als Tafeln werden wir Menschen besser geht. Dass ihre Arbeit in dieser Art und Weise kri- auch weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Linderung von Armut leis- tisiert wird, ist unerträglich. ten. Und genau das erwarten wir auch von der Politik! Wir beobachten mit großer Sorge, dass Bedürftige gegeneinan- der ausgespielt werden. Es entlädt sich der Frust derer, die sich abge- Jochen Brühl hängt fühlen. Armut ist kein Kind der Flüchtlingskrise. Zuwanderung Vorsitzender Bundesverband Deutsche Tafel e. V. feedback Ausgabe 2015 Bundesverband intern 5
Auf Herz und Nieren – der neue Vorstand Im Juni 2015 wurde beim Bundestafeltreffen ein neuer geschäftsführender Vorstand des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V. gewählt. Vorsitzender Jochen Brühl sowie Schatzmeister Willy Wagenblast wurden mit überwältigender Mehrheit wiedergewählt. Neu in den Vorstand aufgenommen wurden Imke Eisenblätter, Dagmar Keßling und Kai Noack. Die Mitglieder des geschäftsführenden Vorstandes arbeiten ehrenamtlich. Wer diese fünf Personen, die den Ver- band die nächsten vier Jahre führen werden, sind, darüber soll der Kurzfragebogen »Auf Herz und Nieren« Aufschluss geben. TEXT: GESCHÄFTSFÜHRENDER VORSTAND | FOTOGRAFIE: WOLFGANG BORRS, GUIDO KÖNINGER 1 Mit welchem Politiker würden Sie gerne bei einem Glas Wein oder Selters über die Themen Lebensmittel- verschwendung und soziale Ungleichheit reden? Jochen Brühl: Mit unserer Bundeskanzlerin Angela Merkel, und zwar am liebsten in einer Tafel. Ich würde von ihr gerne ein »Wir schaf- fen das« für alle armen Menschen in Deutsch- land hören. Bislang hat sie meine Einladung leider noch nicht angenommen. Imke Eisenblätter: Mit Sigmar Gabriel, wegen seiner klaren Haltung in der Flücht- lingsthematik. Er will Politik aus der Mitte des Alltags machen: Wir sind als Tafeln mit- tendrin. Das würde ich ihm gerne noch deut- licher machen. Dagmar Keßling: Mit einem, der Visionen und Lösungen zu diesem Thema, aber auch die Durchsetzungskraft und den Willen zur Umsetzung hat. Wer diesen Politiker kennt, bitte Bescheid sagen. Ich bringe auch den Rot- wein mit. Jochen Brühl (Vorsitzender) Kai Noack: Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles würde ich gerne treffen, um mit ihr über Altersarmut zu sprechen und sie zu fragen, wie es sein kann, dass eine halbe Million Rentner trotz jahrzehntelanger Erwerbsarbeit im Alter auf Grundsicherung angewiesen ist. Willy Wagenblast: Walter Steinmeier, weil er sehr pragmatisch arbeitet. Imke Eisenblätter (stellv. Vorsitzende) 6 Bundesverband intern feedback Ausgabe 2015
2 Welche Akzente möchten Sie in Ihrer Amtszeit setzen? Jochen Brühl: Ich möchte unsere Mitglieds- Dagmar Keßling: Erhalt und Aktivierung der Dagmar Keßling (stellv. Vorsitzende) Tafeln bestmöglich unterstützen und ihre Marke »Tafel« für eine (noch) größere Wahr- Interessen nach außen vertreten: mit klaren nehmung in Politik und Wissenschaft. Ferner Forderungen an die Politik und mit einer möchte ich am Ausbau der Logistik für Groß- Stärkung unserer Landesorganisationen spenden mithelfen. und Verbandsstrukturen, um gemeinsam das Waren- und Spendenaufkommen zu sichern. Kai Noack: Genießbare Lebensmittel gehören nicht in die Tonne, sondern auf den Teller. Die Imke Eisenblätter: Ich möchte für unsere Akquise von genießbaren, guten Lebensmit- Mitglieder ein unvergessliches Bundestafel- teln und deren bedarfsgerechte und trans- treffen 2017 in Potsdam auf die Beine stellen. parente bundesweite Verteilung liegen mir Der Bundesverband hat viel Potenzial, ich besonders am Herzen. möchte dieses nutzen, die Verbandsstruktur optimieren und die Position des Verbandes Willy Wagenblast: Dass jede Person im Vor- für die Zukunft dadurch stärken. stand und in der Geschäftsstelle mitdenkt und dazu beiträgt, unsere Geschäftsstelle auch in Zukunft zu finanzieren. Kai Noack (stellv. Vorsitzender) 3 Welche drei Eigenschaften sind wichtig, um gute Tafel-Arbeit leisten zu können? Jochen Brühl: Menschenfreundlichkeit, Kai Noack: Klarheit, Empathie und Gerech- Teamfähigkeit, Toleranz. tigkeitssinn. Imke Eisenblätter: Herzblut, Engagement, Willy Wagenblast: Ausreichende Tafel-Erfah- Kompetenz auf seinem Gebiet. rung, den Willen, gute Tafel-Arbeit zu leisten, echtes Mitgefühl zu unseren Bedürftigen. Dagmar Keßling: Herz, Hand und Verstand. Willy Wagenblast (Schatzmeister) 4 Was war Ihr eindrücklichstes Erlebnis, das Sie während der Arbeit bei einer lokalen Tafel hatten? Jochen Brühl: Beim alljährlichen Winter- möge Sie ein Leben lang beschützen, Sie sind Kai Noack: Eine alte Dame, die den 2. Weltkrieg essen in meiner alten Tafel gab ich einem eine Gute«. Da hatte ich dann Tränen in den miterlebt hat, sprach mich an und fragte, wie Obdachlosen zur Begrüßung die Hand. Er Augen. man eine frische Papaya äße. Sie erklärte mir, erwiderte, dass ich der erste Mensch in die- dass sie Zeit ihres Lebens aß, um zu überleben. sem Jahr gewesen sei, der ihm die Hand gege- Dagmar Keßling: Eine Kundin kam zu mir Gemeinsam schälten und aßen wir die Papaya ben hätte. und fragte, ob mir etwas an ihr auffiele. Sie war und sie konnte zum ersten Mal genießen. das erste Mal seit sechs Jahren beim Friseur Imke Eisenblätter: Ein Gespräch mit einem gewesen. Die Unterstützung der Tafel hatte es Willy Wagenblast: Dass mein ehemaliger Rentner, der sich mit Tränen in den Augen möglich gemacht, dass ihr das Geld dafür zur Tanzstundenlehrer als Bedürftiger zu unse- über einen Helfer beschwerte. Ich konnte Verfügung stand. Sie war richtig glücklich über rem Mittagstisch gekommen ist. ihn beruhigen und am Ende sagte er: »Gott den kleinen Luxus, den sie sich gönnen konnte. feedback Ausgabe 2015 Bundesverband intern 7
Tafeln im Wandel der Zeit Seit mehreren Jahren erhebt Dr. Vera Schäfer, Mitglied des Kuratoriums des Bundesverbandes Deutsche Tafel e. V., Zahlen, Daten und Fakten zu den Ta- feln. Durch diese Tafel-Umfragen ist es uns möglich, Entwicklungen und Trends der Tafel-Arbeit aufzuzeigen und die Interessen der Mitgliedstafeln auch zukünftig bestmöglich zu vertreten. Einige der Ergebnisse möchten wir hier vorstellen. QUELLE: TAFEL-UMFRAGE 2014 UND 2007 | GRAFIK: KIRCHHOFF CONSULT AG Auf die Frage, welche Lebensmittel Während die Anzahl der Kinder und besonders benötigt werden, gaben knapp Jugendlichen, die zu den Tafeln kommen, 74 % mit 23 % in etwa gleich blieb, stieg die Zahl der der Tafeln an, Rentner von 12 % im Jahr 2007 auf über langhaltbare Lebensmittel wie Nudeln, Reis oder Zucker dringend zu 23 % benötigen. im Jahr 2014 an. 2014 gaben Tafeln etwa 195.000 Tonnen Lebensmittel an Bedürftige aus und leisteten dadurch einen beachtlichen Beitrag gegen Lebensmittelverschwendung. Die Tafeln sind Deutschlands effektivste Lebensmittelretter. 8 Bundesverband intern feedback Ausgabe 2015
30 % Bedürftige manchmal vertrösten mussten 2014 49 % der Tafeln wünschen sich mehr junge Menschen im Ehrenamt. Mit der Arbeit der Tafeln, weil nicht genügend der Ehrenamtlichen sind die Tafeln sehr Lebensmittel vorhanden waren. zufrieden (2014). Die Zahl der tafeleigenen Fahrzeuge 2.000 lag 2014 bei über Zudem sind private PKWs im Einsatz. Die Nutzung von privaten PKWs ist rückläufig. 15 % Während 2007 ca. 32.000 Ehrenamtliche bei den Tafeln mitarbeiteten, hat sich die Zahl der Helfer 2014 fast verdoppelt und liegt bei 60.000 der Tafeln bieten zusätzlich zur Lebensmittelausgabe spezielle Angebote für Senioren, wie Tafelmobile oder Fahrdienste, an (2014). feedback Ausgabe 2015 Bundesverband intern 9
Die neue Tafel-Akademie – Professionalisierung durch Bildung Die Bildungsakademie des Bundesverbandes Deutsche Tafel gGmbH (kurz Tafel-Akademie) ist die neue Wissensschmiede für Menschen in der Tafel-Arbeit. Sie wurde 2015 gegründet und wird 2016 ihre Arbeit aufnehmen. TEXT: EVELIN SCHULZ | FOTOGRAFIE: JANA MERTES Die Tafel-Akademie setzt sich für die nachhaltige Sicherstellung der Effektiv, pragmatisch und nah am Menschen – diesen Leitgedanken professionellen Arbeit der Tafeln ein. Dabei richtet sich die Professio- folgt die Tafel-Akademie. Die Umsetzung obliegt einem kleinen, enga- nalisierungsabsicht durch Bildung hauptsächlich an die vielen ehren- gierten Team, das ich als Geschäftsführerin leiten darf. Mit unserer amtlichen Tafel-Helfer. Die Tafel-Akademie möchte Tafel-Leitungen Arbeit möchten wir Ehrenamtliche in ihrem Handeln für bedürftige fachlich begleiten und Tafel-Mitarbeiter weiter für ihr Engagement Menschen und gegen Lebensmittelverschwendung unterstützen. bei den Tafeln qualifizieren. Ein zentrales Anliegen besteht darin, den Denn die Herausforderungen, die sich den 60.000 Tafel-Ehrenamt- enormen Wissensfundus der Generation der Tafel-Gründerinnen und lichen stellen, sind vielfältiger geworden und die Arbeit komplexer. -Gründer mit neuen Ideen der jungen Tafel-Generation zu verbinden. Schon mit der Gründung der ersten Tafel in Berlin vor über Wissen soll, Wissen muss an die nächste Generation weitergegeben 22 Jahren und den heute mehr als 920 Tafeln deutschlandweit wurden werden, damit die Tafeln als älteste Lebensmittelretter Deutschlands neue Herausforderungen deutlich. Es waren Kenntnisse der Vereins- auch zukünftig Maßstäbe setzen gegen Lebensmittelverschwendung gründung, die Klärung finanzrechtlicher Fragen, Fragen zur Lebens- und für Armutslinderung. mittelhygiene, Knowhow der Spendenakquise und mehr notwendig. Nach Gründung des Bundesverbandes unterstützte dieser bei der Ver- netzung und Wissensvermittlung – zum Beispiel durch die Entwick- »Das große Ziel der Bildung ist lung eines umfangreichen Leitfadens zum Aufbau einer Tafel. Als das nicht Wissen, sondern Handeln.« kleine Netz der Tafeln ein großes bundesweites Geflecht wurde, waren Herbert Spencer Hilfen durch den Bundesverband weiter gefragt. Tafeln müssen sich aktuell einer Vielzahl neuer Aufgaben stel- len. Die Frage, wie der Bundesverband seine Mitglieder so gut wie möglich für die Arbeit fitmachen und gleichzeitig das vorhande- ne Knowhow verschiedener Mitglieder verknüpfen kann, um so Synergien unter den Tafeln zu fördern, wurde durch den Ausbau von Schulungen beantwortet. Die Tafel-Akademie übernimmt diese Aufgabe als 100 % ige Tochter des Bundesverbandes. Aktuelle Heraus- forderungen werden die Themensetzung der Schulungsmaßnahmen bestimmen. So wird die weitere Zunahme der Tafel-Kunden – auch durch Flüchtlinge – den Ausbau der Ressourcen zur Sicherstellung der Arbeit nötig machen. Daher möchte die Tafel-Akademie Wege aufzeigen, wie beispielsweise die Lebensmittel- und Spenden-Akqui- se verbessert werden kann, wie neue Kundengruppen integriert wer- den können und wie die Förderung des Freiwilligenmanagements und politische Lobbyarbeit in Zukunft gelingen können. Die Tafel- Akademie wird wissenschaftliche Projekte begleiten, aber auch po- litisch Interessierte in Fragen der Lobbyarbeit vernetzen, um damit die politischen Forderungen der Tafeln auf allen Ebenen an die Ver- antwortlichen in der Politik transportieren zu können. Daher sind neben der Seminararbeit auch Fachkonferenzen, Vortragsveranstal- tungen und weiterführende Projekte geplant. Evelin Schulz ist Geschäftsführerin der Bildungsakademie des Bundesverbandes Deutsche Tafel gGmbH. 10 Bundesverband intern feedback Ausgabe 2015
Junge Tafel TEXT: JANA MERTES, JULIA PUTFARCKEN | FOTOGRAFIE: FELIX ENGE Die Arbeit der Tafeln lebt von den Ehrenamtlichen, die diese leisten. von der Jungen Tafel teilnahm. Er nutzte diese Möglichkeit, um das Dazu gehören auch viele junge Menschen, die sich aktiv einbringen, Engagement der Jungen Tafel vorzustellen und sich mit anderen Bedürftigen helfen und gleichzeitig wertvolle Erfahrungen für sich Organisationen über die vielfältigen Aspekte ehrenamtlicher Arbeit und ihre Zukunft sammeln. Die Plattform dieser jungen Ehrenamtli- auszutauschen. Gemeinsam mit Jochen Brühl nahm er zudem an chen ist die Junge Tafel, ein Teilbereich der Tafel-Bewegung, der sich einer Podiumsdiskussion teil, die von Dr. Eckart von Hirschhausen gezielt an jene richtet, die sich schon in jungen Jahren sozial enga- moderiert wurde. Hierbei hatte er auch die Gelegenheit, den Anwesen- gieren wollen. So organisiert die Junge Tafel spezielle Workshops, die den zu erklären, warum er sich ausgerechnet für die Tafeln engagiert: junge Menschen auf die Herausforderungen des Tafel-Alltags vorbe- »Die Idee der Tafel ist grundsätzlich ›Jeder gibt, was er kann‹. Dazu reiten. Darüber hinaus bietet die Webseite www.junge-tafel.de Raum gehören sowohl gespendete Lebensmittel als auch die Zeit von Ehren- für das Teilen von Erfahrungen sowie maßgeschneiderte Infos für amtlichen, die sich für die Tafeln einbringen. Dieses Motto hat mir junge Tafel-Helfer. Über 60 Helfende haben sich bereits auf der Web- sehr gut gefallen und deshalb bin ich zur Tafel gegangen.« seite registriert und gewähren auf diesem Weg Einblick in ihr Engage- ment und ihre Motivation für die Tafel-Arbeit. Junge Bufdis Ein Jahr bei der Jungen Tafel hält viele interessante Erlebnisse Jedes Jahr engagieren sich etwa 600 Menschen im Rahmen des Bun- bereit. Wie diese aussehen können, zeigen die folgenden Beispiele. desfreiwilligendienstes bei den Tafeln in ganz Deutschland. Viele davon sind junge Erwachsene, die – klassischerweise zwischen Schul- Lidl sponserte Tickets für »Rock am Ring« zeit und Ausbildungsbeginn – ein Orientierungs- oder Engagement- Im Mai würdigte Lidl das Engagement der Jungen Tafel und ver- Jahr absolvieren möchten. Im Jahr 2015 konnte die Zahl der unter schenkte im Rahmen dessen zehn Tickets für das beliebte »Rock am 27-jährigen BFDler von 10 auf 14 Prozent erhöht werden. Ring«-Festival in Mendig. Tankgutscheine Junge Freiwillige beim Bundestafeltreffen Mitmachen lohnt sich! Als kleines Dankeschön erhalten Tafeln, Im Juni 2015 nahmen Tamara und Corinna von der Jungen Tafel am deren junge Helfer sich auf www.junge-tafel.de anmelden, einen Tank- Bundestafeltreffen in Augsburg teil. Den Mitarbeitern vor Ort gingen gutschein im Wert von 100 Euro. sie dabei tatkräftig zur Hand und besuchten zudem die Mitglieder versammlung, die Abendveranstaltung sowie die Lange Tafel, was für Ausblick die beiden jungen Frauen eine überaus spannende Erfahrung war. 2016 konkretisiert sich das Vorhaben, junge Menschen bei den Tafeln in die Verantwortung zu nehmen und sie mit den Strukturen ehren- Bennys Besuch beim Bürgerfest amtlichen Engagements vertraut zu machen. Hierfür startet im Som- des Bundespräsidenten mer ein Schulungsprogramm, das Helfer der Jungen Tafel zu echten Am 11. und 12. September 2015 fand in Berlin das Bürgerfest des Tafel-Profis ausbilden und sie an praxisrelevante Themen wie Vereins- Bundespräsidenten Joachim Gauck statt, an welchem auch Benny und Projektmanagement heranführen wird. feedback Ausgabe 2015 Bundesverband intern 11
Die Tafeln – auf dem Weg zur starken Marke Wir alle kennen sie: Chanel No. 5, Jägermeister oder Tempo. Ob im In- oder Ausland, in Bayern, Berlin oder NRW – das Deutsche Rote Kreuz beispielsweise ist dank eines ein heitlichen Markenauftritts überall auf Anhieb als solches erkennbar. Starke Marken überzeugen mit ihrem außerordentlich hohen Bekanntheitsgrad. Doch wie sieht es bei den Tafeln aus? Prof. Dr. Silke Boenigk forscht und lehrt an der Universität Hamburg zum Thema Marke. Jüngst veröffentlichte sie gemeinsam mit Annika Becker eine Studie über Nonprofit-Marken in Deutschland und hat dabei auch die Markenstärke von Die Tafeln untersucht. DAS INTERVIEW FÜHRTE: STEFANIE BRESGOTT | FOTOGRAFIE: UNIVERSITÄT HAMBURG Feedback: Was genau macht eigentlich eine Marke aus? ger Ressourcen verfügen, relevant. Die Nonprofit-Marke stärkt das Ver- Boenigk: Denken Sie einmal an Jägermeister – möglicherweise kom- trauen und signalisiert die organisationalen Werte und letztendlich die men Ihnen sofort eine bestimmte dunkelgrüne Flasche, ein Hirsch, Fähigkeit der Organisation, die Mission erfolgreich voranzutreiben. ein Kultgetränk, Humor oder Geselligkeit in den Sinn. Genau das macht eine Marke aus. Sie ist mehr als ein Markenname oder -logo Wie wird eine erfolgreiche Marke wie das Deutsche Rote Kreuz die und bezieht sich auf die damit verbundenen Assoziationen in den bekannteste Marke Deutschlands? Köpfen der Menschen. Becker: Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) blickt zunächst einmal auf eine lange Tradition zurück und ist als einer der großen Wohlfahrts- Welche Funktion hat eine Marke? verbände in Deutschland vielen Menschen ein Begriff. Trotz der viel- Becker: In der Vergangenheit haben Nonprofit-Organisationen ihre fältigen Aufgabenbereiche und zahlreichen Mitgliedsverbände ist Marke fast ausschließlich in der Kommunikation genutzt, um ihr dem Deutschen Roten Kreuz ein einheitlicher Markenauftritt gelun- Image zu stärken und Spenden zu generieren. Heute wissen wir um gen, d. h. viele Menschen haben ein klares Bild von der Mission und die Potenziale von Marken als strategische Komponente. Zum einen den Werten des DRK. Wir empfehlen anderen Organisationen eben- stärken sie den internen Zusammenhalt in der Organisation, zum falls eine strategische Herangehensweise bezüglich der Nutzung anderen fungieren sie als Qualitätssignal bei Spendern, Sponsoren ihrer Marke. Dies umfasst zunächst die interne Bestimmung der und anderen externen Anspruchsgruppen. Markenidentität, also das, was die Marke im Kern ausmacht, und die anschließende Kommunikation von dieser im Rahmen eines ein- Marken werden vorrangig mit Unternehmen in Ver bindung heitlichen Markenauftritts. gebracht. Aber auch Ehrenamtsorganisationen wie Die Tafeln sind eine Marke. Gelten für den gemeinnützigen Bereich eigentlich Was genau ist der Vorteil einer Dachmarke? Wenn jede lokale Tafel andere Maßstäbe? mit einem individuellen Logo auftritt, ist die Markenwelt doch viel Boenigk: Während gewinnorientierte Marken wie Apple, Google bunter. oder Coca-Cola schon seit einigen Jahren zu den wichtigsten Ver- Becker: Bei einer Dachmarken-Strategie, wie sie beispielsweise das mögensgegenständen in Unternehmen zählen, vollzieht sich im Deutsche Rote Kreuz umsetzt, profitieren die einzelnen Mitglieds gemeinnützigen Nonprofit-Sektor erst langsam ein Wandel in Rich- organisationen von dem hohen Bekanntheitsgrad und der positiven tung einer aktiven und strategischen Nutzung der Marke. Marken Einstellung gegenüber der Dachmarke. Ob eine solche Strategie sind jedoch gerade für Ehrenamtsorganisationen wie Die Tafeln und auch für Die Tafeln sinnvoll ist, hängt jedoch von den individuellen andere Organisationen des Nonprofit-Sektors, die über weitaus weni- Umständen ab. 12 Nachhaltigkeit feedback Ausgabe 2015
Annika Becker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Prof. Dr. Boenigk und promoviert zum Thema »Markenführung im Nonprofit-Sektor«. Prof. Dr. Silke Boenigk hat die Professur für BWL, insb. Management von öffentlichen, privaten und Nonprofit-Organisationen an der Universität Hamburg inne und forscht und lehrt u. a. zum Thema Nonprofit-Marken. »Ein hoher Markenwert im Haben Sie Tipps, wie ein einheitlicherer Markenauftritt gelingen kann? Nonprofit-Sektor bzw. eine Becker: Um einen einheitlicheren Markenauftritt wirkungsvoll zu unterstützen, sollten sich Nonprofit-Organisationen auf folgende starke Marke signalisiert fünf Dinge fokussieren: 1. M arkenbekanntheit und Einstellung gegenüber der Marke, letztendlich ›Wir machen vor allem Markenvertrauen, messen. 2. K lares Markenprofil festlegen. eine gute Arbeit!‹« 3. N utzung eines Corporate Designs bzw. einer einheitlichen visuellen Identität in Erwägung ziehen. Prof. Dr. Silke Boenigk 4. A lle Mitarbeitenden bzw. Ehrenamtlichen in den Marken bildungsprozess einbeziehen und 5. M arkenbildungsaktivitäten in die gesamte organisationale Strategie einbetten. Wirkt sich der Markenwert auf die Spendenbereitschaft aus? Wo sehen Sie bei Die Tafeln Verbesserungspotenzial im Umgang Boenigk: Ein hoher Markenwert im Nonprofit-Sektor bzw. eine starke mit der Marke? Marke signalisiert letztendlich »Wir machen eine gute Arbeit!«. Spen- Boenigk: Unsere Studie hat gezeigt, dass der Bundesverband Deutsche dende fassen eine starke Marke neben anderen Maßnahmen, wie Tafel e. V. Platz 15 der bekanntesten Nonprofit-Marken in Deutsch- der transparenten Rechnungslegung oder dem Führen eines Spenden land belegt, und dass die lokale Organisation Hamburger Tafel e. V. siegels, als Qualitätssignal auf. Folglich wirkt sich ein hoher Marken be sonders hohe Vertrauens- und Zufriedenheitswerte aufweist. wert auch positiv auf den Erfolg von Nonprofit-Organisationen, Der visuell »bunte« Markenauftritt der verschiedenen lokalen Tafeln z. B. in Form einer erhöhten Spendenbereitschaft, aus. verdeutlicht jedoch, dass sie die hohe Bekanntheit und das Vertrauens potenzial gegenüber dem Bundesverband und anderen lo kalen Organisationen noch nicht in vollem Umfang nutzen. Somit zeigt sich vor allem Verbesserungspotenzial bezüglich eines einheitlicheren Eine Ergebnispräsentation der Studie » Nonprofit-Marken in Deutschland « kann Markenauftritts der Tafeln. per E-Mail angefordert werden: annika.becker@wiso.uni-hamburg.de feedback Ausgabe 2015 Nachhaltigkeit 13
Tafeln als Ideenschmiede Tafeln handeln nachhaltig. Manche ganz bewusst, andere intuitiv. Das A und O für nachhaltiges Handeln sind ökologische, wirtschaftliche und soziale Aspekte. TEXT: STEFANIE BRESGOTT, NORMA OSTERMEYER | FOTOGRAFIE: DIETMAR GUST Die über 900 Tafeln sind die ältesten Lebensmittelretter Deutsch- KIMBAmobil bei der EXPO Milano 2015 lands. Und anders als jüngere Initiativen zur Lebensmittelrettung sind Tafeln die einzigen, die sozial und ökologisch handeln. Auf dieser Eine besondere Möglichkeit, Kinder und Jugendliche an gesunde Seite möchten wir drei gelungene Beispiele aus der Praxis vorstellen. Ernährung und selbstständiges Kochen heranzuführen, hat sich die Warum das Rad neu erfinden, wenn sich eine starke Idee bereits bei Berliner Tafel ausgedacht. In einem umgebauten Doppeldeckerbus mit einer Tafel bewährt hat. In diesem Sinne: nachahmen ausdrücklich moderner Küche, dem KIMBAmobil, sollen Kinder und Jugendliche in erwünscht! altersgerechten Kochkursen ihre Ernährungskompetenzen stärken. In diesem Jahr feierte der Kinder- und Jugendbereich der Berliner Ohne Plastiktüte geht’s auch! Tafel sein 5-jähriges Jubiläum. Die Kinderküche im Doppeldeckerbus hat sich zum Vorzeigeprojekt entwickelt – über 15.000 Kinder haben Der jährliche weltweite Verbrauch von Plastiktüten liegt nach Schät- bereits an den Kochkursen teilgenommen. zungen der Deutschen Umwelthilfe bei einer Billion. Die Folgen sind Auch international konnte das Projekt im zurückliegenden Jahr dramatisch: wachsende Müllberge werden zu einer großen Belastung einen Erfolg verzeichnen. Auf der EXPO Milano 2015, der Weltausstel- für Mensch und Umwelt. Bis die Mehrzahl der Plastiktüten vollständig lung rund um das Thema Nahrungssicherung der zukünftigen Welt- zerfällt, dauert es je nach Art des Kunststoffs bis zu 500 Jahre. bevölkerung, präsentierte sich das KIMBAmobil. Das Projekt wurde im Im niedersächsischen Varel wurde ein Pilotprojekt auf den Weg Deutschen Pavillon neben weiteren Initiativen, die sich für die Wert- gebracht, um die Plastiktütenflut einzudämmen. Die Vareler Tafel ist schätzung von Lebensmitteln stark machen, als möglicher Lösungs- Teil der Initiative. Sie erprobt seit mehr als einem Jahr die Nutzung von ansatz vorgestellt. umweltfreundlichen Tüten auf der Basis von Maisstroh. Diese sind 100 Prozent abbaubar. Für Anita Osterloh von der Vareler Tafel sind die Maistüten ein erster wichtiger Schritt, um zusätzlichen Müll zu ver- meiden. Auch wenn an der Handhabbarkeit noch gefeilt werden muss. Sonnenenergie für die Konstanzer Tafel Vor bereits sieben Jahren startete das Solarprojekt auf den Dächern von Konstanz (wir berichteten erstmals in Feedback 2010). Die im Jahr 2008 installierte Photovoltaik-Anlage sorgt seither für sauberen Strom und ist auch aus finanzieller Sicht ein Zugewinn. Denn die Einspeisevergü- tung von 46 Cent pro Kilowattstunde reichen die Stadtwerke an die Tafel vor Ort weiter. Pro Jahr werden in Konstanz durch Sonnenenergie Spen- dengelder von ca. 1.000 Euro generiert. Eingesetzt werden die Gelder zur Deckung der laufenden Kosten oder um besondere Anschaffungen mit- zufinanzieren. So konnte dank des Solarprojekts etwa ein neues Tafel- Das Interesse an der Weltausstellung EXPO Fahrzeug angeschafft werden. Planungssicherheit inklusive, denn die war groß. Im Deutschen Pavillon wurde das Stadtwerke haben dieses Projekt auf 20 Jahre angelegt. KIMBAmobil vorgestellt. 14 Nachhaltigkeit feedback Ausgabe 2015
3 Fragen an … Christian Schmidt In der neuen Rubrik »3 Fragen an …« bitten wir Personen des öffentlichen Lebens, kurz und prägnant auf die ihnen gestellten Fragen zu antworten. Den Anfang macht der Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft, Christian Schmidt (CSU). Sein Ministerium verleiht 2016 erstmals den »Zu gut für die Tonne!«-Bundespreis für herausragendes Engagement gegen Lebensmittelverschwendung. DAS INTERVIEW FÜHRTE: STEFANIE BRESGOTT | GRAFIK: BMEL 1 Herr Minister, über das Thema Lebensmittelverschwendung wird 2 Wie kann der neu ausgelobte Bun- despreis dazu beitragen, die gra- 3 Ausgezeichnete Leuchtturmpro- jekte sind besonders hinsichtlich zurzeit in der Öffentlichkeit viel vierende Lebensmittelverschwen- ihrer Vorbildfunktion wichtig. diskutiert. Gleichzeitig werden nach wie dung merklich einzudämmen? Wenn sich jedoch keine Nachahmer fin- vor erschreckend viele Lebensmittel achtlos Durch den Bundespreis wollen wir die vielen den, verpufft ihre Strahlkraft. Wie wichtig weggeworfen. Wie ist dieses Paradoxon zu Projekte und Ideen, die es im ganzen Land ist das Kriterium der Nachhaltigkeit (im erklären? gibt, kennenlernen. Der Bundespreis ist offen Sinne von Verstetigung) bei der Vergabe des Ich bin sehr froh über diese Diskussion. Wir für alle, die sich für einen nachhaltigen Bundespreises? haben in Deutschland eine große Auswahl Umgang mit Lebensmitteln einsetzen – ob Mit der Auszeichnung der ersten Gewinner an guten und gesunden Lebensmitteln. Das ehrenamtlich, mit ungewöhnlichen Geschäfts im nächsten Jahr werden wir auch den Wett- ist für uns selbstverständlich geworden und ideen oder mit Innovationen. Und ich bin bewerb wieder ausschreiben. Denn: Wir viele erwarten das volle Angebot bis zum mir ganz sicher, dass alle, die sich über unse- wollen gute Ideen bekannt machen. Es sind Ladenschluss. Dieser Überfluss hat auch eine ren Umgang mit Lebensmitteln Gedanken oft nur kleine Änderungen nötig, um weniger Schattenseite: Was tagtäglich zur Verfügung machen, ihr eigenes Verhalten auch kritisch Lebensmittel wegzuwerfen. Im Handel sind es steht, wird oft nicht wertgeschätzt. Und so hinterfragen. Und das ist der erste Schritt hin beispielsweise bessere Management- oder Ver- landen Tag für Tag zu viele Lebensmittel zu mehr Wertschätzung. packungssysteme. Jeder kann etwas beitragen: in der Tonne. Zum Glück werden dank des Den Einkauf und die Portionsgrößen besser ehrenamtlichen Engagements, unter ande- planen, die Lebensmittel richtig lagern und rem der Tafeln, täglich viele Lebensmittel Reste kreativ verwerten. Damit tut man auch gerettet und an Bedürftige verteilt. gleich etwas für die Haushaltskassen. Denn in einem vierköpfigen Haushalt landen mit den vermeidbaren Lebensmittelabfällen auch fast 1.000 Euro in der Tonne! Mehr Informationen zu diesem Thema unter: www.zugutfuerdietonne.de/bundespreis feedback Ausgabe 2015 Nachhaltigkeit 15
Lebensmittelverschwendung stop gerechtigkeit gewährleisten. Kann In der Rubrik »Nachgefragt« bitten wir vier Mitglieder des Bundestages (MdB) um ein Statement. Jede im Bundestag vertretene Fraktion bekommt dabei eine Stimme. Dreh- und Angelpunkt des ersten »Nachgefragt« ist die Frage nach Lösungsstrategien zur Regulierung von Überfluss und Mangel. TEXT: KATHARINA LANDGRAF, ELVIRA DROBINSKI-WEISS, KARIN BINDER, HARALD EBNER | FOTOGRAFIE: SIEHE IMPRESSUM Katharina Landgraf (MdB) ist Obfrau der CDU/CSU-Bundestags Elvira Drobinski-Weiß (MdB) fraktion im Ausschuss für Ernährung ist verbraucherpolitische Sprecherin und Landwirtschaft der SPD-Bundestagsfraktion Praktisches Handeln ist gefragt Nationale Strategie ist vonnöten Die erschütternden Zahlen zur Lebensmittelverschwendung in Millionen Tonnen Lebensmittel werden jedes Jahr weggeworfen, der Deutschland sind hinreichend bekannt. Es muss jetzt dringend gehan- größte Teil davon ist noch essbar. Das ist eine ungeheure Verschwen- delt werden. Aber wo ist der Ansatz für die Politik? Regulierung durch dung von Ressourcen, die nicht nur ethisch inakzeptabel ist, sondern schärfere Gesetze und Verordnungen wäre ein Weg. Er ist lang und auch gegen jegliche Grundsätze nachhaltigen Wirtschaftens verstößt. zäh. Praktisches Handeln ist eher angesagt. Für die Akteure der über Noch genießbare Lebensmittel zu sammeln, weiterzugeben oder 900 Tafeln ist das eine Selbstverständlichkeit. Und das ist gut so, vor gemeinsam zu verkochen und so vor dem Müll zu retten, ist das Beste, allem für diejenigen, die solche Angebote in ihrem täglichen Leben was diesem Essen passieren kann. Es sorgt auch für einen Bewusst- brauchen. Es muss aber ein gewaltiger Sinnes- und Handlungswandel seinswandel im Umgang mit Lebensmitteln. Aber wir kommen nicht her in der Verarbeitung, im Handel und in der Gastronomie. Es muss darum herum, das Problem an der Wurzel zu packen. endlich klar sein, dass jedes weggeworfene und vernichtete Lebensmit- tel Verschwendung von Werten, Rohstoffen, Arbeitskraft und Energie »Ernährungsgerechtigkeit erreichen wir nur, darstellt. Die Ökonomie und das Streben nach Mehrwert sind die ent- wenn wir dafür sorgen, dass alle Menschen – scheidenden Koordinaten für eine deutliche Kehrtwende. unabhängig von Bildung oder Einkommen – Zugang zu einer ausgewogenen Ernährung haben.« »Regulierung durch schärfere Gesetze und Verordnungen wäre ein Weg. Er ist lang und zäh. Prakti- Seit Langem setzt sich die SPD dafür ein, dass eine nationale Strategie sches Handeln ist eher angesagt.« zur Reduktion von Lebensmittelabfällen über die gesamte Wertschöp- fungskette entwickelt wird. Denn der größte Teil wird in Landwirt- Bislang legten wir den Fokus darauf, dass der Endverbraucher, also schaft, Industrie, Handel und Gastronomie weggeworfen. Für diese die privaten Haushalte, diesen Sinneswandel vollziehen. Die Aktion Akteure braucht es Vermeidungskonzepte und Reduktionsziele, die »Zu gut für die Tonne« des Bundesministeriums für Ernährung und vom Bundesernährungsministerium entwickelt und begleitet werden Landwirtschaft erhält nunmehr eine größere Aktionsbreite. Wir Poli- müssen. Großbritannien zeigt, dass eine solche Strategie sehr erfolg- tiker werden den Dialog mit allen Akteuren in Landwirtschaft, Nah- reich sein kann. rungsproduktion sowie Handel und Gastronomie noch intensiver und Ernährungsgerechtigkeit erreichen wir nur, wenn wir dafür sor- zielführender gestalten. Konkret heißt das für mich: Wir sollten dabei gen, dass alle Menschen – unabhängig von Bildung oder Einkommen – stärker und lauter als bisher konkrete Maßnahmen zum Eindämmen Zugang zu einer ausgewogenen Ernährung haben. Dazu braucht es zum der Verschwendung einfordern. Beispiel gesunde, kostengünstige Schul- und Betriebsverpflegung, ge- rechte Löhne und nachhaltiges Wirtschaften. Die Vermeidung von Le- bensmittelverschwendung leistet insbesondere zum letzten Punkt ei- nen maßgeblichen Beitrag. 16 Nachhaltigkeit feedback Ausgabe 2015
pen und Ernährungs das gelingen? Karin Binder (MdB) ist ernährungspolitische Sprecherin der Frak- Harald Ebner (MdB) tion DIE LINKE im Bundestag sowie Mitglied ist Obmann im Ausschuss für Ernährung im Beirat der Initiative gegen Lebensmittel- und Landwirtschaft der Bundestagsfraktion verschwendung »Genießt uns« von Bündnis 90/Die Grünen Faire Teilhabe statt Lebensmittelverschwendung Politik darf Verantwortung nicht abschieben Vom Acker bis zum Teller landet ein Drittel der erzeugten Lebensmittel Lebensmittelverschwendung findet an vielen Orten statt. Bei uns auf dem Müll. Damit gehen auch große Mengen an Wasser, Energie, allen zu Hause, aber auch bei Verarbeitung, Transport und im Han- Dünger, Futter und Arbeitskraft verloren. Doch das Wegwerfen ist für del. Politik kann durch Aufklärung dazu beitragen, sie zu verringern. die Lebensmittelindustrie profitabler als eine regionale und bedarfs- Aber sie kann auch Rahmenbedingungen ändern. Wenn wir bei der gerechte Lebensmittelerzeugung, die alle Menschen erreicht. Produktion stärker auf Klasse statt auf Masse setzen, ist das in jeder Hinsicht nachhaltiger und reduziert auch die Verschwendung. Denn »Wir fordern Teilhabe statt Verschwendung. dass so leichtfertig weggeworfen wird, hat auch mit mangelnder Wert- Die Lebensmittelindustrie soll ihre schätzung zu tun, wenn der Eindruck vorherrscht, dass Lebensmittel Lebensmittelverluste offenlegen und die billig und in schierer Masse verfügbar sind. Billiges Fleisch wird mit Müllmenge bis 2020 halbieren.« Gensoja-Futter aus Südamerika produziert. Dort werden die Menschen vergiftet durch Pestizide und riesige Flächen fehlen für die Lebensmit- Besonders auf Druck der Lebensmittelindustrie und des Handels telproduktion vor Ort. wird umfänglich zu viel erzeugt, aussortiert und weggeworfen. Was die marktmächtigen Konzerne nicht abnehmen, werden die Erzeuger »Wenn wir bei der Produktion stärker nicht los. Zudem werden Verbraucher zu unnötigen Käufen verleitet. auf Klasse statt auf Masse setzen, ist das in Lebensmittelvernichtung entsteht also vor allem in Produktion und jeder Hinsicht nachhaltiger und reduziert Handel. Aber auch bei uns zu Hause lohnt sich die Resteverwertung: auch die Verschwendung.« Im Durchschnitt kann ein Haushalt rund 20 Euro im Monat sparen, wenn alle Lebensmittel verwertet werden. Und wir müssen klarmachen, dass das MHD eben kein »Verfallsda- Wir fordern Teilhabe statt Verschwendung. Die Lebensmittel tum« ist. Politik kann dafür sorgen, dass schon in Schulen und Kitas industrie soll ihre Lebensmittelverluste offenlegen und die Müllmenge ein verantwortungsvoller, bewusster Umgang mit Essen vermittelt bis 2020 halbieren. Güteklassen und Vermarktungsnormen sind auf- wird. Dazu gehört auch, dass Reste nicht in den Müll gehören. Die zuheben. Der Handel muss verpflichtet werden, abgelaufene, aber ge- Tafeln zeigen seit Jahren, wie wertvoll Reste sind, und leisten einen nießbare Waren an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, gemeinnützige großen Beitrag gegen die Verschwendung. Die Politik muss Tafeln und Einrichtungen wie die Tafeln oder interessierte Einzelpersonen kosten ihre Spender dabei nach Kräften unterstützen, statt sie durch unsin- frei weiterzureichen. Die Gastronomie soll bedarfsgerechte Portionen nige Regeln zu behindern. in unterschiedlichen Größen anbieten und zu viel Gekochtes ohne haf- Politik kann also einiges dazu beitragen, die Lebensmittelver- tungsrechtliche Probleme an Bedürftige ausgeben können. Das Lebens- schwendung zu reduzieren und für mehr weltweite Ernährungsge- mittelhandwerk, die ökologische und regionale Erzeugung und Verar- rechtigkeit zu sorgen. Vor allem darf sie die Verantwortung dafür beitung sowie örtliche Marktstrukturen sind zu stärken. nicht abschieben. feedback Ausgabe 2015 Nachhaltigkeit 17
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