POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer

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POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
Schmerz
NACHRICHTEN
                                       Nr. 1b| 2020 • ISSN 2076-7625

ZEITSCHRIFT DER ÖSTERREICHISCHEN SCHMERZGESELLSCHAFT

            POSITIONSPAPIER
     SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG
     UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER:
     Besonderheiten und Empfehlungen
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
Vorwort                                                                       Teilnehmende
                                                                              Expertinnen und Experten:

M
         it zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit von                       V OR S I TZ
         schmerzhaften Erkrankungen und Beschwerden
         deutlich an. Zugleich machen physische und
psychische Veränderungen, sensorische und kognitive                                            Prim. Univ.-Prof. Dr. RUDOLF LIKAR, MSc
Beeinträchtigungen, Multimorbidität und Polypharmazie                                          Klinikum Klagenfurt am Wörthersee,
das Schmerzassessment und das Schmerzmanagement                                                LKH Wolfsberg, Sigmund Freud
bei älteren und hochbetagten Menschen zu einer beson-                                          Privatuniversität Wien
deren Herausforderung. Diese Tatsache ist, gemeinsam
mit anderen Faktoren – wie dem Phänomen des Under-
reportings von Schmerzen durch ältere Betroffene selbst
oder verbreiteten Vorurteilen und Missverständnissen zu                                        OÄ Dr. WALTRAUD STROMER
Schmerzen im Alter – dafür verantwortlich, dass Schmer-                                        Landesklinikum Horn, Moorheilbad Harbach
zen bei geriatrischen Schmerzpatientinnen und -patienten
nicht ausreichend erkannt werden und somit auch häufig
unterbehandelt bleiben. In besonderem Maß gilt das für
alte Menschen, die kognitive Defizite oder Probleme mit                       TE I LN E HME R I N N E N U N D TE I LN E HME R
der Verbalisierung haben.
                                                                        JKU

Dies ist umso dramatischer, als auch bei älteren und be-                                       Univ.-Prof. Dr. JOSEF DONNERER
tagten Schmerzpatienten gute Behandlungserfolge er-                                            Medizinische Fakultät,
reichbar sind, wenn altersbedingte Spezifika im Schmerz-                                       Johannes Kepler Universität Linz
management konsequent beachtet und berücksichtigt
werden.

2019 wurde von der International Association for the
Study of Pain IASP und der Europäischen Schmerzföde-                                           SVETLANA GEYRHOFER, BA
ration EFIC zum „Jahr gegen Schmerzen bei vulnerablen                                          Geyrhofer KG, Grein
Personen“ erklärt. Dies nahmen die Sektion Schmerz der
Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reani-
mation und Intensivmedizin (ÖGARI), die Österreichische
Schmerzgesellschaft (ÖSG) und die Österreichische Ge-
sellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) zum
Anlass, das nunmehr vorliegende Positionspapier zu initi-                                      Prim. Priv.-Doz. Dr. BURKHARD LEEB
ieren, welches das verfügbare interdisziplinäre und inter-                                     Landesklinikum Stockerau
professionelle Wissen zum Thema Schmerz und Schmerz-
management im Alter unter den unterschiedlichsten Ge-
sichtspunkten zusammenzufasst. Damit sollen Behand-
lerinnen und Behandler in der Praxis bei der Umsetzung
eines optimierten geriatrischen Schmerzmanagements
unterstützt werden. Basierend auf der relevanten wissen-                                       Prim. Priv.-Doz. Dr. NENAD MITROVIC
schaftlichen Literatur, aber auch auf den Therapie-Erfah-                                      Salzkammergut-Klinikum Vöcklabruck
rungen der Autorinnen und Autoren verschiedener ärzt-
licher Fachrichtungen und Gesundheitsberufe, zeigt das
Papier praktische Umsetzungsmöglichkeiten auf.

                                                                                               Prim. Prof. Dr. KATHARINA PILS
OÄ Dr. Waltraud Stromer,
                                                                                               Krankenanstalt Rudolfstiftung Wien
Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar
Wien/Horn, Klagenfurt im Jänner 2020

                                                                                               Prim. Dr. GEORG PINTER
                                                                                               Klinikum Klagenfurt am Wörthersee
  Österreichische     Österreichische Gesellschaft   Österreichische
Schmerzgesellschaft       für Anästhesiologie,       Gesellschaft für
                            Reanimation und           Geriatrie und
                            Intensivmedizin           Gerontologie
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
1. SCHMERZEN IM ALTER: HÄUFIGKEIT
UND VERBREITETE BESCHWERDEN
                                                                Abbildung 1: DIE SCHMERZSPIRALE
Das Gesundheitssystem muss sich jetzt
und in Zukunft in zunehmendem Maße
mit den speziellen Erfordernissen der
schmerzmedizinischen Versorgung von
älteren und hochbetagten Personen be-
schäftigen. Denn wie wir aus demographi-
schen Prognosen wissen, steigt der Anteil
der älteren Menschen an der Gesamtbe-
                                                                                    pain
völkerung kontinuierlich an. Der aktuellen
Bevölkerungsprognose der EU-Statistik-
behörde Eurostat zufolge wird der Anteil
der Menschen in der EU, die älter als 65
Jahre sind, von heute 20 Prozent auf 31
Prozent im Jahr 2100 ansteigen. Der An-
teil der über 80-Jährigen an der Gesamt-
bevölkerung wird 2100 in der EU bereits
bei 15 Prozent liegen, heute sind es etwa
sechs Prozent.                               leiden Untersuchungen zufolge an chro-        sind wiederum die Schmerzen (siehe Ab-
                                             nischen Schmerzen. Mit der Nähe zum           bildung 1, Schmerzspirale). Insgesamt tra-
Diese Entwicklung ist für die Gesamt-        Lebensende steigt die Schmerzhäufigkeit       gen Schmerzen im Alter zu einer sozialen
prävalenz von Schmerzen von großer           weiter an.                                    Verarmung und Isolierung bei.
Bedeutung, weil das Auftreten chro-
nisch-schmerzhafter Erkrankungen mit         Zu den wichtigsten Ursachen für chroni-       Schon deshalb besteht eine hohe ethi-
dem Alter zunimmt. Je nach Untersu-          sche Schmerzen im Alter gehören dege-         sche Verantwortung für Behandlerinnen
chung variieren die Angaben über die Prä-    nerative und entzündliche Erkrankungen        und Behandler, Betroffenen eine best-
valenz von Schmerzen bei Menschen über       des Bewegungsapparates, osteoporoti-          mögliche Schmerztherapie unter Berück-
65 Jahren zwischen 50 und 86 Prozent.        sche Frakturen, Kompressionssyndrome,         sichtigung der Besonderheiten des Alters
                                             neuropathische Schmerzen unterschied-         zu ermöglichen. Neben der Reduktion der
Einer repräsentativen Umfrage im Bun-        lichster Genese und Tumorerkrankungen.        Schmerzintensität lässt sich mit optimaler
desland Kärnten zufolge litten 41,7 Pro-     Auch Schmerzen aufgrund von Angina            Schmerzkontrolle eine Verbesserung der
zent der befragten Personen über 65          pectoris oder pAVK, Insultfolgen oder Is-     beschriebenen Symptome und der Le-
Jahren unter mäßigen, 25,6 Prozent unter     chämie nehmen mit dem Alter zu.               bensqualität erreichen.
starken und insgesamt 20,7 Prozent unter
sehr starken oder unerträglich starken       Die Immobilität, die häufig mit Schmerzen     Schmerz ist nur ein Teil des komplexen
Schmerzen.                                   im Alter einhergeht, setzt einen regelre-     somatischen, psychologischen, sozialen
                                             chen Teufelskreis in Gang: Sie fördert den    und spirituellen Phänomens Leid. Aus-
Auch die letzte „Österreichische Gesund-     Verlust von Muskelmasse, wodurch sich         schließlich die physiologischen Aspek-
heitsbefragung“ der Statistik Austria aus    das Risiko von Stürzen und weiterer Im-       te des Schmerzes zu berücksichtigen
dem Jahr 2014 liefert Belege für die mit     mobilität erhöht. Diese bedroht, gemein-      ist daher nicht ausreichend. Neben der
dem Alter steigende Schmerzprävalenz.        sam mit anderen Begleiterscheinungen          Schmerztherapie müssen auch ethische
Über chronische Kreuzschmerzen oder          von chronischen Schmerzen wie Appe-           Verpflichtungen im Sinne der Leidensmin-
andere chronische Rückenleiden klagten       titlosigkeit, Inkontinenz und kognitivem      derung berücksichtigt werden, etwa psy-
in dieser Erhebung 24 Prozent der Ge-        Abbau, zunehmend die Selbstständigkeit        chologische und soziale Hilfestellungen –
samtbevölkerung, bei den Menschen ab         und die Autonomie bei Alltagsaktivitäten.     sollte eine Patientin oder ein Patient dies
75 Jahren waren es jede zweite Frau und                                                    wünschen, auch spirituelle Betreuung.
jeder dritte Mann. 3,6 Millionen Personen    2. ETHISCHE ASPEKTE DER
in Österreich gaben in der Gesundheits-      SCHMERZTHERAPIE IM ALTER                      Für die Entscheidungsfindung für eine
befragung an, innerhalb der vier Wochen                                                    optimale Diagnose und Therapie bei älte-
vor der Befragung Schmerzen gehabt zu        Die Folgen unzureichend therapierter          ren oder hochbetagten Patientinnen und
haben, ältere Personen berichteten häu-      Schmerzen gerade bei älteren und betag-       Patienten müssen diese eingebunden und
figer über Schmerzen als jüngere. Mit zu-    ten Menschen sind schwerwiegend – von         ihre Wünsche und Vorstellungen müssen
nehmendem Alter traten auch vermehrt         den bereits angesprochenen körperlichen       berücksichtigt werden.
starke bzw. sehr starke Schmerzen auf.       Einschränkungen im täglichen Leben und
                                             dem Verlust an Autonomie über Appetit-        Die informierte Zustimmung des Patien-
Bis zu 50 Prozent der Menschen, die mo-      verlust und Schlafstörungen bis hin zu De-    ten oder der Patientin zu einer bestimm-
bile Pflegedienste in Anspruch nehmen,       pression und Angst. Je ausgeprägter um-       ten schmerztherapeutischen Strategie
und bis zu 80 Prozent der Bewohnerinnen      gekehrt Depressionen, Angst oder Schlaf-      kann dort an ihre Grenzen stoßen, wo
und Bewohner von Pflegeeinrichtungen         störungen vorhanden sind, desto stärker       bei älteren oder betagten Menschen die

                                                                                    SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020       3
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
Einwilligungsfähigkeit nur teilweise oder      Tabelle 1: VERBREITETE URSACHEN FÜR UNZUREICHENDE SCHMERZ-
eingeschränkt gegeben ist. Aus ethischer       THERAPEUTISCHE DIAGNOSTIK UND VERSORGUNG BEI ALTEN PATIENTEN
Sicht muss eine der Situation angepass-
te Patientenaufklärung jedenfalls auch         Unterschätzte Schmerzintensität durch Behandler
bei eingeschränkt entscheidungsfähigen         Underreporting durch die Betroffenen
Patienten erfolgen, auch wenn eine Er-         Symptomenwandel
wachsenenvertreterin oder ein Erwachse-
nenvertreter tätig ist. Fehlt die Entschei-    Multimorbidität
dungsfähigkeit bzw. kognitive Kompetenz        Zurückhaltende Therapie aufgrund von Polypharmazie
bei der Patientin oder beim Patienten im       Störung der Kommunikation, insbesondere durch kognitive Einschränkungen
Einzelfall völlig, so ist die Frage nach dem
mutmaßlichen Willen des Patienten ent-         Zu niedrige Dosierung oder zu große Dosierungsintervalle
scheidend. Hinweise können eine allfälli-      Unzureichende Schmerzmessung
ge Vorsorgevollmacht, die Angehörigen
oder die Erwachsenenvertretung liefern.
                                               sind Kommunikationshürden. Mit dem           Eine gute Möglichkeit, Schmerzen bei äl-
3. DEFIZITE BEI DER SCHMERZ-                   Alter kann sich das Repertoire der Kör-      teren Personen zu erfassen, die zu Hau-
ERFASSUNG UND -THERAPIE BEI                    persprache einschränken, Reaktionen          se leben und betreut werden, könnten
ÄLTEREN MENSCHEN                               können daher missverstanden werden.          Pflegegeldbegutachtungen sein. Es wäre
                                               Die verbale Kommunikation kann einge-        wünschenswert, dass bei jeder Pflege-
Der weiten Verbreitung schmerzhafter Be-       schränkt sein, etwa durch einen Sprach-      geldbegutachtung standardmäßig ein
schwerden im Alter stehen eine Reihe von       verlust nach einem Schlaganfall, durch       Schmerzassessment durchgeführt wird.
Defiziten bei der Erfassung, Diagnose und      fortgeschrittene Stadien der Parkinson-      Hier sollte verstärkt geriatrische, pflege-
Behandlung gegenüber. In besonderem            schen Erkrankung, durch höhergradige         rische und schmerzmedizinische Experti-
Maß gilt dies für Patientinnen und Patien-     kognitive Beeinträchtigungen oder durch      se einfließen, auch in der Fortbildung der
ten mit kognitiven Defiziten. Ältere Per-      Sprachbarrieren.                             Gutachterinnen und Gutachter.
sonen mit kognitiven Beeinträchtigungen,
mit kommunikativen Defiziten und Men-          Diese Elemente, die zu einer analgetischen   4. SCHMERZEN UND KOGNITIVE
schen mit Behinderung haben ein beson-         Unterversorgung alter Menschen beitra-       BEEINTRÄCHTIGUNG
ders hohes Risiko, dass ihre Schmerzen un-     gen, machen klar, dass der angemessenen
zureichend erfasst und behandelt werden.       und systematischen Schmerzmessung            Bei älteren und betagten Menschen müs-
                                               eine zentrale Rolle zukommt, denn sie ist    sen in vielen Fällen auch mögliche Zu-
Für die häufig unzureichende Erfassung         die Grundvoraussetzung für eine adäqua-      sammenhänge zwischen kognitiven De-
und Behandlung von Schmerzen im Alter          te Therapie: Schmerzen, die nicht erfasst    fiziten und Schmerzen bedacht werden.
gibt es eine Reihe von Erklärungsansät-        werden, werden nicht behandelt.
zen (siehe Tabelle 1). Ein weit verbreitetes                                                Schmerzen und kognitive Defizite treten
Phänomen ist das „Underreporting“ von          Das Schmerzassessment ist eine Aufga-        häufig gemeinsam auf. Mit zunehmen-
Schmerzen im Alter. Trotz ihrer Beein-         be der Diplomierten Gesundheits- und         dem Alter steigt nicht nur die Häufigkeit
trächtigungen thematisieren ältere Pati-       Krankenpflegerinnen und -pfleger, in de-     von schmerzhaften Beschwerden an,
enten ihre Schmerzen weniger als jünge-        ren Kernkompetenzen Schmerz generell         sondern auch das Risiko, an einer Form
re. Dies wohl auch deshalb, weil Schmerz       einen wichtigen Stellenwert einnimmt.        eines progressiven kognitiven Defizitsyn-
häufig als eine typische und unabwendba-       Dies gilt für das Akutkrankenhaus eben-      droms zu erkranken. Eine österreichische
re Begleiterscheinung des Älterwerdens         so wie für Einrichtungen der stationären     Untersuchung etwa kam zum Ergebnis,
hingenommen wird. Behandlerinnen und           Altenpflege. Es ist eine positive Entwick-   dass mehr als 60 Prozent der Bewohner
Behandler werden daher nicht oder unzu-        lung, dass Expertenstandards und Leit-       von Pflegeeinrichtungen kognitive De-
reichend über die Schmerzen informiert.        linien für das Schmerzassessment und         fizite aufweisen. Bis zu 15 Prozent der
Auch die Sorge vor einer Unterbringung         das Schmerzmanagement in der Pflege          Menschen über 65 Jahren leiden an einer
in der stationären Betreuung oder Pflege       verfügbar sind. Ein limitierender Faktor     Demenz, das Risiko steigt mit zuneh-
könnte ein Grund dafür sein, dass ältere       ist hier allerdings, dass dieses Experten-   mendem Alter weiter an. Die Hälfte der
Menschen Schmerzen eher verschweigen.          wissen sich nicht immer im pflegerischen     Menschen über 85 Jahren sind von Mor-
Das Underreporting trägt neben anderen         Alltag wiederfindet. Hier sind nach wie      bus Alzheimer betroffen, 28 Prozent von
Faktoren dazu bei, dass Schmerzen bei          vor Bemühungen um eine verstärkte Aus-       ihnen schwer.
älteren Personen tendenziell auch unter-       und Fortbildung erforderlich.
behandelt sind.                                                                             Menschen mit kognitiven Beeinträchti-
                                               Defizite hinsichtlich der Erfassung und      gungen weisen eine hohe Schmerzpräva-
Zusätzlich wurden bei Ärzteschaft und          Behandlung von Schmerzen gibt es insbe-      lenz auf. Eine Untersuchung zeigte, dass
Pflegepersonal Defizitbilder und Mythen        sondere auch bei Menschen, die zu Hause      45,8 Prozent der Patientinnen und Patien-
über Schmerz im Alter nachgewiesen.            betreut und gepflegt werden. Es ist anzu-    ten mit Alzheimer-Demenz an Schmerzen
                                               streben, dass dem Thema Schmerzerken-        leiden, bei Menschen mit vaskulärer De-
Ein anderer Faktor, der zu Unterdiagno-        nung in der Ausbildung von Heimhilfen        menz waren es 56,4 und bei Personen mit
se und Unterbehandlung beitragen kann,         große Bedeutung zugemessen wird.             gemischter Demenz 53,9 Prozent.

4   SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
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Allerdings werden gerade in dieser Pa-       Unabhängig von der Frage, ob bei einem        schen Interventionen, des Therapieerfolgs
tientengruppe Schmerzen oft nicht er-        alten Menschen eine Demenz oder eine          und möglicher Nebenwirkungen.
kannt oder falsch eingeschätzt und auch      kommunikative Einschränkung vorliegt
weniger oft gemessen. Patientinnen und       (siehe Seite 4), gibt es im Alter generell    Tabelle 2: INTERVENTIONS-
Patienten mit Demenz klagen seltener         eine Reihe von Besonderheiten und feh-        GRENZEN FÜR SCHMERZ-
über Schmerzen als gleichaltrige Patien-     lende Warnsignale, die es schwieriger         THERAPEUTISCHE MASSNAHMEN
ten ohne kognitive Beeinträchtigung, und     machen können, Schmerzen zu erkennen.
sie untertreiben Schmerzen häufiger. Das     Dazu gehören etwa Veränderungen bzw.          VAS: ≥3
trägt oft zur falschen Annahme bei, dass     ein eingeschränktes Repertoire in der Mi-     VRS: ≥2
Menschen mit Demenz weniger Schmerz          mik und Gestik, oder die Tatsache, dass       Doloplus-2: ≥5
empfinden würden. Das ist allerdings         Schmerzen von Betroffenen nicht oder          BESD-Skala: ≥2
nicht der Fall, im Gegenteil: Schmerz ist    nur indirekt angesprochen werden.             Doloplus-2-Short-Skala: ≥3
bei dieser Patientengruppe nicht weni-
                                                                                           Bei Vorliegen der in Tabelle 2 genannten
ger wahrscheinlich, sondern tritt vielmehr   Es ist daher anzustreben, dass in statio-
                                                                                           Erhebungs­werte sollte eine schmerzthe-
häufiger und intensiver auf.                 nären Therapie-, Pflege- oder Rehabili-
                                                                                           rapeutische Intervention erfolgen.
                                             tationseinrichtungen ebenso wie in der
Trotz dieser Tatsache erhalten Patientin-    häuslichen Betreuung bei älteren und
nen und Patienten mit Demenz signifikant     betagten Menschen Schmerzen routine-          5.2. Schmerzerkennung und -messung
seltener eine adäquate Schmerztherapie       mäßig und systematisch erhoben werden.        bei kognitiv beeinträchtigten und nicht-
als Menschen ohne kognitive Einschrän-                                                     kommunikativen Patienten
kungen. Die mangelhafte schmerzthe-          Ein standardisiertes Vorgehen bei der
rapeutische Versorgung Betroffener hat       Schmerzerfassung ist eine wichtige Vor-       Aufgrund der komplexen physischen
wiederum negative Auswirkungen auf           aussetzung für die bessere schmerzthe-        und psychischen Veränderungen stellt
die Kognition: Unzureichend kontrollierte    rapeutische Versorgung und führt nach-        die Schmerzmessung bei kognitiv beein-
Schmerzen tragen zu einer weiteren Ver-      weislich zu einer besseren Schmerzreduk-      trächtigten Patientinnen und Patienten ei-
schlechterung der Demenz bei.                tion.                                         ne besondere Herausforderung dar. Dies
                                                                                           gilt auch für das Schmerzassessment bei
Zeigen Menschen mit Demenz ein auffäl-       Mittel erster Wahl in der Schmerzerfas-       Menschen, die in ihrer Kommunikations-
liges Verhalten, sollte immer an die Mög-    sung sind Instrumente, die auf der Selbst-    fähigkeit eingeschränkt sind. Die Kommu-
lichkeit von Schmerzen gedacht und eine      auskunft der Patientinnen und Patienten       nikationsfähigkeit kann auch bei kognitiv
entsprechende therapeutische Interven-       beruhen. Dies gilt auch für die geriatri-     intakten älteren und alten Menschen auf-
tion eingeleitet werden. Antipsychotika      sche Schmerzmedizin. Zur Messung von          grund von Sprach- oder Sprechstörungen
sind nicht die erste Wahl bei Verhaltens-    Schmerzen stehen zahlreiche validierte        unterschiedlicher Ursache oder aufgrund
auffälligkeiten, vielmehr ist ein angemes-   Instrumente und Scores zur Schmerz-           von Sprachbarrieren eingeschränkt oder
senes Schmerzmanagement von zentraler        erhebung zur Verfügung. Verbreitet und        inadäquat sein.
Bedeutung. Wie eine Erhebung zeigte,         als einfach anzuwendende Instrumente
verbessert ein standardisiertes Schmerz-     bewährt sind Verbale Ratingskalen (VRS),      Um eine schmerztherapeutische Unter-
protokoll bei Bewohnerinnen und Bewoh-       Numerische Ratingskalen (NRS) und Vi-         versorgung kognitiv oder kommunikativ
nern von Pflegeheimen mit mäßiger bis        suelle Analogskalen (VAS). Für ältere         beeinträchtigter Patienten zu vermeiden,
schwerer Demenz nicht nur den Schmerz,       Schmerzpatientinnen und -patienten sind       muss gerade in diesen vulnerablen Grup-
sondern auch Agitation und Aggression.       besonders VAS und VRS gut geeignet,           pen Schmerz konsequent gemessen wer-
Schmerzreduzierende Maßnahmen führ-          NRS hingegen nicht.                           den, denn das Assessment ist die Basis für
ten zu einer Reduktion von antipsychoti-                                                   eine adäquate Schmerztherapie.
schen Medikamenten.                          Nur vereinzelt gibt es Skalen, die speziell
                                             für ältere und betagte Menschen entwi-        Grundsätzlich ist auch bei Schmerzpa-
Eine standardisierte Schmerzerfassung        ckelt wurden, wie Geriatric Pain Measure      tientinnen und -patienten mit kognitiven
und -therapie sollte also integraler Be-     (GPM) und das Geriatric Painful Events        Beeinträchtigungen bei der Schmerz-
standteil der Behandlung und Betreuung       Inventory. Für eine umfassende Einschät-      messung – soweit möglich – einer Selbst-
von Menschen mit Demenz innerhalb und        zung der Beeinträchtigungen, die mit          beurteilung der Vorzug gegenüber der
außerhalb von Pflegeeinrichtungen sein.      Schmerzen verbunden sind, empfiehlt           Fremdbeurteilung zu geben. Allerdings
                                             sich der Pain Disability Index (PDI). Im      verlieren die üblichen Schmerzskalen bei
5. SCHMERZDIAGNOSE UND                       Zuge des Schmerzassessments sollten           Menschen mit Demenz in Abhängigkeit
SCHMERZMESSUNG IM ALTER                      darüber hinaus nach Möglichkeit auch          vom Ausmaß der Erkrankung ihre Aus-
                                             Dimensionen wie die Lebensqualität oder       sagekraft. Was den Einsatz von Selbst-
5.1. Allgemeine Grundsätze                   Stimmung beurteilt werden.                    beurteilungsskalen betrifft, so ist die VRS
                                                                                           auch für Menschen mit milder Demenz zur
Eine wichtige Ursache für eine schmerz-      Im Rahmen des Schmerzassessments              Schmerzerfassung gut geeignet.
medizinische Unterbehandlung von älte-       geht es nicht nur um eine einmalige
ren oder hochbetagten Menschen ist die       Schmerzerhebung, sondern eine wieder-         Bei Menschen mit fortgeschrittener
Tatsache, dass ihre Schmerzen nicht aus-     holte Messung der Schmerzen, auch im          Demenz, die signifikant seltener über
reichend erfasst werden.                     Sinne einer Evaluierung der therapeuti-       Schmerzen klagen, und bei nicht oder ein-

                                                                                     SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020      5
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
geschränkt kommunikationsfähigen Per-         Abbildung 2: DOLOSHORT-SKALA
sonen muss auf Signale der nonverbalen
Kommunikation zurückgegriffen werden.
Wichtige Hinweise auf eine Schmerz-
symptomatik können lautsprachliche
Äußerungen (zum Beispiel gequälte Laut-
äußerungen), mimische Hinweise (zum
Beispiel angespannter Gesichtsausdruck,
Grimassieren, Stirnrunzeln oder eine star-
re Mimik), Verhaltensindikatoren (etwa
Verhaltensänderungen, Appetitverlust,
Verwirrtheit, ängstliche Abwehr von Be-
rührung, keine Reaktion auf Trost oder
Zuwendung) oder physische Indikatoren
(zum Beispiel veränderter Atemrhythmus,
Tachykardien, Verschlechterung des All-
gemeinzustandes) sein.

Pflegepersonen, die derartige Anzeichen
für Schmerzen oft beobachten, kommt
eine wichtige Rolle zu. Auch die Wahr-
nehmung von Angehörigen kann hilf-
reich sein. Eine personelle Konstanz der
Betreuung und Teamarbeit sind zentrale
Voraussetzungen für eine zuverlässige
Schmerzeinschätzung.

Für verbal und kognitiv eingeschränkte        6. BESONDERHEITEN BEI DER                   (GFR) und verminderter Clearance führt
Personen gibt es geeignete Scores und         BEHANDLUNG VON SCHMERZEN                    zu einem Akkumulationsrisiko bei An-
Skalen der Fremdbeurteilung wie die EC-       IM ALTER                                    algetika und damit auch zu einer Poten-
PA-Schmerzskala (L’échelle comporte-                                                      zierung der unerwünschten Wirkungen.
mentale pour personnes agés) und deren        6.1. Physiologische                         Die zunehmende Verschlechterung der
deutschsprachige Adaptierung BISAD (Be-       Veränderungen im Alter                      Nierenfunktion mit dem Alter bleibt al-
obachtungsinstrument für das Schmerzas-                                                   lerdings mit alleinigen Kreatinin-Messun-
sessment bei alten Menschen mit Demenz),      Eine Reihe von funktionellen, physiologi-   gen oft unentdeckt, weil auch die Mus-
den BESD (Beurteilung von Schmerz bei         schen und psychischen Veränderungen         kelmasse abnimmt. Die GFR ist hier von
Demenz), die deutsche Fassung der PAI-        im Alter beeinflussen Kompensations-        zentralem Interesse. Das Toxizitätsrisiko
NAD Scale (Pain Assessment in Advanced        mechanismen, Schmerzwahrnehmung,            systemischer Therapien steigt mit der
Dementia) oder die Doloplus-2-Skala.          das Ansprechen auf therapeutische In-       Verschlechterung der Nierenfunktion an.
                                              terventionen und die Reaktion auf Sub-      Eine verminderte Leberfunktion aufgrund
Die BESD-Skala etwa beruht auf einem          stanzen. Dieses Ensemble von Faktoren       der verminderten hepatischen Durchblu-
relativ kurzen, recht einfach durchzufüh-     erhöht die Risiken einer medikamentö-       tung und abnehmenden Syntheseleistung
renden Test und ist vor allem für mobi-       sen Schmerztherapie im Alter. Zusätz-       führt zu einer Zunahme der Wirkdauer
lere Patientinnen und Patienten gut ge-       lich zu diesen Veränderungen kommt es       von Arzneimitteln und zu einer vermin-
eignet. Sowohl chronische als auch akute      mit zunehmendem Alter auch zu einem         derten Metabolisierung mit Akkumula-
Schmerzen lassen sich damit gut erfassen.     progredienten Verlust von Organfunk-        tion. Somit sind Dosisreduktionen oder
Die deutschsprachige Version der Dolo-        tionen und zu einer zusätzlichen ne-        größere Dosisintervalle erforderlich, um
plus-2-Skala wurde im Rahmen einer Stu-       gativen Beeinflussung von Organfunk-        Substanzakkumulierungen zu vermeiden.
die in Kärnten an drei Krankenanstalten       tionen durch chronische Erkrankungen.       Im Gastrointestinaltrakt wird durch eine
evaluiert. Für die Schmerzanamnese bei                                                    im Alter veränderte Azidität, Magenpas-
geriatrischen Patientinnen und Patien-        Die Prävalenz kardiovaskulärer Erkran-      sage und Darmmotilität die Resorption
ten besonders gut geeignet ist die Dolo-      kungen steigt mit dem Alter. Eine redu-     von Medikamenten beeinflusst.
short-Skala, weil alle Komponenten des        zierte Pumpfunktion des Herzens führt zu
Schmerzes (somatisch, psychomotorisch,        einem verringerten Anfluten von Wirk-       Im Zuge des Alterungsprozesses kommt
psychosozial) erfragt werden. Bedeutsam       stoffen an die metabolisierenden Organe,    es auch im Nervensystem zu Verände-
für die weitere Therapieplanung ist es, die   wodurch sich zum Beispiel bei Opioiden      rungen, die Schmerzverarbeitung und
Qualität der Schmerzen zu erfragen, weil      die Wirkdauer verlängern kann.              Schmerzerleben beeinflussen. Unter an-
hier bereits Hinweise auf die Schmerzent-                                                 derem ist die endogene Schmerzhem-
stehung (z. B. neuropathisch, nozizeptiv,     Die mit dem Alter zunehmend einge-          mung herabgesetzt und die Nervenleit-
nozizeptiv/entzündlich oder dysfunktio-       schränkte Nierenfunktion aufgrund einer     geschwindigkeit reduziert. Durch Verän-
nal) gefunden werden.                         reduzierten glomerulären Filtrationsrate    derungen vor allem der A-delta- und der

6   SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
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Tabelle 3: ALTERSASSOZIIERTE VERÄNDERUNGEN

Organfunktion                     Veränderung im Alter                                           Klinische Konsequenz
Gastrointestinaltrakt             Verlangsamung der Magenentleerung und                          veränderte Resorptionsgeschwindigkeit
                                  Peristaltik; veränderte Blutversorgung im                      erhöhtes Risiko gastrointestinaler Nebenwirkungen
                                  Gastrointestinaltrakt
Verteilung
  Verringerung des Gesamtkörperwassers;                                                          verringerte Verteilung von wasserlöslichen
  Abnahme von Muskelgewebe; Steigerung                                                           Medikamenten; Akkumulation von fettlöslichen
  des Körperfettanteils; Verringerung der                                                        Medikamenten; gesteigerte Konzentration nicht-
  Konzentration von Plasmaproteinen                                                              gebundener Medikamente; Verlängerung der
		                                                                                               Halbwertszeit fettlöslicher Medikamente; erhöhtes
		                                                                                               Risiko von Medikamenten-Interaktionen
Metabolisierung über              reduzierter Blutfluss durch die Leber;                         veränderter First-Pass-Effekt; verlängerte Halb-
die Leber                         Verringerung der Konzentration von Plasma-                     wertszeit; Polypharmazie und Einfluss auf
                                  proteinen; Oxidation kann reduziert sein                       das Cytochrom-P450-System
Renale Elimination                Abnahme des renalen Blutflusses, der                           reduzierte Ausscheidung von Medikamenten mit
                                  glomerulären Filtration und der tubulären                      Akkumulation und längerer Wirkdauer
                                  Sekretion
Pharmakodynamik                   reduzierte Opioid-Rezeptordichte; erhöhte                      gesteigerte Empfindlichkeit für therapeutische
                                  Opioid-Rezeptoraffinität                                       und unerwünschte Arzneimittelwirkungen

Quelle: Stromer W, Besonderheiten der Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten. DFP Literaturstudium, Schmerznachrichten 2/2017, 10–16

Tabelle 4: EMPFEHLUNGEN ZU ANALGETIKA BEI ORGANDYSFUNKTION
                                  Niereninsuffizienz (Clearance
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gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber       In der Therapie älterer Schmerzpatientin-    rapeutische Fenster bei älteren und be-
anticholinergen und zentral wirksamen        nen und -patienten ist zuletzt auch ver-     tagten Patienten erheblich.
Substanzen.                                  mehrt die Tatsache zu berücksichtigen,
                                             dass Personen mit bestehender oder           Bei jeder zusätzlichen Medikation ist
Kognitive Beeinträchtigungen, patholo-       ehemaliger Opioid-Abhängigkeit (Dro-         ein umsichtiges Vorgehen angezeigt.
gische oder medikamentenbedingte Pro-        genkonsum) oder unter Opioid-Erhal-          Nebenwirkungen einer medikamentö-
bleme mit dem Erinnerungsvermögen            tungstherapie heute immer älter werden       sen Schmerztherapie müssen besonders
oder Hör- und Seh-Beeinträchtigungen         und zunehmend therapeutische Interven-       sorgfältig beobachtet und kontrolliert
sind darüber hinaus altersbedingte Ent-      tionen chronischer Schmerzen benötigen.      werden. Insbesondere Nebenwirkungen,
wicklungen, die Compliance und Adhärenz      Hinzu kommen Patientinnen und Patien-        die die Gangsicherheit weiter beeinträch-
bei älteren Menschen – auch in Bezug auf     ten mit einer langzeitigen Opioidtherapie    tigen, sind bei generell sturzgefährde-
analgetische Therapien – negativ beein-      aufgrund chronischer Schmerzen und           ten alten Menschen zu beachten. Ganz
flussen können.                              daraus resultierender Abhängigkeit. In       besonderer Aufmerksamkeit bedarf die
                                             diesen Gruppen älterer Schmerzpatien-        Beobachtung von Nebenwirkungen bei
6.2. Multimorbidität                         ten stellt das analgetische Management       kognitiv beeinträchtigten Patienten, da
                                             schon aufgrund von Spezifika wie einer       eine verbale Kommunikation über dieses
Ein Faktor, der das Schmerzmanagement        herabgesetzten Schmerzschwelle oder          Problem häufig nicht möglich ist.
bei älteren und betagten Personen zur        einer verminderten Wirksamkeit von
komplexen und herausfordernden Auf-          Opioid-Analgetika aufgrund einer Tole-       7. SCHMERZTHERAPIE IM ALTER
gabe macht, ist die weit verbreitete Mul-    ranzentwicklung eine besondere Heraus-
timorbidität, die mit dem Alter zunimmt.     forderung dar, die spezielle Expertise er-   7.1. Allgemeine Grundsätze
Typische Komorbiditäten bei älteren und      fordert.
betagten Menschen sind Demenz (siehe                                                      Für die vulnerable Gruppe älterer und be-
auch Seite 4), Herz-Kreislauf-Erkrankun-     6.3. Polypharmazie                           tagter Schmerzpatientinnen und -patien-
gen, degenerative und entzündliche rheu-                                                  ten ist ein gut abgestimmtes und umfas-
matische Erkrankungen, Osteoporose,          Mit der Multimorbidität steigt auch die      sendes Management erforderlich, das die
Bluthochdruck, Diabetes, Lungenerkran-       Anzahl der Therapien: Eine Untersuchung      bestmögliche Schmerzlinderung bei mög-
kungen, Morbus Parkinson oder onkologi-      mit Bewohnerinnen und Bewohnern von          lichst weitgehender Vermeidung potenzi-
sche Erkrankungen.                           Pflegeheimen in acht europäischen Län-       ell negativer Nebenwirkungen von Thera-
                                             dern zeigt, dass etwa die Hälfte der Be-     pien sicherstellt. Eine Hierarchisierung der
Eine besonders häufig auftretende Ko-        fragten zwischen fünf und neun Medika-       Therapienotwendigkeiten ist daher häufig
morbidität bei chronischen Schmerzen         mente einnimmt, bei rund einem Viertel       erforderlich. Diese kann durch ein multi-
im Alter sind Depressionen. Die Kom-         sind es mehr als zehn Medikamente.           dimensionales geriatrisches Assessment
bination beider Erkrankungsbilder be-                                                     entwickelt werden.
einflusst die Lebensqualität Betroffener     Höheres Alter gilt generell als ein eigen-
besonders negativ. Depressions-Patien-       ständiges Risiko für Arzneimittelneben-      Das Schmerzmanagement sollte von
tinnen und -Patienten mit chronischen        wirkungen. Mit der Anzahl der verschrie-     wichtigen Grundsätzen wie Individualität,
Schmerzen haben ein höheres Suizid-          benen Medikamente steigt das Neben-          Multimodalität, Mechanismus-Basierung,
risiko, ein höheres Risiko für Persönlich-   wirkungsrisiko deutlich an. Der Anteil von   Prävention, Genderunterschieden oder
keitsstörungen und schlafen schlechter       Patientinnen und Patienten mit potenziell    Berücksichtigung der Chronobiologie ge-
als Menschen, die an Depressionen ohne       schwerwiegenden Interaktionen ist auf-       prägt sein.
Schmerzsyndrom leiden. Depression und        grund vermehrter Polymedikation stark
Schmerz können einander zudem ver-           angestiegen. 3 bis 12 Prozent der Kran-      Individualisierter Ansatz
stärken. Patienten mit einer schweren        kenhauseinweisungen, so zeigen ver-          Therapeutische Entscheidungen müssen
Depression haben ein dreimal höheres         schiedene Übersichtsarbeiten, haben arz-     auf das im Einzelfall zu definierende The-
Risiko als Menschen ohne Depression,         neimittelbedingte Ursachen, Wechselwir-      rapieziel abgestimmt sein. Bei jedem me-
chronische Schmerzzustände zu entwi-         kungen sind für etwa 20 Prozent dieser       dikamentösen und nichtmedikamentösen
ckeln. Umgekehrt besteht ein hohes Ri-       arzneimittelbedingten Krankenhausein-        Verfahren sind der konkrete Nutzen bzw.
siko für Patientinnen und Patienten mit      weisungen verantwortlich.                    die potenziellen Nachteile und Nebenwir-
chronischen Schmerzen, eine depressive                                                    kungen bei der individuellen Patientin bzw.
Symptomatik zu entwickeln.                   Die verbreitete Polypharmazie im Alter       dem individuellen Patienten abzuwägen.
                                             bringt nicht nur ein erhöhtes Risiko für
Die Multimorbidität erschwert häufig         Arzneimittelnebenwirkungen und -inter-       Ziel einer individualisierten Schmerzthe-
nicht nur die Diagnose der Schmerzen,        aktionen mit sich, es sind auch Nutzen       rapie bei älteren und hochbetagten Men-
sondern schränkt auch die Palette der        und Risiko einzelner therapeutischer Op-     schen muss sein, eine Schmerzreduktion
medikamentösen Therapieoptionen ein,         tionen anders zu beurteilen als bei jünge-   auf das jeweils angemessene Maß zu er-
weil auf Interaktionen Rücksicht zu neh-     ren Patientinnen und Patienten, und die      reichen, Beweglichkeit und Mobilität best-
men ist (siehe Seite 9). Auch die Belast-    Vorgaben von Leitlinien sind im Einzelfall   möglich zu erhalten oder wiederherzu-
barkeit der Patientinnen und Patienten ist   unter Umständen kritisch zu hinterfragen.    stellen, die Selbstständigkeit und ein au-
angesichts ihrer multiplen Beschwerden       Die Kombination der verschiedenen be-        tonomes Leben zu ermöglichen und eine
oft massiv eingeschränkt.                    schriebenen Effekte verkleinert das the-     soziale Teilhabe zu fördern. Nicht bloße

8   SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
Tabelle 5: HÄUFIGE INTERAKTIONEN
                              CAVE Kombination                                                            mögliche Interaktionen
NSAR                          mit Antikoagulantien, ASS, SSRI, SNRI, Kortikoiden,                         erhöhtes Blutungsrisiko
                              Alkohol
Paracetamol                   mit Antiemetika, 5HT3-Antagonisten                                          eventuell Wirkverlust
Paracetamol                   mit Carbamazepin, Alkohol, Phenytoin, Rifampicin,                           erhöhtes Risiko mit Leberzellnekrosen
                              INH, Zidovudin
Metamizol                     mit Carbamazepin, Clozapin                                                  Gefahr der Knochenmarksuppression
Gabapentin mit Antazida                                                                                   verminderte Resorption
		                                                                                                        (mindestens 2 Stunden Einnahmeabstand)
Pregabalin mit Oxycodon                                                                                   Beeinträchtigung grobmotorischer
		                                                                                                        und kognitiver Funktionen möglich
Tramadol                      mit Theophyllin, Alkohol, Antipsychotika, Lithium,                          Senkung der Krampfschwelle
                              Bupropion etc.
Tramadol                      mit SNRI, SSRI, MAO-I, TCA, Linezolid,                                      Gefahr des Serotoninsyndroms
                              Carbamazepin, Oxcarbazepin
Tapentadol                    mit SSRI                                                                    Gefahr des Serotoninsyndroms
Tapentadol                    mit MAO-I                                                                   vermehrte noradrenerge Wirkungen
Oxycodon mit Anticholinergika                                                                             verstärkte anticholinerge Wirkung;
		                                                                                                        Mundtrockenheit, Tachykardie, Delir etc.
Fentanyl mit Anticholinergika                                                                             verstärkte anticholinerge Wirkung;
		                                                                                                        Mundtrockenheit, Tachykardie, Delir etc.
Alle Opiate                   mit Alkohol, Benzodiazepinen, Antipsycho-                                   verstärkte zentral dämpfende Wirkung
                              tika, Antihistaminika, Muskelrelaxantien
Quelle: Stromer W, Besonderheiten der Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten. DFP Literaturstudium, Schmerznachrichten 2/2017, 10–16

Schmerzreduktion, sondern eine umfas-                  trischen Schmerzpatientinnen und -pa-                   pathischen Schmerzen („mixed pain“) ist
sende Verbesserung der Lebensqualität                  tienten einen besonderen Benefit.                       möglich.
muss im Mittelpunkt stehen. Ein indivi-
duell definiertes Therapieziel ist auch die            Die Überlegenheit einer multimodalen                    Prävention vor Therapie
Voraussetzung dafür, dass es im weiteren               Schmerztherapie gegenüber eindimen-                     Wie in der Schmerzmedizin generell, so
Therapieverlauf immer wieder überprüft                 sionalen Behandlungsansätzen ist vielfach               gilt auch in der Betreuung älterer und be-
werden kann.                                           nachgewiesen. Welche Disziplinen und                    tagter Patientinnen und Patienten, dass
                                                       Berufsgruppen im Rahmen multimodaler                    nach Möglichkeit der Primär- und Sekun-
Die Ziele, die unter Berücksichtigung der              Behandlungskonzepte kooperieren, ist ab-                därprävention von Schmerzen, soweit im
genannten Prinzipien mit einem multimo-                hängig von der Versorgungsstufe, von der                Einzelfall möglich, eine zentrale Rolle zu-
dalen und interdisziplinären geriatrischen             Verfügbarkeit entsprechender Spezialis-                 kommen sollte. Insbesondere gilt es auch,
Schmerzmanagement erreicht werden                      tinnen und Spezialisten sowie regionalen                durch eine angemessene Versorgung
sollen, gehen über die Schmerzreduk-                   oder institutionellen Gegebenheiten.                    akuter Schmerzen einer Schmerzchronifi-
tion auf das individuell erreichbare Maß                                                                       zierung vorzubeugen.
hinaus. Wichtig sind auch die Verbesse-                Mechanismen-basierte Vorgangsweise
rung der Lebensqualität, die Erhaltung                 Grundlage jeder Schmerztherapie ist ei-                 Berücksichtigung gender-
oder Wiederherstellung der Mobilität, der              ne Analyse der schmerzverursachenden                    spezifischer Unterschiede
Selbstständigkeit und der sozialen Inte-               Mechanismen. Im Gegensatz zu früheren                   Für die Unterschiede zwischen den Ge-
gration. Mit jeder Patientin und jedem Pa-             Ansätzen stützt sich die Auswahl der ge-                schlechtern betreffend Schmerzpräva-
tienten sollte das individuelle Therapieziel           eigneten therapeutischen Ansätze heute                  lenz, Schmerzempfinden und den Erfolg
definiert und im Therapieverlauf regelmä-              nicht vorwiegend auf die Schmerzstärke,                 von therapeutischen Interventionen gibt
ßig überprüft werden.                                  sondern auf die Frage, welcher Mechanis-                es zunehmend wissenschaftliche Evidenz.
                                                       mus dem Schmerz zugrunde liegt (Me-                     Diese Einsichten müssen auch bei älteren
Multimodalität                                         chanismen-orientierte Schmerztherapie).                 und betagten Schmerzpatientinnen und
Multimodal balancierte Konzepte, die me-               Die Therapie berücksichtigt die physio-                 -patienten in die Diagnose und Therapie
dikamentöse und nichtmedikamentöse,                    logischen Grundlagen der verschiedenen                  einfließen.
konservative und invasive Verfahren in                 Schmerzarten – also neuropathischer
interdisziplinärer und interprofessioneller            und nozizeptiver Schmerzen. Auch eine                   Berücksichtigung der Chronobiologie
Kooperation kombinieren, bringen geria-                Mischform von nozizeptiven und neuro-                   Erkenntnisse der Chronobiologie zeigen,

                                                                                                       SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020        9
POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
Dieses Basisschema ist ein Nachdruck aus dem Folder „Schmerztherapie im Alter“ (Herausgeber: Competence Center Integrierte Versorgung, c/o Öster-
reichische Gesundheitskasse), welcher von den Fachgesellschaften ÖSG, ÖGGG und ÖGAM endorsed wurde. Der gesamte Folder ist unter www.sozial-
versicherung.at/pfade_schmerz abrufbar.

dass das Schmerzempfinden und die Re-            dividuellen Fall das günstigste Nebenwir-         stanzen mit möglichen zentralnervösen
aktionen auf Schmerzreize bestimmten             kungsprofil aufweisen. Jede Entscheidung          Nebenwirkungen wie Antidepressiva
tageszeitlichen Rhythmen unterliegen             über eine Substanzverordnung sollte auf           (Seite 13), Antikonvulsiva (Seite 13)
können. Daraus ergibt sich die praktische        das definierte Therapieziel hin überprüft         oder Cannabinoide (Seite 14).
Konsequenz, dass die Therapie, insbeson-         werden. Nachdem alte Schmerzpatientin-
dere die medikamentöse Therapie, nicht           nen und -patienten aufgrund von Begleit-          Die Kombination von Analgetika unter-
nur an die Art und den Mechanismus des           erkrankungen oder Polypharmazie aus               schiedlicher Substanzgruppen ist mög-
Schmerzes, sondern auch an das individu-         klinischen Studien häufig ausgeschlossen          lich und effektiv.
elle Tagesprofil angepasst werden sollte.        sind, liegt zu den einzelnen Substanzen
                                                 nur begrenzte Evidenz zur Wirkung in              Der Behandlungserfolg muss regelmä-
7.2. Medikamentöse Schmerztherapie               dieser Gruppe vor.                                ßig evaluiert und eingesetzte Analgeti-
bei älteren und betagten Patienten                                                                 ka sollten dementsprechend adaptiert
                                                 Die Berücksichtigung der individuellen Si-        werden.
7.2.1. Grundsätzliches                           tuation schließt die Abwägung der Phar-
Aufgrund der ausgeführten Besonderhei-           makodynamik und -kinetik im Einzelfall            7.2.2. Acetylsalicylsäure
ten im Alter muss bei der Auswahl medi-          sowie die Einschätzung ein, welche Dar-           Acetylsalicylsäure (ASS) wirkt auf-
kamentöser Therapieoptionen bei älteren          reichungsform aufgrund der individuellen          grund der Hemmung von Cyclooxy-
und betagten Schmerzpatientinnen und             Umstände am besten geeignet ist.                  genase-Enzymen und der Prostaglan-
-patienten eine besonders strenge Nut-                                                             din-Bildung analgetisch, antiphlogis-
zen-Risiko-Bewertung erfolgen. Allfällige        Generell sollten Arzneimittel bei älteren         tisch und antipyretisch. Analgetisch
Kontraindikationen und Anwendungs-               und betagten Patientinnen und Patien-             werden ASS-Arzneimittel vorwiegend
beschränkungen müssen ebenso be-                 ten, wenn möglich, über kurze Zeit und in         bei akuten Schmerzzuständen einge-
rücksichtigt werden wie die bestehende           niedriger Dosierung verabreicht werden.           setzt. Bei chronischen Schmerzen sind
Medikation, die vor Beginn der Therapie          Als Grundprinzip für die Pharmakothera-           insbesondere bei älteren und betagten
kritisch überprüft werden sollte (Poly-          pie im Alter gilt „start low, go slow“. Dies      Patientinnen und Patienten wegen der
pharmazie, Seite 8). Bevorzugt sollten           trifft insbesondere auf Opioid-Analge-            gastrointestinalen Risiken andere anal-
Substanzen eingesetzt werden, die im in-         tika (Seite 12) zu, aber auch auf Sub-            getische Wirkstoffe zu bevorzugen.

10   SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
Eingeschränkt ist der Einsatz auch auf-      Tabelle 6:
grund des Interaktionspotenzials der         FAKTOREN, DIE FÜR EINE PPI-PROPHYLAXE UNTER NSAR SPRECHEN
Substanz. Eine Kombination mit Antikoagu-
                                             Alter über 65
lantien oder Heparinen ist wegen des mas-
siv erhöhten Blutungsrisikos zu vermeiden.   therapeutisch notwendige hohe NSAR-Dosierung
                                             lange Behandlungsdauer
Angesichts des weit verbreiten Einsatzes
                                             gleichzeitige Gabe von Antikoagulantien, Trombozytenaggregationshemmern,
von ASS zur Thrombozytenaggregations-
                                             ASS, Kortikosteroiden, SSRI
hemmung mit Dauertherapien bei einer
Tagesdosis von bis zu 300 Milligramm ist     Ulcus in der Anamnese
auch das Interaktionspotenzial mit NSAR      Helicobacter-pylori-Infektion in der Anamnese
und dem Nichtopioid-Analgetikum Meta-
mizol von Interesse.
                                             hypertensive Wirkung dieser Medikamen-       Bei dehydrierten Patientinnen und Pa-
Die unterschiedlichen Substanzen inter-      tengruppe abschwächen.                       tienten und bei Personen, die zugleich
agieren in unterschiedlichem Ausmaß                                                       auch ACE-Hemmer oder Schleifendiure-
mit ASS. Für die NSAR Ibuprofen und          Bei unterschiedlichen Substanzen aus der     tika einnehmen, steigt unter NSAR das
Naproxen sowie für Metamizol wurde in        Gruppe der NSAR ist die COX-1- und COX-      Risiko eines Nierenversagens. Liegt eine
experimentellen In-vitro-Untersuchungen      2-Hemmung unterschiedlich stark ausge-       Niereninsuffizienz vor, sind NSAR kontra-
als Interaktion eine Beeinträchtigung der    prägt. Diclofenac beispielsweise hat eine    indiziert.
thrombozytenaggregationshemmenden            ausgeprägte COX-2-Hemmung, was zu
Wirkung von ASS gezeigt. Bei Diclofenac,     Vasokonstriktion der Arterien und einem      Topische NSAR sind lokal begrenzt phar-
Paracetamol und opioiden Analgetika          erhöhten kardiovaskulären Risiko führen      makologisch wirksam, ohne das Risiko
tritt diese Interaktion nicht auf. Mögli-    kann. Bei Naproxen überwiegt die COX-        von Nebenwirkungen wie bei der syste-
cherweise lässt sich die Wechselwirkung      1-Hemmung und somit ist die gastrointes-     mischen Anwendung. Sie haben daher bei
mit ASS verhindern oder abschwächen,         tinale Unverträglichkeit vergleichsweise     geriatrischen Patientinnen und Patienten
indem Ibuprofen, Naproxen oder Metami-       stärker ausgeprägt, das kardiovaskuläre      zur Behandlung lokalisierter Schmerzen
zol zeitlich versetzt nach der ASS-Gabe      Risiko aber etwas geringer. Selektive COX-   einen Stellenwert, insbesondere bei leich-
eingenommen werden.                          2-Hemmer zeigen im Vergleich zu unse-        ten bis mäßigen Schmerzen, wie auch ein
                                             lektiven NSAR eine geringere Inzidenz von    Cochrane Review zeigt. Indikationen für
7.2.3. NSAR (COX-1- und COX-2-Hemmer)        gastrointestinalen Komplikationen.           topische NSAR sind insbesondere akute
Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)                                                     muskuloskelettale Schmerzen. Die meis-
sind Substanzen mit einer guten anal-        NSAR können das Risiko gastrointestinaler    ten topischen NSAR liegen heute in Form
getischen, antipyretischen und antiphlo-     Blutungen erhöhen. Weiter verstärkt wird     von Gelen vor. Wichtig bei der Anwen-
gistischen Wirksamkeit und haben ihren       dies bei gleichzeitiger Gabe von Antikoa-    dung ist zur Optimierung der perkutanen
Stellenwert in der Schmerztherapie. Bei      gulantien, Kortikosteroiden oder SSRI. Zur   Bioverfügbarkeit die großzügige Bemes-
geriatrischen Schmerzpatientinnen und        Prävention gastrointestinaler Ereignisse     sung der aufgetragenen Menge an Gel
-patienten ist allerdings wegen möglicher    bei NSAR-Gabe sind Protonenpumpen-           und der behandelten Fläche.
gastrointestinaler, kardiovaskulärer und     hemmer (PPI) etabliert. Eine lange The-
renaler Nebenwirkungen ein vorsichtiger      rapiedauer, eine hohe NSAR-Dosierung,        In der Akutschmerztherapie, zum Beispiel
Einsatz angesagt. Werden NSAR einge-         höheres Alter, Ulcera mit oder ohne Blu-     peri- und postoperativ, spielt auch der I.v.
setzt, ist eine engmaschige Kontrolle er-    tungskomplikation in der Anamnese und        Einsatz von NSAR eine Rolle.
forderlich.                                  bestimmte Co-Medikationen stellen eine
                                             Indikation für PPI dar (siehe Tabelle 6).    7.2.4. Paracetamol
Herkömmliche NSAR hemmen unspezi-                                                         Das Nichtopioid-Analgetikum Paraceta-
fisch COX-1 und COX-2, dies aber je nach     Je nach Grunderkrankung sollte also jene     mol wird zur Behandlung einer Vielzahl
Substanz in unterschiedlicher Ausprä-        Substanz aus der Gruppe der NSAR ver-        akuter und chronischer Schmerzzustän-
gung, während selektive NSAR (Coxibe)        wendet werden, die in der individuellen      de eingesetzt. Es entfaltet einerseits
eine spezifischere COX-2-Hemmung be-         Situation das beste Nutzen-Risiko-Profil     eine zentrale Wirksamkeit, andererseits
wirken. Eine Hemmung der COX-1 im-           hat. Präparate mit kurzer Plasmahalb-        kommt es peripher zu einer COX-2-
pliziert insbesondere gastrointestinale      wertszeit werden rascher metabolisiert       Hemmung in ähnlichem Ausmaß wie bei
und renale Nebenwirkungen sowie eine         und eliminiert, mit einem entsprechend       NSAR. Bei älteren und betagten Patien-
Beeinflussung der Thrombozytenaggre-         geringeren Risiko von Nebenwirkungen.        tinnen und Patienten ist Paracetamol als
gation. Die COX-2-Hemmung kann als           Ihnen ist daher in dieser Substanzgruppe     First-Line-Therapie bei milden bis mo-
unerwünschte Wirkungen Wundhei-              gegenüber Retardpräparaten der Vorzug        deraten Schmerzen empfohlen. Es ist al-
lungsstörungen, Nierenschädigungen           zu geben. Es gilt jedenfalls das Prinzip,    lerdings zu beachten, dass unter Parace-
oder kardiovaskuläre Ereignisse bewir-       die geringstmögliche Dosis für die kür-      tamol in Abhängigkeit von der Dosis das
ken, insbesondere dann, wenn in diesen       zestmögliche Zeit zum Erreichen der an-      Risiko kardiovaskulärer, gastrointestinaler
Organsystemen bereits Vorschädigungen        gestrebten Schmerzlinderung zu verord-       und renaler Nebenwirkungen steigt. Das
bestehen. Bei gleichzeitiger Gabe von        nen. Unterschiedliche NSAR sollen nicht      Mortalitätsrisiko ist bei langfristiger Ein-
ACE-Hemmern können NSAR die anti-            gemeinsam eingesetzt werden.                 nahme hoher Dosierungen erhöht.

                                                                                    SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020       11
Die mögliche Lebertoxizität von Parace-         zen als Teil eines multimodalen Behand-        unerwünschte Wirkungen (Libidoverlust,
tamol ist zu beachten, bei Leberinsuffi-        lungskonzepts etabliert.                       psychische Veränderungen wie Interes-
zienz ist Paracetamol strikt kontraindi-                                                       severlust, Merkfähigkeitsstörungen oder
ziert. Bei kachektischen Patientinnen und       Wie auch bei anderen Substanzen muss           Sturzereignisse) einer Therapie mit opioid-
Patienten ist Paracetamol nicht geeignet.       die Therapie mit Opioiden grundsätz-           haltigen Analgetika bestmöglich hintanzu-
Bei Niereninsuffizienz sollte eine Intervall-   lich Mechanismus-orientiert erfolgen, sie      halten, müssen Wirksamkeit und Neben-
verlängerung vorgenommen werden.                dürfen also nur bei jenen Schmerzformen        wirkungen regelmäßig überprüft werden.
                                                zum Einsatz kommen, die auf ihren Wirk-
Bei gleichzeitiger Gabe von 5-HT3-Antago-       mechanismus ansprechen.                        Bevorzugt sollten Präparate mit retardier-
nisten kann die analgetische Wirksamkeit                                                       ter Galenik beziehungsweise langer Wirk-
von Paracetamol reduziert sein. Vorsicht        Eine alleinige Therapie mit Opioid-An-         dauer eingesetzt werden. Opioidhaltige
ist auch bei Alkoholabusus und CYP2E1-in-       algetika bei chronischen nicht-tumorbe-        Analgetika sollten generell nach einem fes-
duzierenden Arzneimitteln mit einer da-         dingten Schmerzen ist nicht zweckmäßig.        ten Zeitplan, abhängig von der Wirkdauer
raus resultierenden rascheren Metaboli-         Sie sollten im Sinne eines multimodalen        des jeweiligen Präparates, eingenommen
sierung zu N-Acetyl-p-Benzochinonimin           Therapieansatzes mit NSAR bzw. ande-           werden. Schnellwirksame Opioide sollten
geboten. In Kombination mit Cumarinen           ren Nicht-Opioid-Analgetika (Seite 11),        bei nicht-tumorbedingten Schmerzen nur
kann die Paracetamoltherapie zu einer si-       Modalitäten der physikalischen Medizin         zur Dosisfindung oder kurzfristig bei star-
gnifikanten Verlängerung der INR führen.        (Seite 15), psychotherapeutischen Inter-       ken akuten Schmerzzuständen eingesetzt
                                                ventionen oder Lebensstilmodifikationen        werden. Rapid Onset Opioids (ROOs) sind
7.2.5. Metamizol                                kombiniert werden.                             bei nicht-tumorbedingten Schmerzen in
Das Pyrazolon Metamizol hat eine stärkere                                                      keinem Fall indiziert.
analgetische Effektivität als Paracetamol       Kontraindikationen einer Therapie mit
und ist aufgrund seiner spasmolytischen         opioidhaltigen Analgetika sind primäre         Es hat sich gezeigt, dass ältere Menschen
Wirkung bei krampfartigen abdominellen          Kopfschmerzen sowie funktionelle und           geringere Dosen von Opioid-Analgetika
Schmerzen das Mittel erster Wahl. Auch          psychische Störungen mit dem Leitsymp-         benötigen als jüngere, da die zentral-
die antipyretische Wirksamkeit ist von Be-      tom Schmerz.                                   nervöse Sensitivität auf Opioide mit dem
deutung. Nach der aktuellen Studienlage                                                        Alter zunimmt. Die Startdosis sollte bei
ist das Interaktions- und Nebenwirkungs-        Unbestritten ist, dass opioidhaltige Anal-     alten Schmerzpatientinnen und -patien-
potenzial von Metamizol als gering anzu-        getika eine medikamentöse Therapieop-          ten bei allen Opioid-Analgetika niedrig
sehen. Das macht die Substanz auch für          tion in der kurzfristigen Therapie (4 bis 12   gehalten werden. Aufgrund großer indi-
den Einsatz bei älteren und hochbetagten        Wochen) von chronischen Schmerzen bei          vidueller Unterschiede müssen Opioide
Schmerzpatientinnen und -patienten zu           Arthrose und chronischen Rückenschmer-         immer individuell zum Effekt hin titriert
einer interessanten analgetischen Option.       zen sind. Bei anderen Krankheitsbildern        werden. Die optimale therapeutische Do-
                                                ist eine kurz- und langfristige Therapie mit   sis ist dann erreicht, wenn die definierten
Die durch Metamizol potenziell ausgelös-        opioidhaltigen Analgetika als individueller    Therapieziele bei geringen bzw. akzep-
te Agranulozytose ist in Mitteleuropa ex-       Therapieversuch zu bewerten. Eine Lang-        tablen Nebenwirkungen erreicht worden
trem selten und sollte daher keine Hürde        zeitanwendung von opioidhaltigen Analge-       sind. Eine Dosis von 120 mg/d orales Mor-
für die Verwendung darstellen. Bei län-         tika über einen Zeitraum von drei Mona-        phinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen
gerfristiger Anwendung sind jedoch Blut-        ten hinaus beim chronischen Nichttumor-        überschritten werden.
bildkontrollen zu empfehlen.                    schmerz wird allerdings kritisch diskutiert
                                                und muss daher reevaluiert werden.             Die im Alter eingeschränkte Nierenfunktion
Klinisch relevant ist die Beeinflussung der                                                    kann dazu führen, dass aktive nebenwir-
antiaggregatorischen Wirkung von ASS            Eine Therapie über einen Zeitraum von          kungsreiche Metaboliten, wie bei Morphin
durch Metamizol (siehe auch Seite 11).          drei Monaten hinaus kommt nur bei The-         bekannt, schneller akkumulieren. Auch das
Eine zeitversetzte Einnahme der beiden          rapierespondern in Frage, bei denen das        Risiko einer Atemdepression steigt mit zu-
Substanzen ist daher sinnvoll.                  definierte Therapieziel bei geringen bzw.      nehmendem Alter. Durch eine engmaschi-
                                                tolerablen Nebenwirkungen erreicht wer-        ge Kontrolle, die bei Opioidgabe angezeigt
Eine Kombination von Metamizol mit ei-          den kann. Spätestens nach sechs Mona-          ist, kann dieses Risiko reduziert werden.
nem NSAR kann wegen der Potenzierung            ten sollte die Option einer Dosisreduktion     Eine Kontrolle der GFR wird empfohlen.
der analgetischen Effektivität zu einer si-     oder eines Auslassversuches besprochen
gnifikanten Opioid-Einsparung beitragen.        sowie überprüft werden, ob weiterhin           Ein Vorteil von Opioiden im Vergleich zu
Bei Niereninsuffizienz und einer ausge-         eine Behandlungsindikation vorliegt. Bei       Nichtopioid-Analgetika ist eine fehlende
prägten Leberfunktionsstörung ist auch bei      fortgesetzter Opioid-Anwendung trotz           Organtoxizität in Bezug auf Leber, Niere
Metamizol eine Dosisreduktion erforderlich.     fehlender Wirksamkeit nimmt das Risiko         und Herz-Kreislauf-System.
                                                einer nicht bestimmungsgemäßen Ver-
7.2.6. Opioide                                  wendung zu. Bei Nicht-Respondern soll-         Eine häufige Nebenwirkung der Opioid-
Opioid-Analgetika spielen nicht nur in der      te zunächst eine Opioidrotation erwogen        therapie ist die Obstipation, die sich nach
Behandlung von Tumorschmerzen eine              werden, bevor die Therapie mit dieser          einigen Tagen einstellt. Daher ist eine
bedeutende Rolle, sie sind auch als eine        Substanzgruppe ganz abgebrochen wird.          präventive Behandlung der Obstipation
wichtige Option in der Therapie von chro-       Um mögliche Risiken (erhöhte Mortali-          vor Beginn jeder Opioidtherapie indiziert,
nischen, nicht-tumorbedingten Schmer-           tät, Missbrauch und Abhängigkeit) und          bei vielen Patienten auch während der

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