POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Dr. Waltraud Stromer
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Schmerz NACHRICHTEN Nr. 1b| 2020 • ISSN 2076-7625 ZEITSCHRIFT DER ÖSTERREICHISCHEN SCHMERZGESELLSCHAFT POSITIONSPAPIER SCHMERZEN, SCHMERZERFASSUNG UND SCHMERZTHERAPIE IM ALTER: Besonderheiten und Empfehlungen
Vorwort Teilnehmende Expertinnen und Experten: M it zunehmendem Alter steigt die Häufigkeit von V OR S I TZ schmerzhaften Erkrankungen und Beschwerden deutlich an. Zugleich machen physische und psychische Veränderungen, sensorische und kognitive Prim. Univ.-Prof. Dr. RUDOLF LIKAR, MSc Beeinträchtigungen, Multimorbidität und Polypharmazie Klinikum Klagenfurt am Wörthersee, das Schmerzassessment und das Schmerzmanagement LKH Wolfsberg, Sigmund Freud bei älteren und hochbetagten Menschen zu einer beson- Privatuniversität Wien deren Herausforderung. Diese Tatsache ist, gemeinsam mit anderen Faktoren – wie dem Phänomen des Under- reportings von Schmerzen durch ältere Betroffene selbst oder verbreiteten Vorurteilen und Missverständnissen zu OÄ Dr. WALTRAUD STROMER Schmerzen im Alter – dafür verantwortlich, dass Schmer- Landesklinikum Horn, Moorheilbad Harbach zen bei geriatrischen Schmerzpatientinnen und -patienten nicht ausreichend erkannt werden und somit auch häufig unterbehandelt bleiben. In besonderem Maß gilt das für alte Menschen, die kognitive Defizite oder Probleme mit TE I LN E HME R I N N E N U N D TE I LN E HME R der Verbalisierung haben. JKU Dies ist umso dramatischer, als auch bei älteren und be- Univ.-Prof. Dr. JOSEF DONNERER tagten Schmerzpatienten gute Behandlungserfolge er- Medizinische Fakultät, reichbar sind, wenn altersbedingte Spezifika im Schmerz- Johannes Kepler Universität Linz management konsequent beachtet und berücksichtigt werden. 2019 wurde von der International Association for the Study of Pain IASP und der Europäischen Schmerzföde- SVETLANA GEYRHOFER, BA ration EFIC zum „Jahr gegen Schmerzen bei vulnerablen Geyrhofer KG, Grein Personen“ erklärt. Dies nahmen die Sektion Schmerz der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reani- mation und Intensivmedizin (ÖGARI), die Österreichische Schmerzgesellschaft (ÖSG) und die Österreichische Ge- sellschaft für Geriatrie und Gerontologie (ÖGGG) zum Anlass, das nunmehr vorliegende Positionspapier zu initi- Prim. Priv.-Doz. Dr. BURKHARD LEEB ieren, welches das verfügbare interdisziplinäre und inter- Landesklinikum Stockerau professionelle Wissen zum Thema Schmerz und Schmerz- management im Alter unter den unterschiedlichsten Ge- sichtspunkten zusammenzufasst. Damit sollen Behand- lerinnen und Behandler in der Praxis bei der Umsetzung eines optimierten geriatrischen Schmerzmanagements unterstützt werden. Basierend auf der relevanten wissen- Prim. Priv.-Doz. Dr. NENAD MITROVIC schaftlichen Literatur, aber auch auf den Therapie-Erfah- Salzkammergut-Klinikum Vöcklabruck rungen der Autorinnen und Autoren verschiedener ärzt- licher Fachrichtungen und Gesundheitsberufe, zeigt das Papier praktische Umsetzungsmöglichkeiten auf. Prim. Prof. Dr. KATHARINA PILS OÄ Dr. Waltraud Stromer, Krankenanstalt Rudolfstiftung Wien Prim. Univ.-Prof. Dr. Rudolf Likar Wien/Horn, Klagenfurt im Jänner 2020 Prim. Dr. GEORG PINTER Klinikum Klagenfurt am Wörthersee Österreichische Österreichische Gesellschaft Österreichische Schmerzgesellschaft für Anästhesiologie, Gesellschaft für Reanimation und Geriatrie und Intensivmedizin Gerontologie
1. SCHMERZEN IM ALTER: HÄUFIGKEIT UND VERBREITETE BESCHWERDEN Abbildung 1: DIE SCHMERZSPIRALE Das Gesundheitssystem muss sich jetzt und in Zukunft in zunehmendem Maße mit den speziellen Erfordernissen der schmerzmedizinischen Versorgung von älteren und hochbetagten Personen be- schäftigen. Denn wie wir aus demographi- schen Prognosen wissen, steigt der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtbe- pain völkerung kontinuierlich an. Der aktuellen Bevölkerungsprognose der EU-Statistik- behörde Eurostat zufolge wird der Anteil der Menschen in der EU, die älter als 65 Jahre sind, von heute 20 Prozent auf 31 Prozent im Jahr 2100 ansteigen. Der An- teil der über 80-Jährigen an der Gesamt- bevölkerung wird 2100 in der EU bereits bei 15 Prozent liegen, heute sind es etwa sechs Prozent. leiden Untersuchungen zufolge an chro- sind wiederum die Schmerzen (siehe Ab- nischen Schmerzen. Mit der Nähe zum bildung 1, Schmerzspirale). Insgesamt tra- Diese Entwicklung ist für die Gesamt- Lebensende steigt die Schmerzhäufigkeit gen Schmerzen im Alter zu einer sozialen prävalenz von Schmerzen von großer weiter an. Verarmung und Isolierung bei. Bedeutung, weil das Auftreten chro- nisch-schmerzhafter Erkrankungen mit Zu den wichtigsten Ursachen für chroni- Schon deshalb besteht eine hohe ethi- dem Alter zunimmt. Je nach Untersu- sche Schmerzen im Alter gehören dege- sche Verantwortung für Behandlerinnen chung variieren die Angaben über die Prä- nerative und entzündliche Erkrankungen und Behandler, Betroffenen eine best- valenz von Schmerzen bei Menschen über des Bewegungsapparates, osteoporoti- mögliche Schmerztherapie unter Berück- 65 Jahren zwischen 50 und 86 Prozent. sche Frakturen, Kompressionssyndrome, sichtigung der Besonderheiten des Alters neuropathische Schmerzen unterschied- zu ermöglichen. Neben der Reduktion der Einer repräsentativen Umfrage im Bun- lichster Genese und Tumorerkrankungen. Schmerzintensität lässt sich mit optimaler desland Kärnten zufolge litten 41,7 Pro- Auch Schmerzen aufgrund von Angina Schmerzkontrolle eine Verbesserung der zent der befragten Personen über 65 pectoris oder pAVK, Insultfolgen oder Is- beschriebenen Symptome und der Le- Jahren unter mäßigen, 25,6 Prozent unter chämie nehmen mit dem Alter zu. bensqualität erreichen. starken und insgesamt 20,7 Prozent unter sehr starken oder unerträglich starken Die Immobilität, die häufig mit Schmerzen Schmerz ist nur ein Teil des komplexen Schmerzen. im Alter einhergeht, setzt einen regelre- somatischen, psychologischen, sozialen chen Teufelskreis in Gang: Sie fördert den und spirituellen Phänomens Leid. Aus- Auch die letzte „Österreichische Gesund- Verlust von Muskelmasse, wodurch sich schließlich die physiologischen Aspek- heitsbefragung“ der Statistik Austria aus das Risiko von Stürzen und weiterer Im- te des Schmerzes zu berücksichtigen dem Jahr 2014 liefert Belege für die mit mobilität erhöht. Diese bedroht, gemein- ist daher nicht ausreichend. Neben der dem Alter steigende Schmerzprävalenz. sam mit anderen Begleiterscheinungen Schmerztherapie müssen auch ethische Über chronische Kreuzschmerzen oder von chronischen Schmerzen wie Appe- Verpflichtungen im Sinne der Leidensmin- andere chronische Rückenleiden klagten titlosigkeit, Inkontinenz und kognitivem derung berücksichtigt werden, etwa psy- in dieser Erhebung 24 Prozent der Ge- Abbau, zunehmend die Selbstständigkeit chologische und soziale Hilfestellungen – samtbevölkerung, bei den Menschen ab und die Autonomie bei Alltagsaktivitäten. sollte eine Patientin oder ein Patient dies 75 Jahren waren es jede zweite Frau und wünschen, auch spirituelle Betreuung. jeder dritte Mann. 3,6 Millionen Personen 2. ETHISCHE ASPEKTE DER in Österreich gaben in der Gesundheits- SCHMERZTHERAPIE IM ALTER Für die Entscheidungsfindung für eine befragung an, innerhalb der vier Wochen optimale Diagnose und Therapie bei älte- vor der Befragung Schmerzen gehabt zu Die Folgen unzureichend therapierter ren oder hochbetagten Patientinnen und haben, ältere Personen berichteten häu- Schmerzen gerade bei älteren und betag- Patienten müssen diese eingebunden und figer über Schmerzen als jüngere. Mit zu- ten Menschen sind schwerwiegend – von ihre Wünsche und Vorstellungen müssen nehmendem Alter traten auch vermehrt den bereits angesprochenen körperlichen berücksichtigt werden. starke bzw. sehr starke Schmerzen auf. Einschränkungen im täglichen Leben und dem Verlust an Autonomie über Appetit- Die informierte Zustimmung des Patien- Bis zu 50 Prozent der Menschen, die mo- verlust und Schlafstörungen bis hin zu De- ten oder der Patientin zu einer bestimm- bile Pflegedienste in Anspruch nehmen, pression und Angst. Je ausgeprägter um- ten schmerztherapeutischen Strategie und bis zu 80 Prozent der Bewohnerinnen gekehrt Depressionen, Angst oder Schlaf- kann dort an ihre Grenzen stoßen, wo und Bewohner von Pflegeeinrichtungen störungen vorhanden sind, desto stärker bei älteren oder betagten Menschen die SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020 3
Einwilligungsfähigkeit nur teilweise oder Tabelle 1: VERBREITETE URSACHEN FÜR UNZUREICHENDE SCHMERZ- eingeschränkt gegeben ist. Aus ethischer THERAPEUTISCHE DIAGNOSTIK UND VERSORGUNG BEI ALTEN PATIENTEN Sicht muss eine der Situation angepass- te Patientenaufklärung jedenfalls auch Unterschätzte Schmerzintensität durch Behandler bei eingeschränkt entscheidungsfähigen Underreporting durch die Betroffenen Patienten erfolgen, auch wenn eine Er- Symptomenwandel wachsenenvertreterin oder ein Erwachse- nenvertreter tätig ist. Fehlt die Entschei- Multimorbidität dungsfähigkeit bzw. kognitive Kompetenz Zurückhaltende Therapie aufgrund von Polypharmazie bei der Patientin oder beim Patienten im Störung der Kommunikation, insbesondere durch kognitive Einschränkungen Einzelfall völlig, so ist die Frage nach dem mutmaßlichen Willen des Patienten ent- Zu niedrige Dosierung oder zu große Dosierungsintervalle scheidend. Hinweise können eine allfälli- Unzureichende Schmerzmessung ge Vorsorgevollmacht, die Angehörigen oder die Erwachsenenvertretung liefern. sind Kommunikationshürden. Mit dem Eine gute Möglichkeit, Schmerzen bei äl- 3. DEFIZITE BEI DER SCHMERZ- Alter kann sich das Repertoire der Kör- teren Personen zu erfassen, die zu Hau- ERFASSUNG UND -THERAPIE BEI persprache einschränken, Reaktionen se leben und betreut werden, könnten ÄLTEREN MENSCHEN können daher missverstanden werden. Pflegegeldbegutachtungen sein. Es wäre Die verbale Kommunikation kann einge- wünschenswert, dass bei jeder Pflege- Der weiten Verbreitung schmerzhafter Be- schränkt sein, etwa durch einen Sprach- geldbegutachtung standardmäßig ein schwerden im Alter stehen eine Reihe von verlust nach einem Schlaganfall, durch Schmerzassessment durchgeführt wird. Defiziten bei der Erfassung, Diagnose und fortgeschrittene Stadien der Parkinson- Hier sollte verstärkt geriatrische, pflege- Behandlung gegenüber. In besonderem schen Erkrankung, durch höhergradige rische und schmerzmedizinische Experti- Maß gilt dies für Patientinnen und Patien- kognitive Beeinträchtigungen oder durch se einfließen, auch in der Fortbildung der ten mit kognitiven Defiziten. Ältere Per- Sprachbarrieren. Gutachterinnen und Gutachter. sonen mit kognitiven Beeinträchtigungen, mit kommunikativen Defiziten und Men- Diese Elemente, die zu einer analgetischen 4. SCHMERZEN UND KOGNITIVE schen mit Behinderung haben ein beson- Unterversorgung alter Menschen beitra- BEEINTRÄCHTIGUNG ders hohes Risiko, dass ihre Schmerzen un- gen, machen klar, dass der angemessenen zureichend erfasst und behandelt werden. und systematischen Schmerzmessung Bei älteren und betagten Menschen müs- eine zentrale Rolle zukommt, denn sie ist sen in vielen Fällen auch mögliche Zu- Für die häufig unzureichende Erfassung die Grundvoraussetzung für eine adäqua- sammenhänge zwischen kognitiven De- und Behandlung von Schmerzen im Alter te Therapie: Schmerzen, die nicht erfasst fiziten und Schmerzen bedacht werden. gibt es eine Reihe von Erklärungsansät- werden, werden nicht behandelt. zen (siehe Tabelle 1). Ein weit verbreitetes Schmerzen und kognitive Defizite treten Phänomen ist das „Underreporting“ von Das Schmerzassessment ist eine Aufga- häufig gemeinsam auf. Mit zunehmen- Schmerzen im Alter. Trotz ihrer Beein- be der Diplomierten Gesundheits- und dem Alter steigt nicht nur die Häufigkeit trächtigungen thematisieren ältere Pati- Krankenpflegerinnen und -pfleger, in de- von schmerzhaften Beschwerden an, enten ihre Schmerzen weniger als jünge- ren Kernkompetenzen Schmerz generell sondern auch das Risiko, an einer Form re. Dies wohl auch deshalb, weil Schmerz einen wichtigen Stellenwert einnimmt. eines progressiven kognitiven Defizitsyn- häufig als eine typische und unabwendba- Dies gilt für das Akutkrankenhaus eben- droms zu erkranken. Eine österreichische re Begleiterscheinung des Älterwerdens so wie für Einrichtungen der stationären Untersuchung etwa kam zum Ergebnis, hingenommen wird. Behandlerinnen und Altenpflege. Es ist eine positive Entwick- dass mehr als 60 Prozent der Bewohner Behandler werden daher nicht oder unzu- lung, dass Expertenstandards und Leit- von Pflegeeinrichtungen kognitive De- reichend über die Schmerzen informiert. linien für das Schmerzassessment und fizite aufweisen. Bis zu 15 Prozent der Auch die Sorge vor einer Unterbringung das Schmerzmanagement in der Pflege Menschen über 65 Jahren leiden an einer in der stationären Betreuung oder Pflege verfügbar sind. Ein limitierender Faktor Demenz, das Risiko steigt mit zuneh- könnte ein Grund dafür sein, dass ältere ist hier allerdings, dass dieses Experten- mendem Alter weiter an. Die Hälfte der Menschen Schmerzen eher verschweigen. wissen sich nicht immer im pflegerischen Menschen über 85 Jahren sind von Mor- Das Underreporting trägt neben anderen Alltag wiederfindet. Hier sind nach wie bus Alzheimer betroffen, 28 Prozent von Faktoren dazu bei, dass Schmerzen bei vor Bemühungen um eine verstärkte Aus- ihnen schwer. älteren Personen tendenziell auch unter- und Fortbildung erforderlich. behandelt sind. Menschen mit kognitiven Beeinträchti- Defizite hinsichtlich der Erfassung und gungen weisen eine hohe Schmerzpräva- Zusätzlich wurden bei Ärzteschaft und Behandlung von Schmerzen gibt es insbe- lenz auf. Eine Untersuchung zeigte, dass Pflegepersonal Defizitbilder und Mythen sondere auch bei Menschen, die zu Hause 45,8 Prozent der Patientinnen und Patien- über Schmerz im Alter nachgewiesen. betreut und gepflegt werden. Es ist anzu- ten mit Alzheimer-Demenz an Schmerzen streben, dass dem Thema Schmerzerken- leiden, bei Menschen mit vaskulärer De- Ein anderer Faktor, der zu Unterdiagno- nung in der Ausbildung von Heimhilfen menz waren es 56,4 und bei Personen mit se und Unterbehandlung beitragen kann, große Bedeutung zugemessen wird. gemischter Demenz 53,9 Prozent. 4 SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
Allerdings werden gerade in dieser Pa- Unabhängig von der Frage, ob bei einem schen Interventionen, des Therapieerfolgs tientengruppe Schmerzen oft nicht er- alten Menschen eine Demenz oder eine und möglicher Nebenwirkungen. kannt oder falsch eingeschätzt und auch kommunikative Einschränkung vorliegt weniger oft gemessen. Patientinnen und (siehe Seite 4), gibt es im Alter generell Tabelle 2: INTERVENTIONS- Patienten mit Demenz klagen seltener eine Reihe von Besonderheiten und feh- GRENZEN FÜR SCHMERZ- über Schmerzen als gleichaltrige Patien- lende Warnsignale, die es schwieriger THERAPEUTISCHE MASSNAHMEN ten ohne kognitive Beeinträchtigung, und machen können, Schmerzen zu erkennen. sie untertreiben Schmerzen häufiger. Das Dazu gehören etwa Veränderungen bzw. VAS: ≥3 trägt oft zur falschen Annahme bei, dass ein eingeschränktes Repertoire in der Mi- VRS: ≥2 Menschen mit Demenz weniger Schmerz mik und Gestik, oder die Tatsache, dass Doloplus-2: ≥5 empfinden würden. Das ist allerdings Schmerzen von Betroffenen nicht oder BESD-Skala: ≥2 nicht der Fall, im Gegenteil: Schmerz ist nur indirekt angesprochen werden. Doloplus-2-Short-Skala: ≥3 bei dieser Patientengruppe nicht weni- Bei Vorliegen der in Tabelle 2 genannten ger wahrscheinlich, sondern tritt vielmehr Es ist daher anzustreben, dass in statio- Erhebungswerte sollte eine schmerzthe- häufiger und intensiver auf. nären Therapie-, Pflege- oder Rehabili- rapeutische Intervention erfolgen. tationseinrichtungen ebenso wie in der Trotz dieser Tatsache erhalten Patientin- häuslichen Betreuung bei älteren und nen und Patienten mit Demenz signifikant betagten Menschen Schmerzen routine- 5.2. Schmerzerkennung und -messung seltener eine adäquate Schmerztherapie mäßig und systematisch erhoben werden. bei kognitiv beeinträchtigten und nicht- als Menschen ohne kognitive Einschrän- kommunikativen Patienten kungen. Die mangelhafte schmerzthe- Ein standardisiertes Vorgehen bei der rapeutische Versorgung Betroffener hat Schmerzerfassung ist eine wichtige Vor- Aufgrund der komplexen physischen wiederum negative Auswirkungen auf aussetzung für die bessere schmerzthe- und psychischen Veränderungen stellt die Kognition: Unzureichend kontrollierte rapeutische Versorgung und führt nach- die Schmerzmessung bei kognitiv beein- Schmerzen tragen zu einer weiteren Ver- weislich zu einer besseren Schmerzreduk- trächtigten Patientinnen und Patienten ei- schlechterung der Demenz bei. tion. ne besondere Herausforderung dar. Dies gilt auch für das Schmerzassessment bei Zeigen Menschen mit Demenz ein auffäl- Mittel erster Wahl in der Schmerzerfas- Menschen, die in ihrer Kommunikations- liges Verhalten, sollte immer an die Mög- sung sind Instrumente, die auf der Selbst- fähigkeit eingeschränkt sind. Die Kommu- lichkeit von Schmerzen gedacht und eine auskunft der Patientinnen und Patienten nikationsfähigkeit kann auch bei kognitiv entsprechende therapeutische Interven- beruhen. Dies gilt auch für die geriatri- intakten älteren und alten Menschen auf- tion eingeleitet werden. Antipsychotika sche Schmerzmedizin. Zur Messung von grund von Sprach- oder Sprechstörungen sind nicht die erste Wahl bei Verhaltens- Schmerzen stehen zahlreiche validierte unterschiedlicher Ursache oder aufgrund auffälligkeiten, vielmehr ist ein angemes- Instrumente und Scores zur Schmerz- von Sprachbarrieren eingeschränkt oder senes Schmerzmanagement von zentraler erhebung zur Verfügung. Verbreitet und inadäquat sein. Bedeutung. Wie eine Erhebung zeigte, als einfach anzuwendende Instrumente verbessert ein standardisiertes Schmerz- bewährt sind Verbale Ratingskalen (VRS), Um eine schmerztherapeutische Unter- protokoll bei Bewohnerinnen und Bewoh- Numerische Ratingskalen (NRS) und Vi- versorgung kognitiv oder kommunikativ nern von Pflegeheimen mit mäßiger bis suelle Analogskalen (VAS). Für ältere beeinträchtigter Patienten zu vermeiden, schwerer Demenz nicht nur den Schmerz, Schmerzpatientinnen und -patienten sind muss gerade in diesen vulnerablen Grup- sondern auch Agitation und Aggression. besonders VAS und VRS gut geeignet, pen Schmerz konsequent gemessen wer- Schmerzreduzierende Maßnahmen führ- NRS hingegen nicht. den, denn das Assessment ist die Basis für ten zu einer Reduktion von antipsychoti- eine adäquate Schmerztherapie. schen Medikamenten. Nur vereinzelt gibt es Skalen, die speziell für ältere und betagte Menschen entwi- Grundsätzlich ist auch bei Schmerzpa- Eine standardisierte Schmerzerfassung ckelt wurden, wie Geriatric Pain Measure tientinnen und -patienten mit kognitiven und -therapie sollte also integraler Be- (GPM) und das Geriatric Painful Events Beeinträchtigungen bei der Schmerz- standteil der Behandlung und Betreuung Inventory. Für eine umfassende Einschät- messung – soweit möglich – einer Selbst- von Menschen mit Demenz innerhalb und zung der Beeinträchtigungen, die mit beurteilung der Vorzug gegenüber der außerhalb von Pflegeeinrichtungen sein. Schmerzen verbunden sind, empfiehlt Fremdbeurteilung zu geben. Allerdings sich der Pain Disability Index (PDI). Im verlieren die üblichen Schmerzskalen bei 5. SCHMERZDIAGNOSE UND Zuge des Schmerzassessments sollten Menschen mit Demenz in Abhängigkeit SCHMERZMESSUNG IM ALTER darüber hinaus nach Möglichkeit auch vom Ausmaß der Erkrankung ihre Aus- Dimensionen wie die Lebensqualität oder sagekraft. Was den Einsatz von Selbst- 5.1. Allgemeine Grundsätze Stimmung beurteilt werden. beurteilungsskalen betrifft, so ist die VRS auch für Menschen mit milder Demenz zur Eine wichtige Ursache für eine schmerz- Im Rahmen des Schmerzassessments Schmerzerfassung gut geeignet. medizinische Unterbehandlung von älte- geht es nicht nur um eine einmalige ren oder hochbetagten Menschen ist die Schmerzerhebung, sondern eine wieder- Bei Menschen mit fortgeschrittener Tatsache, dass ihre Schmerzen nicht aus- holte Messung der Schmerzen, auch im Demenz, die signifikant seltener über reichend erfasst werden. Sinne einer Evaluierung der therapeuti- Schmerzen klagen, und bei nicht oder ein- SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020 5
geschränkt kommunikationsfähigen Per- Abbildung 2: DOLOSHORT-SKALA sonen muss auf Signale der nonverbalen Kommunikation zurückgegriffen werden. Wichtige Hinweise auf eine Schmerz- symptomatik können lautsprachliche Äußerungen (zum Beispiel gequälte Laut- äußerungen), mimische Hinweise (zum Beispiel angespannter Gesichtsausdruck, Grimassieren, Stirnrunzeln oder eine star- re Mimik), Verhaltensindikatoren (etwa Verhaltensänderungen, Appetitverlust, Verwirrtheit, ängstliche Abwehr von Be- rührung, keine Reaktion auf Trost oder Zuwendung) oder physische Indikatoren (zum Beispiel veränderter Atemrhythmus, Tachykardien, Verschlechterung des All- gemeinzustandes) sein. Pflegepersonen, die derartige Anzeichen für Schmerzen oft beobachten, kommt eine wichtige Rolle zu. Auch die Wahr- nehmung von Angehörigen kann hilf- reich sein. Eine personelle Konstanz der Betreuung und Teamarbeit sind zentrale Voraussetzungen für eine zuverlässige Schmerzeinschätzung. Für verbal und kognitiv eingeschränkte 6. BESONDERHEITEN BEI DER (GFR) und verminderter Clearance führt Personen gibt es geeignete Scores und BEHANDLUNG VON SCHMERZEN zu einem Akkumulationsrisiko bei An- Skalen der Fremdbeurteilung wie die EC- IM ALTER algetika und damit auch zu einer Poten- PA-Schmerzskala (L’échelle comporte- zierung der unerwünschten Wirkungen. mentale pour personnes agés) und deren 6.1. Physiologische Die zunehmende Verschlechterung der deutschsprachige Adaptierung BISAD (Be- Veränderungen im Alter Nierenfunktion mit dem Alter bleibt al- obachtungsinstrument für das Schmerzas- lerdings mit alleinigen Kreatinin-Messun- sessment bei alten Menschen mit Demenz), Eine Reihe von funktionellen, physiologi- gen oft unentdeckt, weil auch die Mus- den BESD (Beurteilung von Schmerz bei schen und psychischen Veränderungen kelmasse abnimmt. Die GFR ist hier von Demenz), die deutsche Fassung der PAI- im Alter beeinflussen Kompensations- zentralem Interesse. Das Toxizitätsrisiko NAD Scale (Pain Assessment in Advanced mechanismen, Schmerzwahrnehmung, systemischer Therapien steigt mit der Dementia) oder die Doloplus-2-Skala. das Ansprechen auf therapeutische In- Verschlechterung der Nierenfunktion an. terventionen und die Reaktion auf Sub- Eine verminderte Leberfunktion aufgrund Die BESD-Skala etwa beruht auf einem stanzen. Dieses Ensemble von Faktoren der verminderten hepatischen Durchblu- relativ kurzen, recht einfach durchzufüh- erhöht die Risiken einer medikamentö- tung und abnehmenden Syntheseleistung renden Test und ist vor allem für mobi- sen Schmerztherapie im Alter. Zusätz- führt zu einer Zunahme der Wirkdauer lere Patientinnen und Patienten gut ge- lich zu diesen Veränderungen kommt es von Arzneimitteln und zu einer vermin- eignet. Sowohl chronische als auch akute mit zunehmendem Alter auch zu einem derten Metabolisierung mit Akkumula- Schmerzen lassen sich damit gut erfassen. progredienten Verlust von Organfunk- tion. Somit sind Dosisreduktionen oder Die deutschsprachige Version der Dolo- tionen und zu einer zusätzlichen ne- größere Dosisintervalle erforderlich, um plus-2-Skala wurde im Rahmen einer Stu- gativen Beeinflussung von Organfunk- Substanzakkumulierungen zu vermeiden. die in Kärnten an drei Krankenanstalten tionen durch chronische Erkrankungen. Im Gastrointestinaltrakt wird durch eine evaluiert. Für die Schmerzanamnese bei im Alter veränderte Azidität, Magenpas- geriatrischen Patientinnen und Patien- Die Prävalenz kardiovaskulärer Erkran- sage und Darmmotilität die Resorption ten besonders gut geeignet ist die Dolo- kungen steigt mit dem Alter. Eine redu- von Medikamenten beeinflusst. short-Skala, weil alle Komponenten des zierte Pumpfunktion des Herzens führt zu Schmerzes (somatisch, psychomotorisch, einem verringerten Anfluten von Wirk- Im Zuge des Alterungsprozesses kommt psychosozial) erfragt werden. Bedeutsam stoffen an die metabolisierenden Organe, es auch im Nervensystem zu Verände- für die weitere Therapieplanung ist es, die wodurch sich zum Beispiel bei Opioiden rungen, die Schmerzverarbeitung und Qualität der Schmerzen zu erfragen, weil die Wirkdauer verlängern kann. Schmerzerleben beeinflussen. Unter an- hier bereits Hinweise auf die Schmerzent- derem ist die endogene Schmerzhem- stehung (z. B. neuropathisch, nozizeptiv, Die mit dem Alter zunehmend einge- mung herabgesetzt und die Nervenleit- nozizeptiv/entzündlich oder dysfunktio- schränkte Nierenfunktion aufgrund einer geschwindigkeit reduziert. Durch Verän- nal) gefunden werden. reduzierten glomerulären Filtrationsrate derungen vor allem der A-delta- und der 6 SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
Tabelle 3: ALTERSASSOZIIERTE VERÄNDERUNGEN Organfunktion Veränderung im Alter Klinische Konsequenz Gastrointestinaltrakt Verlangsamung der Magenentleerung und veränderte Resorptionsgeschwindigkeit Peristaltik; veränderte Blutversorgung im erhöhtes Risiko gastrointestinaler Nebenwirkungen Gastrointestinaltrakt Verteilung Verringerung des Gesamtkörperwassers; verringerte Verteilung von wasserlöslichen Abnahme von Muskelgewebe; Steigerung Medikamenten; Akkumulation von fettlöslichen des Körperfettanteils; Verringerung der Medikamenten; gesteigerte Konzentration nicht- Konzentration von Plasmaproteinen gebundener Medikamente; Verlängerung der Halbwertszeit fettlöslicher Medikamente; erhöhtes Risiko von Medikamenten-Interaktionen Metabolisierung über reduzierter Blutfluss durch die Leber; veränderter First-Pass-Effekt; verlängerte Halb- die Leber Verringerung der Konzentration von Plasma- wertszeit; Polypharmazie und Einfluss auf proteinen; Oxidation kann reduziert sein das Cytochrom-P450-System Renale Elimination Abnahme des renalen Blutflusses, der reduzierte Ausscheidung von Medikamenten mit glomerulären Filtration und der tubulären Akkumulation und längerer Wirkdauer Sekretion Pharmakodynamik reduzierte Opioid-Rezeptordichte; erhöhte gesteigerte Empfindlichkeit für therapeutische Opioid-Rezeptoraffinität und unerwünschte Arzneimittelwirkungen Quelle: Stromer W, Besonderheiten der Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten. DFP Literaturstudium, Schmerznachrichten 2/2017, 10–16 Tabelle 4: EMPFEHLUNGEN ZU ANALGETIKA BEI ORGANDYSFUNKTION Niereninsuffizienz (Clearance
gesteigerten Empfindlichkeit gegenüber In der Therapie älterer Schmerzpatientin- rapeutische Fenster bei älteren und be- anticholinergen und zentral wirksamen nen und -patienten ist zuletzt auch ver- tagten Patienten erheblich. Substanzen. mehrt die Tatsache zu berücksichtigen, dass Personen mit bestehender oder Bei jeder zusätzlichen Medikation ist Kognitive Beeinträchtigungen, patholo- ehemaliger Opioid-Abhängigkeit (Dro- ein umsichtiges Vorgehen angezeigt. gische oder medikamentenbedingte Pro- genkonsum) oder unter Opioid-Erhal- Nebenwirkungen einer medikamentö- bleme mit dem Erinnerungsvermögen tungstherapie heute immer älter werden sen Schmerztherapie müssen besonders oder Hör- und Seh-Beeinträchtigungen und zunehmend therapeutische Interven- sorgfältig beobachtet und kontrolliert sind darüber hinaus altersbedingte Ent- tionen chronischer Schmerzen benötigen. werden. Insbesondere Nebenwirkungen, wicklungen, die Compliance und Adhärenz Hinzu kommen Patientinnen und Patien- die die Gangsicherheit weiter beeinträch- bei älteren Menschen – auch in Bezug auf ten mit einer langzeitigen Opioidtherapie tigen, sind bei generell sturzgefährde- analgetische Therapien – negativ beein- aufgrund chronischer Schmerzen und ten alten Menschen zu beachten. Ganz flussen können. daraus resultierender Abhängigkeit. In besonderer Aufmerksamkeit bedarf die diesen Gruppen älterer Schmerzpatien- Beobachtung von Nebenwirkungen bei 6.2. Multimorbidität ten stellt das analgetische Management kognitiv beeinträchtigten Patienten, da schon aufgrund von Spezifika wie einer eine verbale Kommunikation über dieses Ein Faktor, der das Schmerzmanagement herabgesetzten Schmerzschwelle oder Problem häufig nicht möglich ist. bei älteren und betagten Personen zur einer verminderten Wirksamkeit von komplexen und herausfordernden Auf- Opioid-Analgetika aufgrund einer Tole- 7. SCHMERZTHERAPIE IM ALTER gabe macht, ist die weit verbreitete Mul- ranzentwicklung eine besondere Heraus- timorbidität, die mit dem Alter zunimmt. forderung dar, die spezielle Expertise er- 7.1. Allgemeine Grundsätze Typische Komorbiditäten bei älteren und fordert. betagten Menschen sind Demenz (siehe Für die vulnerable Gruppe älterer und be- auch Seite 4), Herz-Kreislauf-Erkrankun- 6.3. Polypharmazie tagter Schmerzpatientinnen und -patien- gen, degenerative und entzündliche rheu- ten ist ein gut abgestimmtes und umfas- matische Erkrankungen, Osteoporose, Mit der Multimorbidität steigt auch die sendes Management erforderlich, das die Bluthochdruck, Diabetes, Lungenerkran- Anzahl der Therapien: Eine Untersuchung bestmögliche Schmerzlinderung bei mög- kungen, Morbus Parkinson oder onkologi- mit Bewohnerinnen und Bewohnern von lichst weitgehender Vermeidung potenzi- sche Erkrankungen. Pflegeheimen in acht europäischen Län- ell negativer Nebenwirkungen von Thera- dern zeigt, dass etwa die Hälfte der Be- pien sicherstellt. Eine Hierarchisierung der Eine besonders häufig auftretende Ko- fragten zwischen fünf und neun Medika- Therapienotwendigkeiten ist daher häufig morbidität bei chronischen Schmerzen mente einnimmt, bei rund einem Viertel erforderlich. Diese kann durch ein multi- im Alter sind Depressionen. Die Kom- sind es mehr als zehn Medikamente. dimensionales geriatrisches Assessment bination beider Erkrankungsbilder be- entwickelt werden. einflusst die Lebensqualität Betroffener Höheres Alter gilt generell als ein eigen- besonders negativ. Depressions-Patien- ständiges Risiko für Arzneimittelneben- Das Schmerzmanagement sollte von tinnen und -Patienten mit chronischen wirkungen. Mit der Anzahl der verschrie- wichtigen Grundsätzen wie Individualität, Schmerzen haben ein höheres Suizid- benen Medikamente steigt das Neben- Multimodalität, Mechanismus-Basierung, risiko, ein höheres Risiko für Persönlich- wirkungsrisiko deutlich an. Der Anteil von Prävention, Genderunterschieden oder keitsstörungen und schlafen schlechter Patientinnen und Patienten mit potenziell Berücksichtigung der Chronobiologie ge- als Menschen, die an Depressionen ohne schwerwiegenden Interaktionen ist auf- prägt sein. Schmerzsyndrom leiden. Depression und grund vermehrter Polymedikation stark Schmerz können einander zudem ver- angestiegen. 3 bis 12 Prozent der Kran- Individualisierter Ansatz stärken. Patienten mit einer schweren kenhauseinweisungen, so zeigen ver- Therapeutische Entscheidungen müssen Depression haben ein dreimal höheres schiedene Übersichtsarbeiten, haben arz- auf das im Einzelfall zu definierende The- Risiko als Menschen ohne Depression, neimittelbedingte Ursachen, Wechselwir- rapieziel abgestimmt sein. Bei jedem me- chronische Schmerzzustände zu entwi- kungen sind für etwa 20 Prozent dieser dikamentösen und nichtmedikamentösen ckeln. Umgekehrt besteht ein hohes Ri- arzneimittelbedingten Krankenhausein- Verfahren sind der konkrete Nutzen bzw. siko für Patientinnen und Patienten mit weisungen verantwortlich. die potenziellen Nachteile und Nebenwir- chronischen Schmerzen, eine depressive kungen bei der individuellen Patientin bzw. Symptomatik zu entwickeln. Die verbreitete Polypharmazie im Alter dem individuellen Patienten abzuwägen. bringt nicht nur ein erhöhtes Risiko für Die Multimorbidität erschwert häufig Arzneimittelnebenwirkungen und -inter- Ziel einer individualisierten Schmerzthe- nicht nur die Diagnose der Schmerzen, aktionen mit sich, es sind auch Nutzen rapie bei älteren und hochbetagten Men- sondern schränkt auch die Palette der und Risiko einzelner therapeutischer Op- schen muss sein, eine Schmerzreduktion medikamentösen Therapieoptionen ein, tionen anders zu beurteilen als bei jünge- auf das jeweils angemessene Maß zu er- weil auf Interaktionen Rücksicht zu neh- ren Patientinnen und Patienten, und die reichen, Beweglichkeit und Mobilität best- men ist (siehe Seite 9). Auch die Belast- Vorgaben von Leitlinien sind im Einzelfall möglich zu erhalten oder wiederherzu- barkeit der Patientinnen und Patienten ist unter Umständen kritisch zu hinterfragen. stellen, die Selbstständigkeit und ein au- angesichts ihrer multiplen Beschwerden Die Kombination der verschiedenen be- tonomes Leben zu ermöglichen und eine oft massiv eingeschränkt. schriebenen Effekte verkleinert das the- soziale Teilhabe zu fördern. Nicht bloße 8 SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
Tabelle 5: HÄUFIGE INTERAKTIONEN CAVE Kombination mögliche Interaktionen NSAR mit Antikoagulantien, ASS, SSRI, SNRI, Kortikoiden, erhöhtes Blutungsrisiko Alkohol Paracetamol mit Antiemetika, 5HT3-Antagonisten eventuell Wirkverlust Paracetamol mit Carbamazepin, Alkohol, Phenytoin, Rifampicin, erhöhtes Risiko mit Leberzellnekrosen INH, Zidovudin Metamizol mit Carbamazepin, Clozapin Gefahr der Knochenmarksuppression Gabapentin mit Antazida verminderte Resorption (mindestens 2 Stunden Einnahmeabstand) Pregabalin mit Oxycodon Beeinträchtigung grobmotorischer und kognitiver Funktionen möglich Tramadol mit Theophyllin, Alkohol, Antipsychotika, Lithium, Senkung der Krampfschwelle Bupropion etc. Tramadol mit SNRI, SSRI, MAO-I, TCA, Linezolid, Gefahr des Serotoninsyndroms Carbamazepin, Oxcarbazepin Tapentadol mit SSRI Gefahr des Serotoninsyndroms Tapentadol mit MAO-I vermehrte noradrenerge Wirkungen Oxycodon mit Anticholinergika verstärkte anticholinerge Wirkung; Mundtrockenheit, Tachykardie, Delir etc. Fentanyl mit Anticholinergika verstärkte anticholinerge Wirkung; Mundtrockenheit, Tachykardie, Delir etc. Alle Opiate mit Alkohol, Benzodiazepinen, Antipsycho- verstärkte zentral dämpfende Wirkung tika, Antihistaminika, Muskelrelaxantien Quelle: Stromer W, Besonderheiten der Schmerztherapie bei geriatrischen Patienten. DFP Literaturstudium, Schmerznachrichten 2/2017, 10–16 Schmerzreduktion, sondern eine umfas- trischen Schmerzpatientinnen und -pa- pathischen Schmerzen („mixed pain“) ist sende Verbesserung der Lebensqualität tienten einen besonderen Benefit. möglich. muss im Mittelpunkt stehen. Ein indivi- duell definiertes Therapieziel ist auch die Die Überlegenheit einer multimodalen Prävention vor Therapie Voraussetzung dafür, dass es im weiteren Schmerztherapie gegenüber eindimen- Wie in der Schmerzmedizin generell, so Therapieverlauf immer wieder überprüft sionalen Behandlungsansätzen ist vielfach gilt auch in der Betreuung älterer und be- werden kann. nachgewiesen. Welche Disziplinen und tagter Patientinnen und Patienten, dass Berufsgruppen im Rahmen multimodaler nach Möglichkeit der Primär- und Sekun- Die Ziele, die unter Berücksichtigung der Behandlungskonzepte kooperieren, ist ab- därprävention von Schmerzen, soweit im genannten Prinzipien mit einem multimo- hängig von der Versorgungsstufe, von der Einzelfall möglich, eine zentrale Rolle zu- dalen und interdisziplinären geriatrischen Verfügbarkeit entsprechender Spezialis- kommen sollte. Insbesondere gilt es auch, Schmerzmanagement erreicht werden tinnen und Spezialisten sowie regionalen durch eine angemessene Versorgung sollen, gehen über die Schmerzreduk- oder institutionellen Gegebenheiten. akuter Schmerzen einer Schmerzchronifi- tion auf das individuell erreichbare Maß zierung vorzubeugen. hinaus. Wichtig sind auch die Verbesse- Mechanismen-basierte Vorgangsweise rung der Lebensqualität, die Erhaltung Grundlage jeder Schmerztherapie ist ei- Berücksichtigung gender- oder Wiederherstellung der Mobilität, der ne Analyse der schmerzverursachenden spezifischer Unterschiede Selbstständigkeit und der sozialen Inte- Mechanismen. Im Gegensatz zu früheren Für die Unterschiede zwischen den Ge- gration. Mit jeder Patientin und jedem Pa- Ansätzen stützt sich die Auswahl der ge- schlechtern betreffend Schmerzpräva- tienten sollte das individuelle Therapieziel eigneten therapeutischen Ansätze heute lenz, Schmerzempfinden und den Erfolg definiert und im Therapieverlauf regelmä- nicht vorwiegend auf die Schmerzstärke, von therapeutischen Interventionen gibt ßig überprüft werden. sondern auf die Frage, welcher Mechanis- es zunehmend wissenschaftliche Evidenz. mus dem Schmerz zugrunde liegt (Me- Diese Einsichten müssen auch bei älteren Multimodalität chanismen-orientierte Schmerztherapie). und betagten Schmerzpatientinnen und Multimodal balancierte Konzepte, die me- Die Therapie berücksichtigt die physio- -patienten in die Diagnose und Therapie dikamentöse und nichtmedikamentöse, logischen Grundlagen der verschiedenen einfließen. konservative und invasive Verfahren in Schmerzarten – also neuropathischer interdisziplinärer und interprofessioneller und nozizeptiver Schmerzen. Auch eine Berücksichtigung der Chronobiologie Kooperation kombinieren, bringen geria- Mischform von nozizeptiven und neuro- Erkenntnisse der Chronobiologie zeigen, SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020 9
Dieses Basisschema ist ein Nachdruck aus dem Folder „Schmerztherapie im Alter“ (Herausgeber: Competence Center Integrierte Versorgung, c/o Öster- reichische Gesundheitskasse), welcher von den Fachgesellschaften ÖSG, ÖGGG und ÖGAM endorsed wurde. Der gesamte Folder ist unter www.sozial- versicherung.at/pfade_schmerz abrufbar. dass das Schmerzempfinden und die Re- dividuellen Fall das günstigste Nebenwir- stanzen mit möglichen zentralnervösen aktionen auf Schmerzreize bestimmten kungsprofil aufweisen. Jede Entscheidung Nebenwirkungen wie Antidepressiva tageszeitlichen Rhythmen unterliegen über eine Substanzverordnung sollte auf (Seite 13), Antikonvulsiva (Seite 13) können. Daraus ergibt sich die praktische das definierte Therapieziel hin überprüft oder Cannabinoide (Seite 14). Konsequenz, dass die Therapie, insbeson- werden. Nachdem alte Schmerzpatientin- dere die medikamentöse Therapie, nicht nen und -patienten aufgrund von Begleit- Die Kombination von Analgetika unter- nur an die Art und den Mechanismus des erkrankungen oder Polypharmazie aus schiedlicher Substanzgruppen ist mög- Schmerzes, sondern auch an das individu- klinischen Studien häufig ausgeschlossen lich und effektiv. elle Tagesprofil angepasst werden sollte. sind, liegt zu den einzelnen Substanzen nur begrenzte Evidenz zur Wirkung in Der Behandlungserfolg muss regelmä- 7.2. Medikamentöse Schmerztherapie dieser Gruppe vor. ßig evaluiert und eingesetzte Analgeti- bei älteren und betagten Patienten ka sollten dementsprechend adaptiert Die Berücksichtigung der individuellen Si- werden. 7.2.1. Grundsätzliches tuation schließt die Abwägung der Phar- Aufgrund der ausgeführten Besonderhei- makodynamik und -kinetik im Einzelfall 7.2.2. Acetylsalicylsäure ten im Alter muss bei der Auswahl medi- sowie die Einschätzung ein, welche Dar- Acetylsalicylsäure (ASS) wirkt auf- kamentöser Therapieoptionen bei älteren reichungsform aufgrund der individuellen grund der Hemmung von Cyclooxy- und betagten Schmerzpatientinnen und Umstände am besten geeignet ist. genase-Enzymen und der Prostaglan- -patienten eine besonders strenge Nut- din-Bildung analgetisch, antiphlogis- zen-Risiko-Bewertung erfolgen. Allfällige Generell sollten Arzneimittel bei älteren tisch und antipyretisch. Analgetisch Kontraindikationen und Anwendungs- und betagten Patientinnen und Patien- werden ASS-Arzneimittel vorwiegend beschränkungen müssen ebenso be- ten, wenn möglich, über kurze Zeit und in bei akuten Schmerzzuständen einge- rücksichtigt werden wie die bestehende niedriger Dosierung verabreicht werden. setzt. Bei chronischen Schmerzen sind Medikation, die vor Beginn der Therapie Als Grundprinzip für die Pharmakothera- insbesondere bei älteren und betagten kritisch überprüft werden sollte (Poly- pie im Alter gilt „start low, go slow“. Dies Patientinnen und Patienten wegen der pharmazie, Seite 8). Bevorzugt sollten trifft insbesondere auf Opioid-Analge- gastrointestinalen Risiken andere anal- Substanzen eingesetzt werden, die im in- tika (Seite 12) zu, aber auch auf Sub- getische Wirkstoffe zu bevorzugen. 10 SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
Eingeschränkt ist der Einsatz auch auf- Tabelle 6: grund des Interaktionspotenzials der FAKTOREN, DIE FÜR EINE PPI-PROPHYLAXE UNTER NSAR SPRECHEN Substanz. Eine Kombination mit Antikoagu- Alter über 65 lantien oder Heparinen ist wegen des mas- siv erhöhten Blutungsrisikos zu vermeiden. therapeutisch notwendige hohe NSAR-Dosierung lange Behandlungsdauer Angesichts des weit verbreiten Einsatzes gleichzeitige Gabe von Antikoagulantien, Trombozytenaggregationshemmern, von ASS zur Thrombozytenaggregations- ASS, Kortikosteroiden, SSRI hemmung mit Dauertherapien bei einer Tagesdosis von bis zu 300 Milligramm ist Ulcus in der Anamnese auch das Interaktionspotenzial mit NSAR Helicobacter-pylori-Infektion in der Anamnese und dem Nichtopioid-Analgetikum Meta- mizol von Interesse. hypertensive Wirkung dieser Medikamen- Bei dehydrierten Patientinnen und Pa- Die unterschiedlichen Substanzen inter- tengruppe abschwächen. tienten und bei Personen, die zugleich agieren in unterschiedlichem Ausmaß auch ACE-Hemmer oder Schleifendiure- mit ASS. Für die NSAR Ibuprofen und Bei unterschiedlichen Substanzen aus der tika einnehmen, steigt unter NSAR das Naproxen sowie für Metamizol wurde in Gruppe der NSAR ist die COX-1- und COX- Risiko eines Nierenversagens. Liegt eine experimentellen In-vitro-Untersuchungen 2-Hemmung unterschiedlich stark ausge- Niereninsuffizienz vor, sind NSAR kontra- als Interaktion eine Beeinträchtigung der prägt. Diclofenac beispielsweise hat eine indiziert. thrombozytenaggregationshemmenden ausgeprägte COX-2-Hemmung, was zu Wirkung von ASS gezeigt. Bei Diclofenac, Vasokonstriktion der Arterien und einem Topische NSAR sind lokal begrenzt phar- Paracetamol und opioiden Analgetika erhöhten kardiovaskulären Risiko führen makologisch wirksam, ohne das Risiko tritt diese Interaktion nicht auf. Mögli- kann. Bei Naproxen überwiegt die COX- von Nebenwirkungen wie bei der syste- cherweise lässt sich die Wechselwirkung 1-Hemmung und somit ist die gastrointes- mischen Anwendung. Sie haben daher bei mit ASS verhindern oder abschwächen, tinale Unverträglichkeit vergleichsweise geriatrischen Patientinnen und Patienten indem Ibuprofen, Naproxen oder Metami- stärker ausgeprägt, das kardiovaskuläre zur Behandlung lokalisierter Schmerzen zol zeitlich versetzt nach der ASS-Gabe Risiko aber etwas geringer. Selektive COX- einen Stellenwert, insbesondere bei leich- eingenommen werden. 2-Hemmer zeigen im Vergleich zu unse- ten bis mäßigen Schmerzen, wie auch ein lektiven NSAR eine geringere Inzidenz von Cochrane Review zeigt. Indikationen für 7.2.3. NSAR (COX-1- und COX-2-Hemmer) gastrointestinalen Komplikationen. topische NSAR sind insbesondere akute Nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR) muskuloskelettale Schmerzen. Die meis- sind Substanzen mit einer guten anal- NSAR können das Risiko gastrointestinaler ten topischen NSAR liegen heute in Form getischen, antipyretischen und antiphlo- Blutungen erhöhen. Weiter verstärkt wird von Gelen vor. Wichtig bei der Anwen- gistischen Wirksamkeit und haben ihren dies bei gleichzeitiger Gabe von Antikoa- dung ist zur Optimierung der perkutanen Stellenwert in der Schmerztherapie. Bei gulantien, Kortikosteroiden oder SSRI. Zur Bioverfügbarkeit die großzügige Bemes- geriatrischen Schmerzpatientinnen und Prävention gastrointestinaler Ereignisse sung der aufgetragenen Menge an Gel -patienten ist allerdings wegen möglicher bei NSAR-Gabe sind Protonenpumpen- und der behandelten Fläche. gastrointestinaler, kardiovaskulärer und hemmer (PPI) etabliert. Eine lange The- renaler Nebenwirkungen ein vorsichtiger rapiedauer, eine hohe NSAR-Dosierung, In der Akutschmerztherapie, zum Beispiel Einsatz angesagt. Werden NSAR einge- höheres Alter, Ulcera mit oder ohne Blu- peri- und postoperativ, spielt auch der I.v. setzt, ist eine engmaschige Kontrolle er- tungskomplikation in der Anamnese und Einsatz von NSAR eine Rolle. forderlich. bestimmte Co-Medikationen stellen eine Indikation für PPI dar (siehe Tabelle 6). 7.2.4. Paracetamol Herkömmliche NSAR hemmen unspezi- Das Nichtopioid-Analgetikum Paraceta- fisch COX-1 und COX-2, dies aber je nach Je nach Grunderkrankung sollte also jene mol wird zur Behandlung einer Vielzahl Substanz in unterschiedlicher Ausprä- Substanz aus der Gruppe der NSAR ver- akuter und chronischer Schmerzzustän- gung, während selektive NSAR (Coxibe) wendet werden, die in der individuellen de eingesetzt. Es entfaltet einerseits eine spezifischere COX-2-Hemmung be- Situation das beste Nutzen-Risiko-Profil eine zentrale Wirksamkeit, andererseits wirken. Eine Hemmung der COX-1 im- hat. Präparate mit kurzer Plasmahalb- kommt es peripher zu einer COX-2- pliziert insbesondere gastrointestinale wertszeit werden rascher metabolisiert Hemmung in ähnlichem Ausmaß wie bei und renale Nebenwirkungen sowie eine und eliminiert, mit einem entsprechend NSAR. Bei älteren und betagten Patien- Beeinflussung der Thrombozytenaggre- geringeren Risiko von Nebenwirkungen. tinnen und Patienten ist Paracetamol als gation. Die COX-2-Hemmung kann als Ihnen ist daher in dieser Substanzgruppe First-Line-Therapie bei milden bis mo- unerwünschte Wirkungen Wundhei- gegenüber Retardpräparaten der Vorzug deraten Schmerzen empfohlen. Es ist al- lungsstörungen, Nierenschädigungen zu geben. Es gilt jedenfalls das Prinzip, lerdings zu beachten, dass unter Parace- oder kardiovaskuläre Ereignisse bewir- die geringstmögliche Dosis für die kür- tamol in Abhängigkeit von der Dosis das ken, insbesondere dann, wenn in diesen zestmögliche Zeit zum Erreichen der an- Risiko kardiovaskulärer, gastrointestinaler Organsystemen bereits Vorschädigungen gestrebten Schmerzlinderung zu verord- und renaler Nebenwirkungen steigt. Das bestehen. Bei gleichzeitiger Gabe von nen. Unterschiedliche NSAR sollen nicht Mortalitätsrisiko ist bei langfristiger Ein- ACE-Hemmern können NSAR die anti- gemeinsam eingesetzt werden. nahme hoher Dosierungen erhöht. SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020 11
Die mögliche Lebertoxizität von Parace- zen als Teil eines multimodalen Behand- unerwünschte Wirkungen (Libidoverlust, tamol ist zu beachten, bei Leberinsuffi- lungskonzepts etabliert. psychische Veränderungen wie Interes- zienz ist Paracetamol strikt kontraindi- severlust, Merkfähigkeitsstörungen oder ziert. Bei kachektischen Patientinnen und Wie auch bei anderen Substanzen muss Sturzereignisse) einer Therapie mit opioid- Patienten ist Paracetamol nicht geeignet. die Therapie mit Opioiden grundsätz- haltigen Analgetika bestmöglich hintanzu- Bei Niereninsuffizienz sollte eine Intervall- lich Mechanismus-orientiert erfolgen, sie halten, müssen Wirksamkeit und Neben- verlängerung vorgenommen werden. dürfen also nur bei jenen Schmerzformen wirkungen regelmäßig überprüft werden. zum Einsatz kommen, die auf ihren Wirk- Bei gleichzeitiger Gabe von 5-HT3-Antago- mechanismus ansprechen. Bevorzugt sollten Präparate mit retardier- nisten kann die analgetische Wirksamkeit ter Galenik beziehungsweise langer Wirk- von Paracetamol reduziert sein. Vorsicht Eine alleinige Therapie mit Opioid-An- dauer eingesetzt werden. Opioidhaltige ist auch bei Alkoholabusus und CYP2E1-in- algetika bei chronischen nicht-tumorbe- Analgetika sollten generell nach einem fes- duzierenden Arzneimitteln mit einer da- dingten Schmerzen ist nicht zweckmäßig. ten Zeitplan, abhängig von der Wirkdauer raus resultierenden rascheren Metaboli- Sie sollten im Sinne eines multimodalen des jeweiligen Präparates, eingenommen sierung zu N-Acetyl-p-Benzochinonimin Therapieansatzes mit NSAR bzw. ande- werden. Schnellwirksame Opioide sollten geboten. In Kombination mit Cumarinen ren Nicht-Opioid-Analgetika (Seite 11), bei nicht-tumorbedingten Schmerzen nur kann die Paracetamoltherapie zu einer si- Modalitäten der physikalischen Medizin zur Dosisfindung oder kurzfristig bei star- gnifikanten Verlängerung der INR führen. (Seite 15), psychotherapeutischen Inter- ken akuten Schmerzzuständen eingesetzt ventionen oder Lebensstilmodifikationen werden. Rapid Onset Opioids (ROOs) sind 7.2.5. Metamizol kombiniert werden. bei nicht-tumorbedingten Schmerzen in Das Pyrazolon Metamizol hat eine stärkere keinem Fall indiziert. analgetische Effektivität als Paracetamol Kontraindikationen einer Therapie mit und ist aufgrund seiner spasmolytischen opioidhaltigen Analgetika sind primäre Es hat sich gezeigt, dass ältere Menschen Wirkung bei krampfartigen abdominellen Kopfschmerzen sowie funktionelle und geringere Dosen von Opioid-Analgetika Schmerzen das Mittel erster Wahl. Auch psychische Störungen mit dem Leitsymp- benötigen als jüngere, da die zentral- die antipyretische Wirksamkeit ist von Be- tom Schmerz. nervöse Sensitivität auf Opioide mit dem deutung. Nach der aktuellen Studienlage Alter zunimmt. Die Startdosis sollte bei ist das Interaktions- und Nebenwirkungs- Unbestritten ist, dass opioidhaltige Anal- alten Schmerzpatientinnen und -patien- potenzial von Metamizol als gering anzu- getika eine medikamentöse Therapieop- ten bei allen Opioid-Analgetika niedrig sehen. Das macht die Substanz auch für tion in der kurzfristigen Therapie (4 bis 12 gehalten werden. Aufgrund großer indi- den Einsatz bei älteren und hochbetagten Wochen) von chronischen Schmerzen bei vidueller Unterschiede müssen Opioide Schmerzpatientinnen und -patienten zu Arthrose und chronischen Rückenschmer- immer individuell zum Effekt hin titriert einer interessanten analgetischen Option. zen sind. Bei anderen Krankheitsbildern werden. Die optimale therapeutische Do- ist eine kurz- und langfristige Therapie mit sis ist dann erreicht, wenn die definierten Die durch Metamizol potenziell ausgelös- opioidhaltigen Analgetika als individueller Therapieziele bei geringen bzw. akzep- te Agranulozytose ist in Mitteleuropa ex- Therapieversuch zu bewerten. Eine Lang- tablen Nebenwirkungen erreicht worden trem selten und sollte daher keine Hürde zeitanwendung von opioidhaltigen Analge- sind. Eine Dosis von 120 mg/d orales Mor- für die Verwendung darstellen. Bei län- tika über einen Zeitraum von drei Mona- phinäquivalent soll nur in Ausnahmefällen gerfristiger Anwendung sind jedoch Blut- ten hinaus beim chronischen Nichttumor- überschritten werden. bildkontrollen zu empfehlen. schmerz wird allerdings kritisch diskutiert und muss daher reevaluiert werden. Die im Alter eingeschränkte Nierenfunktion Klinisch relevant ist die Beeinflussung der kann dazu führen, dass aktive nebenwir- antiaggregatorischen Wirkung von ASS Eine Therapie über einen Zeitraum von kungsreiche Metaboliten, wie bei Morphin durch Metamizol (siehe auch Seite 11). drei Monaten hinaus kommt nur bei The- bekannt, schneller akkumulieren. Auch das Eine zeitversetzte Einnahme der beiden rapierespondern in Frage, bei denen das Risiko einer Atemdepression steigt mit zu- Substanzen ist daher sinnvoll. definierte Therapieziel bei geringen bzw. nehmendem Alter. Durch eine engmaschi- tolerablen Nebenwirkungen erreicht wer- ge Kontrolle, die bei Opioidgabe angezeigt Eine Kombination von Metamizol mit ei- den kann. Spätestens nach sechs Mona- ist, kann dieses Risiko reduziert werden. nem NSAR kann wegen der Potenzierung ten sollte die Option einer Dosisreduktion Eine Kontrolle der GFR wird empfohlen. der analgetischen Effektivität zu einer si- oder eines Auslassversuches besprochen gnifikanten Opioid-Einsparung beitragen. sowie überprüft werden, ob weiterhin Ein Vorteil von Opioiden im Vergleich zu Bei Niereninsuffizienz und einer ausge- eine Behandlungsindikation vorliegt. Bei Nichtopioid-Analgetika ist eine fehlende prägten Leberfunktionsstörung ist auch bei fortgesetzter Opioid-Anwendung trotz Organtoxizität in Bezug auf Leber, Niere Metamizol eine Dosisreduktion erforderlich. fehlender Wirksamkeit nimmt das Risiko und Herz-Kreislauf-System. einer nicht bestimmungsgemäßen Ver- 7.2.6. Opioide wendung zu. Bei Nicht-Respondern soll- Eine häufige Nebenwirkung der Opioid- Opioid-Analgetika spielen nicht nur in der te zunächst eine Opioidrotation erwogen therapie ist die Obstipation, die sich nach Behandlung von Tumorschmerzen eine werden, bevor die Therapie mit dieser einigen Tagen einstellt. Daher ist eine bedeutende Rolle, sie sind auch als eine Substanzgruppe ganz abgebrochen wird. präventive Behandlung der Obstipation wichtige Option in der Therapie von chro- Um mögliche Risiken (erhöhte Mortali- vor Beginn jeder Opioidtherapie indiziert, nischen, nicht-tumorbedingten Schmer- tät, Missbrauch und Abhängigkeit) und bei vielen Patienten auch während der 12 SCHMERZ NACHRICHTEN Nr. 1b | Februar 2020
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