FERNE SCHAUPLÄTZE - Brill

 
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5. FERNE SCHAUPLÄTZE

Der Blick auf ferne Schauplätze des Krieges eröffnet einerseits – und exemplarisch – die
Perspektive auf die Kolonial- und Balkanfronten mit ihren medizinisch-politischen
Dimensionen, andererseits auf das Gesundheitselend in den Kriegsgefangenenlagern.
An den kolonialen Fronten war es vor allem der bis zum Kriegsende anhaltende Kampf
in Ostafrika, der symbolisch zugleich für das Ende kolonialer Ausbeutungsfelder des
Zweiten Kaiserreichs steht. Gerade der menschenverachtende Umgang mit der ost-
afrikanischen Bevölkerung und die medizinische Vernachlässigung sowohl der eigenen
Kolonialtruppen als auch der kriegsgefangenen Kolonialsoldaten der Gegnermächte
entzaubert den immer noch vorherrschenden Mythos Lettow-Vorbecks, der mit sei-
nen marodierenden Rückzugbewegungen Ostafrika ausgeplündert und ausgeblutet
zurückließ. Wenn von Medizin und Gesellschaft im Krieg gehandelt wird, muss der
Blick auch auf die oft vergessenen brutalen Soziotope der Kriegsgefangenenlager fal-
len. An ihren Beispielen zeigt sich sowohl im russischen Großreich vor und nach der
Revolution von 1917 als auch in den frontnahen deutschen Ausbeutungslagern im
Westen oder in den Seuchen-Sterbelagern im Herzen des Kaiserreichs, wie Kriegsme-
dizin nicht nur an dieser Aufgabe versagte, sondern letztlich auch als Instrument des
Kriegs gegen Menschen in inhumaner Weise eingesetzt wurde. Der Krieg auf dem
Balkan schließlich instrumentalisierte auch die Medizin als Element eines kaiserlichen
Kulturimperialismus im militärischen Gewand, der auf wirtschaftliche und kulturelle
Vorherrschaft im vorderasiatischen Raum ausgerichtet war. Auch deutsche Mediziner
waren mit ihren Modernisierungsaufgaben in den osmanischen Heeren dieser Mission
verpflichtet. Bestürzt und interessiert zugleich beobachteten sie den Genozid des
Armenischen Volkes, ohne selbst einzugreifen, und verstanden sich als Vorboten eines
siegreichen größeren Deutschlands der Nachkriegszeit.

        5.1 DEUTSCHE ÄRZTE AUF DEM BALKAN UND IN PALÄSTINA

Von eher marginaler Bedeutung scheint heute das militärische Engagement deutscher
und österreich-ungarischer Verbände unter dem Befehl des Osmanischen Reichs1, das
dem Weltkrieg auf der Seite der Mittelmächte im November 1914 beigetreten war. Den
Jungtürken war bereits während der Balkankriege 1912/13 klar geworden, dass das
Osmanische Reich allein schon wegen seiner riesigen Landausdehnung in Vorderasien
und seiner langen Küstenlinien an drei Meeren (Schwarzes, Mittel- und Rotes Meer)
in zukünftigen Kriegen gegen eine Europäische Großmacht nicht würde bestehen
können und von Aufteilungen seines Territoriums bedroht sein würde. Ursprünglich
erst für 1915 geplant erfolgte der Kriegseintritt auf Seiten der Mittelmächte dann be-
reits im November wegen des sich abzeichnenden Stellungskrieges im Westen und der

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320       5. Ferne Schauplätze

Bedrängnis Deutschlands durch einen Zweifrontenkrieg. Warum das Osmanische
Reich letztlich der Koalition der Mittelmächte beitrat – Sympathien Konstantinopels
für England und Frankreich waren durchaus auch vorhanden –, kann hier nicht im
Detail erörtert werden. Eine bedeutende Rolle spielt dabei allerdings sicher, dass die
militärische Kooperation mit Deutschland unter Enver Pascha (1881-1922) bereits
Tradition hatte. Dies galt auch auf dem Gebiet des Sanitätswesens, das besonders
unter bayerischem Einfluss noch vor Kriegsbeginn vollkommen hatte erneuert werden
sollen, was allerdings nicht wirklich gelungen war2. Die deutschen Truppen blieben
während der ganzen vorderasiatischen Militäraktion unter deutschem Kommando,
wobei sich allerdings die deutsche Generalität dem Türkischen Oberbefehl unterzu-
ordnen hatte. Bei Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen 1915 belief sich das
deutsche Truppenkontingent auf etwas über 400 Mann, Ende August waren es bereits
6.000 Soldaten und etwa 600 Offiziere, und bei Kriegsende standen wohl annähernd
25.000 deutsche Soldaten in Syrien und Palästina, in Konstantinopel, Gallipoli und
anderenorts im kleinasiatisch-vorderpersischen Raum. Charakteristisch für die sani-
tätsdienstlichen Leistungen auf allen Kriegsschauplätzen des vorderasiatischen Terri-
toriums von Konstantinopel über Syrien und Palästina bis nach Mesopotamien waren
seuchenhygienische Maßnahmen, für die Sanitätsoffiziere wie Georg Mayer (1871-
1936), Peter Mühlens (1873-1943)3, Viktor Schilling (1883-1960)4, Ernst Rodenwaldt
(1878-1965)5, Heinrich Zeiss (1888-1949)6 oder Wilhelm His (1863-1934)7. Der baye-
rische Hygieniker Georg Mayer war bereits seit 1914 mit der Reorganisation des
türkischen Sanitätsdienstes beschäftigt, mit einer frustranen Sisyphus-Arbeit, die ihn
vollkommen erschöpfte und wegen ihrer erkennbaren Erfolglosigkeit fast in den
Wahnsinn, zumindest aber in zahlreiche unbeherrschte Zornausbrüche trieb. Am 24.
Mai 1914 schrieb er an seinen Vorgesetzten: »Ich bin von China und Indien her gewiß
nicht verwöhnt, eine solche gräßliche Vernachlässigung der Kranken sah ich aber noch
nie: […] ein Raum für 20 Betten […] aber in diesem Raum lagen 118 Mann kreuz und
quer auf dem Boden […] ohne jede Pflege, ich habe 2 Leichen herausholen lassen, die
eine war schon in Verwesung! […] Die Ärzte ließen sich teilweise beurlauben und
überließen die Kranken sich selbst«8.
   Peter Mühlens begleitete seit Dezember 1914 als Leiter einer Marine-Hygieneexpe-
dition den Bau der Feld-Eisenbahn im Sinai zum Sueskanal durch deutsche Pionier-
truppen 1914/15 unter der technischen Leitung von Heinrich August Meißner (1862-
1940). Mühlens arbeitete mit den türkischen Sanitätsstellen daran, die beim Wasser- und
Wegebau in der Wüste auftretenden Infektionskrankheiten wie Rückfallfieber, Fleck-
typhus, Typhus, Abdominal- und Paratyphus, Ruhr und Cholera einzudämmen und
überwachte die Herstellung von Schutzimpfungsstoffen gegen Typhus und Cholera
aus landestypischen Erregerstämmen in Jerusalem. Außerdem beaufsichtigte er Laza-
retteinrichtungen der deutschen Borromäerinnen und der Kaiserswerther Diakonissen
in Jerusalem. Der Kolonialmediziner Ernst Rodenwaldt war 1915 als Stabsarzt von
Flandern als Beratender Hygieniker der V. Türkischen Armee9 in die Türkei komman-
diert worden, wo er das Ende der Kämpfe um Gallipoli miterlebte, um danach deutsch-
türkische Einheiten nach Thrazien und nach Kleinasien zu begleiten. In Smyrna, dem
heutigen Izmir, errichtete er ein hygienisches Laboratorium und unternahm von dort
aus viele Expeditionsreisen ins Innere Kleinasiens. Einige dieser Reisen führten ihn ins
Mäandertal, wo er zusammen mit Heinrich Zeiss, damals sein Assistent, geomorpho-

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5.1 Deutsche Ärzte auf dem Balkan und in Palästina                  321

logische Studien anstellte. Die Ergebnisse wurden 1918 unter dem Titel »Malariastu-
dien im Wilajet Aidin« veröffentlicht. In Smyrna war Rodenwaldt überwiegend mit
der Bekämpfung des Fleckfiebers beschäftigt, das im Winter 1916/17 fast die ganze
Stadt ergriffen hatte. Sein Bericht über die Maßnahmen gegen das Fleckfieber in Smyr-
na sind typisch für den Mischcharakter der militärischen Kampagne, die sich einerseits
auf die Verbesserung der hygienischen Bedingungen durch die Errichtung von Labo-
ratorien, Untersuchungs- und Entlausungsstellen konzentrierte, andererseits aber
auch mit großer Härte in das soziale Leben insbesondere der ärmeren Bevölkerung
Smyrnas eingriff und auf möglichst unerbittliche Segregation der betroffenen Gruppen
in Seuchenlagern ausgerichtet war. Unter Verdacht gerieten prinzipiell zuerst die ar-
men und sozial schwachen Gruppen der Bevölkerung:
     »Unser erster Zugriff galt den Bettlern und Herumtreibern. Wir ließen alles auf den Straßen
     herumlungernde Gesindel durch Truppenpatrouillen in Haufen zu 100 bis 150 Menschen
     zusammentreiben und den Entlausungszügen zuführen, die von nun ab abwechselnd vor-
     und nachmittags für die Zivilbevölkerung arbeiteten«10.
Auf diese Weise wurden vom Winter 1916/17 bis 1918 monatlich durchschnittlich
35.000 bis 45.000 Menschen entlaust11. Wilhelm His, ursprünglich Schweizer, meldete
sich im Spätsommer 1914, deutschnational und kriegsbegeistert, zum Militärdienst
und wurde als Beratender Internist bei der Etappeninspektion VIII eingesetzt. In
dieser Eigenschaft bereiste er bis 1917 fast alle Fronten des Ersten Weltkrieges, unter
anderem die Türkei, Armenien, Syrien und Palästina.
   Ganz im Vordergrund stand auf dem vorderasiatischen Kriegsschauplatz der Kampf
gegen Malaria, Fleckfieber, Thyphus, Cholera, aber auch gegen Geschlechtskrankheiten,
wobei sich besondere Probleme für die deutschen Truppenkontingente im europäischen
Teil der Türkei vor allem im Hinblick auf letztere ergaben. Zeitweilig mussten deutsche
Soldaten in Konstantinopel auf dem Dampfer »Corcovado« untergebracht werden, weil
die »zweifelhafte Unterkunft in Bürgerhäusern sowie die Manneszucht eine […] Über-
wachung nötig machten«12. Gegen die starke Verbreitung von Geschlechtskrankheiten
musste »scharf vorgegangen« werden. Körperkontrollen fanden alle zehn Tage statt, und
»wer fehlte oder geschlechtskrank befunden wurde, wurde bestraft«13. Am gravierend-
sten waren allerdings Malaria- und Fleckfiebererkrankungen, auf die ein Großteil der
deutschen Verluste durch Krankheiten zurückging. Alle deutschen Sanitätsaktivitäten
in Vorderasien waren jedoch immer auch bedeutender Teil deutscher kulturimperialis-
tischer Militärmission, für die 1916/17 besonders Erich von Falkenhayn (1871-1922) als
General der Infanterie und osmanischer Marschall stand. In diesem Sinne verstand auch
das Sanitätskorps seine Aufgaben, wie sich Werner Steuber 1924 erinnerte. Falkenhayn,
so Steuber, der als Sanitätsoffizier in der Türkei tätig gewesen war,
     »ging von dem richtigen Standpunkt aus, daß neben deutschen Schulen die deutsche ärzt-
     liche Kunst in erster Linie dazu berufen sei, erfolgreiche nationale Propaganda für das
     Deutschtum in diesem erst halb der Kultur erschlossenen Lande zu machen«14.
Bei solchen kulturpropagandistischen Vorhaben, die letztlich wirtschaftliche Ziele
verfolgten, wurde durchaus weit über das Ende des Krieges hinausgedacht. In einer
Denkschrift des Beratenden deutschen Chirurgen Dr. Stutzin der V. Türkischen Armee
vom Dezember 1915, die über die Deutsche Botschaft in Konstantinopel das Auswär-
tige Amt in Berlin erreichte, hieß es:

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322         5. Ferne Schauplätze

      »Die Gründung von Krankenhäusern in noch nicht ganz entwickelten Ländern verfolgt
      zunächst ganz humanitäre Ziele […]. Jedoch pflegen sich auch kulturelle und wirtschaftli-
      che Zwecke daran zu knüpfen. […] Es entwickeln sich wechselseitige freundschaftliche
      Beziehungen zwischen den beiden Völkern«15.
Im Grunde befand man sich mit solchen Vorhaben in der Türkei aber auch in Vorder-
asien, etwa Aleppo, Damaskus, Beirut oder sogar in Bagdad, neben den militärischen
Aktivitäten zugleich auf einem kulturpolitischen Kriegsschauplatz, auf dem es galt,
britischem und französischem Kultureinfluss bereits eroberten Boden wieder abzu-
ringen. »Zweifellos«, hieß es in der Denkschrift des Chirurgen weiter, »haben die uns
feindlichen Staaten, besonders England und Frankreich, dieses schon längst erkannt.
Fast jede größere Stadt im Orient weist ein englisches oder französisches Krankenhaus
auf«16. Am gleichen Strang zog auch das preußische Kultusministerium, das 1917 in
einer Denkschrift ans Auswärtige Amt hervorhob, dass mit »besonderem Nachdruck«
alle Bestrebungen daraufhin auszurichten seien, »welche der Medizin einen hervorra-
genden Platz in der Kulturpolitik in der Türkei« anzuweisen in der Lage sei. Solche
Vorhaben seien von größter »Wichtigkeit« für die ganze deutsche »Kulturpolitik im
Orient«17. Türkischerseits blieben solche kulturimperialistischen Pläne nicht unbe-
merkt. Besonders der General und spätere Politiker Djemal Pascha (1872-1922), der
ohnehin nur widerwillig das Bündnis mit dem Deutschen Kaiserreich akzeptiert hat-
te, setzte als Führer der 4. Armee in Syrien und an der Sinaifront den Plänen Falken-
hayns, in Aleppo ein großes deutsches Krankenhaus als dauerhaften kulturellen Vor-
posten im Nahen Osten zu errichten, massiven und letztlich erfolgreichen Widerstand
entgegen18.
   Kulturimperialistische deutsche Pläne der skizzierten Art trugen einerseits den
Stempel eines rassischen Degenerationspessimismus, der der Türkei im Grunde wenig
genuine Entwicklungschancen zusprach; auf der anderen Seite konnten sie auch sie
von einem romantischen Orientalismus geprägt sein, der eher der europäischen Ori-
ent-Malerei des 19. Jahrhunderts entsprach als der realistischen Lageeinschätzung zur
inneren Situation eines Kriegsverbündeten. In beiden Perspektiven spiegeln sich un-
zweifelhaft Herrschaftsdiskurse und Grundauffassungen kultureller Dominanz und
einer tief verwurzelten Ablehnung islamisch geprägter vorderasiatischer Lebensstile;
Haltungen und Diskurse, die bereits im 18. Jahrhundert entstanden waren und bis weit
über das Ende des Ersten Weltkriegs hinaus gelten sollten. Typisch für den Degenera-
tionspessimismus in der Beurteilung des Bündnispartners war die Denkschrift des
bayerischen Generalleutnants Otto von Lossow (1868-1938) über Entwicklungsmög-
lichkeiten in der Türkei (»Gedanken über Reformen in der Türkei«), die die Bayerische
Regierung bereits im Mai 1913 erreicht hatte. Der Zusammenbruch der türkischen
Armee im Balkankrieg, so der seit 1911 bereits als bayerischer Militärinstrukteur in
Konstantinopel tätige Generalleutnant, sei nicht nur als militärische Niederlage zu
werten, sondern zugleich Ausdruck von »Niedergang und Degeneration seit Jahrhun-
derten«. Degeneriert sei das türkische Volk mit seinen in jeder Hinsicht und auf allen
gesellschaftlichen Ebenen »ungeordneten Verhältnissen«19, so der späte Spross einer
märkischen Adelsfamilie aus dem 14. Jahrhundert, vor allem durch »Weiterzucht
schlechter Elemente, durch denkbar schlechte hygienische Verhältnisse, durch Malaria,
Tuberkulose, Syphilis, Cholera, Blattern etc., schlecht entwickelte Muskulatur und
Schwächlichkeit«. Daneben sei der Türke »faul, abgeneigt jeder körperlichen und

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5.1 Deutsche Ärzte auf dem Balkan und in Palästina                   323

geistigen Anstrengung, schmutzig, lügnerisch, ungebildet, unkriegerisch, feige«. Auch
fehle ihm jede »Ahnung von Pflichtgefühl und Mut der Verantwortung oder gar Ver-
antwortungsfreudigkeit«. Er habe keinen »Sinn für Zeit und für den Wert der Zeit«
und sei daher auch »unpünktlich«. Andererseits seien ihm Geduld, Leidensfähigkeit,
»passiver Gleichmut im Ertragen von körperlichen Schmerzen« sowie »orientalische
Unterwürfigkeit und ein angeborener Sinn für Unterordnung« zueigen20. Es verwun-
dert nicht, dass unter dieser Prämisse selbst der im deutsch-türkischen Sanitätskorps
weit verbreitete Antisemitismus in den Hintergrund trat. Im Gegensatz zu vielen
anderen Vertretern des Völkergemenges in der Türkei, so der Hygieniker und baye-
risch-türkische Sanitätsbeauftragte Georg Mayer in einer geheimen Denkschrift im
März 1916 an den Sanitätschef der bayerischen Armee, Generalstabsarzt Karl Ritter
von Seydel, zeichneten sich die »Deutsch-Juden« durch eine »auffallende Verlässigkeit
und Ehrlichkeit« aus. Man könne sie ohne weiteres als »Ordonanzen« einsetzen21. Von
starken rassenideologischen und antisemitischen Zügen geprägt war Ernst Roden-
waldts Rückblick auf seine Zeit in der Türkei. Man müsse bei aller »Kritikasterei«
bedenken, in welch misslicher Lage sich das Land insgesamt befunden habe und noch
befinde:
    »Volkliche Zersplitterung in herrschendes Volk und Fremdvölker; das Herrenvolk keines-
    wegs selbst eine einheitliche Rasse, gerade in den führenden Schichten während des Krieges
    stark durchsetzt mit jüdischem Elemen (Dönme). Auch mit griechischen Renegaten, in der
    führenden Schicht echte Patrioten neben Glücksjägern, ehrliches Wollen häufig verbunden
    mit Halbwissen, später der demoralisierende Einfluß der steigenden Not, im übrigen aus
    der Vergangenheit nicht das Erbe einer Erziehung Friedrichs des Großen, sondern uralter
    Despotenwillkür«22.
Die Arbeit als Hygieniker in einem solchen Land sei nur möglich gewesen, »weil
unsere Arbeit einen Führer hatte, der wie wenige Offiziere ein tiefes Verständnis für
das besaß, was die Hygiene im Kriege bedeutet, den Marschall Liman v. Sanders«23.
   Typisch für den romantischen Orientalismus waren nicht selten ärztliche Äußerun-
gen, die sich auf venerische Gefahren bezogen, die deutschen Soldaten – »kräftig und
jung, […] sexuell ausgehungert« – an jeder Straßenecke der orientalischen Städte auf-
lauerten, so der in Aleppo tätige Militärarzt und Schriftsteller, Theo(dor) Malade
(1869-1947). Überall dort nahe die »Versuchung« in »exotischem, romantischem Ge-
wande« 24. An die Situation in Aleppo (Haleb) erinnerte sich 1940 auch Werner Steu-
ber (1862-1944) in einer Mischung aus romantischer Verklärung und Abscheu:
    »Und wenn ich hier in Haleb gegen Abend über den Markt gehe, begegnen mir auf Schritt
    und Tritt halbverschleierte Damen, levantinische Schönheiten, die durch den Schein des
    Geheimnisvollen unseren erfahrenen Soldaten so gefährlich werden. […] Türkinnen und
    Levantinerinnen, gelbhäutige Zirkassierinnen, braune Jüdinnen, schlankfesselige Araberin-
    nen mit brennenden Augen, aus allen Teilen des Balkans, aus Ägypten und Nordafrika,
    brünette, blonde, tiefschwarze – eine Völkerkarte, alle gezeichnet vom Laster, laut schwat-
    zend, lachend, gestikulierend, führt man mich durch einen der dunklen, nach dem Innern
    führenden Gänge. […] Aus einer der Höhlen klingt arabische Musik, […] in dem halbdunk-
    len Raum eine wüste Orgie: Türken, Araber, halbnackte Mädchen rasen dort zu dem auf-
    reizenden Diskant einer arabischen Gitarre in sinnlosem Bacchanal. Die gangbare Münze
    ist hier Hartgeld, Papier gibt’s nicht, aber auch Chinin steht hoch im Wert. Das also ist der
    Sumpf, indem der Tor Gefahr läuft, alles zu vergessen, Ehre, Zucht, Heimat und Familie.

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324         5. Ferne Schauplätze

      Was nützen alle Belehrungen, Warnungen, Strafe? Vernunft und Ehrgefühl werden zu
      Schemen, wenn Bacchus und Venus die Sinne blenden«25.
Typisch für die Spannungen zwischen der türkischen Armeeführung und dem deutsch-
österreichischen Offizierskorps in Vorderasien spätestens Anfang 1917 und bedingt
durch die schwierige militärische Lage an der im südlichen Palästina gelegenen Front-
linie zwischen Chan Yunis (südl. Gaza) und Be’er Sheva (Beersheba), die kaum noch
gegen britische Einheiten gehalten werden konnte, sind strategisch-geopolitische Ge-
dankenspiele hinsichtlich einer künftigen Neuordnung des gesamten vorderasiatischen
Großraumes, an denen sich sogar Sanitätsoffiziere – unaufgefordert – beteiligten. So
verstieg sich etwa der bei Beersheba eingesetzte Stabsarzt der k. u. k. Sanitätsanstalten
für Syrien und Ballonfahrer, Dr. phil. Dr. med. Hermann von Schrötter (1870-1928),
nach einem dramatischen Bericht über den massiv anwachsenden Druck britischer
Einheiten auf die nahe Frontlinie in bemerkenswerte Überlegungen, die er dem k. u.
k. Militär-Bevollmächtigten in Jerusalem am 21. Januar 1917 zukommen ließ. Pikant
war dabei auch, dass Schrötter in seinem Brief offensichtlich ähnliche Überlegungen
des deutschen Generals Kress von Kressenstein wiedergab, mit dessen Einheiten die
österreich-ungarischen Truppen zu diesem Zeitpunkt unter gemeinsamem Komman-
do operierten:
      »Ich habe in meinem letzten Elaborate schon angedeutet, dass die Deutschen durchblicken
      lassen, dass es am besten wäre, sich aus Palästina zurückzuziehen bezwse. blos [!] den
      Schwerpunkt auf Anatolien und die Bagdadbahn zu verlegen und sich hinsichtlich des
      persischen Golfes mit Russland zu verständigen. Um freie Hand in der Türkei zu bekom-
      men, oder dieses pro futuro fallen zu lassen, um damit ein wertvolles Instrument für den
      Frieden zu gewinnen, müsste im diplomatischen Wege ein Anlass gefunden werden. Und
      in dieser Richtung hörte ich die folgende Idee: Der Türkei ein solches Anerbieten zu ma-
      chen, das diese sicher ablehnen würde, wie im Besonderen die Entsendung einer Armee von
      100-200000 Mann an die Bagdadlinie zur Beseitigung des russischen Druckes vom Norden
      und der englischen Pression vom Süden her. […] Immer deutlicher tritt von rein prakti-
      schem Standpunkte aus hervor, wie für die Erreichung des Weltfriedens eine Opferung der
      Türkei, eine Aufteilung derselben eigentlich das Zweckmässigste wäre: Byzanz den Bulga-
      ren, die Dardanellen frei für Russland, deutscher Einfluss in Anatolien und an der Bagdad-
      bahn, Persien an Russland und Verständigung Russlands mit uns gegen die Engländer im
      persischen Golfe – Syrien dagegen bis nach Aleppo unter englischem bezwse. englisch-
      französischem Einflusse«26.
Solche Überlegungen standen zweifellos einem Sanitätsoffizier nicht zu und blieben
daher auch unbeantwortet. Sie reflektieren jedoch, wie aussichtslos die Lage in Pa-
lästina und damit an der gesamten vorderasiatischen Front bereits im Februar 1917
eingeschätzt wurde. Am 28. Juni 1917 wurde Feldmarschall Edmund Allenby (1861-
1936) zum Kommandeur der britischen Truppen in Ägypten, der Egyptian Expedi-
tionary Force (EEF), ernannt und begann mit einer erfolgreichen Offensive gegen
die osmanischen und den ihnen unterstellten österreich-ungarischen und deutschen
Truppen an der Palästinafront. Von ihm wurde der letzte erfolgreiche Kavalleriean-
griff der Geschichte am 31. Oktober 1917 bei der Eroberung von Beerscheba geführt.
Am 7. November nahm Allenby Gaza, das von Kress von Kressenstein stark befes-
tigt worden war. Daraufhin brach der osmanische Widerstand zusammen und Al-
lenby konnte am 16. November Jaffa und am 9. Dezember Jerusalem erobern. Damit

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5.2 Medizin und Kolonialkrieg               325

war letztlich auch das Ende deutscher Militärmedizin in dieser Region eingeleitet.
Zurück blieb – auch auf dem Gebiet der Medizin – allenfalls eine begrenzte Freund-
schaft27.

      5.2 MEDIZIN UND KOLONIALKRIEG: CHINA, PAZIFIK, AFRIKA

Eine Geschichte der deutschen Kolonialmedizin28 während des Ersten Weltkriegs hat,
außer in Deutsch-Ostafrika – weder in Westafrika, noch im Pazifik oder auf dem
chinesischen Festland wirklich stattgefunden. Zu schnell gingen die Kolonialgebiete
nach Kriegsausbruch verloren, als dass man überhaupt von einem kolonialen Medizi-
nalsystem in Abwicklung oder im Übergang sprechen könnte. Zwar etablierte sich
hier und dort für kürzere oder auch etwas längere Zeit eine den tropischen Bedingun-
gen wenig angepasste Militärmedizin für Schutztruppenangehörige; die medizinische
Versorgung der Zivilbevölkerung aber löste sich schon wegen der Internierung oder
Repatriierung deutscher Kolonialärzte nahezu überall zugleich mit der Liquidierung
imperialer deutscher Kolonialpositionen personell wie institutionell auf. Ersatz stand
allerdings auch nicht zur Verfügung, denn die erobernden Militärkräfte waren nicht
in der Lage, die ohnehin bereits vor dem Krieg dünn besetzen deutschen Gesundheits-
posten mit eigenem Personal aufrecht zu erhalten. Typisch ist das Schutzgebiet Togo,
das am 27. August 1914 britischen Truppeneinheiten offiziell übergeben, 1916 zwi-
schen Frankreich und Großbritannien aufgeteilt wurde und durch Vertrag von Ver-
sailles 1919 endgültig verloren ging. In der deutschen Distrikthauptstadt Lome konn-
ten die Briten 1914/15 nicht einmal 20 Beamte einsetzen, und im großen Distrikt
Misahöhe, der zumindest in den Jahren 1910-1914 schon aus Gründen der Schlaf-
krankheitsbekämpfung ärztlich immer gut versorgt gewesen war, gab es 1915/16 nur
zwei britische Zivilisten, den District Officer und einen Arzt29, während sich die
Krankheitssituation permanent verschlechterte. In Kamerun30 konnte sich die zahlen-
mäßig und materiell unterlegene Schutztruppe noch etwa zwei Jahre weitgehend mu-
nitionslos umherirrend halten. Die Sanitätsversorgung der Soldaten erfolgte aus Rest-
beständen. Letzte Teile der Schutztruppe wechselten Anfang Februar 1916 auf das
Territorium von Spanisch-Rio-Muni und wurden auf der spanischen Atlantikinsel
Fernando Póo sowie in Spanien selbst interniert. Am 20. Februar 1916 legte auch die
Besatzung der letzten deutschen Kolonialgarnison in Mora (Nordkamerun) die Waf-
fen nieder, nachdem von der britischen Kolonialarmee freier Abzug zugesagt worden
war. In Deutsch-Südwestafrika fanden erste Kampfhandlungen am 13. September statt.
Nach einer Reihe von Gefechten und Scharmützeln gegen Truppen der Südafrikani-
schen Union erfolgte die Übergabe des Schutzgebietes an Südafrika schließlich am 9.
Juli 1915. Der kämpfende Teil der Schutztruppe wurde zunächst in einem Lager bei
Aus interniert und sanitätsdienstlich versorgt; alle Reservisten konnten nach Deutsch-
land zurückkehren. Die Verwaltung der deutschen Kolonie ging in südafrikanische
Militärkontrolle über. Etwa die Hälfte der deutschen Bevölkerung Südwestafrikas
wurde bis zum Juli 1919 repatriiert. De facto ging auch Deutsch-Südwestafrika mit

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326       5. Ferne Schauplätze

dem Versailler Vertrag endgültig verloren. Noch schneller als in Westafrika vollzog
sich der Herrschaftswechsel in den ehemaligen deutschen Besitzungen im Pazifik.
Bereits bald nach Kriegsausbuch im August 1914 besetzten australische Truppen Kai-
ser-Wilhelms-Land, den Bismarck-Archipel, die Salomonen-Inseln und Nauru. Hö-
hepunkt der australischen Kampagne gegen Deutsch-Neuguinea war die Besetzung
der Funkstation Bita Paka bei Rabaul im September 1914. Das Schicksal des deutschen
Kolonialreichs in Neuguinea und Melanesien war mit der Einnahme Simpsonhafens
durch mehr als 3.000 australische Soldaten praktisch abgeschlossen. Einige verspreng-
te Einheiten unter dem Kommando des Hauptmanns der Schutztruppen, Hermann
Philipp Detzner (1882-1970), verbargen sich während langer Märsche durch den Ur-
wald Neuguineas vier Jahre lang ohne regelmäßige Nachrichten aus Europa. Als am
11. November 1918 ein Arbeiter der Neuendettelsauer Mission dem Hauptmann der
versprengten Dschungeltruppe die Meldung vom Ende des ersten Weltkriegs über-
brachte, bot Detzner den Australiern schriftlich seine Kapitulation an. Nach respekt-
voller Behandlung und kurzer Internierung im Lager Liverpool (bei Sydney) kehrte
Detzner 1919 nach Deutschland zurück31. Bis 1922 waren schließlich – bis auf eine
Handvoll Goldsucher – alle deutschen Siedler aus Deutsch-Neuguinea enteignet und
vertrieben. Das deutsche Marinepachtgebiet Kiautschou mit seiner Hafenstadt Tsing-
tau (Qingdao) wurde am 7. November 1914 nach dreimonatiger Belagerung von japa-
nischen Truppen besetzt. Etwa 5.000 Marinesoldaten hatten bis dahin erbitterten Wi-
derstand geleistet, unterlagen aber der Übermacht von 30.000 Japanern. Noch während
des Krieges begann die Japanisierung der ehemaligen kaiserlichen Marine-Kolonie,
und es entstand bald ein Japanerviertel, in dem 1920 bereits 17.597 Japaner lebten. Die
deutschen Verteidiger gerieten in japanische Kriegsgefangenschaft, aus der sie teils erst
1920 entlassen wurden. Wie im Vertrag von Versailles festgelegt verblieb die Kolonie
zunächst in japanischer Hand. Ihre Rückgabe an China erfolgte erst am 10. Dezember
1922.

                            Rückzüge am Indischen Ozean

Eine Ausnahme stellte Deutsch-Ostafrika dar, wo die deutsche Schutztruppe bis 1918
weiterkämpfte, bevor sie sich Wochen nach dem Waffenstillstand in Europa ergab.
Nach dem Krieg sollte dies auch im Hinblick auf die ununterbrochene Sanitätsversor-
gung der Truppe zur bis heute anhaltenden Legendenbildung in Veteranerverbänden
und nationalkonservativen Kreisen führen. Tatsächlich gelang es der durch Paul von
Lettow-Vorbeck (1870-1964) geführten Schutztruppe bis November 1918 nicht nur,
gegnerische Truppen in Ostafrika zu binden, um sie vom europäischen Kriegsschau-
platz fernzuhalten, sondern sogar den Verlauf des Kolonialkrieges zumindest regional
zu bestimmen und den britischen Truppen in Gefechten bei Tanga (1914) und Mahiwa
(1917) schwere Niederlagen beizubringen. Die englische Gegenoffensive zwang dann
allerdings zum Rückzug in den Süden und schließlich zu chaotischen Ausweichma-
növern über Portugiesisch-Ostafrika und erneut durch den Süden von DOA nach
Rhodesien. Dort ergab sich die Truppe am 25. November 1918. Während der gesam-
ten Kriegszeit wurde die Schutztruppe von ihrem Sanitätskorps unter zum Teil äußerst
behelfsmäßigen Umständen, aber doch letztlich erfolgreich betreut.32 Zu den 36 Sani-

                                                                       Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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5.2 Medizin und Kolonialkrieg                327

tätsoffizieren der Schutztruppe waren bei Kriegsausbruch noch Ärzte der zivilen
Schutzgebietsverwaltung, eine Reihe von Schiffsärzten sowie einige frei Praktizieren-
de, unter ihnen auch mindestens ein Missionsarzt, getreten. Die tatsächliche Personal-
stärke des ärztlichen Sanitätspersonals kann heute nicht mehr ermittelt werden, sie
dürfte aus etwa 60 Mitarbeitern bestanden haben. Die Leitung der Sanitätstruppe lag
zunächst bei Generaloberarzt Hugo Meixner (1863-1935)33, dann bei Stabsarzt Alfred
Stolowsky und in der Schlussphase des Krieges bei dessen Kollegen Max Taute.34
   Ein besonderes Problem bestand in der ausreichenden Versorgung der unter tropi-
schen Bedingungen kämpfenden Truppe mit Chinin. Etwa eine Tonne (1t) dieses für
die Prophylaxe und Therapie der Malaria unerlässlichen Stoffes wurde bis November
1918 verbraucht. Etwa die Hälfte dieser Menge konnte aus der Rinde der im biolo-
gisch-landwirtschaftlichen Institut in Amani angebauten Chinarindenbäume im
Schutzgebiet hergestellt werden. Nach Räumung der Nordbezirke gelangten die Be-
stände über Kilossa auf Initiative des Stabsarztes Max Taute weiter nach Süden und
standen der Schutztruppe bis zum Schluss, wenngleich nur noch als übelschmecken-
der, aber wirksamer Chininsud (»Lettowschnaps«) zur Verfügung35.
   Der Verwundetenabtransport zwischen dem Feldlazarett Totohowu und Tanga
während der ersten Kriegsphase im Norden des Schutzgebietes erfolgte noch prob-
lemlos durch Automobile und Rikschas36. Bei Stoßtrupp- und Sprengkommandos an
der britischen Ugandabahn freilich war die Lage schwierig. Hier kam es durchaus vor,
dass verwundete Askaris zurückblieben, wie sich Lettow-Vorbeck erinnerte:
    »Das Tragen eines Schwerverwundeten von der Ugandabahn durch die ganze Steppe bis zu
    den deutschen Lagern [...] bedeutete daher eine ganz gewaltige Last. Das sahen auch die
    Farbigen ein, und es sind Fälle vorgekommen, wo ein verwundeter Askari im vollen Be-
    wußtsein dessen, daß er rettungslos verloren und den zahlreich vorhandenen Löwen preis-
    gegeben war, nicht klagte, wenn er verwundet im Busch liegengelassen werden mußte
    [...]«37.
Ob auch deutsche Schutztruppenangehörige oder gar Offiziere »liegengelassen« wur-
den, darüber schwieg sich Lettow-Vorbeck aus. Neu war in der Phase des Rückzugs
die Einrichtung von mobilen Lazarettzügen, die in jeweils etwa 60 Trägerlasten die
Ausrüstung eines vollständigen Feldlazaretts enthielten. Wenn keine geeigneten Ge-
bäude vorhanden waren, wurden in kürzester Zeit Grashäuser errichtet, in denen die
Ärzte selbstverständlich auch operierten. Auch Bauchraumeingriffe kamen vor38. Am
Ende der Kämpfe waren noch vier Sanitätsoffiziere, ein Regierungsarzt, drei Apothe-
ker und 11 Sanitätsdienstgrade bei der ostafrikanischen Schutztruppe. Gefallen waren
die Stabsärzte Schumacher, Mohn und Fickert sowie der Bakteriologe Wölfel. Stabs-
arzt Carl Neubert hatte ein Elefant getötet, gestorben waren die Stabsärzte Barthels
und Göttsche sowie der Marineoberassistenzarzt d. R. Oehme39.
   So weit die offizielle deutsche Überlieferung zu den Leistungen auch der Sanitäts-
truppe Lettow-Vorbecks in Ostafrika40. Es ergeben sich indes bislang kaum beant-
wortete Fragen nach der Realität des Schutztruppengebahrens in Deutsch-Ostafrika
zwischen 1914 und 1918. Der Erfolg des ostafrikanischen Kriegsunternehmens war
maßgeblich mit den Trägerleistungen der Askari-Truppe verknüpft. Durch den Zu-
sammenbruch der deutschen Kolonialverwaltung dürften wesentliche Bindungsele-
mente dieser Truppe an die Kolonie insgesamt verloren gegangen sein, so dass auch
hierdurch ein beständiger Schwund dieser indigen zusammengesetzten Truppe er-

                                                                        Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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328         5. Ferne Schauplätze

klärt werden muss. Die Männer wurden viel seltener verwundet zurückgelassen und
dem Fraß der Schakale oder Löwen preisgegeben, vielmehr brachten sie sich in ihren
Dörfern in Sicherheit. Viele von ihnen waren ohnehin nicht freiwillig der Schutz-
truppe beigetreten. Der Umstand, dass spätestens seit 1917 im Sinne einer perma-
nenten und totalen Mobilmachung41 kontinuierlich Askaris dieser militärischen
Formation neu rekrutiert und angegliedert werden mussten, um die Fortexistenz der
Truppenkontingente zu sichern, verdeutlicht dies. Dabei gingen die deutschen Of-
fiziere und Mannschaften Lettow-Vorbecks nicht zimperlich, sondern im Gegenteil
auf äußerst brutale Weise in Sklaven-Jäger-Manier vor, wie der Vorsteher des St.
Andrew’s College auf Sansibar, Ernest F. Spanton (gest. 1936) im Januar 1917 zu
Protokoll gab:
      »Many of the German askaris, and practically all porters, required for transport, were rec-
      ruited by the following simple process: Parties of soldiers were sent out into the villages
      (they were generally timed to arrive at night, when the people of the village were likely to
      be caught in bed) to seize all young men. They fastened them together somewhat in the
      fashion of the Arab slave raiders of older days, and drove them to the nearest fort. They
      were confined in the fort, or more frequently in a camp, and were told that any attempt to
      escape would be punished with death«42.
Auf diese Weise eingeschüchtert wagte kaum einer der frisch rekrutierten Lettow-
Vorbeck-Sklaven die Flucht. Waren die Opfer solcher Menschenfangaktionen erst
einmal in das System der Zwangsarbeit für die Truppe eingebunden, wurden die mas-
siven Einschüchterungsmaßnahmen durch körperliche Gewalt fortgesetzt. Besonders
übel erging es dabei den eingeborenen Lastenträgern:
      »The porters engaged in transport work were consistently treated with the greatest bruta-
      lity. When a man fell exhausted under the weight of his load, he was flogged until he stag-
      gered to his feet and stumbled on again. Those who were too weak to do this were shot as
      they lay«.
Dabei scheinen sich zumindest einige der deutschen Offiziere der Unmenschlichkeit
ihres Handelns bewusst gewesen zu sein, wie aus einem in Ruanda in der Eile des
Rückzuges vor den dort eintreffenden belgischen Kontingenten zurückgelassenen
Brief hervorgeht: »Our Road is paved with the corpses of the natives we have been
obliged to kill«43.
   Anders als in der Phase der Rückzugsgefechte des Lettow-Vorbeckschen Afrika-
Korps 1918 wurden zu Beginn der Auseinandersetzungen mit den Britischen Invasi-
onstruppen in Deutsch-Ostafrika auch noch Kriegsgefangene eingebracht und zivile
britische Missionsangehörige interniert. Besonders brutal und gegen alle Kriegskon-
ventionen wurden dabei die Angehörigen indisch-britischer Kolonialtruppen behan-
delt, wie Spanton nach Berichten des indischen Arztes der Tanga-Truppe im Januar
1917 zu Protokoll gab:
      »Muhamad Din, an Indian doctor, who had been with the Tanga force, complained to me
      bitterly of the ill-treatment of his men, of the poorness and insufficiency of the food which
      was supplied to them, and of the refusal of necessary drugs in cases of illness. The very high
      death-rate in the Indian camp was attributed by him to German brutality and neglect. On
      many occasions the British prisoners were witnesses of the ill-treatment of Indians, both
      by the German officers and the native guard«44.

                                                                              Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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5.2 Medizin und Kolonialkrieg               329

Von etwa 400 indischen Kolonialsoldaten, die in einem Lager bei Tabora festgehalten
wurden, sollen beim Eintreffen belgischer Truppen dort weniger als 100 noch am
Leben gewesen sein45. In einem Inderlager bei Handeni (Tanga-Bezirk) wurden meh-
rere Hundert indische Kolonialtruppen trotz zum Teil schwerer Verwundungen zur
Arbeit gezwungen, wobei sie von afrikanischen Schutztruppenangehörigen mit Ge-
wehren, Bajonetten und Kibokos (Peitschen) misshandelt wurden. Selbst auf dem Weg
ins Hospital kam es zu Auspeitschungen, wie der Missionsangestellte John Thomas
Williams (University Mission, Mbuzi) unter Eid zu Protokoll gab46. Ähnlich schlecht
erging es auch der indigenen deutsch-ostafrikanischen Bevölkerung, die die Lettow-
Vorbeck-Schutztruppe bei britischen Missionseinrichtungen angetroffen und gefan-
gen genommen hatte. Auspeitschungen mit der Nilpferdpeitsche waren hier an der
Tagesordnung, wenn es zu Kollaborationsverweigerungen kam. Bei fortgesetzter Wei-
gerung konnten die Strafen über Nahrungsentzug, Ankettung bis hin zu Gefängnis-
aufenthalten eskalieren, für die Gebühren (3 Rupien pro Monat) zu entrichten waren.
Bei Zahlungsunfähigkeit drohte Zwangsarbeit. Neben Flucht oder Arbeitsverweige-
rung ging es in häufigen Verhören mit den indigenen Missionsangehörigen auch immer
wieder um die Frage, ob durch Heliographie und einfache Spiegelreflex-Signale Kon-
takt zu den britischen Invasionstruppen hergestellt worden war. Nachweisen ließ sich
dies in keinem der Fälle, denn die Verhörten blieben auch unter Androhung schwers-
ter Sanktionen standhaft.
   Bei den weißen britischen Zivilgefangenen handelte es sich überwiegend um Missi-
onare und ihre Frauen, für die Hütten, Verschläge, kleinere Camps und ein einem Fall
sogar ein etwas größeres Concentration Camp zur Unterbringung errichtet wurden47.
Zu körperlich gewalttätigen Übergriffen kam es hier nur gegenüber Männern, während
gegen Frauen massiv verbale Gewalt ausgeübt wurde. Besonders tat sich bei solchen
Aktionen ein deutscher Zivilaufseher namens Dorrendorf hervor, der auch als Kom-
mandant des genannten Konzentrationslagers in Kiboriani (Dodoma Hochland) fun-
gierte, für das man ein Sanatorium der Curch Missionary Society in German East Af-
rica enteignet und umgewidmet hatte. Dorrendorfs Spezialität, den die Zivilgefangenen
beiderlei Geschlechts als misogynen und tobsüchtigen Alkoholiker fürchten lernten,
waren Bloßstellungen und Ehrverletzungen seiner Gefangenen. Dabei verfolgte er
allgemein die Methode, gefangene weiße Zivilisten zu kleineren Arbeiten zu zwingen
und sie unter die Aufsicht indigener Soldaten oder Polizeikräfte zu stellen. Im Men-
talitätskontext zweier durch und durch kolonialrassistischer Nationen war dies eine
der schlimmsten Herabsetzungen überhaupt. Gelegentlich kam es besonders abends
bei Gelagen des Kommandanten Dorrendorf zu Todesdrohungen gegen Missionsge-
fangene, wenn sich diese wegen des bacchantischen Lärms vor dem Gefangenenlager
in ihrer Nachtruhe gestört fühlten und beschwerten. Immerhin waren sie ja tagsüber
zu Märschen und Zwangsarbeit verpflichtet. Eine spezielle Eigenart im Gewaltspek-
trum Dorrendorfs waren verbale und andere Übergriffe auf Missionarsfrauen, die er
Unterwäsche und Socken für Askaris stricken ließ oder ihnen gelegentlich stunden-
lang, auch während der Menstruation, den Besuch der Toiletten verbot, um ihnen dann
schließlich afrikanische Wachen, Männer selbstverständlich, mitzugeben. Gerne wur-
den auch von Dorrendorf persönlich die Gepäckstücke der Missionsfrauen geöffnet
und deren Unterwäsche unter allgemeinem Gelächter der indigenen Wachmannschaf-
ten in die Höhe gehalten. Gesundheitsfürsorge für die Gefangenen gab es so gut wie

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330       5. Ferne Schauplätze

keine; Krankheiten des Magendarmtraktes und der Haut aber häuften sich, besonders
wegen der katastrophalen Ernährung und der extrem unhygienischen Zustände in den
Lagern48. Vorherrschend waren dabei bei etwa 30% der Internierten Malaria oder das
gefürchtete »Schwarzwasserfieber« als Ausdruck schwerster Malariaentgleisung mit
Leber- und Nierenschädigung. Chinin allerdings war schon für die deutsche Schutz-
truppe knapp und wurde daher nur in Einzelfällen an Internierte abgegeben und ge-
legentlich bei schwersten Fällen wegen der Aussichtlosigkeit einer einmaligen Gabe
sogar verweigert. Als im Dezember 1915 eine schwere Typhusepidemie im Kriegsge-
fangenenlager Kilimatinde ausbrach, schickte die Schutztruppe einen Arzt für kurze
Zeit. Einer eigenen Krankenschwester der University Mission ließ man freie Hand,
sich um Gefangene zu kümmern49.
   Zweifellos waren die britischen Drucksachen, die zur Vorlage im House of Parlia-
ment aus Zeugenbefragungen – teilweise unter Eid – zusammengetragen wurden, Teil
der großen Propagandaschlacht um die Behandlung von Kriegsgefangenen, die seit
Beginn des Krieges insbesondere zwischen Großbritannien und Deutschland tobte.
Auch wurden die Berichte mit geringer zeitlicher Verzögerung gern von der englisch-
sprachigen Presse aufgegriffen und zu eigenen Artikeln umgearbeitet50. Andererseits
muss man bei der Lektüre den Eindruck gewinnen, dass die Berichte sorgfältig und
nachprüfbar zusammengestellt und bis in die Sprache der Zeugenaussagen gelegentlich
sogar zurückhaltend formuliert und insgesamt ausgewogen wirken. Ihr Quellenwert
ist daher auf keinen Fall von vornherein gering zu schätzen.
   Der Spuk der Lettow-Vorbeck-Schutztruppe, die weniger heldenhaft als marodie-
rend durch Ostafrika bis zu ihrer Flucht nach Rhodesien zog, und Streckung der
verbliebenen Waffen am 25. November 1918 südlich des Tanganjika-Sees, verflog
schnell; die Narben aber blieben. Heftig umkämpfte Gebiete waren schwer verwüstet
worden, arbeitsfähige Männer versklavt und unter Lastarbeit körperlich bis zum Tod
– häufig durch Erschießen – verbraucht, Lebensmittel geraubt worden. Große Teile
der Bevölkerung in den Kampfgebieten gingen an Hunger und Krankheiten zugrunde.
Alles in allem dürften die gewaltsamen Zwangsrekrutierungen für den Munitions- und
Materialtransport durch die oft unwegsamen Regionen Deutsch-Ostafrikas mindes-
tens 100.000 Opfer allein unter den Trägern Lettow-Vorbecks das Leben gekostet
haben. Die Folgen sollten wie nach dem ersten großen deutschen Massaker bei der
Niederschlagung des Madji-Madji-Aufstandes 1905 mit ca. 300.000 Toten auch demo-
graphisch noch Jahrzehnte spürbar bleiben.

                                 Lufteinsätze im Zeppelin

Für ein abenteuerliches Kuriosum am Rande der Ereignisse in Deutsch-Ostafrika
zeichnete Maximilian Zupitza verantwortlich, der das Schutzgebiet 1913 als Ober-
stabsarzt verlassen hatte. Zupitzas Vorschlag, mit einer kleinen Expedition in einem
munitionsbeladenen Zeppelin »als Blockadebrecher nach dem Kampfgebiet im süd-
lichen Teile von Deutsch-Ostafrika auszufahren«, entsprach das Kommando der
Kaiserlichen Schutztruppen im Reichskolonialamt 1917. Mit einer Ladung von vier
Eisenbahnwaggons an Bord, darunter 311.000 Patronen, 30 Maschinengewehre und
große Mengen Sanitätsmaterial, wurde das Luftschiff L59 in einer 28-stündigen Fahrt

                                                                       Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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5.2 Medizin und Kolonialkrieg               331

nach Jambol in Bulgarien, dem deutschen Zeppelinstützpunkt auf dem Balkan, über-
führt51. Mit Kurs Adrianopel, das Schwarze Meer umgehend, startete es von dort am
21. November 1917 um 5:00 Uhr früh zunächst nach Konstantinopel, stieß auf das
Mittelmeer vor und fuhr dann, zeitweilig begleitet von deutschen Fliegern, von Smyr-
na über Kreta zur nordafrikanischen Küste. In 1.000 Metern Höhe ging es in langsa-
mer Fahrt über die libysche Wüste und über den Sudan immer dem Nil entlang in
Richtung Süden. Tatsächlich gelang es, das Luftschiff – wenn auch mit erheblichen
Schwierigkeiten und auf Umwegen – bis westlich Chartum zu fahren, als die Aben-
teurer ein Funkspruch mit dem Befehl zur Rückkehr erreichte. Das als Zielgebiet
ausgewählte Makonde-Hochland war inzwischen von Engländern besetzt; die Reste
der Schutztruppe selbst hatten allerdings noch nicht kapituliert. Da unter solcher
Voraussetzung »einer Fortsetzung der Fahrt« von diesem Moment an »nur noch eine
rein sportliche Bedeutung zugekommen« wäre, so Oberstabsarzt Zupitza, habe man
den Gedanken »an eine Weiterfahrt nach dem Kampfgebiet auf eigene Verantwortung
unterdrückt und schweren Herzens zur Rückfahrt gewendet«.52 Die Munition wur-
de abgeworfen und detonierte in der Wüste. Man hätte die Restkontingente der
Lettow-Vorbeck-Truppe allerdings auch bei einer Fortsetzung der Fahrt weder er-
reichen noch finden können. Die letzte Schlacht mit den Briten war so verlustreich
gewesen, dass man sich zur Aufgabe selbst der Feldlazarette entschloss und in den
Süden der Kolonie zurückzog. Am 25. November überschritt die Truppe mit ihren
verblieben Ärzten den Rowuma und befand sich damit auf portugisischem Koloni-
algebiet. Am selben Tag hatte auch die L59 nach einer Fahrt von 95 Stunden wieder
ihren bulgarischen Hafen erreicht. Wenige Monate später wurde das Luftschiff am 7.
April 1918 über der Straße von Otranto von einem englischen Zerstörer oder von der
italienischen Küstenartillerie abgeschossen. Das deutsche Unterseeboot U53 suchte
im vermuteten Seegebiet des Absturzes vergeblich nach überlebenden Besatzungs-
mitgliedern.

               Tropenmedizin und Kolonialrevision nach Versailles

Nach dem Verlust der deutschen Kolonialgebiete durch den Vertrag von Versailles
haben kolonialrevisionistische Tendenzen und Ziele die Entwicklung der deutschen
Tropenmedizin, die sich ihres peripheren Erprobungsgeländes beraubt sah, durch die
Weimarer Republik und durch die Zeit des Nationalsozialismus ständig begleitet. Sie
lassen sich mühelos in großer Zahl und in vielen deutschen tropenmedizinischen Pu-
blikationen zwischen 1919 und 1945 nachweisen. So selbstverständlich, wie die Rück-
forderung der durch Versailles de jure verlorengegangenen »Schutzgebiete« im Sinne
eines quasi regierungsamtlichen kolonialen Revisionismus53 fest zur Außenpolitik der
Republik von Weimar gehört hatte, so selbstverständlich war sie nach 1933 auch Be-
standteil der nationalsozialistischen Rückeroberungsprogrammatik und politisches
Wunschziel der deutschen Tropenmedizin jener Zeit. Es liegt auf der Hand, dass ge-
rade diese eher marginale medizinische Disziplin eine derart hohe Affinität zu jenem
Aspekt deutscher Außenpolitik aufwies. Dies war einerseits dadurch begründet, dass
der Vertrag von Versailles der deutschen Tropenmedizin für Praxis und Forschung
wichtige Erprobungsfelder entzogen hatte. Andererseits war die deutsche Tropenme-

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332       5. Ferne Schauplätze

dizin bis 1914 eben wesentlich Kolonialmedizin gewesen, hatte also unmittelbar im
Dienste des deutschen Kolonialimperialismus gestanden. Hinzu kam, dass der von den
Siegermächten erhobene Vorwurf mangelnder kolonisatorischer Befähigung des Kai-
serreichs gerade die sich höchst erfolgreich wähnende deutsche Tropenmedizin, die in
Wirklichkeit über weite Strecken als experimentierende Forschungsmedizin auf ihre
Weise brutal die indigene Bevölkerung ihrer Schutzgebiete ausgebeutet hatte, emp-
findlich traf. Das gemeinsame Mühen um die Widerlegung dieser Vorwürfe, um ihre
Entlarvung als unberechtigte koloniale »Schuldlüge« – ein emotionsbeladener, fast
mystischer Begriff der frühen Kolonialrevision54 – dürfte fraglos ein zusätzliches Iden-
tifikations- und Solidarisierungselement gebildet haben; es war zugleich ein nicht
unwesentliches Charakteristikum des Weimarer »Revisionssyndroms« und muss frag-
los vor dem Hintergrund des als »Diktat« und tiefe staatsrechtlich-moralische Ernied-
rigung empfundenen Friedensschlusses von Versailles gesehen und als Versuch einer
moralischen Revision gewertet werden. Auch der internationale Boykott deutscher
Wissenschaft in den ersten Nachkriegsjahren spielt in diesem Zusammenhang sicher
eine Rolle. Waren die staatsrechtlichen Konsequenzen der Kriegsniederlage und des
mit ihr verbundenen Kolonialverlustes schon nicht kurzfristig aufzufangen, so schien
es, wie der Marburger Historiker Peter Krüger herausgestrichen hat, um so wün-
schenswerter, »bei aller Ohnmacht nicht auch noch moralisch in einer ungünstigen
Position zu bleiben«. Deshalb griffen Reichsregierung und Politiker verstärkt auf die
großen künstlerischen und wissenschaftlichen Leistungen, auf die bedeutende kultu-
relle Tradition Deutschlands zurück, betonten [...] die Bedeutung dieser Tradition für
die zu verwirklichenden Fortschritte in den internationalen Beziehungen und began-
nen eine lebhafte »Propaganda mit den großen Beiträgen Deutschlands zur Entwick-
lung der modernen Welt«.55
   Unter den ehemaligen Kolonialärzten, die sich bereits im Oktober 1919 unter Füh-
rung von Claus Schilling zum Verband deutscher Kolonial- und Auslandsärzte zusam-
mengeschlossen hatten, »um deutscher Arbeit, deutscher Wissenschaft die verlorene
Geltung in der Welt wieder zu schaffen«56, hat sich besonders der ehemalige Regie-
rungsarzt in Kamerun und Togo, Ludwig Külz, engagiert. In einem kämpferischen
Aufsatz des Jahres 1919 über »kolonialärztliche Kulturarbeit«57 setzte sich Külz mit
dem ihm gerade ärztlicherseits völlig unverständlichen Vorwurf mangelhafter Kultur-
arbeit auseinander. Külz gab sich erstaunt, dass die Siegermächte mit der »Eingebore-
nenbehandlung« gerade »das Gebiet« der deutschen Kolonialpolitik »nach Material
durchwühlten«, auf dem man »am wenigsten einen Angriff zu erwarten« geglaubt
habe, »während umgekehrt für sie selbst gerade dort in den Augen der ganzen Welt
ihre schwächste Stelle« liege.58 Seine Wortmeldung in der Deutschen Medizinischen
Wochenschrift sei daher ganz generell »der Verleumdungsabwehr der Kulturarbeit
deutscher Ärzte in den Kolonien« gewidmet und müsse als »Beitrag zur Bekämpfung
der kolonialen Schuldlüge« aufgefasst werden. Bemerkenswert ist der Versuch des
ehemaligen Regierungsarztes, in seiner Epikrise deutscher Kolonialarbeit die »Pers-
pektiven von der ökonomischen auf die humane zivilisatorische Seite der Kolonisati-
on« zu verschieben und so unter Zuhilfenahme der kolonialmedizinischen Argumen-
tation eine an »humane Prinzipien gebundene Rechtfertigungsideologie« (K. Hausen)
für die Kolonialpolitik insgesamt zu entwickeln.59 Kolonisieren sei für deutsche Ko-
lonialärzte immer auch »Missionieren im weitesten Sinne des Wortes« gewesen, »nicht

                                                                      Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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5.2 Medizin und Kolonialkrieg                333

nur als Sendboten des Christentums hinauszuziehen, sondern als Mitarbeiter zur
wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung« des kolonialen »Neulandes« sei ihr
Ziel gewesen. Hierbei sei dem Arzt wie kaum einem anderen Kolonialbeamten eine
»Vermittler«-Stellung zugefallen, und nie habe dieser bei der Erfüllung seiner »Berufs-
pflichten [...] Rassen- oder Nationalitätsunterschiede gelten lassen«, sondern immer
seine Arbeit als »Dienst an der ganzen Menschheit aufgefaßt und erfüllt«.60 Gerade
die »Eingeborenenfürsorge« sei entgegen allen englischen und französischen Darstel-
lungen »die am gründlichsten in Angriff genommene koloniale Kulturarbeit« gewesen,
habe sich doch zur »sittlichen Pflicht« auch die Erkenntnis gesellt, dass »die Farbigen
›das wirtschaftlich wertvollste Aktivum‹ waren, ›das organische Stammkapital‹, das es
zu erhalten und zu mehren galt. Deutschland, das unbestritten im heimischen Arbei-
terschutz an der Spitze marschierte, sollte das entsprechende Gebiet in seinen Kolo-
nien vernachlässigen? Im Gegenteil hatte es auch hier in letzter Zeit die Führung er-
reicht. Regierung, Missionen und selbst Handelsfirmen hatten untereinander
wetteifernd die Hebung der Neger in ihr Programm aufgenommen«.61 Es ist schwer
vorstellbar, dass der Verfasser von dieser Darstellung der ärztlichen und kulturellen
Arbeit in den ehemaligen deutschen Schutzgebieten selbst überzeugt war. Den kolo-
nialen Realitäten entsprach sie jedenfalls nicht. Gerade Külz dürfte als einem der
überzeugtesten Verfechter ärztlicher Mitwirkung an der ›kolonialen Menschenöko-
nomie‹ klar gewesen sein, dass sich auch hinter seiner Beschreibung der kolonialen
Situation nicht das karitative oder kulturelle Interesse am »Farbigen«, sondern die
wirtschaftliche Produktivität der Kolonien im alleinigen Interesse der Kolonialmacht
mehr schlecht als recht verbarg.

                                      Germanin

Exemplarisch eignet sich die Endeckungs- und Erprobungsgeschichte des Medika-
ments »Germanin« gegen die afrikanische Trypanosomiasis (Schlafkrankheit) zu einer
Skizze über die Rolle der Medizin im kolonialrevisionistischen Kontext nach Ver-
sailles. Als außerordentlich glücklicher Umstand wurde vor dem Hintergrund des als
Unrecht empfundenen »Raubes« der deutschen Kolonialgebiete die Entdeckung eines
neuen, ungiftigen Schlafkrankheitsmedikamentes durch Heymann, Kothe und Dressel
in den Laboratorien der Leverkusener Bayer-Werke gewertet, die bereits 1916, also
noch während des Krieges, erfolgt war. Tierexperimente mit dieser neuen aromatischen
Harnstoffverbindung, die die Bezeichnung »Bayer 205« trug, belegten bald die Wirk-
samkeit des Präparates bei schlafkranken Rindern; als dann Mühlens und Menk im
Hamburger Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten 1921 einen ersten Fall mensch-
licher Schlafkrankheit mit dem neuen Präparat heilen konnten, schien der Erfolg si-
cher. Man würde in der Lage sein, die alten zwar wirksamen, aber wegen ihrer Arsen-
und Antimonhaltigkeit auch hochtoxischen Schlafkrankheitsmittel durch das neue
hocheffektive und nahezu begleitwirkungsfreie Präparat zu ersetzen. Dieser wichtige
Erfolg rückte zum ersten Mal die Möglichkeit in greifbare Nähe, eine der gefährlichs-
ten Protozoenerkrankungen des zentralafrikanischen Gürtels wirkungsvoll zu be-
kämpfen und zugleich der Welt zu demonstrieren, dass an der Fähigkeit zu kolonisie-

                                                                      Wolfgang U. Eckart - 9783657756773
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