Rechte haben - Recht bekommen - Das Menschenrecht auf Zugang zum Recht Beate Rudolf

Die Seite wird erstellt Jörn Seifert
 
WEITER LESEN
Essay

        Rechte haben –
        Recht bekommen
        Das Menschenrecht auf
        Zugang zum Recht
        Beate Rudolf
Impressum                                      Die Autorin
 Deutsches Institut für Menschenrechte          Prof. Dr. iur. Beate Rudolf ist Direktorin
                                                des Deutschen Instituts für Menschen-
 Zimmerstr. 26/27                               rechte in Berlin.
 10969 Berlin
 Tel.: 030 25 93 59 - 0
 Fax: 030 25 93 59 - 59                         Das Institut
 info@institut-fuer-menschenrechte.de
 www.institut-fuer-menschenrechte.de            Das Deutsche Institut für Menschenrechte
                                                ist die unabhängige Nationale Menschen-
                                                rechtsinstitution Deutschlands. Es ist
                                                gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten
 Satz:                                          Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den
 Wertewerk - Barrierefreies Publizieren,        Aufgaben des Instituts gehören Politikbe-
 Tübingen                                       ratung, Menschenrechtsbildung, Informa-
                                                tion und Dokumentation, angewandte
 Druck:                                         Forschung zu menschenrechtlichen Themen
 Bunter Hund, Berlin                            sowie die Zusammenarbeit mit internatio-
                                                nalen Organisationen. Das Institut ist auch
 Essay Nr. 15                                   mit dem Monitoring der UN-Behinderten-
 September 2014                                 rechtskonvention beauftragt. Die Monito-
                                                ring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskon-
 ISBN 978-3-945139-31-8 (Print)                 vention schützt und fördert die Rechte von
 ISBN 978-3-945139 – 32-6 (PDF)                 Menschen mit Behinderungen und beglei-
                                                tet die Umsetzung der Konvention in
 © 2014 Deutsches Institut für Menschenrechte   Deutschland kritisch und konstruktiv. Das
 Alle Rechte vorbehalten                        Institut wird vom Bundesministerium der
                                                Justiz und für Verbraucherschutz, vom Aus-
 Gedruckt auf 100% Altpapier                    wärtigen Amt und von den Bundesminis-
                                                terien für wirtschaftliche Zusammenarbeit
                                                und Entwicklung sowie für Arbeit und Sozi-
                                                ales gefördert.
2
Rechte haben –
Recht bekommen
Das Menschenrecht auf
Zugang zum Recht
Beate Rudolf

                        3
Inhalt

 Inhalt
 1        Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . .  5     4      Warum fehlt der Zugang
                                                                   zum Recht bei
 2        Zugang zum Recht bei                                     Menschenrechtsverletzungen? .  18
          Menschenrechtsverletzungen:
          ein zentrales Menschenrecht . .  8                4.1 Die Verkennung von Menschen-
                                                                rechtsverletzungen . . . . . . . . . . . .  18
 2.1 Grundlage und Bedeutung . . . . . . . 8
                                                            4.2 Die Ungewissheit bei der
 2.2 Internationale                                             Rechtsetzung  . . . . . . . . . . . . . . . .  19
     Verankerung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
                                                            4.3 Die Menschenrechtsverletzung
 2.3 Internationale                                             ist neu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20
     Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . 10
                                                            4.4 Die Rahmenbedingungen für
 2.4 Zugang zum Recht ohne                                      Zugang zum Recht bleiben unbe-
     Gerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11       rücksichtigt . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21

 2.5 Absicherung der notwendigen                            4.5 Das Ungenügen gerichtlichen
     Bedingungen für Zugang                                     Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . .  21
     zum Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
                                                            5      Lücken beim Zugang zum Recht:
 3        Zugang zum Recht: (K)ein                                 Ein Thema für alle – aber kein
          Problem in Deutschland? . . . . . 15                     Selbstläufer . . . . . . . . . . . . . . . . 23

4
Einleitung       1

1 Einleitung
Deutschland verfügt über ein ausdifferen-                 Begründung ab, viele Eltern misstrau-
ziertes Rechtssystem und eine unabhängi-                  ten männlichen Erziehern aus Angst vor
ge Gerichtsbarkeit mit prinzipiell hohem                  Kindesmissbrauch. Der Jugendliche will
Standard, in dem eine große Zahl von Ver-                 wegen Diskriminierung klagen, kann
fahren rechtsstaatlich entschieden wird.                  dies aber nicht, da seine Eltern nicht
Die deutsche Justiz genießt deshalb, auch                 zustimmen.2
im europaweiten Vergleich, hohes Vertrau-               • Eine Frau mit Lernschwierigkeiten wird
en.1 Dennoch stoßen auch hierzulande                      von einer Wählervereinigung für den
Menschen auf Hindernisse, wenn sie sich                   Planungsausschuss der Gemeinde als
gegen Verletzungen ihrer Menschenrechte                   stimmberechtigtes Mitglied („sachkun-
zur Wehr setzen wollen. Die Hindernisse                   dige Bürgerin“) vorgeschlagen. Der
können rechtlicher oder tatsächlicher                     Vorsitzende des Gemeinderats verwei-
Natur sein. In welchen Situationen fehlt                  gert die Abstimmung hierüber. Die
der Zugang zum Recht bei Menschen-                        Kandidatin will dagegen klagen. Ihr
rechtsverletzungen? Einige Beispiele:                     Betreuer rät ihr nachdrücklich davon
                                                          ab; das Gerichtsverfahren könne lange
• Eine Kindertagesstätte lehnt die Bewer-                 dauern und belastend sein. Sie solle
  bung eines 17-Jährigen um einen Aus-                    doch lieber sehen, ob sie im Behinder-
  bildungsplatz als Erzieher mit der                      tenbeirat mitarbeiten könne.
Endnoten
1   Für 2012: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/176870/umfrage/vertrauen-in-die-justiz/, für
    2014: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-analyse-im-namen-des-volkes-13106492.
    html. Europäischer Vergleich: Europäische Kommission (2013): Flash Eurobarometer Nr. 385. Factsheet.
    Stand November 2013 http://ec.europa.eu/public_opinion/flash/fl_385_fact_de_en.pdf.
2   Dies ergibt sich daraus, dass § 52 der Zivilprozessordnung (ZPO) die Prozessfähigkeit von der Fähigkeit
    abhängig macht, sich durch Verträge verpflichten zu können. Hierzu sieht § 113 Abs. 1 des Bürgerli-
    chen Gesetzbuchs (BGB) vor, dass Minderjährige über sieben Jahren die Ermächtigung der gesetzli-
    chen Vertreter für Rechtsgeschäfte bedürfen, die die Eingehung oder Aufhebung eines Dienst- oder
    Arbeitsverhältnisses oder Ansprüche aus einem solchen Verhältnis betreffen. Selbst wenn die Eltern des
    17-Jährigen eine solche Ermächtigung gegeben haben, erfasst diese Ermächtigung nach dem klaren
    Wortlaut der Norm keine Schadensersatzansprüche, wenn kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis zustande
    gekommen ist und auch nicht zustande kommen kann (nach dem AGG ist keine Klage auf Abschluss
    des verweigerten Arbeitsvertrags möglich). Außerdem kann der Minderjährige seine Eltern auch nicht
    gerichtlich zur Erteilung der Ermächtigung zwingen (§ 113 Abs. 3 BGB).

                                                                                                              5
1       Einleitung

    • Ein Journalist fürchtet, als Kontaktper-                  relevante Dokumente übersetzen zu
      son in der Antiterrordatei erfasst wor-                   lassen, selbst in Deutschland vor
      den zu sein, weil er zur deutschen                        Gericht auszusagen und die Voraus-
      Salafisten-Szene recherchiert. Auf sein                   zahlung für die Vorladung von Zeugin-
      Auskunftsersuchen erteilt ihm das                         nen und Zeugen aus dem Partnerland
      Bundeskriminalamt eine Negativaus-                        zu leisten.
      kunft mit dem Zusatz, es dürfe keine                    • Ein Richter lehnt es in einem Bußgeld-
      Auskunft über Daten von anderen                           verfahren ab, eine Muslima als Zeugin
      Behörden erteilen, die aus Geheimhal-                     anzuhören, solange sie ihr Kopftuch
      tungsinteressen, etwa zum Schutz von                      nicht ablegt.3 Die Frau weigert sich
      V-Leuten, verdeckt gespeichert seien.                     und der Kläger verliert den vom ihm
      Hierfür müsse sich der Journalist an                      angestrengten Prozess.
      die 37 anderen beteiligten Behörden                     • Eine Frau erduldet den Geschlechts-
      wenden. Die Verfassungsschutzbehör-                       verkehr durch einen Mitarbeiter des
      den beispielsweise können die Aus-                        Ausländeramts, der ihr bei Weigerung
      kunft in der Regel mit knappen Pau-                       mit Abschiebung droht, weil sie keinen
      schalbegründungen verweigern. Der                         Aufenthaltstitel hat. Die Tat wird ent-
      Journalist wird daher nie mit abschlie-                   sprechend der ständigen Rechtspre-
      ßender Sicherheit erfahren, ob Daten                      chung des Bundesgerichtshofs nicht
      über ihn gespeichert sind. So kann er                     als Vergewaltigung bestraft, sondern
      eine Registrierung auch nicht gericht-                    nur als Nötigung.4
      lich prüfen lassen.
    • Eine deutsche Entwicklungsbank för-                     Die Hindernisse beim Zugang zum Recht
      dert den Bau eines Staudamms in                         können also vielfältig sein. Es kann, wie im
      einem Partnerland. Dabei wird die ört-                  Vergewaltigungsfall, eine Norm fehlen, die
      liche Bevölkerung zwangsweise ver-                      die Menschenrechtsverletzung angemes-
      trieben, ihr Land überflutet. Die                       sen unter Strafe stellt. Oder das Verfah-
      Betroffenen möchten angemessenen                        rensrecht schließt, wie im Fall des verhin-
      Schadensersatz erhalten. Das Justiz-                    derten jugendlichen Klägers, Menschen
      system in ihrem Land ist derart ineffi-                 vom Zugang zu einem Gericht aus. Oder
      zient und unterausgestattet, dass ein                   aber Gerichte sind, wie im Datenschutz-
      erstinstanzliches Urteil frühestens                     Fall, rechtlich gehindert, staatliches Han-
      nach zehn Jahren zu erwarten wäre.                      deln vollständig zu überprüfen. Ferner
      Für einen Prozess in Deutschland fehlt                  kann, wie im Staudamm-Fall, das Verfah-
      es den Betroffenen an Geld, etwa um                     rensrecht es faktisch versperren, dass sich

        3   http://www.migazin.de/2014/03/27/kopftuch-amtsgericht-richter-ohren/.
        4   Bundesgerichtshof: Beschluss vom 4. April 2007. Aktenzeichen 4 StR 345/06. Rz. 29. Die Vergewaltigung
            gilt als Verbrechen, die Nötigung – auch in einem besonders schweren Fall wie hier – nur als Vergehen.
            Zum menschenrechtlichen Änderungsbedarf im deutschen Sexualstrafrecht siehe: Rabe, Heike / Nor-
            mann, Julia von (2014): Policy Paper 24 : Schutzlücken bei der Strafverfolgung von Vergewaltigungen.
            Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.

    6
Einleitung       1

Menschen an ein Gericht wenden. Ein tat-       Zugang zum Recht bei Menschenrechts-
sächliches Hindernis kann auch, wie im         verletzungen versperrt sein, aus rechtli-
Beispiel des Kopftuchverbots für die Zeu-      chen oder aus tatsächlichen Gründen, und
gin, in der fehlenden Kompetenz von Rich-      dies kann über den konkreten Einzelfall
tern oder Richterinnen liegen, mit der Viel-   hinausgehen. Der menschenrechtlich
falt der Gesellschaft im heutigen Deutsch-     gebundene Rechtsstaat muss sich daher
land umzugehen, so dass nicht nur im kon-      immer wieder daraufhin selbst befragen,
kreten Fall Zugang zum Recht versperrt,        ob in allen Konstellationen wirksamer
sondern auch bei einer ganzen Bevölke-         Rechtsschutz bei Menschenrechtsverlet-
rungsgruppe Misstrauen gegenüber den           zungen besteht oder ob sich strukturelle
Gerichten gesät wird. Ein anderes tatsäch-     Schutzlücken zeigen. An dieser kritischen
liches Hindernis ist das Fehlen wirksamer      Selbstreflexion sollten Parlamente, Regie-
Unterstützungsstrukturen für Menschen,         rungen und Verwaltung sowie Gerichte
die sich in ihren Menschenrechten verletzt     auf Bundes- und Landesebene ebenso mit-
sehen. Das können Beratungsstellen sein,       wirken wie die Wissenschaft und zivilge-
die Menschen über ihre Rechte und              sellschaftliche Organisationen. Das Deut-
Rechtsschutzmöglichkeiten informieren,         sche Institut für Menschenrechte sieht
Organisationen, die Menschen helfen, mit       sich in seiner Funktion als Nationale Men-
der seelischen Belastung durch ein             schenrechtsinstitution Deutschlands hier
Gerichtsverfahren umzugehen, oder, wie         besonders in der Pflicht.
im Fall der behinderten Bewerberin für den
Planungsausschuss, Fortbildungen für           Dieser Essay skizziert Problemlagen, men-
Betreuer und Betreuerinnen, damit sie          schenrechtliche Maßstäbe und Handlungs-
Betreute in ihrer Selbstbestimmung stär-       möglichkeiten und will dazu beitragen, das
ken lernen.                                    Bewusstsein dafür zu schärfen, dass auch
                                               im Rechtsstaat immer wieder überprüft
Diese Beispiele illustrieren: Auch in einem    werden muss, ob für alle Menschen wirk-
funktionierenden Rechtsstaat kann der          samer Zugang zum Recht besteht.

                                                                                             7
2       Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht

     2 Zugang zum Recht bei
     Menschenrechtsverletzungen:
     ein zentrales Menschenrecht
     Zugang zum Recht ist ein Menschenrecht.             Verletzung beseitigen oder, wenn das nicht
     Das Menschenrecht auf Zugang zum Recht              möglich ist, finanziellen Ausgleich für die
     wohnt allen Menschenrechten inne und ist            Verletzung sicherstellen, gegebenenfalls
     auch als eigenes Menschenrecht ausdrück-            strafrechtliche Sanktionen verhängen oder
     lich garantiert. Denn Menschenrechte                die der Menschenrechtsverletzung zugrun-
     brauchen wirksame Durchsetzungsmecha-               de liegende Norm ändern.
     nismen, um ihre Beachtung im Konfliktfall
     zu sichern. Die betroffene Person muss es           Durch das Menschenrecht auf Zugang zum
     dabei selbst in der Hand haben, sich gegen          Recht werden Betroffene in die Lage ver-
     eine Verletzung ihrer Menschenrechte zu             setzt, ihre menschenrechtlich garantierte
     Wehr zu setzen und damit die Lösung des             Freiheit und Gleichheit selbst zu verteidi-
     Konflikts in die Hände eines unparteiischen         gen. Sie müssen nicht passiv darauf war-
     Dritten zu legen, der die Befolgung des             ten, dass staatliche Organe die Rechtsver-
     Rechts sicherstellen kann.                          letzung erkennen und beseitigen. Indem
                                                         eine betroffene Person selbst vor Gericht
                                                         auftreten kann, beispielsweise ein Asylsu-
     2.1 Grundlage und Bedeutung                         chender die Gewährung von Asyl oder eine
                                                         Zwangsprostituierte eine Entschädigung
     Im Zugang zum Recht kommt der Charak-               vom Täter erstreiten kann, treten sie aus
     ter von Menschenrechten als subjektive              der Opferrolle heraus. Zugang zum Recht
     Rechte zum Tragen: Menschenrechte sind              ist damit Ausdruck und Verwirklichung der
     individuelle Ansprüche gegen den Staat;             durch die Menschenrechte gesicherten
     sie geben jedem einzelnen Menschen die              Selbstbestimmung. Zugang zum Recht als
     Berechtigung, ihre Erfüllung einzufordern,          Menschenrecht sichert und bekräftigt die
     wenn sein eigenes Recht beeinträchtigt              menschenrechtliche Bindung des Staates;
     wurde. Der Staat ist zur Erfüllung dieser           der Mensch steht im Mittelpunkt staatli-
     Forderung verpflichtet. Er muss einschrei-          chen Handelns, und dies als Rechtsträger,
     ten, wenn er selbst oder Dritte ein Men-            nicht nur als Begünstigter oder Objekt
     schenrecht verletzt haben, und er muss die          staatlichen Handelns.

    8
Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht                    2

2.2 Internationale Verankerung                          Die Anforderungen an Zugang zum Recht
                                                        sind für Streitigkeiten über zivilrechtliche
„Zugang zum Recht“ ist eine Übersetzung                 Ansprüche und über strafrechtliche Ankla-
des englischen Begriffs „access to justice“             gen noch strenger: Hier müssen Gerichte
und hat je nach Verwendungszusammen-                    zuständig sein, und sie haben spezielle ver-
hang eine unterschiedliche Bedeutung.                   fahrensrechtliche Garantien zu beachten
Von den internationalen Menschenrechts-                 (Artikel 6 EMRK und Artikel 14 Zivilpakt).
katalogen verwenden ihn nur die Europä-                 Dazu zählen etwa die Öffentlichkeit des Ver-
ische Grundrechtecharta (Artikel 47 Satz                fahrens, der Beschleunigungsgrundsatz,
3) und die UN-Behindertenrechtskonven-                  Verteidigungsrechte und die Unschuldsver-
tion (Artikel 13 Absatz 1 UN-BRK) aus-                  mutung. Damit werden, klassischen grund-
drücklich und bezeichnen damit den Zu-                  rechtsliberalen Traditionen entsprechend,
gang zu Gerichten.5 In der internationalen              Freiheit und Eigentum8 besonders geschützt.
Praxis hat sich ein weiter gefasstes Ver-               Bei Freiheitsentziehungen sehen deshalb
ständnis etabliert, das sich, gestützt auf              einzelne Menschenrechte zusätzlich beson-
Artikel 13 der Europäischen Menschen-                   deren richterlichen Schutz vor (Artikel 5
rechtskonvention (EMRK) beziehungswei-                  Absatz 3 und 4 EMRK sowie Artikel 9 Absatz
se entsprechende Bestimmungen anderer                   3 und 4 Zivilpakt). In neuerer Zeit ist der
regionaler Menschenrechtskonventionen6                  Schutz der Selbstbestimmung hinzugekom-
sowie auf Artikel 2 Absatz 3 des Interna-               men. Die UN-Behindertenrechtskonvention
tionalen Paktes über bürgerliche und poli-              verpflichtet den Staat ausdrücklich dazu,
tische Rechte (Zivilpakt), auch auf den                 die Anordnung von Betreuung und anderen
Rechtsschutz bei Menschenrechtsverlet-                  Maßnahmen, die die Ausübung der Rechts-
zungen durch andere unabhängige staat-                  und Handlungsfähigkeit betreffen, durch ein
liche Instanzen bezieht, etwa parlamenta-               Gericht oder eine unabhängige Stelle über-
rische Kontroll- und Untersuchungsaus-                  prüfen zu lassen (Artikel 12 Absatz 4).
schüsse oder Datenschutzbeauftragte. Zum
Zugang zum Recht gehört auch die Beach-                 Ein weiteres wichtiges Element von Zu-
tung fundamentaler Verfahrensgarantien.7                gang zum Recht ist die Wirksamkeit der

5   Die europäische Grundrechteagentur (FRA) verwendet den nachfolgend im Text skizzierten, weiteren
    Begriff, siehe: http://fra.europa.eu/en/theme/access-justice.
6   Siehe Artikel 7 Absatz 1 und Artikel 26 der Afrikanischen Charta der Rechte des Menschen und der
    Völker sowie Artikel 8 und 25 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention.
7   Francioni, Francesco (2007): The Right of Access to Justice under Customary International Law. In.: ders.
    (Hg.): Access to Justice as a Human Right. Oxford: Oxford University Press, S. 1-55 (3f.).
8   „Zivilrechtlich“ sind Streitigkeiten, die Auswirkungen auf Zivilrechtspositionen haben oder vermögens-
    werter Natur sind. Damit können auch öffentlich-rechtliche Ansprüche, etwa aus einer Sozialversiche-
    rung, gemeint sein, die im Zusammenhang mit einem Arbeitsverhältnis erworben wurden. Näher hierzu
    etwa: Grabenwarter, Christoph (2009): Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Auflage. München:
    C.H. Beck, S. 332-334.

                                                                                                                9
2        Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht

         Abhilfemaßnahmen. Es genügt nicht, dass                werden kann oder zumindest der Verlet-
         eine Menschenrechtsverletzung nur fest-                zung auf andere Weise wirksam abgehol-
         gestellt wird oder dass Abhilfe nur emp-               fen wird, etwa durch Wiedergutmachung
         fohlen wird. Zum wirksamen Zugang zum                  oder Bestrafung des Täters. Die Entschei-
         Recht gehört auch, dass die Verletzung                 dungsinstanz muss nicht nur in ihrer
         beseitigt wird, etwa dass rechtswidrig                 Struktur bestimmte Voraussetzungen
         gespeicherte Daten gelöscht werden oder                erfüllen, insbesondere der Unabhängigkeit
         dass materieller und immaterieller Scha-               und Unparteilichkeit, sondern auch Min-
         den ausgeglichen wird, beispielsweise bei              destanforderungen an die Fairness ihres
         schwersten Formen von Arbeitsausbeu-                   Verfahrens.
         tung ausstehender Lohn gezahlt und Ent-
         schädigung für das erlittene Unrecht                   Dieses Verständnis hat sich mit dem Fort-
         geleistet wird. Je nach Fallkonstellation              schritt des internationalen Menschen-
         muss auch sichergestellt sein, dass die                rechtschutzes weiterentwickelt. Zum einen
         Verletzung nicht in der Zukunft wieder-                steht heute zweifelsfrei fest, dass aus den
         holt wird. Auch die Bestrafung wegen                   Menschenrechten auch die staatliche
         einer schweren Menschenrechtsverlet-                   Pflicht erwächst, vor Menschenrechtsver-
         zung ist eine Form der Abhilfe. Schließlich            letzungen durch Privatpersonen zu schüt-
         zählt auch die tatsächliche Vollstreckung              zen. Diese Schutzpflicht zieht die Ver-
         von Entscheidungen zum wirksamen Zu-                   pflichtung nach sich, gegen solche Rechts-
         gang zum Recht.                                        verletzungen ebenfalls Zugang zum Recht
                                                                zu eröffnen.9 Zum anderen ist mittlerwei-
                                                                le international anerkannt, dass auch wirt-
         2.3 Internationale Entwicklungs-                       schaftliche, soziale und kulturelle Rechte
         linien                                                 Verpflichtungen umfassen, die der gericht-
                                                                lichen Überprüfung zugänglich sind (Jus-
         Zugang zum Recht bei Menschenrechts-                   tiziabilität).10 Hieraus folgt die Verpflich-
         verletzungen bedeutet also nach dem                    tung, auch in Fällen der Verletzung dieser
         Wortlaut internationaler Menschenrechts-               Menschenrechte wirksamen Zugang zum
         verträge die Durchsetzung von Menschen-                Recht zu eröffnen.11
         rechten mithilfe eines unabhängigen Drit-
         ten. Erforderlich sind Verfahren, in denen             Ferner lassen sich zwei gegenläufige Ent-
         bestenfalls die Anwendung eines Men-                   wicklungen ausmachen: Einerseits ist Zu-
         schenrechts im Konfliktfall erzwungen                  gang zum Recht bei Menschenrechtsver-

         9  Ausdrücklich etwa Artikel 2 (c) des UN-Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie-
            rung der Frau (CEDAW); näher hierzu: CEDAW-Ausschuss (2010): Allgemeine Empfehlung Nr. 28. The
            Core Obligations of States Parties under Article 2. CEDAW/C/GC/28, Randnummer 34.
         10 Schneider, Jakob (2004): Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte.
            Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte.
         11 Sozialpaktausschuss (1998): Allgemeine Bemerkung Nr. 9. Die innerstaatliche Anwendbarkeit des Pakts,
            Randnummern 9-10. Deutsche Übersetzung in: Deutsches Institut für Menschenrechte (Hg.) (2005): Die
            ‚General Comments‘ zu den VN-Menschenrechtsverträgen. Baden-Baden: Nomos-Verlag, S. 238.

    10
Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht                 2

letzungen darauf angelegt, Rechtsschutz               lichen Rechtsschutzes war ein Kompromiss.
durch außergerichtliche Instanzen zu                  Sie schließt aber nicht aus, dass außerge-
überwinden und gerichtlichen Rechts-                  richtlicher Rechtsschutz bei Menschen-
schutz auszubauen. Artikel 2 Absatz 3 (b)             rechtsverletzungen geschaffen wird, wenn
Zivilpakt verpflichtet ausdrücklich zu die-           hierfür ein besonderer Bedarf besteht.
ser Fortentwicklung. Andererseits mehren
sich die Forderungen internationaler Men-             Außergerichtlicher Rechtsschutz ist bei-
schenrechtsorgane, außergerichtliche                  spielsweise in Bereichen nötig, in denen die
Beschwerdestellen einzurichten. Dies emp-             Exekutive im Geheimen handelt. Dies zeigt
fehlen beispielsweise der Sozialpaktaus-              etwa die Einrichtung der G 10-Kommission
schuss Deutschland für behauptete Beein-              des Deutschen Bundestages, die Eingriffe in
trächtigungen wirtschaftlicher, sozialer              das Post- und Fernmeldegeheimnis über-
und kultureller Rechte oder der Kinder-               wacht. Sie hat nicht nur die Aufgabe sicher-
rechtsausschuss für Vorwürfe der Verlet-              zustellen, dass gebotene Mitteilungen an
zung von Kinderrechten.                               Betroffene erfolgen, damit diese gerichtli-
                                                      chen Rechtsschutz suchen können, sondern
Schließlich ist bei den Verfahrensmaßstä-             auch, bei geheim bleibenden Maßnahmen
ben für gerichtliche und nichtgerichtliche            für die Löschung von Aufzeichnungen zu
Rechtsschutzinstanzen eine gewisse Annä-              sorgen und damit die Rechte der Betroffe-
herung festzustellen. Ein Grund hierfür               nen zu schützen. Ein anderer großer Bereich
dürfte der Auftrag des Zivilpakts zur Stär-           ist der des Datenschutzes. Hier fehlt es Men-
kung gerichtlichen Rechtsschutzes sein.               schen typischerweise an Kenntnis, ob und
                                                      welche Daten über sie gespeichert sind; die
                                                      Wahrnehmung eines Auskunftsrecht ist, wie
2.4 Zugang zum Recht ohne                             das Beispiel der Antiterrordatei zeigt, müh-
Gerichte?                                             sam und die Überprüfung des Wahrheitsge-
                                                      halts einer Auskunft kaum möglich. In allen
Dass die internationalen Menschenrechts-              diesen Konstellationen ist also eine Instanz
verträge außergerichtliche Beschwerdestel-            nötig, die durch regelmäßige Kontrollen die
len als hinreichend ansehen, um den gebo-             Beachtung des Rechts sicherstellen und
tenen Zugang zum Recht zu eröffnen,                   zugleich auf Beschwerden von Einzelperso-
erklärt sich aus den unterschiedlichen Ver-           nen hin zwecks Abhilfe tätig werden kann.
fassungstraditionen der Staaten, die an der
Formulierung der Texte beteiligt waren.12             Außergerichtlicher Rechtsschutz wird auch
Die Verpflichtung zur Stärkung des gericht-           dort erforderlich, wo Betroffene strukturell

12 So existierte damals beispielsweise in Skandinavien keine Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern für
   Vorwürfe von Rechtsverletzungen durch die Verwaltung waren (von der Regierung oder dem Parlament
   eingesetzte) Ombudsleute zuständig. Gegen eine Beschränkung des Artikels 2 Absatz 3 Zivilpakt auf
   Gerichte sprachen sich kontinentaleuropäische Staaten aus sowie lateinamerikanische und arabische
   Staaten. Näher: Nowak, Manfred (2006): Covenant on Civil and Political Rights. Commentary. 2. Auflage.
   Kehl und Straßburg: N.P. Engel Verlag, Art. 2 Randnummer 58.

                                                                                                            11
2        Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht

     unterlegen sind, wie etwa im Beispiel des              Vorkehrungen getroffen werden. Darüber
     Staudamms die lokale Bevölkerung eines                 hinaus müssen Handeln und Entscheidun-
     Staates mit schwacher Rechtsstaatlichkeit.             gen außergerichtlicher Stellen an Men-
     Gleiches gilt, wenn Menschen besonders                 schenrechten ausgerichtet sein. Schließ-
     abhängig, hilfebedürftig oder von der                  lich gebietet es das Menschenrecht auf
     Außenwelt abgeschnitten sind. So können                wirksamen Zugang zum Recht, dass die
     Kinder, Menschen in speziellen Wohn-,                  Stellen wirksame Befugnisse zur Beseiti-
     Arbeits- oder Pflegeeinrichtungen oder                 gung oder Wiedergutmachung der Men-
     Asylunterkünften oft nicht ohne Unter-                 schenrechtsverletzung haben.
     stützung ein Gericht erreichen. Oder aber
     sie müssen befürchten, dass der Täter, dem             Wo diese menschenrechtlichen Vorausset-
     sie in ihrem Alltag nicht entkommen kön-               zungen nicht erfüllt sind, können außer-
     nen, ihnen Nachteile oder gar schwerwie-               gerichtliche Beschwerdestellen zwar auch
     gende Rechtsverletzungen zufügt, als Ver-              eine wichtige Aufgabe erfüllen. Sie müs-
     geltung dafür, dass sie gerichtliche Hilfe in          sen dann aber „im Schatten der Hierar-
     Anspruch genommen haben. In solchen Si-                chie“13 tätig sein, das heißt sie dürfen den
     tuationen braucht es niedrigschwellige,                Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz
     das heißt leicht zugängliche Beschwerde-               und den damit verbundenen staatlichen
     möglichkeiten vor Ort. Zur Zugänglichkeit              Durchsetzungsbefugnissen nicht aus­
     trägt auch eine geringere Formalisierung               schließen. Entscheidender Maßstab ist die
     des Verfahrens bei. Auch müssen die                    Wirksamkeit des Zugangs zum Recht.
     Beschwerdestellen während des Verfahrens
     und nach seinem Abschluss Schutz gewäh-
     ren können.                                            2.5 Absicherung der notwendi-
                                                            gen Bedingungen für Zugang
     Die durch die Menschenrechtsverträge                   zum Recht
     eröffnete Möglichkeit, außergerichtlichen
     Zugang zum Recht vorzusehen, darf indes                Damit Betroffene bei Menschenrechtsver-
     nicht dahingehend missverstanden wer-                  letzungen tatsächlich den Zugang zum
     den, dass die Anforderungen an die Unab-               Recht suchen, müssen weitere Bedingun-
     hängigkeit und Ausgestaltung der hierzu                gen erfüllt sein. Die Rechtssoziologie
     eingesetzten Stellen geringer seien. Gebo-             unterteilt diese Voraussetzungen für die
     ten ist vielmehr eine der richterlichen                Mobilisierung des Rechts in objektive und
     Unabhängigkeit entsprechende Unabhän-                  subjektive Faktoren.14 Objektive Faktoren
     gigkeit. Es müssen hierfür in institutionel-           sind tatsächliche und rechtliche Rahmen-
     ler, personeller und finanzieller Hinsicht             bedingungen, subjektive Faktoren das

      13 Begriff geprägt von Mayntz, Renate / Scharpf, Fritz W. (1995): Steuerung und Selbstorganisation in
         staatsnahen Sektoren. In: dies. (Hg.), Gesellschaftliche Selbstregulierung und politische Steuerung.
         Frankfurt/New York: Campus, S. 9-38.
      14 Umfassende Zusammenschau bei: Susanne Baer (2011): Rechtssoziologie. Eine Einführung in die inter-
         disziplinäre Rechtsforschung. Baden-Baden: Nomos, S. 209-225.

    12
Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht        2

Rechtsbewusstsein, die Rechtskenntnis          ale Prozessbegleitung, oder aber die Pro-
und das Anspruchswissen.                       zessführung durch andere als die betrof-
                                               fene Person.
Zu den Rahmenbedingungen zählen die
materiellen und sozialen Kosten der Durch-     Eine weitere Rahmenbedingung ist die tat-
setzung von Recht. In materieller Hinsicht     sächliche Zugänglichkeit der Entschei-
sind dies vor allem Gerichts- und Anwalts-     dungsinstanz: Bestehen bauliche Barrieren?
kosten. Hierbei ist zu bedenken, dass die      Können die Entscheiderinnen und Entschei-
Höhe der Kosten für rechtliche Beratung        der mit den Betroffenen kommunizieren?
Auswirkungen auf deren Qualität hat. Je        Gibt es etwa Gebärdensprachdolmetschung
geringer die Bezahlung ist, desto weniger      oder angemessenen Umgang mit geistig
Zeit kann ein Anwalt oder eine Anwältin        behinderten Personen? Artikel 13 UN-BRK
aufwenden, wenn sie wirtschaftlich arbei-      verlangt deshalb ausdrücklich verfahrens-
ten wollen; die anwaltliche Vertretung ver-    bezogene und altersgemäße Vorkehrungen
liert dadurch an Qualität.                     sowie Schulungen für das gesamte Justiz-
                                               personal. Dies gilt über Zugangshindernis-
Soziale Kosten der Mobilisierung von Recht     se für Menschen mit Behinderungen hin-
sind die gesellschaftlichen und persönli-      aus, also beispielsweise auch für den
chen Nachteile, die die rechtssuchende         Umgang von Richterinnen und Richtern mit
Person zu erwarten hat. Gerade in Abhän-       Kindern als Zeugen oder als Betroffene in
gigkeitsverhältnissen und lang andauern-       familiengerichtlichen Verfahren.
den Beziehungen, sei es ein Arbeitsverhält-
nis oder eine Partnerschaft, wird der Gang     Zu den Rahmenbedingungen gehört auch
zu Gericht oft als endgültiger Bruch wahr-     das Bestehen materieller Normen, die den
genommen. Betroffene befürchten daher          menschenrechtlichen Verpflichtungen
negative Reaktionen, etwa die Kündigung        genügen. Ohne Recht, auf das man sich
oder Gewalt des Partners. Zudem stellt die     berufen kann, gibt es auch keinen Zugang
individuelle Durchsetzung des Rechts oft       zum Recht. Das ist dort ein Problem, wo
eine seelische Belastung dar, weil während     eine unmittelbare Berufung auf ein Men-
der Dauer des Gerichtsverfahrens die           schenrecht nicht möglich ist, um eine
Rechtsverletzung präsent bleibt und mög-       gerichtliche Entscheidung zu erhalten, also
licherweise öffentliche Aufmerksamkeit,        insbesondere in den Fällen, in denen es um
gerade im sozialen Umfeld, weckt. Wenn         Menschenrechtsbeeinträchtigungen durch
die sozialen Kosten zu hoch sind, wird eine    Privatpersonen geht. Als Illustration kann
betroffene Person keinen Zugang zum            das eingangs skizzierte Beispiel der Verge-
Recht wegen ihrer Menschenrechtsverlet-        waltigung dienen. Hier gibt es zwar den
zung suchen. Abhilfe können hier unter         Zugang zu den Strafgerichten, doch haben
Umständen außergerichtliche Beschwer-          diese in Ermangelung einer menschen-
demöglichkeiten bieten, die weniger als        rechtskonformen Strafnorm keine Hand-
Eskalation wahrgenommen werden, oder           habe, um die Menschenrechtsverletzung
Unterstützungsstrukturen wie psychosozi-       angemessen zu bestrafen. Eine Betroffene
                                                                                                13
2        Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen: ein zentrales Menschenrecht

      kann sich auch nicht unmittelbar auf ihr            Rechtskenntnis ist das Wissen über eigene
      Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestim-            Rechte. Für Zugang zum Recht bei Men-
      mung berufen, um die Verurteilung des               schenrechtsverletzungen kommt es also
      Täters zu erreichen. Ihr Zugang zum Recht           auf das Wissen über Menschenrechte an.
      ist also unzureichend. Diese Voraussetzung          Anspruchswissen meint die Erkenntnis,
      des Bestehens einer einschlägigen mate-             etwas „zu Recht“ einfordern zu können.
      riellen Norm wird nicht von dem Men-                Dazu gehört auch das Wissen: „Ich kann
      schenrecht auf „Zugang zum Recht“                   mein Recht durchsetzen!“, also das Wissen
      erfasst, ist aber logische Voraussetzung für        um Wege des Zugangs zum Recht und ihre
      dessen Wirksamkeit und muss deshalb als             Erfolgsvoraussetzungen. Rechtsbewusst-
      Vorbedingung stets mit bedacht werden.              sein, Rechtskenntnis und Anspruchswissen
                                                          sind Bestandteile der (Selbst-)Befähigung
      Zu den notwendigen Bedingungen für Zu-              von Menschen, ihre Rechte einzufordern
      gang zum Recht zählen auch drei subjek-             und durchzusetzen (Empowerment). Sie
      tive Faktoren: Rechtsbewusstsein, Rechts-           verlangen Menschenrechtsbildung für alle
      kenntnis und Anspruchswissen. Hierbei               Menschen.
      geht es um Voraussetzungen, die bei einer
      potentiell verletzten Person vorliegen müs-         Der Blick auf die notwendigen Bedingun-
      sen, um das Recht für sich zu mobilisieren.         gen zeigt: Zugang zum Recht bei Men-
      Mit Rechtsbewusstsein ist die Erwartung             schenrechtsverletzungen sicherzustellen
      gemeint, dass das Recht befolgt wird. Nur           erfordert eine umfassende Herangehens-
      wer diese Erwartung hat, wird sich über-            weise, die sich nicht allein auf rechtliche
      haupt an ein Gericht wenden. Vorausset-             Fragen konzentriert, sondern die soziale
      zung dafür ist, dass die Person selbst gute         Wirklichkeit berücksichtigt.
      Erfahrungen mit Verfahren des Zugangs
      zum Recht gemacht hat oder ihr bekannt
      ist, dass Personen in einer vergleichbaren
      Situation ein faires Verfahren ohne Diskri-
      minierung erlebt haben.

    14
Zugang zum Recht: (K)ein Problem in Deutschland?            3

3 Zugang zum Recht: (K)ein Problem in
Deutschland?
Dass der Zugang zum Recht, gerade bei                 Abgerundet wird der Zugang zum Recht
Menschenrechtsverletzungen, für einen                 bei Menschenrechtsverletzungen durch
Rechtsstaat höchste Bedeutung hat, hat                den deutschen Staat über die Verfassungs-
das Grundgesetz klar erkannt. Deshalb stellt          beschwerde zum Bundesverfassungsge-
es durch die Rechtsweggarantie sicher, dass           richt (und in einigen Bundesländern auch
Gerichte über behauptete Menschenrechts-              zum jeweiligen Landesverfassungsgericht),
verletzungen durch den Staat entscheiden              die es unter bestimmten Voraussetzungen
(Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz). Es bin-            sogar ermöglicht, direkt gegen ein Gesetz
det ausdrücklich die gesamte rechtspre-               vorzugehen.15
chende Gewalt an die Menschenrechte und
erklärt diese für unmittelbar geltend (Arti-          Mit der Unterwerfung unter die Europäi-
kel 1 Absatz 3). Zudem garantiert es auch             sche Menschenrechtskonvention und Indi-
die Wirksamkeit gerichtlicher Rechtsbehel-            vidualbeschwerdeverfahren nach den UN-
fe, weil das Gericht sich mit dem Tatsa-              Menschenrechtsverträgen hat Deutsch-
chenvortrag und der Rechtsauffassung der              land zudem noch überstaatlichen Zugang
Parteien befassen muss. Dies sichert vor              zum Recht eröffnet und sich damit inter-
allem das Recht auf richterliches Gehör               nationaler Kontrolle unterworfen. Diese
(Artikel 103 Absatz 1 Grundgesetz) ab. Ver-           internationale Einbettung des deutschen
stärkt wird dieser Schutz noch dadurch,               Grundrechtsschutzes entspricht der Völ-
dass über das Recht auf den gesetzlichen              kerrechtsfreundlichkeit des Grundgeset-
Richter (Artikel 101 Absatz 1 Grundgesetz)            zes, wie sie gerade auch in der inhaltli-
der Zugang zu überstaatlichen Gerichten               chen Anbindung der grundgesetzlich
wie dem Europäischen Gerichtshof für                  garantierten Grundrechte an die interna-
Menschenrechte (EGMR) und dem Gerichts-               tionalen Menschenrechte zum Ausdruck
hof der Europäischen Union (EuGH) verfas-             kommt.
sungsrechtlich gewährleistet wird.

15 Das ist insbesondere der Fall, wenn das Gesetz ohne weiteren Vollzugsakt in die Grundrechte der
   beschwerdeführenden Person eingreift, also beispielsweise eine Enteignung bewirkt, oder wenn es nicht
   zuzumuten ist, die Anwendung des Gesetzes auf sich selbst abzuwarten. Letzteres trifft insbesondere
   auf Strafnormen zu.

                                                                                                           15
3        Zugang zum Recht: (K)ein Problem in Deutschland?

     Ist also alles gut in Deutschland? Die ein-              lungsverfahren gegen Polizeibeamte, die
     gangs geschilderten Beispiele zeigen:                    aufgrund von Beschwerden über Miss-
     Nicht nur in Einzelfällen ist Betroffenen                handlungen erhoben wurden, werden zu
     der wirksame Zugang zum Rechtsschutz                     etwa 98 Prozent mangels hinreichenden
     bei Menschenrechtsverletzungen versperrt,                Tatverdachts eingestellt.17 Von den Men-
     sondern es bestehen auch strukturelle                    schen, die Diskriminierung aufgrund ihrer
     Defizite. Zahlreiche Untersuchungen, Pra-                sexuellen Orientierung oder Geschlechts-
     xisberichte und rechtliche Analysen zeigen               identität erfahren haben, hat nur jeder
     solche Defizite auf. So liegt der Anteil von             zehnte diese behördlich gemeldet.18 Die
     Frauen, die Anzeige wegen sexueller                      richterliche Genehmigung freiheitsbe-
     Gewalt erstattet haben, zwischen 5 und 11                schränkender Maßnahmen in Altenpflege-
     Prozent.16 Mit anderen Worten: An die 90                 einrichtungen, etwa von Fixierungen an
     Prozent der betroffenen Frauen in Deutsch-               Betten und Sedierungen, hat zwischen
     land suchen oder haben bei sexueller                     1998 und 2009 nahezu um das Zweiein-
     Gewalt keinen Zugang zum Recht. Ermitt-                  halbfache zugenommen und wird auf „eher

     16 Schröttle, Monika / Müller, Ursula (2005): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in
        Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland – Langfassung.
        Ohne Ort, S. 159. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung4/Pdf-Anlagen/langfassung-studie-
        frauen-teil-eins,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf. Der Prozentsatz ist abhängig
        von Art und (tatsächlicher oder befürchteter) Folge der Gewaltzufügung. 13 % aller befragten Frauen
        haben angegeben, seit dem 16. Lebensjahr eine Form von sexueller Gewalt erlebt zu haben, so die
        Ergebnisse der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen
        Studie, die die aktuellste repräsentative Studie für Deutschland darstellt (S. 28). Dieser Prozentsatz liegt
        unter dem für die Mitgliedstaaten der EU insgesamt, wobei die Vergleichbarkeit aufgrund unterschiedli-
        cher Fragestellungen schwierig ist. Europaweit liegt der Anteil zwischen 13 und 14 %, siehe Agentur für
        Grundrechte der EU (2014): Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick.
        Wien, S. 24, http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-apr14_de.pdf.
        Hierbei wird, anders als in der deutschen Studie, nicht zwischen Inanspruchnahme polizeilicher Hilfe
        und förmlicher Anzeigenerstattung unterschieden; in Deutschland liegt der Prozentsatz für die Inan-
        spruchnahme polizeilicher Hilfe (unabhängig von der Anzeigenerstattung) bei 8-15 %. 11 % der Frauen
        haben seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form von sexueller Gewalt erfahren. FRA-Studie, S. 20.
     17 Stellungnahme der Bundesregierung zu den Empfehlungen des CPT anlässlich seines Besuchs 2010,
        http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Europarat_Doku-
        mente/stellungnahme_d_bundesregierung_zu_den_empfehlungen_des_cpt_anlaesslich_seines_be-
        suchs_2010.pdf, S. 4-10 (geschätzter Durchschnittswert aus den von einzelnen (nicht allen) Bundeslän-
        dern vorgelegten Zahlen, die unterschiedlich aufbereitet sind, was eine Vergleichbarkeit erschwert.).
     18 Agentur für Grundrechte der EU (2014): LGBT-Erhebung in der EU. Ergebnisse auf einen Blick. Wien,
        S. 22, http://fra.europa.eu/sites/default/files/eu-lgbt-survey-results-at-a-glance_de.pdf. 21 % der
        Befragten aus Deutschland gaben an, in den vergangenen zwölf Monaten Diskriminierung bei der
        Arbeitssuche oder am Arbeitsplatz erfahren zu haben, 31 % berichteten über Diskriminierungserfahrung
        bei der Wohnungssuche, im Gesundheitswesen oder in Sozialämtern, Bildungsinstitutionen, beim Sport,
        in Gaststätten oder bei Finanz- und Versicherungsdienstleistungen. Im Laufe ihrer Schulzeit haben
        90 % negative Bemerkungen oder Verhaltensweisen gegenüber einer Mitschülerin oder einem Mitschü-
        ler wahrgenommen, die als lesbisch, schwul, bi- oder transsexuell wahrgenommen wurde, und 68 %
        haben ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität häufig oder sogar ständig verheimlicht. Diese
        Zahlen entsprechen dem Durchschnitt in den EU-Staaten, siehe FRA-Studie, S. 17, 18 und 20.

    16
Zugang zum Recht: (K)ein Problem in Deutschland?              3

schematische Genehmigungspraktiken“                     behinderungsbedingten Assistenz-, Dol-
zurückgeführt;19 haben also die Betroffe-               metscher- und Reisekosten abdeckt.21
nen wirksamen Zugang zum Rechtsschutz
durch Betreuungsgerichte?                               Die Untersuchung durch eine Task Force
                                                        des niedersächsischen Innenministeriums
Betroffene von Menschenhandel können                    ergab, dass über 20 Prozent der vom dor-
ihre Ansprüche auf Entschädigung und                    tigen Landesamt für Verfassungsschutz
vorenthaltenen Lohn nicht gerichtlich                   gespeicherten personenbezogenen Daten
durchsetzen, da sie über ihre Rechte nicht              widerrechtlich gespeichert worden waren;
informiert werden müssen, sie für die                   weitere 18 Prozent waren nicht länger für
Durchführung eines Gerichtsverfahrens in                die Aufgabenerfüllung erforderlich und
der Regel keinen Aufenthaltstitel bekom-                daher zeitnah zu löschen. 22 Sind die
men und die Verfahren von ihrem Her-                    Befugnisse von Gerichten und Daten-
kunftsland aus durchführen müssten.20                   schutzbehörden zum Schutz der Privat-
Menschen mit Behinderungen, die Sozial-                 sphäre tatsächlich ausreichend, ist also
hilfe beziehen, können Prozesse wegen                   der Zugang zum Recht in diesem Bereich
Menschenrechtsverletzungen nicht durch-                 effektiv? Die Aufzählung ließe sich fort-
führen, weil die Prozesskostenhilfe keine               setzen.

19 Brucker, Uwe (2011): Pflegefachliche Fürsorge oder verselbständigte Routine. Freiheitseinschränkende
   Maßnahmen in Heimen und Genehmigungspraxis der Betreuungsgerichte. In: Pro Alter, Januar/Februar
   2011, S. 47-53. Der Aufsatz kann diese Frage nicht mit Gewissheit beantworten, enthält aber starke
   Indizien für eine bejahende Antwort und verweist insbesondere für die Praxis der Gerichte auf: Klie,
   Thomas (2010): Freiheitsentziehende Maßnahme vor Gericht: Regel oder Ausnahme? In: Betreuungs-
   rechtliche Praxis. H. 3, S. 109 ff.
20 WSK-Allianz (2011): Parallelbericht zum fünften Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland zum
   Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Berlin. S. 14, http://www.
   institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/ICESCR/
   icescr_state_report_germany_5_2008_parallel_Alliance_de.pdf; Deutsches Institut für Menschenrechte
   (2014): Schriftliche Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Menschenrechte und
   humanitäre Hilfe. Menschenhandel und Zwangsprostitution in Europa. Berlin, S. 12.
21 BRK-Allianz (2013): Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! Erster Bericht der
   Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtkonvention in Deutschland. Ohne Ort, S. 26.
22 Task Force Verfassungsschutz (2014): Abschlussbericht der Task Force zur Überprüfung der Speicherung
   personenbezogener Daten durch den niedersächsischen Verfassungsschutz. Hannover. http://www.
   mi.niedersachsen.de/download/87237.

                                                                                                               17
4        Warum fehlt der Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen?

      4 Warum fehlt der Zugang zum Recht
      bei Menschenrechtsverletzungen?
      Es ist nicht verwunderlich, dass auch im           17-Jährigen. Bislang hat der Gesetzgeber
      entwickelten Rechtsstaat Deutschland               die Entscheidung über die Geschäfts- und
      strukturelle Defizite beim Zugang zum              Prozessfähigkeit mit Blick darauf gefällt,
      Recht bestehen. Denn für das Menschen-             ob die in Frage stehende Person besonders
      recht auf Zugang zum Recht gilt, was für           schutzbedürftig ist. Aus einer menschen-
      alle Menschenrechte gilt: Sie sind eine            rechtlichen Perspektive muss er hingegen
      unabgeschlossene Lerngeschichte. Deshalb           auch sicherstellen, dass es jeder Mensch
      schließt auch ein einmal erreichtes hohes          bei einer möglichen Menschenrechtsver-
      Maß an Menschenrechtsschutz das Beste-             letzung selbst in der Hand hat, sich dage-
      hen oder Entstehen struktureller Men-              gen zu wehren. Nach der UN-Kinderrechts-
      schenrechtsprobleme nicht aus. Für struk-          konvention kann beispielsweise Minder-
      turelle Mängeln beim Zugang zum Recht              jährigen nicht länger pauschal verweigert
      lassen sich fünf zentrale Ursachen ausma-          werden, sie selbst betreffende Entschei-
      chen.                                              dung mitzugestalten.

                                                         Um die unzureichende Anerkennung der
      4.1 Die Verkennung von Men-                        Schwere einer Menschenrechtsverletzung
      schenrechtsverletzungen                            geht es in dem Beispiel des mit der Aus-
                                                         weisungsdrohung erpressten Geschlechts-
      Wenn eine Menschenrechtsverletzung                 verkehrs. Wo es für eine Verurteilung
      nicht erkannt oder in ihrer Schwere ver-           wegen Vergewaltigung nicht ausreicht,
      kannt wurde, dann kann die Rechtsord-              dass der Geschlechtsverkehr ohne das freie
      nung gar nicht auf sie reagieren oder der          Einverständnis beider Beteiligter stattfand,
      Schwere entsprechend ausgestaltet wer-             wird das Strafrecht dem Menschenrecht
      den. Das gilt für das materielle Recht eben-       auf sexuelle Selbstbestimmung nicht
      so wie für das Verfahrensrecht.                    gerecht. Die Bestrafung als Nötigung
                                                         schützt Betroffene nicht angemessen, weil
      Um die fehlende Anerkennung der men-               sie nicht den zentralen Unwertgehalt der
      schenrechtlichen Anforderungen an das              Tat – Verletzung der sexuellen Selbstbe-
      Verfahrensrecht geht es im eingangs                stimmung – sanktioniert, sondern nur den
      geschilderten Fall des diskriminierten             ausgeübten Zwang; das spiegelt sich auch
    18
Warum fehlt der Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen?                 4

im gesetzlichen Strafrahmen wider. Wenn                Rechtsträgerinnen sowie die Gerichte und
schon das materielle Recht unzureichend                anderen staatlichen Stellen verhalten wer-
ist, dann kann der gerichtliche Schutz                 den. Ein strukturelles Defizit entsteht,
nicht zureichend sein. Hier wird deutlich:             wenn sich die Prognose als unzutreffend
Zugang zum Recht bei Menschenrechts-                   erweist, wenn der Zugang zum Recht also
verletzungen setzt angemessene materiel-               wider Erwarten oder über die Erwartung
le Regelungen voraus. Auch wenn dieser                 hinaus erschwert worden ist, und der
Aspekt zumeist nicht zum Zugang zum                    Gesetzgeber nicht nachsteuert.
Recht im engeren Sinne gezählt wird, ist
er doch unverzichtbar, wenn es darum                   Wenn beispielsweise Gesetze zur Abwehr
geht, Hindernisse beim Zugang zum Recht                terroristischer Bedrohungen die Befugnis-
zu identifizieren (hierzu schon unter 2.5).            se der Sicherheitsbehörden zu verdeckten
                                                       Eingriffen in Menschenrechte erweitern,
In allen skizzierten Fallkonstellationen               dann nehmen auch die Situationen zu, in
liegt die Herausforderung für die rechts-              denen der Rechtsschutz eingeschränkt ist.
politische Debatte darin, zunächst eine                Gerade die Vorverlagerung von Maßnah-
breite Anerkennung für die bislang uner-               men aus der strafrechtlichen Verfolgung
kannte Menschenrechtsverletzung oder für               in den Bereich der Prävention bringt es mit
ihre bislang unterschätzte Schwere zu                  sich, dass eine Vielzahl von Personen
gewinnen. Das ist die Voraussetzung, um                betroffen sein kann – man denke an die
die gebotene Schlussfolgerungen für das                Erfassung der telefonischen und elektro-
materielle Recht und das Verfahrensrecht               nischen Kontakte der Zielperson. Ob diese
ziehen zu können, damit auch der Zugang                Betroffenen wirksamen gerichtlichen
zum Recht abgesichert ist.                             Schutz erhalten, kann sich erst in der Pra-
                                                       xis erweisen. Die dem Gesetz zugrunde lie-
                                                       gende Prognose über den Einsatz der neu-
4.2 Die Ungewissheit bei der                           en Befugnisse und ihre Kontrolle muss des-
Rechtsetzung                                           halb Bestandteil einer menschenrechtli-
                                                       chen Evaluierung von Sicherheitsgesetzen
In manchen Situationen ist das Ausmaß                  sein.23
der Beeinträchtigung von Menschenrech-
ten ungewiss, weil der Gesetzgeber seine               Ein anderes Beispiel ist die Vergrößerung
Entscheidung auf eine Prognose bauen                   einer bereits bestehenden Zugangshürde
muss. Das gilt auch für den Zugang zum                 durch eine Rechtsänderung oder die
Recht bei Menschenrechtsverletzungen.                  Errichtung einer neuen Hürde durch den
Hier geht der Gesetzgeber von Annahmen                 Gesetzgeber. Werden beispielsweise die
darüber aus, wie die Rechtsträger und                  Voraussetzungen verschärft, unter denen

23 Weinzierl, Ruth (2006): Die Evaluierung von Sicherheitsgesetzen. Anregungen aus menschenrechtlicher
   Perspektive. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte. Eingehender die Beiträge in: Albers, Marion
   / Weinzierl, Ruth (Hg.) (2010): Menschenrechtliche Standards in der Sicherheitspolitik. Beiträge zur
   rechtsstaatlichen Evaluierung von Sicherheitsgesetzen. Baden-Baden: Nomos Verlag.

                                                                                                             19
4        Warum fehlt der Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen?

      der Staat wirtschaftlich bedürftige Perso-             4.3 Die Menschenrechtsverlet-
      nen die Zahlung von Gerichts- und                      zung ist neu
      Anwaltskosten erlässt oder erleichtert
      (Prozesskostenhilfe), so wird einer g­ rößeren         Hindernisse beim Zugang zum Recht kön-
      Zahl von Betroffenen der Weg zum Gericht               nen ferner aus der Entstehung neuer
      abgeschnitten. Wird eine niedrigschwelli-              Bedrohungen für Menschenrechte herrüh-
      ge Beschwerdemöglichkeit abgeschafft,                  ren. So hat beispielsweise der technische
      etwas das Widerspruchsverfahren, und                   Fortschritt bei der Datenspeicherung neue
      sind die Betroffenen daher gezwungen,                  Gefährdungslagen geschaffen oder die
      sich direkt an ein Gericht zu wenden, dann             Globalisierung der Wirtschaft dazu
      kann dies davon abschrecken, Rechts-                   geführt, dass Menschenrechtsverletzun-
      schutz in Anspruch zu nehmen.                          gen jenseits der eigenen Staatsgrenzen in
                                                             weit größerem Maße als zuvor möglich
      Nur selten dürfte die Erschwerung des                  werden. Hier muss erst einmal eine Ver-
      Zugangs zum Recht eine unbeabsichtigte                 ständigung darüber erreicht werden, dass
      Nebenfolge sein. Zumeist wird diese Aus-               Menschenrechte auch diese Konstellatio-
      wirkung dem Gesetzgeber klar sein, und                 nen erfassen. Das bedeutet also beispiels-
      er wird sein Vorgehen zu rechtfertigen                 weise, dass das Recht auf Privatsphäre
      suchen, im genannten Beispiel etwa mit                 (Artikel 17 Zivilpakt, Artikel 8 EMRK) auch
      dem Zweck, die Gerichtsbarkeit zu entlas-              das Recht auf Schutz der persönlichen
      ten oder die finanzielle Belastung der                 Daten umfasst,24 oder dass die Menschen-
      öffentlichen Kassen zu verringern. Hier                rechte auch eine extraterritoriale Bin-
      geht es also darum sicherzustellen,                    dungswirkung entfalten. Erst nach der
      dass die gewählten Mittel zur Entlastung               Anerkennung der menschenrechtlichen
      danach ausgewählt wurden, möglichst                    Bindung des Staates kann auch die Frage
      menschenrechtsschonend zu sein, und die                beantwortet werden, wie die notwendige
      richtige Balance zwischen dem Menschen-                Sicherung des Zugangs zum Recht im Fal-
      rechtsschutz und anderen legitimen staat-              le von Verletzungen ausgestaltet wird.
      lichen Zielen zu finden. Soweit diese
      Abwägung auf Prognosen über die Auswir-
      kung der Rechtsänderung basiert, muss der
      Rechtsstaat diese Folgen zeitnah evaluie-
      ren und nachsteuern, wenn sich die Vor-
      hersage nicht bewahrheitet.

      24 Diese Anerkennung spiegelt sich auch darin wider, dass Artikel 8 Grundrechtecharta ausdrücklich ein
         Recht jedes Menschen auf Schutz der Daten, die ihn betreffen, enthält.

    20
Warum fehlt der Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen?        4

4.4 Die Rahmenbedingungen für                      und bauliche Barrierefreiheit sicherge-
Zugang zum Recht bleiben                           stellt, dass Menschen Gerichtsverfahren
unberücksichtigt                                   als fair wahrnehmen und keine Diskrimi-
                                                   nierungserfahrungen im Gerichtssaal
Des Weiteren können auch bei einem aus-            machen? Hat er Menschenrechtsbildung
gefeilten Rechtschutzsystem die tatsäch-           in der schulischen und außerschulischen
lichen Rahmenbedingungen unzureichend              Bildung und die entsprechende Aus- und
sein, damit Betroffene es auch in Anspruch         Fortbildung von pädagogischem Personal
nehmen. Die Gründe hierfür sind zahlreich          sichergestellt? Sind Informationen über
etwa mangelnde Informationen über die              außergerichtliche Beschwerdemechanis-
eigenen Rechte und über die Abhilfemög-            men, ihre Mandate und Verfahren, leicht
lichkeiten, das Fehlen menschenrechtssen-          zugänglich?25 Denn all dies zu gewährleis-
sibler Unterstützungsstrukturen (wie im            ten, ist Bestandteil der Gewährleistungs-
Fall der behinderten Bewerberin für den            pflicht des Staates, die anerkanntermaßen
Planungsausschuss) oder fehlendes Ver-             aus den Menschenrechten folgt.
trauen in das Gerichtssystem aufgrund von
Diskriminierungserfahrungen (wie im Fall
des Kopftuchverbots für die Zeugin). Ange-         4.5 Das Ungenügen gerichtlichen
sichts der Vielfalt der Rahmenbedingungen          Rechtsschutzes
(oben 2.5) muss die Rechtsetzung zum
Schutz vor Menschenrechtsverletzungen              Schließlich kann der Zugang zum Recht
deshalb frühzeitig auf die Erfahrungen             versperrt sein, weil gerichtlicher Rechts-
Betroffener, das Wissen zivilgesellschaft-         schutz in der Praxis gar nicht möglich ist,
licher Organisationen und Verbände sowie           etwa weil Betroffene von der Rechtsver-
die Erkenntnisse der Wissenschaften                letzung in der Regel nicht erfahren. Die
zugreifen.                                         Speicherung persönlicher Daten durch Ver-
                                                   fassungsschutzbehörden ist ein solcher
Hinzu kommt: Gerade bei den subjektiven            Fall. In diesen Konstellationen stellt sich
Faktoren für die Mobilisierung von Recht           die Frage nach alternativen Schutzmög-
besteht die Gefahr, dass ihr Fehlen als Defi-      lichkeiten, die die Schwächen gerichtlichen
zit einzelner Menschen gesehen wird.               Rechtsschutzes ausgleichen. Wie müssen
Menschenrechtlich geboten ist jedoch,              beispielsweise die Kontroll- und Sankti-
danach zu fragen, ob der Staat die Voraus-         onsbefugnisse durch Datenschutzbeauf-
setzungen für das Bestehen von Rechtsbe-           tragte oder parlamentarische Kontrollgre-
wusstsein, Rechtskenntnis und Anspruchs-           mien ausgestaltet sein, um wirksamen
wissen geschaffen hat. Hat er durch Fort-          Rechtsschutz zu gewährleisten? Oder
bildungen, Sensibilisierungsmaßnahmen              wenn die Klageerhebung von der Zustim-

25 Dies hat etwa der Menschenrechtskommissar des Europarates bereits 2007 angemahnt: Bericht
   des Menschenrechtskommissars Thomas Hammarberg über seinen Besuch in Deutschland: 9.-11.
   und 15.-20. Oktober 2006. CommDH (2007)14. Empfehlung Nr. 4 https://wcd.coe.int/ViewDoc.
   jsp?id=1163283&Site=COE.

                                                                                                  21
4        Warum fehlt der Zugang zum Recht bei Menschenrechtsverletzungen?

      mung eines Dritten, etwa der Eltern,
      abhängt, wie können sich Kinder und
      Jugendliche dennoch eigenständig gegen
      die Verletzung ihrer Menschenrechte weh-
      ren? Braucht es hier spezielle Ombudsstel-
      len für Kinder, und wenn ja, mit welchen
      Befugnissen? Bei Projekten der Entwick-
      lungszusammenarbeit kann gerichtlicher
      Rechtsschutz unzureichend sein, weil er
      nur nachträglich Schadensersatz ermög-
      licht, jedoch den Projektträger nicht zwin-
      gen kann, das Projekt menschenrechtskon-
      form auszugestalten. Unter welchen
      Bedingungen könnten Beschwerdemecha-
      nismen wirksame Abhilfe leisten?

      Wirksamen Zugang zum Recht bei Men-
      schenrechtsverletzungen zu sichern ist
      nach alledem auch ein Thema in Deutsch-
      land. Es ist eine Aufgabe, der sich Deutsch-
      land als entwickelter Rechtsstaat immer
      wieder stellen muss. Wenn Anzeichen für
      erschwerten oder gänzlich fehlenden Zu-
      gang zum Recht bei Menschenrechtsver-
      letzungen bestehen, haben Regierungen
      und Parlamente in Bund und Ländern des-
      sen Umfang und Ursachen zu erforschen
      und die Schlussfolgerungen zu ziehen, die
      wirksamen Rechtsschutz für alle ermögli-
      chen. Zudem muss die rechtsstaatlich
      gebotene Evaluierung von Gesetzen eben-
      falls den Zugang zum Recht umfassen.

    22
Sie können auch lesen