FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
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ZEITUNG FÜR DEUT SC HL AND 2016 Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND
2 DENK ICH AN DEUTSCHLAND WIRKÖNNEN Machen wir uns nichts vor: Die Deutschen gelten nicht als die allerbesten Gastgeber. Zu- Unsere Reputation in der Kategorie „offene Arme“ verbesserte sich aber, als 2015 Hun- AUCH ANDERS gegeben, Millionen machen bei uns Urlaub – aber das sind meistens nur andere Deutsche. derttausende Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben ungeordnet den Weg Auch das „Sommermärchen“ 2006 mit sei- nach Europa suchten (im Bild: im Hauptbahn- nem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ hof Frankfurt). Da zeigte die Zivilgesell- verbesserte unseren Ruf, aber wirklich von schaft, was sie draufhatte; Bürger verteilten Dauer war das nicht. (Immerhin waren wir so Decken und Wasser, nahmen Flüchtlinge bei gastfreundlich, zwei anderen Teams den Vor- sich auf. Sogar ein neues Wort ward erfun- tritt ins Finale zu lassen.) den: „Willkommenskultur“. Foto Helmut Fricke
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 3 DIE SPUREN DER ZUKUNFT VON THOMAS MATUSSEK Im Vorfeld der Konferenz haben wir das Welche Entscheidungen man trifft, hängt im- Fundament für diese Diskussion gelegt. Wir mer auch davon ab, wie weit der Blick reicht. haben Expertinnen und Experten für Integra- Die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (AHG) tion und Migration aus Politik, Wirtschaft und hat die Freiheit, nicht auf das nächste Pro- Gesellschaft zu drei Workshops eingeladen. blem oder die nächste Wahl blicken zu müs- In deren Rahmen wurden Trends und Ein- sen, sondern sich systematisch mit möglichen flussfaktoren identifiziert, die unser Leben Szenarien für die Zukunft auseinandersetzen mit den Zuwanderern in den Jahren bis 2025 DIE KONFERENZ zu können. Gemeinsam mit unseren Gästen beeinflussen werden. ZUM MAGAZIN wollen wir im Rahmen der diesjährigen So finden Sie neben manch anderem in die- Dieses Heft begleitet die achte „Denk „Denk ich an Deutschland“-Konferenz die sem Heft, kurzgefasst, auch das Ergebnis die- ich an Deutschland“-Konferenz, die am Gelegenheit nutzen, um Deutschlands Um- ses Prozesses: ein positives und ein negatives 23. September 2016 in Berlin stattfindet. gang mit den zahlreichen Geflüchteten, die Szenario für die zukünftige Entwicklung. Die- Mit dabei sind unter anderen: Olaf im vergangenen Jahr in unser Land gekom- se Szenarien sind keineswegs Prognosen für Scholz, SPD; Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte; Dietmar Bartsch, men sind, in den Fokus zu nehmen. die Zukunft. Sie zeigen jeweils mögliche und Die Linke; Anton Hofreiter, Bündnis Die Kanzlerin sagte im Sommer 2015: „Wir plausible Zukunftsentwicklungen auf und ver- 90/Die Grünen; Julia Klöckner, CDU; schaffen das.“ Wir wollen jenseits des Tages- deutlichen damit auch: WIR HABEN EINE Jörg Meuthen, AfD; Karl Theodor zu Gut- geschäfts und der alltäglichen Debatten WAHL. Die Szenarien enthalten fiktive Ele- tenberg; Sahra Wagenknecht, Die Linke; schon heute fragen: „Deutschland 2025 – mente und sind zugespitzt, damit sie eine kon- Andreas Voßkuhle, Präsident, Bundesver- fassungsgericht. Die Konferenz ist ausge- Haben wir’s geschafft?“ Dass Deutschland in troverse Diskussion ermöglichen. bucht. Wir können leider keine weiteren den kommenden Jahren bunter werden wird, Die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft sucht Anmeldungen berücksichtigen. Informa- bezweifelt kaum jemand. Doch schaffen wir die Spuren der Zukunft in der Gegenwart. Ich tionen finden Sie unter www. alfred-herr- es angesichts stärker werdender Extremis- freue mich darauf, das gemeinsam mit Ihnen hausen-gesellschaft.de; dort gibt es im Anschluss Beiträge von der Konferenz. men, zivilisatorische Errungenschaften wie auch auf der „Denk ich unseren Sozial- und Rechtsstaat auch in Zu- an Deutschland“-Konfe- kunft aufrechtzuerhalten? Wie kann man in renz am 23. September einer pluralen Gesellschaft eine gemeinsame wieder zu tun. Identität entwickeln und Solidarität der Thomas Matussek ist Menschen untereinander fördern? Geschäftsführer der AHG. IMPRESSUM Zur Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen MIGRATION UND WERTBEKENNTNIS Zeitung erscheint die Beilage VON JÜRGEN KAUBE Auf beiden Seiten wird dabei vergessen, dass Denk ich an Deutschland 2016. Die Beilage Ökonomisch ist Europa heute ein disparates etwa in Deutschland noch vor wenigen Jahr- ist eine Produktion der Frankfurter Gebilde. Politisch nehmen seine zentrifugalen zehnten Italiener, Portugiesen oder Spanier Allgemeinen Zeitung. Kräfte zu. Zugleich ist Europa aufgrund sei- als Fremde galten, denen ihre Zugehörigkeit Verantwortlicher Redakteur: ner wohlfahrts- und rechtsstaatlichen Orien- zum Abendland nicht viel half, wenn sie auf Klaus-Dieter Frankenberger. tierung zum Zufluchtsraum für alle Arten von kulturelle Stereotype trafen. Ihre Lebenschan- Zuständiger Redakteur: Bertram Migration geworden. Das wiederum verstärkt cen haben sich nicht durch einen kulturellen Eisenhauer. die ökonomische Ungleichheit ebenso wie Gesinnungswandel verbessert, sondern über Art Director: Peter Breul. den politischen Dissens. Zusätzlich verstärkt den Arbeitsmarkt, die Niederlassungsfreiheit, Bildredakteur: Henner Flohr, Christian Pohlert (verantwortlich). es die kulturellen Unterschiede in Europa, den Tourismus und die Gewöhnung. Gestaltung: Tobias Stier. weil viele Migranten als Fremde wahrgenom- Wer Migration darum als moralisches oder Repro/Produktion: Axel Busch, Michael men werden. kulturelles Projekt betrachtet, das entweder Lukas. „Der Schmelztiegel selbst darf nicht im Zeichen von Multikulturalität oder Nächs- Verantwortlich für Anzeigen: Ingo Müller; schmelzen“, hat man einmal über die tenliebe zu bejahen oder aus Gründen natio- für Anzeigenproduktion: Andreas Gierth. Bedingung für gelingende Integration naler Identität abzulehnen ist, greift an ihrer Druck: Westdeutsche Verlags- und Druckerei gesagt. Doch was ist der Schmelztiegel? Wirklichkeit vorbei. Über ihr Gelingen wird GmbH, Mörfelden-Walldorf. © Copyright Frank- In den Diskussionen um den Beitritt der pragmatisch entschieden werden: durch die furter Allgemeine Zeitung, Frankfurt am Main. Türkei zur Europäischen Union wurde Möglichkeiten des Schulunterrichts, die Kapa- Redaktion und Verlag, Postanschrift: lange mit „christlichen Traditionen“ zitäten des Sozialstaats, die Aufnahmefähig- Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Heller- argumentiert, um die Grenzen einer sinn- keit der Arbeitsmärkte und durch Einwande- hofstraße 2–4, 60267 Frankfurt am Main. vollen EU-Erweiterung zu bezeichnen. rungsgesetze, die all dies in Rechnung stellen Diese Sonderbeilage und alle in ihr enthalte- Heute berufen sich auf solche Traditionen – aber nicht durch das Fotos Daniel Pilar, Archiv (2) nen Beiträge und Abbildungen sind urheber- sowohl die Befürworter einer großzügigen Ablegen von Wertbe- rechtlich geschützt. Mit Ausnahme der Flüchtlingspolitik, die in ihr eine Wertent- kenntnissen. gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwer- scheidung sehen, als auch die Gegner, die tung ohne Einwilligung des Verlags strafbar. sich um das Abendland und die Identität sei- Jürgen Kaube ist Titelfoto: Louisa Gouliamaki/AFP ner Nationen sorgen. Herausgeber der F.A.Z.
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 5 Es gibt Äußerungen, die mitten in einem sich beschleunigenden Strom der Ereignisse fallen, die aber die Politiker, von denen sie stammen, auf Jahre hinaus festlegen. „Wir sa- gen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“, er- klärte Angela Merkel gemeinsam mit Peer Steinbrück 2008, als Ban- ken in die Knie gingen. Ein Segen, dass diese Zusage nicht getestet wer- den musste. Sieben Jahre später, am 31. August 2015, nahm Merkel auf einer Pressekonferenz Stellung zur Flüchtlingskrise mit Worten, die auch nicht so schnell in Vergessen- heit geraten werden: „Wir schaffen das!“ Je mehr Zeit vergeht, desto we- niger klingt der Satz nach selbstbe- wusstem Versprechen, sondern eher nach Autosuggestion. Horst Seeho- fer hielt die Formel wie auch Mer- kels ganze Flüchtlingspolitik von Anfang an für falsch. Foto Zhang Fan/Xinhua (links), dpa ICHABER SAGE IHNEN
6 DENK ICH AN DEUTSCHLAND .. DURCH DIEHINTERTUR .. IN EINENEUE ARA A ls im Herbst 2015 Migranten in ho- Auch bei der mehr möglich sein, künftige Aufga- her Zahl nach Deutschland kamen, ben als nationale zu verstehen. reagierte das Land hilfsbereit, aber Integration der Flüchtlinge Deutschland wird die Staaten der EU zunehmend auch nervös. Bald wur- werden die Deutschen wieder dafür gewinnen müssen, weitere Schritte de heftig darüber gestritten, ob es verantwor- über sich hinauswachsen. in diese Richtung zu tun. tungsvoll war, dass Angela Merkel am 31. Au- Doch das Erbe, das Angela So unumgänglich das ist, so wird es doch gust erstmals den später von ihr mehrfach wie- aus mehreren Gründen schwer werden. Nur Merkel hinterlassen wird, derholten Satz sagte: „Wir schaffen das.“ zwei seien genannt. Erstens hat sich Deutsch- Schnell kam in die Debatten ein Ton der Ge- dürfte auch ein land mit seinen ordnungspolitisch begründe- reiztheit. Von vielen ihrer ehemaligen Anhän- widersprüchliches sein. ten Interventionen in die Europa- und Europo- ger wurde die Bundeskanzlerin mit einem Eti- VON THOMAS SCHMID litik ziemlich unbeliebt gemacht. Deutschland kett versehen, das aus dem Sprachgebrauch ei- will kein Hegemon, auch kein freundlicher He- ner düsteren Vergangenheit stammte. Sie sei gemon, ja nicht einmal ein halber Hegemon eine „Verräterin“, die eine Politik der „Um- sein. Es wird beweisen müssen, dass ihm da- volkung“ betreibe. Umgekehrt wurde die deut- Kohl und die nur darin ihm verwandte Angela mit ernst ist. Deutschland kann seine zentrale sche Regierungschefin für Liberale und Linke Merkel waren als Regierungschefs gut geeig- Rolle in Europa nur spielen, wenn es das im plötzlich zu einer politischen Heroine. Die net, die Deutschen ohne Tamtam und Ruckre- Verbund mit anderen tut. Das aber wird, zwei- Rollen verrutschten; seither geht im Land die den als joviale Reiseführer in die neue Zeit zu tens, auch deswegen schwer werden, weil der Ahnung um, dass im Herbst 2015 etwas ge- geleiten, besser: zu begleiten. Der aktuellen viel beschworene und überhöhte deutsch-fran- schah, dessen Folgen noch lange nicht abzuse- Nervosität zum Trotz gibt es wenig Grund, dar- zösische Motor längst stillsteht und vermut- hen sind. Der Ministerpräsident, der sagte, er an zu zweifeln, dass diese Gelassenheit eine lich auch nicht mehr anspringen wird. Das Eu- wünsche, dass Deutschland genauso bleibt, deutsche Tugend bleiben wird. Sie liegt in der ropa neuer regionalpolitischer Verantwortung wie es ist, traf schon den Punkt: Deutschland Größe, der wirtschaftlichen Stärke und der kann kein karolingisches Muster mehr tragen. wird nicht genauso bleiben, wie es ist. Wie vergleichsweise großen Integrität seiner Insti- Im Verbund, aber einsam: Das wird Deutsch- wird es anders werden? tutionen begründet. Deutschland wird 2025 lands Schicksal in den kommenden zehn Jah- Ein zeitraffender Blick auf die Entwicklung vermutlich so stabil sein wie heute. ren sein. Das erfordert große Kraft im Ausba- des Vierteljahrhunderts, das hinter uns liegt, Auf die Probe gestellt wird diese Stabilität lancieren. Es kann daraus nur etwas werden, zeigt: Deutschland hat einen großen Magen. aber gleichwohl, von außen und von innen. wenn die Europapolitik im Berliner Regie- Es hat sich in diesen 25 Jahren viel mehr ver- Was Wolfgang Schäuble einmal salopp unser rungsviertel, aber auch in den deutschen ändert als in den vier davorliegenden Jahr- „Rendezvous mit der Geschichte“ genannt Staatskanzleien, bei den Parteien und in der zehnten der „alten“ Bundesrepublik, von der hat, markiert tatsächlich eine Zäsur. Und die- öffentlichen Auseinandersetzung endlich Vor- Wiedervereinigung über den Kosovo-Krieg, se trifft Deutschland als die größte politische rang bekommt. die Agenda 2010 bis zu zwei Ostdeutschen in Macht Europas besonders. Man kann diese Seit Wladimir Putin zu alter Macht- und höchsten Ämtern der Republik. Bürger, Staat Migrationsbewegung mit europäischer Brille Geopolitik zurückgekehrt ist, wird immer und Parteien haben diesen zum Teil grundstür- als etwas von außen Kommendes sehen, das spürbarer, dass das kurze 20. Jahrhundert in zenden Wandel erstaunlich gelassen hinge- es zu unterbinden oder wenigstens zu regulie- Wahrheit ein langes Jahrhundert war und dass nommen und verarbeitet. Nur bei Minderhei- ren gilt. Ein weiterer Blick zeigt, dass damit es einschließlich etlicher Restlasten des 19. ten, die AfD eingeschlossen, gibt es das Ge- vermutlich nicht viel gewonnen wäre. Die Tra- Jahrhunderts noch immer nicht zu Ende ist. fühl, in einer weniger lebenswerten und siche- gödien am Südrand des Mittelmeers gehen Das europäische Paradox besteht darin, dass ren Welt zu leben und der eigenen Geschichte Europa, gehen Deutschland an. Sie werden, in dieser neuen Situation ausgerechnet jenem Illustration F.A.Z. und Identität beraubt zu sein. wenn wir nicht zur Besserung beitragen, auch Land die größte Verantwortung zufällt, das Deutschland hat die neue Ära gewisserma- zu unseren Tragödien werden. Wenn Deutsch- am wenigsten von allen europäischen Län- ßen durch die Hintertür betreten. Helmut land so bleiben will, wie es ist, wird es nicht dern auf diese „Rückkehr der Geschichte“ ge-
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 7 fasst war: Deutschland. Es wird der Er- ke Idee – sieht man von „ihrer“ Stunde im wartung an die neue Rolle nur ge- Spätsommer 2015 ab, als sie mit einer huma- recht werden können, wenn die Poli- nen Geste deutlich machen wollte, dass wir tik dabei nicht an den Bürgern vor- unsere Politik ändern müssten, wenn wir in ei- bei oder gar gegen sie agiert. Doch dar- ner sich dramatisch verändernden Welt beste- auf sind die Deutschen und ihr politisches Per- hen wollen. Da sie aber beharrlich nicht wil- sonal nicht gut vorbereitet. lens war, darüber hinaus Akzente zu setzen Mental kann man die Gründungs- und die und politische Ideen zu erproben, wird sie goldenen Jahrzehnte der „alten“ Bundesrepu- auch Ratlosigkeit hinterlassen. blik als eine Zeit glückhaft erlebter Abkehr Das Jahr 2015 hat so gebieterisch wie nie zu- von der Geschichte, von der Außenpolitik und sich eine Sollstelle auf. Andererseits geht von vor die Frage der Eingemeindung von Migran- von dem Kampf um die eigene Stellung in der der Regierungspolitik der unaufgeregten Ge- ten auf die politische Tagesordnung gebracht. Welt beschreiben: Sich klein machend und ver- schäftigkeit ohne Akzentsetzung auch etwas In zehn Jahren wird man erkennen können, stehend, wurde Deutschland wieder groß. Beruhigendes aus. In Zeiten, in denen viel ge- dass die Deutschen, ihre Institutionen und Doch auch wenn die Mehrheit der Bürger in- tan werden muss, kann man auch viel falsch ihre Politiker in der Lage waren, über sich hin- zwischen Deutschlands aktivere Rolle in der machen. Eine Haltung, die auf Zeitgewinn, Be- auszuwachsen und bisher kaum Denkbares zu Welt akzeptiert, fehlt doch weithin das Be- standwahrung und minimale Terraingewin- wagen. Ein Indiz dafür war die Geschwindig- wusstsein, dass diese Rolle ausgefüllt sein will nung setzt, ist da nicht das Schlechteste. keit, mit der Politiker, die vorwiegend Einwan- und sich das nicht einfach aus dem Gestern Das hat Merkel, obwohl von Gegnern und derungsgegner waren, nach dem Herbst 2015 und Vorgestern ergibt. Dass es bisher bei die- Konkurrenten umstellt, auf fast unwiderstehli- sich dem Neuen geöffnet haben. Binnen kur- sem Mangel geblieben ist, wird durch die Art che Weise stark gemacht. Ihre Stärke ist (oder zer Zeit hatten auch in CDU und CSU die erleichtert, wie Deutschland heute regiert war?) die Schwäche der anderen; der Partei- Überfremdungstheoretiker ihre Positionen ge- wird. Von der Methode, mit der die Bundes- en, die eigene eingeschlossen, vorweg. Es räumt und sich an die Arbeit gemacht. In zehn kanzlerin seit 2005 tätig ist, geht kein Signal steht nicht zu erwarten, dass man sie, wie alle Jahren wird es Bayern sein, dem es so vorbild- aus. Eines ergibt sich unaufgeregt und wie ihre Vorgänger, abwählen oder aus dem Amt haft wie keinem anderen Bundesland gelun- selbstverständlich aus dem anderen, kein An- treiben muss. Sie wird aber nach ihrem Ab- gen ist, Muslime fordernd in das deutsche Ge- fang, kein Ende: Alles fließt. Es geht wie in ei- gang eine entkräftete politische Landschaft meinwesen hinein zu holen, den Islam bava- ner Behörde zu. Passt das zu einem Staat, der hinterlassen. Die AfD wird gehen, wie sie ge- ria-verträglich zu machen und das stark verän- sich Größeres wird vornehmen müssen? kommen ist. Aber nach ihr wird es die Partei- derte deutsche Vaterland gleichwohl grundge- Nein und ja. Nein, weil gebieterisch mehr enlandschaft Deutschlands so nicht mehr ge- setztreu und traditionsbewusst zu bewahren. als „business as usual“ ansteht. Wird dies im ben. Angela Merkel hat auf ihre Weise Westbindung, Marktwirtschaft, Ostpolitik, Regierungshandeln wie im öffentlichen Dis- Deutschland auf neue Zeiten und neue Aufga- Wiedervereinigung: Deutschland hat in den kurs bestritten oder beschwiegen, kann das ben vorbereitet. Indem sie aber durch zwei gro- vergangenen 70 Jahren immer wieder bewie- ein populäres Unbehagen nähren, möglicher- ße Koalitionen hindurch nicht zufällig das ago- sen, dass es fähig ist, große und die Bevölke- weise mit extremistischen politischen Folgen. nale Prinzip der Demokratie außer Kraft ge- rung spaltende Probleme dann entschlossen Man erklärt die Erfolge der AfD oft mit der setzt hat, schliff sie die Parteienlandschaft ab. anzugehen, wenn sie erst einmal unabweisbar vermeintlichen oder tatsächlichen Furcht vie- Auch eine schwarz-grüne Koalition im Bund vor der Tür standen. Dieses Vermögen steht in ler Bürger vor dem drohenden oder schon ein- würde diesen Aufzehrungsprozess fortsetzen. einem derart krassen Kontrast zum früheren getretenen Verlust nationaler Souveränität Sie wird ein weiterer Schritt zur Einebnung deutschen Machtfundamentalismus, dass die und mit der Verwirrtheit angesichts der neuen der Parteienlandschaft sein. Am Ende könnte Vermutung naheliegt, dieser Pragmatismus globalen Unübersichtlichkeit. Tatsächlich wis- die Frage aufkommen, ob das Instrument Par- sei die unmittelbare Lehre, die die Deutschen sen die meisten aber genau, dass es keine Al- tei, von seinen ideologischen Restbeständen aus ihrer selbstverschuldeten Katastrophe ge- ternative zum Dahinschwinden herkömmli- gereinigt, in Zukunft noch geeignet ist, Politik zogen haben. Wenn dem so wäre, spricht we- cher nationaler Souveränität gibt und die Un- zu ermöglichen. nig gegen die Annahme, dass Deutschland in übersichtlichkeit nun einmal da ist. Das Erbe der Bundeskanzlerin wird para- der Lage sein wird, die historisch neuen Aufga- Was aber fehlt, sind beharrliche Versuche, dox sein. Trotz aktueller europäischer Turbu- ben des kommenden Jahrzehnts im letzten diese Wirklichkeiten zu erklären, ihnen Kon- lenzen, die sich wieder legen werden, hat sie Moment pragmatisch zu bewältigen. tur zu geben. In dieser Kunst ist die Kanzlerin Deutschlands Stellung in der Europäischen nicht sehr stark, und darin folgen ihr inzwi- Union gestärkt. Sie hat das aber, wie immer, Der Autor ist Publizist und schen auch alle anderen Parteien. Hier tut ins allzu Offene hinein getan: ohne eine star- lebt in Berlin.
8 DENK ICH AN DEUTSCHLAND EINEEROSIONDES VERTRAUENS D ie Stimmungslage der Bürger ist zurzeit Die Bürger sind skeptisch, Dass vor allem gut Gebildete ins Land strö- von einer ungewöhnlichen Konstellati- men und helfen, den Mangel an Fachkräften ob ihr Land die massenhafte on geprägt: Die Zufriedenheit mit der in einigen Branchen zu mildern, hielt die gro- eigenen materiellen Lage steigt seit Jahren kon- Einwanderung verkraftet. ße Mehrheit zu keinem Zeitpunkt für plausi- tinuierlich an, die Konsumfreude ist groß, und Der Politik trauen sie die bel. Die kulturellen Prägungen und Wertvor- Sorgen um die Sicherheit des eigenen Arbeits- Lösung des Problems nicht zu. stellungen werden als völlig anders und fremd platzes treiben nur noch eine Minderheit um – VON RENATE KÖCHER wahrgenommen. 90 Prozent der Bevölkerung ganz anders als noch vor zehn Jahren. Gleich- sind überzeugt, dass sich Kultur und Wertvor- zeitig ist der Zukunftsoptimismus der Bürger in stellungen der meisten Flüchtlinge gravierend den letzten zwölf Monaten regelrecht zusam- von der deutschen Kultur und den anerkann- mengebrochen. Nur 36 Prozent der Bevölke- Mit den Flüchtlingszahlen bildete sich in ten gesellschaftlichen Grundprinzipien unter- rung sehen den kommenden zwölf Monaten diesem Jahr zwar auch die Beunruhigung scheiden. Die meisten denken hier nicht nur hoffnungsvoll entgegen, die Mehrheit mit Skep- der Bürger zurück. Die Mehrheit ist jedoch an die Gleichstellung von Mann und Frau sis oder sogar ausgeprägten Befürchtungen. skeptisch, ob der Rückgang der Flüchtlings- oder die religiösen Überzeugungen, sondern Ähnlich düster war die Stimmung der Bevölke- zahlen wirklich nachhaltig ist. Gleichzeitig auch an die Haltung zum Staat und die Bereit- rung in den letzten Jahrzehnten nur in Zeiten sieht die Bevölkerung in den Flüchtlingen, schaft, die Gesetze einzuhalten. Auch in Be- gravierender ökonomischer oder politischer die sich bereits im Land befinden und aner- zug auf die Kindererziehung und die Leitvor- Krisen, wie während der Ölkrisen, inmitten kannt oder zumindest geduldet sind, eine stellungen für das Familienleben unterschei- der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise 2008, enorme Herausforderung, die die Herkules- den sich nach der Einschätzung der großen nach den New Yorker Anschlägen oder Anfang aufgabe der ersten Unterbringung und Ver- Mehrheit die Vorstellungen gravierend. der neunziger Jahre, als eine Rezession und die sorgung bei weitem übersteigt. 71 Prozent Diejenigen, die in den letzten zwölf Mona- Flüchtlingswelle vom Balkan zusammentrafen. beurteilen die Integrationschancen skep- ten häufiger Kontakte zu Flüchtlingen hatten, Was die Bürger heute verunsichert, sind vor tisch, lediglich jeder Fünfte ist hier zuver- sehen dies nicht wesentlich anders als der allem der Flüchtlingszustrom, die Häufung von sichtlich. Durchschnitt der Bevölkerung. Sie betonen die Terrorakten, die internationalen Krisen, die un- Das hat wenig mit Ausländerfeindlichkeit unterschiedlichen Prägungen teilweise sogar kalkulierbar und auch fast unbeherrschbar er- zu tun. Deutschland hat seit Jahrzehnten Mil- noch stärker; dies gilt insbesondere in Bezug scheinen, und die innere Sicherheit in Deutsch- lionen Bürger mit Migrationshintergrund. Die auf die Leitideen für das Familienleben und land. Inmitten der wirtschaftlichen Prosperität Mehrheit der Bevölkerung zählt aus anderen die Kindererziehung. Lediglich in Bezug auf und robusten Konjunktur wächst das Bedroht- Ländern Zugewanderte zu ihrem Freundes- die Einstellungen zum Staat und die Bereit- heitsgefühl der Bürger kontinuierlich an. oder Bekanntenkreis; das gilt insbesondere schaft, sich an den geltenden Gesetzen und Re- Der Zeitpunkt, zu dem der Optimismus zu- für die junge Generation, von denen die große geln zu orientieren, sehen diejenigen, die in sammenbrach und einer tiefen Besorgnis Mehrheit mit ausländischstämmigen Kindern den letzten Monaten häufiger Kontakte zu wich, lässt sich eindeutig auf den Spätsommer zur Schule gegangen ist. Die große Mehrheit Flüchtlingen hatten, tendenziell weniger des vergangenen Jahres datieren. Die Flücht- zieht in Bezug auf diese Zugewanderten eine Schwierigkeiten als der Durchschnitt der Be- lingskrise, die zu diesem Zeitpunkt eskalierte, positive Bilanz, stuft sie als überwiegend gut völkerung. 61 Prozent der gesamten Bevölke- erschütterte und alarmierte die Bevölkerung. integriert sein. rung, 55 Prozent der Bürger, die häufiger Kon- Dass eine Regierung die Kontrolle über die ei- In Bezug auf die Flüchtlinge ist die große takte zu Flüchtlingen hatten, gehen von signifi- genen Grenzen verliert und Hunderttausende Mehrheit jedoch überzeugt, dass die Voraus- kanten Unterschieden bei der Einstellung zum unregistriert ins Land strömen, war zuvor für setzungen für eine erfolgreiche Integration Staat und der Bereitschaft, Gesetze und Re- die Bürger kaum vorstellbar. Die anfangs von eher ungünstig sind. Zu unterschiedlich sind geln einzuhalten, aus. In Bezug auf die Gleich- Medien und Politik gefeierte Willkommenskul- nach der Einschätzung der Bürger die kulturel- stellung von Mann und Frau sehen 93 Prozent tur war weit von der Gemütslage der Mehrheit len Prägungen, zu groß der Rückstand an schu- der gesamten Bevölkerung, 95 Prozent derjeni- entfernt, die schockiert und beklommen war. lischer und beruflicher Bildung. gen mit Kontakten zu Flüchtlingen gravieren- Integrationschancen der Gefahr durch radikale Islamisten Ängste nach Terror im Sommer Flüchtlinge sehr gut Wie groß ist die Gefahr, die in Deutschland von radikalen islamischen Gruppen ausgeht? 2016 Diese Anschläge waren erst der Anfang Unentschieden, 77% keine Angaben 8 1 (sehr) groß 73% 20 gut gar 2014 Wir leben nie mehr so sicher wie früher nicht Wie gut 2004 sind die Chancen 62% 63% gut 2015 58% 21 der Flüchtlinge, 2009 68% sich in die deutsche 55% Gäbe es weniger Flüchtlinge, gäbe es weniger Terror Gesellschaft zu 2012 integrieren? 56% 47% 50 weniger gut 2006 Die Situation in Deutschland ist außer Kontrolle 45% Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre. Quelle: Allensbach / F.A.Z.-Grafik Niebel 34%
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 9 de Unterschiede zwischen den Prägungen der 52% 54% 49% (sehr) gut Flüchtlinge und der deutschen Bevölkerung. 47% 48% Die Bevölkerung hat klare Vorstellungen 44% 40% 41% von den Voraussetzungen einer erfolgreichen Integration: rascher Erwerb von Sprachkennt- nissen, Integrationsbereitschaft, die Akzep- Optimistische Deutsche tanz der Grundprinzipien der deutschen Ge- sellschaft, insbesondere der Gleichstellung Es stufen die eigene wirtschaftliche Lage ein als: von Männern und Frauen, Bildungsinteresse und die Bereitschaft, unter Deutschen zu le- 15% 15% 14% ben, und sich nicht abzuschotten. 12% 11% 11% (eher) schlecht 9% 9% Die Bürger verstehen unter Integration nicht Assimilierung. Sie halten es jedoch für 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 wichtig, dass bei ernsten Konflikten zwischen Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre. Quelle: Allensbach / F.A.Z.-Grafik Niebel den kulturellen Prägungen aus dem Herkunfts- land und der deutschen Kultur die Letztere den Vorrang hat. Der Begriff der Leitkultur, mehr in ihrem Umfeld so frei bewegen kön- nen Querelen so geschwächt, dass sie deutlich der in der öffentlichen Diskussion immer wie- nen wie früher, ohne sich Risiken auszuset- unter 5 Prozent lag. Mit der Flüchtlingskrise der zu Kontroversen führte, ist für die große zen. Auch Einbruchdiebstähle beunruhigen und der Reaktion der im Parlament vertrete- Mehrheit kein Reizwort, sondern eine Selbst- der Bürger zunehmend. Zu diesen Risiken im nen Parteien auf diese Herausforderung nahm verständlichkeit. Ob Integration gelingt, Nahbereich kommt die Sorge, dass Deutsch- die Unterstützung für die AfD steil zu. In die- hängt nach Überzeugung der meisten auch land in internationale militärische Konflikte sem Jahr bewegen sich die Zweitstimmenwahl- von der Entschiedenheit ab, mit der wesentli- hineingezogen werden könnte. Für zwei Drit- absichten zugunsten der AfD bisher zwischen che Grundprinzipien im Alltag durchgesetzt tel der Bürger ist dies eine reale Gefahr. 10 und annähernd 13 Prozent. Sämtliche werden. Dass beispielsweise weibliche Ärzte Die Zusammenballung von Risiken hat Landtagswahlen sind zurzeit von diesem Hö- zurückgewiesen werden oder Frauen der nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bevölke- henflug geprägt. Die Reaktion vieler Bürger Handschlag verweigert wird, ist nach Überzeu- rung unterminiert, sondern auch das Vertrau- auf die Erfolge der AfD bei Landtagswahlen gung der großen Mehrheit nicht tolerierbar. en in die Politik. Insbesondere die Reaktion zeigt eine Verbitterung über die im Parlament Die Beunruhigung über die noch lange der etablierten Parteien auf die Flüchtlingskri- vertretenen Parteien, die weit über den Kreis nicht erfolgreich bewältigte Flüchtlingswelle se hat zu einer tiefen Entfremdung und zu der AfD-Anhänger hinausreicht. Nach den ist jedoch nicht die einzige Quelle von Verunsi- Misstrauen geführt, ob sich die Ziele und Vor- Landtagswahlen von Baden-Württemberg cherung. Die Terroranschläge und Attentate stellungen der Politik überhaupt noch nähe- und Rheinland-Pfalz begrüßten 46 Prozent in Frankreich, Belgien und neuerdings auch rungsweise mit denen der Bürger decken. Die der Bürger das Abschneiden der AfD mit dem Deutschland unterminieren das Sicherheitsge- politische Reaktion auf die Eskalation der Argument, dass die etablierten Parteien einen fühl der Bürger. Flüchtlingskrise war und ist teilweise noch derartigen Denkzettel brauchen. Die Anschläge kamen für die Mehrheit kei- von einem bemerkenswerten Konsens der im In der öffentlichen Diskussion wurde in den neswegs überraschend. Schon vor der An- Parlament vertretenen Parteien geprägt. Von letzten Monaten immer wieder die AfD als das schlagsserie fürchteten drei Viertel der Bevöl- der Linken über die Grünen bis zu CDU und eigentliche Problem und Risiko dargestellt. kerung, dass es in absehbarer Zeit zu einem SPD wurde die Flüchtlingspolitik im letzten Das eigentliche Problem ist jedoch der Vertrau- Terroranschlag in Deutschland kommt. Nach Jahr weitgehend mitgetragen – eine unge- ensverlust der etablierten Parteien, die AfD den Anschlägen waren ebenfalls drei Viertel wöhnliche Konstellation bei einem Ereignis das Ergebnis dieser Vertrauenserosion. Die überzeugt, dass dies erst der Anfang ist und von derartiger Tragweite und Sprengkraft. Mehrheit der Bevölkerung kann bei keiner Par- weitere Anschläge drohen. 58 Prozent fürch- Der Schock, die Besorgnis der Mehrheit, hat- tei überzeugende Konzepte für den Umgang ten, dass man in Deutschland nie mehr so si- te im Parlament kaum eine Stimme und wurde mit der Flüchtlingssituation erkennen. cher leben kann wie zuvor. Knapp zwei Drittel so politisch nicht aufgefangen. Dazu kam zeit- Dies schwächt besonders die Partei, die in haben sogar das Gefühl, dass Terror und Ge- weise eine Medienberichterstattung, die im der Verantwortung ist und die immer weitaus walt mittlerweile zu unserem Alltag gehören. Verbund mit dem breiten Konsens im Parla- mehr als andere Parteien als Garant von Si- Die Gefahren, die von radikalen islamisti- ment ein gesellschaftliches Klima beförderte, cherheit gesehen wurde und in abgeschwäch- schen Gruppierungen für Deutschland ausge- in dem die Mehrheit der Bevölkerung plötzlich ter Form auch noch gesehen wird – die CDU. hen, treten immer mehr ins Bewusstsein der den Eindruck hatte, dass man vorsichtig sein War bei der letzten Bundestagswahl sogar die Bürger. Vor zehn Jahren veranschlagten 45 müsse, sich überhaupt mit seiner Meinung zur absolute Mehrheit in Reichweite, schwankt sie Prozent diese Gefahren als groß, im letzten Flüchtlingssituation zu exponieren. Die Be- zurzeit in der Bandbreite zwischen 33 und 35 Jahr bereits 68 Prozent, jetzt 77 Prozent. richterstattung der Medien zu diesem Thema Prozent. Die anderen im Bundestag vertrete- Die wachsenden Sorgen über Terrorgefah- wurde im letzten Jahr überwiegend kritisiert nen Parteien profitieren davon kaum, sondern ren treffen auf ein gesellschaftliches Klima, bis hin zum Vorwurf der „Lügenpresse“, der müssen auch kämpfen, um das Vertrauen der das ohnehin von wachsender Besorgnis um weit über den Kreis der Pegida- und AfD-An- Bürger zurückzugewinnen. Das ist angesichts die innere Sicherheit geprägt ist. Schon seit hänger hinaus erhoben wurde. der zahlreichen Krisen, für die es keine einfa- Jahren nimmt die Besorgnis über die Entwick- Eine Folge des Eindrucks, weder in Medien chen Lösungen gibt, nicht leicht. Gerade in die- lung von Gewalt und Kriminalität zu. Der An- noch in der Politik mit den eigenen Sorgen sem Umfeld wird Vertrauen rasch zerstört, teil der Bevölkerung, der sich in diesem Zu- und Positionen Verständnis zu finden, war die aber nur schwer restauriert. sammenhang Sorgen macht, stieg seit 2014 Renaissance und Stärkung der AfD. Noch im von 52 auf 82 Prozent. Insbesondere Frauen Frühsommer letzten Jahres war sie durch die Die Autorin ist Geschäftsführerin des Instituts haben heute den Eindruck, dass sie sich nicht Abspaltung des Lucke-Flügels und die inter- für Demoskopie Allensbach.
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 11 Mit der Kraftanstrengung eine Flüchtlingskolonne der Wiedervereinigung ist in Bayern). Mal mussten die Aufgabe, Hunderttau- die Behörden gestehen, sende Ausländer aus den dass in vielen tausend Fäl- Kriegsgebieten dieser len Menschen ins Land ge- Welt zu integrieren, schon kommen waren, die nicht verglichen worden. Kein registriert worden waren. Wunder, dass da selbst die Dann wieder kam es vor Bürokratie, sonst in Wahr- dem Berliner Landesamt heit wie in der Karikatur für Gesundheit und Sozia- eigentlich eine Spezialität les („LaGeSo“) wochen- der Deutschen, häufiger lang zu katastrophalen schwächelte, als den Bür- Szenen (Bild links), bis gern lieb sein konnte. diese Erstanlaufstelle zu Nicht überall liefen Erfas- einem Sinnbild für Staats- sung und Unterbringung versagen geworden war. der Neuankömmlinge ge- Fotos Matthias Lüdecke (links), ordnet ab (im Bild oben: Reuters DAS VERWALTETE ELEND
12 DENK ICH AN DEUTSCHLAND I n einem hellen Raum sitzen sechs Kin- der im Kreis mit zwei Erzieherinnen. Mal rufen sie im Chor, mal flüstern sie. LAND, nahmestopp“ verkündet. Man könnte auch „Obergrenze“ dazu sagen. Die Stadt hat diese Option nicht. Drumherum stapelweise Spielzeug. „Ra- madan, wo bist du?“, ruft eine Erzieherin. „Hier bin ich“, antwortet ein Junge. Die meis- STADT, Sie kann auch nicht verhindern, dass alle Flüchtlinge in bestimmte Viertel ziehen. Das Land könnte das. Die Wohnsitzregelung, die ten der Kinder sind Syrer. Seit zwei Monaten kommen sie jeden Morgen in die Kinderbe- treuung der Diakonie hier. Oberstes Ziel sei MIGRANT Teil des nun in Kraft getretenen Integrationspa- kets ist, wurde für Städte wie Essen geschaffen, um „Banlieue-Strukturen“ zu vermeiden, wie es, den Kindern eine Struktur zu geben und Überschuldete Haushalte, es stets hieß. Allerdings haben die Bundeslän- sie in einem geschützten Raum Kind sein zu soziale Verwerfungen: Viele der diese Regelung noch nicht umgesetzt. In Es- lassen, sagt eine Erzieherin. Man merke, dass sen heißt es nun, eine solche durch das Land Kommunen kämpfen ohnehin das für viele das erste Mal ist. sei „dringlich“. Die Kinder werden morgens von ihren El- darum, für ihre Bewohner gute In der Stadt seien alle Systeme „bis an den tern aus dem benachbarten Zeltdorf gebracht, Lebensbedingungen zu Rand gefordert“, sagt Björn Hermans, Leiter das in dem früheren Fußballstadion Mathias schaffen. Jetzt kommen noch der Caritas Essen. Immer müsse das scheinbar Stinnes aufgestellt wurde. In Karnap im äußer- Flüchtlinge hinzu – und alle Unmögliche möglich gemacht werden, damit ten Norden Essens, direkt neben der Müllver- die ganz normale Arbeit weitergehe. Zusätzli- brennungsanlage. Mittlerweile sind viele der Systeme werden „bis an ches gebe es grundsätzlich nicht. Beispiel Dol- hohen weißen Zelte nicht einmal mehr zur den Rand gefordert“. metscherkosten: Die sozialen Träger brauchen Hälfte belegt, dem stark zurückgegangenen Zu- Das Beispiel Essen. für fast alle Tätigkeiten einen Übersetzer. Als zug von Asylsuchenden sei dank. Am Eingang VON JULIAN STAIB kürzlich die Finanzierung von Seiten der Stadt des riesigen Zeltes, in dem die Familien der unsicher war, wussten die Helfer nicht, wie sie Kinder untergebracht sind, sitzen drei Frauen. am nächsten Tag weiterarbeiten sollten. Dann Vor ihnen Dutzende Steckdosen, an denen sie Durch den starken Zuzug von Flüchtlingen ha- wurde ein Restbudget aufgetan. „Es ist immer ihre Handys aufladen. Eine der Frauen lacht, ben nun viele die Sorge, dass ganze Stadtteile kurz vor knapp“, sagt Hermans. „Das Hemd ist sie hält ein braunes Couvert in den Händen. kippen. Und die hochverschuldete Stadt, die immer zu kurz.“ Darin ein Schreiben des Bundesamts für Migra- schon eine Fülle von Problemen besitzt, hat da- Auch er sorgt sich, dass die anerkannten tion und Flüchtlinge. Der Familie, es sind kur- mit eine Krise mehr. Flüchtlinge nun alle in die gleichen Stadtteile dische Iraker, die seit sieben Monaten in Essen funktioniert bisweilen wie ein Brenn- ziehen und sich die Spaltung der Stadt ver- Deutschland leben, wurde Flüchtlingsschutz glas. Weil sich an der Stadt die Probleme, die stärkt. Die Caritas betreibt ein „Begegnungs- zugesprochen. Sie dürfen endlich raus aus der sich durch Flüchtlinge ergeben, fast überspitzt projekt“, das Flüchtlinge und Bewohner ande- Zeltunterkunft und für mindestens drei Jahre aufzeigen lassen. Die fehlende Durchmi- rer Viertel zusammenbringen soll. „Nette An- in Deutschland bleiben. schung der Viertel, aber auch Fragen der Inte- sätze“, sagt Hermans dazu, aber bei der gegen- Wahrscheinlich werden sie sich zunächst gration angesichts überschuldeter Haushalte wärtigen Größenordnung seien die „homöopa- eine Wohnung im Essener Norden suchen, und nicht zuletzt die Schwierigkeit, unterstüt- thisch“. „Das geht alles nur mit Ressourcen, dort, wo die Mieten billig sind, und Hartz IV be- zungsbedürftige Einheimische nicht gegen die die nicht vorhanden sind.“ antragen. So wie die meisten anerkannten „Neuen“ auszuspielen – was die Sozialdemo- Seine größte Sorge ist, dass die anerkannten Flüchtlinge. In Essen leben mittlerweile rund kratie in größte Schwierigkeiten bringt. Flüchtlinge zu lange unbeschäftigt in ihren 18 000 Personen aus den Hauptherkunftslän- In Essen kommt hinzu, dass über Monate an- Wohnungen bleiben. „Die Allermeisten wol- dern. 7900 sind Syrer, Anfang 2015 waren es erkannte Flüchtlinge aus anderen Bundeslän- len ganz dringend etwas tun. Aber nach ein bis noch 1350. Essen war lange eine schrumpfen- dern in die Stadt zogen. Dorthin zumeist, wo zwei Jahren wird man bestimmte Gruppen de Stadt. Jetzt wächst sie wieder. Weil mehr schon Verwandte und Bekannte leben. Auch nicht mehr aktivieren können.“ Hermans ver- Kinder geboren werden und weil es mehr Zu- den Zugezogenen muss die Kommune Hartz- weist auf die libanesische Community in der zug gibt. Nicht nur von Flüchtlingen. Aber der IV-Leistungen zahlen. Mittlerweile sind den Stadt. Direkt neben dem Caritas-Hauptgebäu- Anteil der Deutschen ohne weitere Staatsange- kürzlich in Kraft getretenen Änderungen des de befindet sich das, was man in Essen als hörigkeit schrumpft deutlich, derjenige von Aufenthaltsgesetzes zufolge anerkannte Flücht- „Klein-Libanon“ bezeichnet. Hier im nördli- Personen mit ausländischer oder doppelter linge verpflichtet, in dem Bundesland zu blei- chen Teil der Innenstadt leben viele Libane- Staatsangehörigkeit dagegen steigt. Schon ge- ben, in dem ihr Asylverfahren durchgeführt sen, viele seit Jahrzehnten in Duldung. „Ausrei- schlossene Schulen werden wiedereröffnet. wurde – es sei denn, sie finden irgendwo an- sepflichtig“ steht teilweise noch in den Aus- 3000 „Seiteneinsteiger“ kamen im vergange- ders eine Arbeit. Damit ist für Essen der starke weispapieren der Enkel derer, die einst nach nen Jahr in die Klassen, die meisten waren Zuzug von außen gestoppt. Doch schon heute Deutschland geflohen waren. Im April erst gab Flüchtlingskinder. leben in der Stadt weit mehr Flüchtlinge, als ei- es Schwerverletzte bei einer Schießerei zwi- Vereinfacht dargestellt, hat Essen einen rei- gentlich vorgesehen sind gemäß der bundes- schen Libanesen. Die Clans sind für die meis- chen Süden und einen armen Norden. Aus al- weiten Verteilung anhand des Königsteiner ten in Essen das Beispiel dafür, wie es keines- len Statistiken der Stadt lässt sich die Spaltung Schlüssels. falls laufen sollte mit der Integration. ablesen. Etwa die Sozialhilfequote: Im Norden In den rund 800 Wohnungen, die von Cari- „Bei denen dachten damals alle, die gehen beziehen je nach Viertel bis zu 35,5 Prozent tas und Diakonie in der Stadt betreut werden, schon wieder“, sagt Peter Renzel (CDU). Die der Personen Hartz IV oder andere existenzsi- leben mittlerweile mehr hinzugezogene Flücht- Stadt habe ihnen eine Unterkunft gegeben – chernde Leistungen, im Süden dagegen teilwei- linge als solche, die in Essen ihre Anerken- und sie dann in Ruhe gelassen. Diesen Fehler se nur ein Prozent der Personen. Die Kluft ist nung erhielten. Die Wohlfahrtsverbände se- dürfe man nun nicht wiederholen. Renzel ist historisch bedingt, wie in vielen Städten des hen sich nicht in der Lage, noch mehr Perso- Sozialdezernent Essens. Er sitzt im 14. Stock Ruhrgebiets. Doch seit Jahren vertieft sie sich. nen zu betreuen, und haben nun einen „Auf- des spektakulär unansehnlichen Rathauses
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 13 mit Blick über die Stadt. Renzel unterstehen So- werde, sagt er. Und warnt: „Was wir jetzt nicht Welt. Guido Reil, ein bekanntes SPD-Ratsmit- zialamt, Jugendamt, Gesundheitsamt, Schul- tun, wird uns alles einholen.“ Dann könne glied, 25 Jahre lang Sozialdemokrat, zudem verwaltung und Jobcenter. Bei ihm laufen also man in zehn, fünfzehn Jahren die Scherben zu- Bergmann im letzten Steinkohlewerk des Ruhr- die Fäden beim Thema Integration zusammen, sammenkehren. Die Stadt habe schon immer gebiets, rebellierte gegen die Flüchtlingspolitik und auch Leute aus den anderen politischen von der Einwanderung gelebt. Die Politik sei – und lief zur AfD über. „Genug ist genug, Inte- Lagern bescheinigen ihm, angesichts der knap- dafür verantwortlich, dass es keine Spaltung gration hat Grenzen, der Norden ist voll“, hieß pen Mittel einen guten Job zu machen. der Stadtgesellschaft gebe. im Januar ein Demonstrationsaufruf von SPD- Renzel spricht gerne von „Integrationspro- Manche sagen, die gebe es schon längst. In Ortsvereinen im Norden Essens. Die Demons- zessen“, die es zu initiieren gelte, und kann re- Essen beziehen rund 103 000 der etwa 589 000 tration wurde dann abgesagt. gelrecht schwärmen von den vielen runden Ti- Einwohner „existenzsichernde Leistungen“ Martin Schlauch nennt diesen Aufruf „däm- schen in den Stadtvierteln, der Zusammenar- wie Hartz IV. Die Quote steigt seit Jahren. Die lich“. Sich gegen die temporäre Unterbringung beit mit den Ehrenamtlichen und all den Refor- allermeisten von ihnen leben im Norden der in Zelten zu wenden sei überflüssig gewesen. men, die bereits angepackt wurden. Doch auch Stadt. Auf dem „Sozialatlas“ der Stadtverwal- Wichtig sei vielmehr, wo die Flüchtlinge nach er sagt: „Die Anzahl der Leute bringt uns an tung ist fast der gesamte Norden rot eingefärbt, ihrer Anerkennung hinzögen. Das sei nun mal die Grenzen unserer Möglichkeiten.“ Und der Süden bleibt hell. Als nun die provisori- der Norden. Schlauchs Kernaussage ist: Wir doch wirbt er dafür, optimistisch zu bleiben. schen Flüchtlingszelte in den Norden gestellt sollten uns nicht nur auf die Flüchtlinge kon- „Was bleibt auch sonst?“, schwingt da mit. Er werden sollten, regte sich dagegen Protest. In zentrieren. sei „positiv gestimmt, dass wir das schaffen. der Essener SPD führte das zu tiefen Gräben. Schlauch ist 30 Jahre alt, mit 17 trat er in die Wir müssen das auch schaffen“, sagt er. Trotz Wie die Quadratour des Kreises scheint der SPD ein, seit 2014 sitzt er im Stadtrat. Stolz der „horrenden“ finanziellen Beschränkungen Versuch, das ureigene Klientel in den ärmeren führt er durch sein Viertel Altenessen-Süd. Essens. Die Integration sei eine „Mammutauf- Vierteln des Nordens zu bedienen und zu- Kleine Hochhäuser vor Schrebergartensiedlun- gabe“, die ein, zwei Generationen brauchen gleich offen zu sein für die Verfolgten dieser gen, dann wieder Blockbebauung. Bieder ist das oft, teilweise auch heruntergekommen. Dann ein Park, der eher einer Wildnis gleicht. Die Stadt habe, um Geld zu sparen, aufgege- ben, ihn zu pflegen – und das Gebiet zu einem „Ökomodellprojekt“ erklärt, sagt Schlauch. Altenessen-Süd weist in den städtischen Ta- bellen regelmäßig Werte auf, die Sorgen berei- ten. So leben 46 Prozent der Kinder hier in ei- nem Haushalt, der von Hartz IV abhängt. Die- ser Wert steige seit Jahren signifikant, sagt Schlauch. Knapp 40 Prozent der Anwohner ha- ben eine doppelte Staatsangehörigkeit oder nur eine ausländische – in Essen insgesamt sind es 24 Prozent. Schlauch kennt all die Zah- len – und deren Folgen. 85 der Schüler hier hät- ten keinen deutschen Pass, und bei denjenigen mit deutscher Staatsangehörigkeit seien die Sprachkenntnisse oft auch nicht berauschend. An der Gesamtschule hier im Essener Norden betrage die Übergangsquote von Schülern von der Grundschule aufs Gymnasium 30 Prozent. Im Süden seien es über 80. Aus der Sicht Schlauchs hat Essen kein Flüchtlings- und auch kein Ausländerproblem, sondern ein soziales Problem. „Wir haben ei- nen ganz großen Block an Leuten, die resi- gniert haben.“ Schuld daran sei die Politik: Feh- lender sozialer Wohnungsbau, fehlende Durch- mischung. Kommen nun viele Flüchtlinge hin- zu, sorgt er sich, dass sein Viertel wegkippt. „Nichts ist fataler, als dass die Menschen her- umsitzen und nichts zu tun haben.“ Schlauch fordert, massiv in die betroffenen Viertel zu in- vestieren, in Schulen und Sozialwohnungen, in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Aber nicht nur für Flüchtlinge.“ Dann, sagt er, gebe es so- gar die Chance, durch das „Vehikel Flüchtlin- ge“ alte Fehler zu korrigieren. Der Autor ist Redakteur in der politischen Nachrichtenredaktion der F.A.Z.
14 DENK ICH AN DEUTSCHLAND BISTDU H abe die Ehre“, sagt Walter Frey und lacht. Ein gutes Verkaufsgespräch beginne mit der passenden Anspra- höchstens zehn Prozent in den Arbeitsmarkt in- tegriert werden können.“ Mittelfristig sieht er bei den Jüngeren gute Chancen, bei Älteren LEHRLING, che des Kunden, sagt der Autohänd- ler aus Gersthofen vor den Toren Augsburgs. So etwas, da ist sich Frey sicher, lerne man in wird es schwierig. In dieser Deutlichkeit hätte er sich das auch von anderer Stelle gewünscht, sagt Brossardt mit Blick auf überzogene Vor- BISTDU keiner Schule: „Das lernt man nur im Betrieb.“ Asaad Al Azem kennt diese Sätze. Mehrere Wochen lang hat er hier ein Praktikum ge- stellungen aus Politik und Wirtschaft aus dem vergangenen Jahr, als von einem zweiten Wirt- schaftswunder durch Flüchtlinge die Rede war. LEHRLING macht. In seinem früheren Leben war der 34 Jahre alte Syrer auch Autoverkäufer. In seiner Heimat und in Erbil, der Hauptstadt des kur- Heute zeigt sich die Größe der Aufgabe. „Es dauert lange und kostet viel Geld“, fasst Frank- Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Ar- Sollen die Flüchtlinge disch kontrollierten Teils im Irak. Dort habe er beit, die Aussichten zusammen. Bis zum Jah- integriert werden, muss die zehn Jahre lang für mehrere große Hersteller resende werden wohl 350 000 arbeitslose Wirtschaft mitspielen. gearbeitet, zuletzt sei er mit 40 Mitarbeitern Flüchtlinge in seiner Statistik auftauchen, Ten- für Mitsubishi in ganz Kurdistan zuständig ge- denz steigend. Das aber dauert lange – wesen. Dennoch hat er im Frühjahr zusammen In Bayern hat man einen langen Atem. und kostet viel Geld. mit seiner Frau die Flucht ergriffen, kam über „Nach einem Jahr kann man sagen, auch wenn Zwei Beispiele aus Bayern. die Balkan-Route nach Deutschland. es am Anfang chaotisch war, haben wir uns be- VON SVEN ASTHEIMER Frey sagt, er könne sich gut in Asaads Lage achtlich geschlagen“, so Brossardt. Wahr- hineinversetzen. Er sei schließlich selbst 1946 scheinlich werde man das Ziel bis Jahresende als Flüchtling aus dem Sudetenland nach Bay- deutlich übererfüllen und bis zu 35 000 Flücht- ern gekommen. „Flüchtlinge hat noch nie je- linge in Arbeit oder Ausbildung bringen, selbst mand gewollt“, sagt er. Er habe sich dennoch wenn viele keine Dokumente über Schul- und sein Unternehmen mit drei Standorten und Berufsausbildung vorweisen können. rund 30 Beschäftigten aus dem Nichts erarbei- Auch Dickson Ominyi kann nur erzählen, tet. „Es hat mich damals angespornt.“ Deshalb dass er in Nigeria verschiedene Jobs erledigt will er auch jetzt etwas tun angesichts Hundert- hat, nachdem er zwölf Jahre zur Schule gegan- tausender Flüchtlinge, die auf den deutschen gen sei. Unter anderem habe er auch sechs Jah- Arbeitsmarkt strömen. „Es wäre beängstigend, re als Elektriker gearbeitet, erzählt der 29 Jah- wenn wir die jungen Leute nicht integrieren.“ re alte Mann. Dickson ist Christ und lebte im Er sei wie ein Vater zu den Leuten, findet Frey, muslimisch dominierten Norden des Landes. deshalb stelle er auch Forderungen. „Wer hier Sein Vater und sein Bruder seien wegen ihres in Deutschland Fuß fassen will, den kann man Glaubens getötet worden. Deshalb floh er im nicht mit Samthandschuhen anfassen.“ Sommer 2014 von dort. Jetzt lebt er in einer Asaad weiß, was von ihm erwartet wird. Einrichtung in Taufkirchen bei München. Sein Sein Führerschein aus Dubai ist hierzulande Asylverfahren läuft noch, er hat eine Aufent- zwar anerkannt, aber er muss noch die Prü- haltsgestattung. fung ablegen. Vor allem aber muss er Deutsch Anfang September hat Dickson eine Ein- büffeln, obwohl er schon relativ gut spricht. stiegsqualifizierung bei der Kuhn Elektro-Tech- 650 Deutsch-Stunden hat er seit Jahresbeginn nik GmbH in München begonnen. Dieses För- bekommen. An die erste Praktikumsphase derinstrument soll Jugendliche reif für eine schließt sich ein Bewerbertraining an, danach Ausbildung machen und kommt bei Flüchtlin- kommt er zum zweiten Mal ins Autohaus Frey. gen häufig zum Einsatz. Wenn es gut läuft, Gerade hat Asaad einen Aufenthaltstitel für könnte das Ganze nach einem Jahr in eine Aus- drei Jahre erhalten. „Wenn wir einen Platz für bildung zum Elektroniker für Energie- und Ge- ihn haben, stellen wir ihn ein“, sagt Frey. bäudetechnik münden. Geschäftsführer Flori- Der Syrer könnte einer von 20 000 sein, die an Kuhn hat Erfahrung mit der Integration von „Ida“ profitieren sollen. Die Abkürzung von Flüchtlingen. Sein Vater stellte vor fast steht für Integration durch Arbeit, einer Koope- zwanzig Jahren den ersten ein; heute haben un- ration von bayerischer Landesregierung, Ar- ter den rund 100 Beschäftigten sechs einen Mi- beitsagentur und Wirtschaftsverbänden, die grationshintergrund. „Die Loyalität bei Flücht- schon vor der großen Flüchtlingswelle gestar- lingen ist sehr hoch – das kann man für Geld tet wurde. Bertram Brossardt ist Hauptge- nicht kaufen“, so Kuhn. Er will nur Pünktlich- schäftsführer der Vereinigung der Bayerischen keit und Disziplin, den Rest bringe man den Wirtschaft und einer der Initiatoren des Pro- Menschen schon bei. Die meisten seien froh, gramms. Dafür hat sein Verband 6,7 Millionen wenn sie mal für 40 Stunden in der Woche Euro in die Hand genommen, das Gesamtvolu- nicht als Flüchtlinge behandelt werden, glaubt men beträgt bis zu 20 Millionen. Deshalb är- Kuhn. Ansonsten gelte die Regel: „Bist du Lehr- gern ihn pauschale Vorwürfe, „die“ Wirtschaft ling, bist du Lehrling.“ Keine Ausnahmen. tue zu wenig für die Flüchtlinge. „Die Öffnung war eine politische Entscheidung, und wir ha- Der Autor ist Redakteur im Wirtschaftsressort ben damals schon gesagt, dass kurzfristig der F.A.Z.
DENK ICH AN DEUTSCHLAND 15 V or 15 Jahren bekamen die Deut- schen einen völlig neuen Begriff von terroristischer Bedrohung. Ter- WENNDIE schen Terror zu beklagen. Auch in den Verei- nigten Staaten gab es immer wieder Anschläge mit Todesopfern. ror im eigenen Lande war bis dahin der Terror der RAF, Terror von links, Terror, der nicht willkürlich größere Bevölkerungs- GEFAHR .. Noch mehr verschiebt sich die Perspektive, wenn man von Deutschland aus nach Südosten blickt. Vor allem die Türkei leidet enorm unter gruppen traf, sondern gezielt Mitglieder der politischen oder wirtschaftlichen Elite. Wer nicht zu dieser Elite gehörte – und sei es als NAHER Anschlägen mit vielen Toten, zum Teil von Isla- misten verübt, zum Teil allerdings auch von der kurdisch-separatistischen PKK. Vor allem Fahrer –, konnte leidlich sicher sein, vom Ter- ror nicht getroffen zu werden. Dann wurden ausgerechnet in Deutschland KOMMT aber sterben Menschen in Ländern des Nahen Ostens, im Irak und in Syrien, durch islamisti- sche Anschläge. Seit einiger Zeit werden sie jene Anschläge vom 11. September 2001 vorbe- Die Anschläge in den verstärkt von dem „Islamischen Staat“ verübt. reitet, die zum Inbegriff der Bedrohung der europäischen Nachbar- Für die Islamisten ist es natürlich schwieri- westlichen Welt durch den islamistischen Ter- ländern haben die Deutschen ger, Anschläge in der Ferne, in Amerika oder rorismus wurden. Unbemerkt von den deut- Europa, zu planen und auszuführen. Sie tun es verunsichert. Viele fragen schen Geheimdiensten, wurde in Hamburg die dennoch, um dem Westen zu zeigen, welch lan- Zerstörung des World Trade Center geplant. sich: Importieren Flüchtlinge gen Arm sie haben. Jeder Anschlag schließt Zwar hatte es in anderen Teilen der Welt längst die Gewalt? die Botschaft ein, dass eine Einmischung in islamistische Angriffe gegeben, für die meisten VON ECKART LOHSE den Krisen- und Kriegsregionen des Nahen Os- Deutschen war es aber eine neue Erfahrung. tens Auswirkungen bis nach New York, Brüs- Die Politik reagierte sofort und sehr ent- sel und Paris haben kann. schlossen. Eine rot-grüne Bundesregierung Oder bis nach Ansbach und Würzburg. Dort verschärfte die Sicherheitsgesetze, ohne zu zö- wurden knapp 15 Jahre nach „9/11“ erstmals gern; der sozialdemokratische Bundeskanzler auf deutschem Boden Menschen zu Opfern is- Gerhard Schröder legte ein Solidaritätsverspre- lamistischer Terroristen. Glücklicherweise star- chen gegenüber dem getroffenen Verbündeten ben nur die Täter und keines ihrer Opfer. Den- Amerika ab. Deutschland hatte den islamisti- noch ist die Botschaft, dass auch Deutschland schen Terror als Bedrohung angenommen. im Visier der Islamisten ist, noch nie so klarge- Seither hat das Gefühl, bedroht zu werden, worden wie durch diese beiden Taten. immer weiter zugenommen. Dabei sind wir In den Nachbarländern Frankreich und Bel- lange Zeit verschont geblieben. Anschläge wur- gien wurden die Anschläge von Islamisten be- den geplant, doch keiner wurde vollendet. Die gangen, die lange im Land lebten und die Lan- Pläne der Sauerland-Gruppe wurden durch dessprache sprachen. Zwei Merkmale einer In- Hinweise des amerikanischen Geheimdienstes tegration immerhin. Die Täter von Ansbach frühzeitig entdeckt und konnten rechtzeitig und Würzburg standen nach bisherigen Ermitt- durchkreuzt werden. Andere Anschlagsversu- lungen im Kontakt mit dem IS, wurden sogar che scheiterten aus technischen Gründen, bis unmittelbar zur Tat von einer Kontaktper- etwa weil Sprengladungen nicht explodierten. son aus dem Nahen Osten gesteuert. Sie waren Doch die Sorge, Opfer eines Anschlags zu erst seit kurzer Zeit in Deutschland, waren als werden, wuchs gleichwohl. Die Mehrzahl der Asylsuchende hierhergekommen. Zwar hatte Politiker wollte sich auf keinen Fall dem Vor- vor allem der Mann, der in einem Vorortzug wurf aussetzen, eine Gefahr unterschätzt und bei Würzburg mit einer Axt auf Passagiere ein- zu wenig getan zu haben. Zwischen 2001 und schlug, schon erste Merkmale einer gelingen- heute steigerten die Verantwortlichen ihre Rhe- den Integration gezeigt. Er hatte immerhin bei torik. Hieß es anfangs, Deutschland könne einer Familie gewohnt. Doch im Vergleich zu auch von einem schweren Anschlag mit vielen den Tätern von Paris, Nizza oder Brüssel wa- Toten getroffen werden, so wird dieses inzwi- ren beide Täter so gut wie gar nicht in Deutsch- schen von der Bundesregierung fast als sicher, land integriert. nur der Zeitpunkt als ungewiss dargestellt. Die Es könnte sich also um eine neue Art von Tä- Angst ist so stark gewachsen, dass eine rechts- tern handeln. Zwar sollte die terroristische Ge- konservative Partei mit xenophober Rhetorik fahr nicht überbewertet werden, die durch die und der Warnung vor der Bedrohung durch is- große Zahl von Flüchtlingen mit nach Deutsch- lamistische Gewalttäter auf bundesweite Um- land gekommen ist. Das Gegenteil wäre aber fragewerte von zehn Prozent kommt. ebenso fahrlässig. Es ist also wichtig, dass Poli- Dass die Angst so wächst, obwohl es bislang tik und Behörden nicht nur die klassischen Si- so wenige Opfer gab, liegt auch an den zahlrei- cherheitsgesetze verschärfen, sondern auch chen Attentaten von Islamisten in den europäi- darauf achten, dass Integration nicht auf sol- schen Nachbarländern. Nach „9/11“ wurden che Weise massenhaft scheitert, wie es in Großbritannien und Spanien schwer getroffen, Frankreich und Belgien geschehen ist. in jüngerer Zeit vor allem Deutschlands engs- ter Partner Frankreich. Selbst das so viel kleine- Der Autor ist politischer Korrespondent re Belgien hat weit mehr Opfer durch islamisti- der F.A.Z. in Berlin.
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