FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
ZEITUNG FÜR DEUT SC HL AND

2016
                Eine Konferenz der
       Alfred Herrhausen Gesellschaft und der
          Frankfurter Allgemeinen Zeitung

  FLUCHTPUNKT
  DEUTSCHLAND
FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
2   DENK ICH AN DEUTSCHLAND

     WIRKÖNNEN                Machen wir uns nichts vor: Die Deutschen
                              gelten nicht als die allerbesten Gastgeber. Zu-
                                                                                Unsere Reputation in der Kategorie „offene
                                                                                Arme“ verbesserte sich aber, als 2015 Hun-

     AUCH ANDERS              gegeben, Millionen machen bei uns Urlaub –
                              aber das sind meistens nur andere Deutsche.
                                                                                derttausende Menschen auf der Suche nach
                                                                                einem besseren Leben ungeordnet den Weg
                              Auch das „Sommermärchen“ 2006 mit sei-            nach Europa suchten (im Bild: im Hauptbahn-
                              nem Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“         hof Frankfurt). Da zeigte die Zivilgesell-
                              verbesserte unseren Ruf, aber wirklich von        schaft, was sie draufhatte; Bürger verteilten
                              Dauer war das nicht. (Immerhin waren wir so       Decken und Wasser, nahmen Flüchtlinge bei
                              gastfreundlich, zwei anderen Teams den Vor-       sich auf. Sogar ein neues Wort ward erfun-
                              tritt ins Finale zu lassen.)                      den: „Willkommenskultur“. Foto Helmut Fricke
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DENK ICH AN DEUTSCHLAND          3

                                                                                  DIE SPUREN DER ZUKUNFT
                                                                                  VON THOMAS MATUSSEK                             Im Vorfeld der Konferenz haben wir das
                                                                                  Welche Entscheidungen man trifft, hängt im-     Fundament für diese Diskussion gelegt. Wir
                                                                                  mer auch davon ab, wie weit der Blick reicht.   haben Expertinnen und Experten für Integra-
                                                                                  Die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (AHG)        tion und Migration aus Politik, Wirtschaft und
                                                                                  hat die Freiheit, nicht auf das nächste Pro-    Gesellschaft zu drei Workshops eingeladen.
                                                                                  blem oder die nächste Wahl blicken zu müs-      In deren Rahmen wurden Trends und Ein-
                                                                                  sen, sondern sich systematisch mit möglichen    flussfaktoren identifiziert, die unser Leben
                                                                                  Szenarien für die Zukunft auseinandersetzen     mit den Zuwanderern in den Jahren bis 2025
                                 DIE KONFERENZ                                    zu können. Gemeinsam mit unseren Gästen         beeinflussen werden.
                                 ZUM MAGAZIN                                      wollen wir im Rahmen der diesjährigen           So finden Sie neben manch anderem in die-
                                 Dieses Heft begleitet die achte „Denk            „Denk ich an Deutschland“-Konferenz die         sem Heft, kurzgefasst, auch das Ergebnis die-
                                 ich an Deutschland“-Konferenz, die am            Gelegenheit nutzen, um Deutschlands Um-         ses Prozesses: ein positives und ein negatives
                                 23. September 2016 in Berlin stattfindet.        gang mit den zahlreichen Geflüchteten, die      Szenario für die zukünftige Entwicklung. Die-
                                 Mit dabei sind unter anderen: Olaf               im vergangenen Jahr in unser Land gekom-        se Szenarien sind keineswegs Prognosen für
                                 Scholz, SPD; Andreas Rödder, Professor
                                 für Neueste Geschichte; Dietmar Bartsch,
                                                                                  men sind, in den Fokus zu nehmen.               die Zukunft. Sie zeigen jeweils mögliche und
                                 Die Linke; Anton Hofreiter, Bündnis              Die Kanzlerin sagte im Sommer 2015: „Wir        plausible Zukunftsentwicklungen auf und ver-
                                 90/Die Grünen; Julia Klöckner, CDU;              schaffen das.“ Wir wollen jenseits des Tages-   deutlichen damit auch: WIR HABEN EINE
                                 Jörg Meuthen, AfD; Karl Theodor zu Gut-          geschäfts und der alltäglichen Debatten         WAHL. Die Szenarien enthalten fiktive Ele-
                                 tenberg; Sahra Wagenknecht, Die Linke;           schon heute fragen: „Deutschland 2025 –         mente und sind zugespitzt, damit sie eine kon-
                                 Andreas Voßkuhle, Präsident, Bundesver-
                                 fassungsgericht. Die Konferenz ist ausge-        Haben wir’s geschafft?“ Dass Deutschland in     troverse Diskussion ermöglichen.
                                 bucht. Wir können leider keine weiteren          den kommenden Jahren bunter werden wird,        Die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft sucht
                                 Anmeldungen berücksichtigen. Informa-            bezweifelt kaum jemand. Doch schaffen wir       die Spuren der Zukunft in der Gegenwart. Ich
                                 tionen finden Sie unter www. alfred-herr-        es angesichts stärker werdender Extremis-       freue mich darauf, das gemeinsam mit Ihnen
                                 hausen-gesellschaft.de; dort gibt es im
                                 Anschluss Beiträge von der Konferenz.
                                                                                  men, zivilisatorische Errungenschaften wie                            auch auf der „Denk ich
                                                                                  unseren Sozial- und Rechtsstaat auch in Zu-                           an Deutschland“-Konfe-
                                                                                  kunft aufrechtzuerhalten? Wie kann man in                             renz am 23. September
                                                                                  einer pluralen Gesellschaft eine gemeinsame                           wieder zu tun.
                                                                                  Identität entwickeln und Solidarität der                             Thomas Matussek ist
                                                                                  Menschen untereinander fördern?                                      Geschäftsführer der AHG.

                                 IMPRESSUM
                                 Zur Konferenz der Alfred Herrhausen
                                 Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen
                                                                                  MIGRATION UND WERTBEKENNTNIS
                                 Zeitung erscheint die Beilage                    VON JÜRGEN KAUBE                                Auf beiden Seiten wird dabei vergessen, dass
                                 Denk ich an Deutschland 2016. Die Beilage        Ökonomisch ist Europa heute ein disparates      etwa in Deutschland noch vor wenigen Jahr-
                                 ist eine Produktion der Frankfurter              Gebilde. Politisch nehmen seine zentrifugalen   zehnten Italiener, Portugiesen oder Spanier
                                 Allgemeinen Zeitung.
                                                                                  Kräfte zu. Zugleich ist Europa aufgrund sei-    als Fremde galten, denen ihre Zugehörigkeit
                                 Verantwortlicher Redakteur:
                                                                                  ner wohlfahrts- und rechtsstaatlichen Orien-    zum Abendland nicht viel half, wenn sie auf
                                 Klaus-Dieter Frankenberger.
                                                                                  tierung zum Zufluchtsraum für alle Arten von    kulturelle Stereotype trafen. Ihre Lebenschan-
                                 Zuständiger Redakteur: Bertram
                                                                                  Migration geworden. Das wiederum verstärkt      cen haben sich nicht durch einen kulturellen
                                 Eisenhauer.
                                                                                  die ökonomische Ungleichheit ebenso wie         Gesinnungswandel verbessert, sondern über
                                 Art Director: Peter Breul.
                                                                                  den politischen Dissens. Zusätzlich verstärkt   den Arbeitsmarkt, die Niederlassungsfreiheit,
                                 Bildredakteur: Henner Flohr,
                                 Christian Pohlert (verantwortlich).              es die kulturellen Unterschiede in Europa,      den Tourismus und die Gewöhnung.
                                 Gestaltung: Tobias Stier.                        weil viele Migranten als Fremde wahrgenom-      Wer Migration darum als moralisches oder
                                 Repro/Produktion: Axel Busch, Michael            men werden.                                     kulturelles Projekt betrachtet, das entweder
                                 Lukas.                                           „Der Schmelztiegel selbst darf nicht            im Zeichen von Multikulturalität oder Nächs-
                                 Verantwortlich für Anzeigen: Ingo Müller;        schmelzen“, hat man einmal über die             tenliebe zu bejahen oder aus Gründen natio-
                                 für Anzeigenproduktion: Andreas Gierth.          Bedingung für gelingende Integration            naler Identität abzulehnen ist, greift an ihrer
                                 Druck: Westdeutsche Verlags- und Druckerei       gesagt. Doch was ist der Schmelztiegel?         Wirklichkeit vorbei. Über ihr Gelingen wird
                                 GmbH, Mörfelden-Walldorf. © Copyright Frank-     In den Diskussionen um den Beitritt der         pragmatisch entschieden werden: durch die
                                 furter Allgemeine Zeitung, Frankfurt am Main.    Türkei zur Europäischen Union wurde             Möglichkeiten des Schulunterrichts, die Kapa-
                                 Redaktion und Verlag, Postanschrift:             lange mit „christlichen Traditionen“            zitäten des Sozialstaats, die Aufnahmefähig-
                                 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Heller-     argumentiert, um die Grenzen einer sinn-        keit der Arbeitsmärkte und durch Einwande-
                                 hofstraße 2–4, 60267 Frankfurt am Main.          vollen EU-Erweiterung zu bezeichnen.            rungsgesetze, die all dies in Rechnung stellen
                                 Diese Sonderbeilage und alle in ihr enthalte-    Heute berufen sich auf solche Traditionen                              – aber nicht durch das
Fotos Daniel Pilar, Archiv (2)

                                 nen Beiträge und Abbildungen sind urheber-       sowohl die Befürworter einer großzügigen                               Ablegen von Wertbe-
                                 rechtlich geschützt. Mit Ausnahme der            Flüchtlingspolitik, die in ihr eine Wertent-                           kenntnissen.
                                 gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwer-   scheidung sehen, als auch die Gegner, die
                                 tung ohne Einwilligung des Verlags strafbar.     sich um das Abendland und die Identität sei-                         Jürgen Kaube ist
                                 Titelfoto: Louisa Gouliamaki/AFP                 ner Nationen sorgen.                                                 Herausgeber der F.A.Z.
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4   DENK ICH AN DEUTSCHLAND
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Es gibt Äußerungen, die mitten in
einem sich beschleunigenden Strom
der Ereignisse fallen, die aber die
Politiker, von denen sie stammen,
auf Jahre hinaus festlegen. „Wir sa-
gen den Sparerinnen und Sparern,
dass ihre Einlagen sicher sind“, er-
klärte Angela Merkel gemeinsam
mit Peer Steinbrück 2008, als Ban-
ken in die Knie gingen. Ein Segen,
dass diese Zusage nicht getestet wer-
den musste. Sieben Jahre später, am
31. August 2015, nahm Merkel auf
einer Pressekonferenz Stellung zur
Flüchtlingskrise mit Worten, die
auch nicht so schnell in Vergessen-
heit geraten werden: „Wir schaffen
das!“ Je mehr Zeit vergeht, desto we-
niger klingt der Satz nach selbstbe-
wusstem Versprechen, sondern eher
nach Autosuggestion. Horst Seeho-
fer hielt die Formel wie auch Mer-
kels ganze Flüchtlingspolitik von
Anfang an für falsch.
Foto Zhang Fan/Xinhua (links), dpa

ICHABER
SAGE IHNEN
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6   DENK ICH AN DEUTSCHLAND

                                                                                                                   ..
                              DURCH DIEHINTERTUR
                                            ..
                                IN EINENEUE ARA
     A
                 ls im Herbst 2015 Migranten in ho-                 Auch bei der                          mehr möglich sein, künftige Aufga-
                 her Zahl nach Deutschland kamen,                                                         ben als nationale zu verstehen.
                 reagierte das Land hilfsbereit, aber
                                                             Integration der Flüchtlinge                  Deutschland wird die Staaten der EU
                 zunehmend auch nervös. Bald wur-           werden die Deutschen wieder                   dafür gewinnen müssen, weitere Schritte
     de heftig darüber gestritten, ob es verantwor-           über sich hinauswachsen.                    in diese Richtung zu tun.
     tungsvoll war, dass Angela Merkel am 31. Au-            Doch das Erbe, das Angela                       So unumgänglich das ist, so wird es doch
     gust erstmals den später von ihr mehrfach wie-                                                       aus mehreren Gründen schwer werden. Nur
                                                              Merkel hinterlassen wird,
     derholten Satz sagte: „Wir schaffen das.“                                                            zwei seien genannt. Erstens hat sich Deutsch-
     Schnell kam in die Debatten ein Ton der Ge-                   dürfte auch ein                        land mit seinen ordnungspolitisch begründe-
     reiztheit. Von vielen ihrer ehemaligen Anhän-             widersprüchliches sein.                    ten Interventionen in die Europa- und Europo-
     ger wurde die Bundeskanzlerin mit einem Eti-                   VON THOMAS SCHMID                     litik ziemlich unbeliebt gemacht. Deutschland
     kett versehen, das aus dem Sprachgebrauch ei-                                                        will kein Hegemon, auch kein freundlicher He-
     ner düsteren Vergangenheit stammte. Sie sei                                                          gemon, ja nicht einmal ein halber Hegemon
     eine „Verräterin“, die eine Politik der „Um-                                                         sein. Es wird beweisen müssen, dass ihm da-
     volkung“ betreibe. Umgekehrt wurde die deut-       Kohl und die nur darin ihm verwandte Angela       mit ernst ist. Deutschland kann seine zentrale
     sche Regierungschefin für Liberale und Linke       Merkel waren als Regierungschefs gut geeig-       Rolle in Europa nur spielen, wenn es das im
     plötzlich zu einer politischen Heroine. Die        net, die Deutschen ohne Tamtam und Ruckre-        Verbund mit anderen tut. Das aber wird, zwei-
     Rollen verrutschten; seither geht im Land die      den als joviale Reiseführer in die neue Zeit zu   tens, auch deswegen schwer werden, weil der
     Ahnung um, dass im Herbst 2015 etwas ge-           geleiten, besser: zu begleiten. Der aktuellen     viel beschworene und überhöhte deutsch-fran-
     schah, dessen Folgen noch lange nicht abzuse-      Nervosität zum Trotz gibt es wenig Grund, dar-    zösische Motor längst stillsteht und vermut-
     hen sind. Der Ministerpräsident, der sagte, er     an zu zweifeln, dass diese Gelassenheit eine      lich auch nicht mehr anspringen wird. Das Eu-
     wünsche, dass Deutschland genauso bleibt,          deutsche Tugend bleiben wird. Sie liegt in der    ropa neuer regionalpolitischer Verantwortung
     wie es ist, traf schon den Punkt: Deutschland      Größe, der wirtschaftlichen Stärke und der        kann kein karolingisches Muster mehr tragen.
     wird nicht genauso bleiben, wie es ist. Wie        vergleichsweise großen Integrität seiner Insti-   Im Verbund, aber einsam: Das wird Deutsch-
     wird es anders werden?                             tutionen begründet. Deutschland wird 2025         lands Schicksal in den kommenden zehn Jah-
        Ein zeitraffender Blick auf die Entwicklung     vermutlich so stabil sein wie heute.              ren sein. Das erfordert große Kraft im Ausba-
     des Vierteljahrhunderts, das hinter uns liegt,        Auf die Probe gestellt wird diese Stabilität   lancieren. Es kann daraus nur etwas werden,
     zeigt: Deutschland hat einen großen Magen.         aber gleichwohl, von außen und von innen.         wenn die Europapolitik im Berliner Regie-
     Es hat sich in diesen 25 Jahren viel mehr ver-     Was Wolfgang Schäuble einmal salopp unser         rungsviertel, aber auch in den deutschen
     ändert als in den vier davorliegenden Jahr-        „Rendezvous mit der Geschichte“ genannt           Staatskanzleien, bei den Parteien und in der
     zehnten der „alten“ Bundesrepublik, von der        hat, markiert tatsächlich eine Zäsur. Und die-    öffentlichen Auseinandersetzung endlich Vor-
     Wiedervereinigung über den Kosovo-Krieg,           se trifft Deutschland als die größte politische   rang bekommt.
     die Agenda 2010 bis zu zwei Ostdeutschen in        Macht Europas besonders. Man kann diese              Seit Wladimir Putin zu alter Macht- und
     höchsten Ämtern der Republik. Bürger, Staat        Migrationsbewegung mit europäischer Brille        Geopolitik zurückgekehrt ist, wird immer
     und Parteien haben diesen zum Teil grundstür-      als etwas von außen Kommendes sehen, das          spürbarer, dass das kurze 20. Jahrhundert in
     zenden Wandel erstaunlich gelassen hinge-          es zu unterbinden oder wenigstens zu regulie-     Wahrheit ein langes Jahrhundert war und dass
     nommen und verarbeitet. Nur bei Minderhei-         ren gilt. Ein weiterer Blick zeigt, dass damit    es einschließlich etlicher Restlasten des 19.
     ten, die AfD eingeschlossen, gibt es das Ge-       vermutlich nicht viel gewonnen wäre. Die Tra-     Jahrhunderts noch immer nicht zu Ende ist.
     fühl, in einer weniger lebenswerten und siche-     gödien am Südrand des Mittelmeers gehen           Das europäische Paradox besteht darin, dass
     ren Welt zu leben und der eigenen Geschichte       Europa, gehen Deutschland an. Sie werden,         in dieser neuen Situation ausgerechnet jenem     Illustration F.A.Z.

     und Identität beraubt zu sein.                     wenn wir nicht zur Besserung beitragen, auch      Land die größte Verantwortung zufällt, das
        Deutschland hat die neue Ära gewisserma-        zu unseren Tragödien werden. Wenn Deutsch-        am wenigsten von allen europäischen Län-
     ßen durch die Hintertür betreten. Helmut           land so bleiben will, wie es ist, wird es nicht   dern auf diese „Rückkehr der Geschichte“ ge-
FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
DENK ICH AN DEUTSCHLAND         7

fasst war: Deutschland. Es wird der Er-                                                                 ke Idee – sieht man von „ihrer“ Stunde im
wartung an die neue Rolle nur ge-                                                                       Spätsommer 2015 ab, als sie mit einer huma-
recht werden können, wenn die Poli-                                                                     nen Geste deutlich machen wollte, dass wir
tik dabei nicht an den Bürgern vor-                                                                     unsere Politik ändern müssten, wenn wir in ei-
bei oder gar gegen sie agiert. Doch dar-                                                                ner sich dramatisch verändernden Welt beste-
auf sind die Deutschen und ihr politisches Per-                                                         hen wollen. Da sie aber beharrlich nicht wil-
sonal nicht gut vorbereitet.                                                                            lens war, darüber hinaus Akzente zu setzen
   Mental kann man die Gründungs- und die                                                               und politische Ideen zu erproben, wird sie
goldenen Jahrzehnte der „alten“ Bundesrepu-                                                             auch Ratlosigkeit hinterlassen.
blik als eine Zeit glückhaft erlebter Abkehr                                                               Das Jahr 2015 hat so gebieterisch wie nie zu-
von der Geschichte, von der Außenpolitik und        sich eine Sollstelle auf. Andererseits geht von     vor die Frage der Eingemeindung von Migran-
von dem Kampf um die eigene Stellung in der         der Regierungspolitik der unaufgeregten Ge-         ten auf die politische Tagesordnung gebracht.
Welt beschreiben: Sich klein machend und ver-       schäftigkeit ohne Akzentsetzung auch etwas          In zehn Jahren wird man erkennen können,
stehend, wurde Deutschland wieder groß.             Beruhigendes aus. In Zeiten, in denen viel ge-      dass die Deutschen, ihre Institutionen und
Doch auch wenn die Mehrheit der Bürger in-          tan werden muss, kann man auch viel falsch          ihre Politiker in der Lage waren, über sich hin-
zwischen Deutschlands aktivere Rolle in der         machen. Eine Haltung, die auf Zeitgewinn, Be-       auszuwachsen und bisher kaum Denkbares zu
Welt akzeptiert, fehlt doch weithin das Be-         standwahrung und minimale Terraingewin-             wagen. Ein Indiz dafür war die Geschwindig-
wusstsein, dass diese Rolle ausgefüllt sein will    nung setzt, ist da nicht das Schlechteste.          keit, mit der Politiker, die vorwiegend Einwan-
und sich das nicht einfach aus dem Gestern             Das hat Merkel, obwohl von Gegnern und           derungsgegner waren, nach dem Herbst 2015
und Vorgestern ergibt. Dass es bisher bei die-      Konkurrenten umstellt, auf fast unwiderstehli-      sich dem Neuen geöffnet haben. Binnen kur-
sem Mangel geblieben ist, wird durch die Art        che Weise stark gemacht. Ihre Stärke ist (oder      zer Zeit hatten auch in CDU und CSU die
erleichtert, wie Deutschland heute regiert          war?) die Schwäche der anderen; der Partei-         Überfremdungstheoretiker ihre Positionen ge-
wird. Von der Methode, mit der die Bundes-          en, die eigene eingeschlossen, vorweg. Es           räumt und sich an die Arbeit gemacht. In zehn
kanzlerin seit 2005 tätig ist, geht kein Signal     steht nicht zu erwarten, dass man sie, wie alle     Jahren wird es Bayern sein, dem es so vorbild-
aus. Eines ergibt sich unaufgeregt und wie          ihre Vorgänger, abwählen oder aus dem Amt           haft wie keinem anderen Bundesland gelun-
selbstverständlich aus dem anderen, kein An-        treiben muss. Sie wird aber nach ihrem Ab-          gen ist, Muslime fordernd in das deutsche Ge-
fang, kein Ende: Alles fließt. Es geht wie in ei-   gang eine entkräftete politische Landschaft         meinwesen hinein zu holen, den Islam bava-
ner Behörde zu. Passt das zu einem Staat, der       hinterlassen. Die AfD wird gehen, wie sie ge-       ria-verträglich zu machen und das stark verän-
sich Größeres wird vornehmen müssen?                kommen ist. Aber nach ihr wird es die Partei-       derte deutsche Vaterland gleichwohl grundge-
   Nein und ja. Nein, weil gebieterisch mehr        enlandschaft Deutschlands so nicht mehr ge-         setztreu und traditionsbewusst zu bewahren.
als „business as usual“ ansteht. Wird dies im       ben. Angela Merkel hat auf ihre Weise                  Westbindung, Marktwirtschaft, Ostpolitik,
Regierungshandeln wie im öffentlichen Dis-          Deutschland auf neue Zeiten und neue Aufga-         Wiedervereinigung: Deutschland hat in den
kurs bestritten oder beschwiegen, kann das          ben vorbereitet. Indem sie aber durch zwei gro-     vergangenen 70 Jahren immer wieder bewie-
ein populäres Unbehagen nähren, möglicher-          ße Koalitionen hindurch nicht zufällig das ago-     sen, dass es fähig ist, große und die Bevölke-
weise mit extremistischen politischen Folgen.       nale Prinzip der Demokratie außer Kraft ge-         rung spaltende Probleme dann entschlossen
Man erklärt die Erfolge der AfD oft mit der         setzt hat, schliff sie die Parteienlandschaft ab.   anzugehen, wenn sie erst einmal unabweisbar
vermeintlichen oder tatsächlichen Furcht vie-       Auch eine schwarz-grüne Koalition im Bund           vor der Tür standen. Dieses Vermögen steht in
ler Bürger vor dem drohenden oder schon ein-        würde diesen Aufzehrungsprozess fortsetzen.         einem derart krassen Kontrast zum früheren
getretenen Verlust nationaler Souveränität          Sie wird ein weiterer Schritt zur Einebnung         deutschen Machtfundamentalismus, dass die
und mit der Verwirrtheit angesichts der neuen       der Parteienlandschaft sein. Am Ende könnte         Vermutung naheliegt, dieser Pragmatismus
globalen Unübersichtlichkeit. Tatsächlich wis-      die Frage aufkommen, ob das Instrument Par-         sei die unmittelbare Lehre, die die Deutschen
sen die meisten aber genau, dass es keine Al-       tei, von seinen ideologischen Restbeständen         aus ihrer selbstverschuldeten Katastrophe ge-
ternative zum Dahinschwinden herkömmli-             gereinigt, in Zukunft noch geeignet ist, Politik    zogen haben. Wenn dem so wäre, spricht we-
cher nationaler Souveränität gibt und die Un-       zu ermöglichen.                                     nig gegen die Annahme, dass Deutschland in
übersichtlichkeit nun einmal da ist.                   Das Erbe der Bundeskanzlerin wird para-          der Lage sein wird, die historisch neuen Aufga-
   Was aber fehlt, sind beharrliche Versuche,       dox sein. Trotz aktueller europäischer Turbu-       ben des kommenden Jahrzehnts im letzten
diese Wirklichkeiten zu erklären, ihnen Kon-        lenzen, die sich wieder legen werden, hat sie       Moment pragmatisch zu bewältigen.
tur zu geben. In dieser Kunst ist die Kanzlerin     Deutschlands Stellung in der Europäischen
nicht sehr stark, und darin folgen ihr inzwi-       Union gestärkt. Sie hat das aber, wie immer,        Der Autor ist Publizist und
schen auch alle anderen Parteien. Hier tut          ins allzu Offene hinein getan: ohne eine star-      lebt in Berlin.
FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
8   DENK ICH AN DEUTSCHLAND

     EINEEROSIONDES VERTRAUENS
     D
               ie Stimmungslage der Bürger ist zurzeit                           Die Bürger sind skeptisch,                           Dass vor allem gut Gebildete ins Land strö-
               von einer ungewöhnlichen Konstellati-                                                                               men und helfen, den Mangel an Fachkräften
                                                                                 ob ihr Land die massenhafte
               on geprägt: Die Zufriedenheit mit der                                                                               in einigen Branchen zu mildern, hielt die gro-
     eigenen materiellen Lage steigt seit Jahren kon-                            Einwanderung verkraftet.                          ße Mehrheit zu keinem Zeitpunkt für plausi-
     tinuierlich an, die Konsumfreude ist groß, und                              Der Politik trauen sie die                        bel. Die kulturellen Prägungen und Wertvor-
     Sorgen um die Sicherheit des eigenen Arbeits-                               Lösung des Problems nicht zu.                     stellungen werden als völlig anders und fremd
     platzes treiben nur noch eine Minderheit um –                               VON RENATE KÖCHER
                                                                                                                                   wahrgenommen. 90 Prozent der Bevölkerung
     ganz anders als noch vor zehn Jahren. Gleich-                                                                                 sind überzeugt, dass sich Kultur und Wertvor-
     zeitig ist der Zukunftsoptimismus der Bürger in                                                                               stellungen der meisten Flüchtlinge gravierend
     den letzten zwölf Monaten regelrecht zusam-                                                                                   von der deutschen Kultur und den anerkann-
     mengebrochen. Nur 36 Prozent der Bevölke-                                  Mit den Flüchtlingszahlen bildete sich in          ten gesellschaftlichen Grundprinzipien unter-
     rung sehen den kommenden zwölf Monaten                                  diesem Jahr zwar auch die Beunruhigung                scheiden. Die meisten denken hier nicht nur
     hoffnungsvoll entgegen, die Mehrheit mit Skep-                          der Bürger zurück. Die Mehrheit ist jedoch            an die Gleichstellung von Mann und Frau
     sis oder sogar ausgeprägten Befürchtungen.                              skeptisch, ob der Rückgang der Flüchtlings-           oder die religiösen Überzeugungen, sondern
     Ähnlich düster war die Stimmung der Bevölke-                            zahlen wirklich nachhaltig ist. Gleichzeitig          auch an die Haltung zum Staat und die Bereit-
     rung in den letzten Jahrzehnten nur in Zeiten                           sieht die Bevölkerung in den Flüchtlingen,            schaft, die Gesetze einzuhalten. Auch in Be-
     gravierender ökonomischer oder politischer                              die sich bereits im Land befinden und aner-           zug auf die Kindererziehung und die Leitvor-
     Krisen, wie während der Ölkrisen, inmitten                              kannt oder zumindest geduldet sind, eine              stellungen für das Familienleben unterschei-
     der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise 2008,                             enorme Herausforderung, die die Herkules-             den sich nach der Einschätzung der großen
     nach den New Yorker Anschlägen oder Anfang                              aufgabe der ersten Unterbringung und Ver-             Mehrheit die Vorstellungen gravierend.
     der neunziger Jahre, als eine Rezession und die                         sorgung bei weitem übersteigt. 71 Prozent                Diejenigen, die in den letzten zwölf Mona-
     Flüchtlingswelle vom Balkan zusammentrafen.                             beurteilen die Integrationschancen skep-              ten häufiger Kontakte zu Flüchtlingen hatten,
        Was die Bürger heute verunsichert, sind vor                          tisch, lediglich jeder Fünfte ist hier zuver-         sehen dies nicht wesentlich anders als der
     allem der Flüchtlingszustrom, die Häufung von                           sichtlich.                                            Durchschnitt der Bevölkerung. Sie betonen die
     Terrorakten, die internationalen Krisen, die un-                           Das hat wenig mit Ausländerfeindlichkeit           unterschiedlichen Prägungen teilweise sogar
     kalkulierbar und auch fast unbeherrschbar er-                           zu tun. Deutschland hat seit Jahrzehnten Mil-         noch stärker; dies gilt insbesondere in Bezug
     scheinen, und die innere Sicherheit in Deutsch-                         lionen Bürger mit Migrationshintergrund. Die          auf die Leitideen für das Familienleben und
     land. Inmitten der wirtschaftlichen Prosperität                         Mehrheit der Bevölkerung zählt aus anderen            die Kindererziehung. Lediglich in Bezug auf
     und robusten Konjunktur wächst das Bedroht-                             Ländern Zugewanderte zu ihrem Freundes-               die Einstellungen zum Staat und die Bereit-
     heitsgefühl der Bürger kontinuierlich an.                               oder Bekanntenkreis; das gilt insbesondere            schaft, sich an den geltenden Gesetzen und Re-
        Der Zeitpunkt, zu dem der Optimismus zu-                             für die junge Generation, von denen die große         geln zu orientieren, sehen diejenigen, die in
     sammenbrach und einer tiefen Besorgnis                                  Mehrheit mit ausländischstämmigen Kindern             den letzten Monaten häufiger Kontakte zu
     wich, lässt sich eindeutig auf den Spätsommer                           zur Schule gegangen ist. Die große Mehrheit           Flüchtlingen hatten, tendenziell weniger
     des vergangenen Jahres datieren. Die Flücht-                            zieht in Bezug auf diese Zugewanderten eine           Schwierigkeiten als der Durchschnitt der Be-
     lingskrise, die zu diesem Zeitpunkt eskalierte,                         positive Bilanz, stuft sie als überwiegend gut        völkerung. 61 Prozent der gesamten Bevölke-
     erschütterte und alarmierte die Bevölkerung.                            integriert sein.                                      rung, 55 Prozent der Bürger, die häufiger Kon-
     Dass eine Regierung die Kontrolle über die ei-                             In Bezug auf die Flüchtlinge ist die große         takte zu Flüchtlingen hatten, gehen von signifi-
     genen Grenzen verliert und Hunderttausende                              Mehrheit jedoch überzeugt, dass die Voraus-           kanten Unterschieden bei der Einstellung zum
     unregistriert ins Land strömen, war zuvor für                           setzungen für eine erfolgreiche Integration           Staat und der Bereitschaft, Gesetze und Re-
     die Bürger kaum vorstellbar. Die anfangs von                            eher ungünstig sind. Zu unterschiedlich sind          geln einzuhalten, aus. In Bezug auf die Gleich-
     Medien und Politik gefeierte Willkommenskul-                            nach der Einschätzung der Bürger die kulturel-        stellung von Mann und Frau sehen 93 Prozent
     tur war weit von der Gemütslage der Mehrheit                            len Prägungen, zu groß der Rückstand an schu-         der gesamten Bevölkerung, 95 Prozent derjeni-
     entfernt, die schockiert und beklommen war.                             lischer und beruflicher Bildung.                      gen mit Kontakten zu Flüchtlingen gravieren-

     Integrationschancen der                                                Gefahr durch radikale Islamisten                        Ängste nach Terror im Sommer
     Flüchtlinge sehr gut                                                   Wie groß ist die Gefahr, die in Deutschland von
                                                                            radikalen islamischen Gruppen ausgeht?          2016    Diese Anschläge waren erst der Anfang
     Unentschieden,                                                                                                         77%
     keine Angaben             8 1                                                           (sehr) groß                                                                           73%
                                             20         gut
     gar                                                                                                            2014            Wir leben nie mehr so sicher wie früher
     nicht                 Wie gut                                              2004
                      sind die Chancen                                          62%                                 63%
     gut                                                                                                                   2015                                         58%
                 21   der Flüchtlinge,                                                            2009
                                                                                                                           68%
                    sich in die deutsche                                                          55%
                                                                                                                                    Gäbe es weniger Flüchtlinge, gäbe es weniger Terror
                       Gesellschaft zu                                                                       2012
                         integrieren?                                                                        56%                                                 47%

                                   50                  weniger gut                       2006                                       Die Situation in Deutschland ist außer Kontrolle
                                                                                         45%
     Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre. Quelle: Allensbach / F.A.Z.-Grafik Niebel                                                34%
FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
DENK ICH AN DEUTSCHLAND        9

de Unterschiede zwischen den Prägungen der                                                                                                       52%       54%
                                                                                                                                  49%                               (sehr) gut
Flüchtlinge und der deutschen Bevölkerung.                                                          47%            48%
   Die Bevölkerung hat klare Vorstellungen                                           44%
                                                       40%            41%
von den Voraussetzungen einer erfolgreichen
Integration: rascher Erwerb von Sprachkennt-
nissen, Integrationsbereitschaft, die Akzep-       Optimistische Deutsche
tanz der Grundprinzipien der deutschen Ge-
sellschaft, insbesondere der Gleichstellung        Es stufen die eigene wirtschaftliche Lage ein als:
von Männern und Frauen, Bildungsinteresse
und die Bereitschaft, unter Deutschen zu le-           15%            15%            14%
ben, und sich nicht abzuschotten.                                                                   12%            11%            11%                             (eher) schlecht
                                                                                                                                                  9%       9%
   Die Bürger verstehen unter Integration
nicht Assimilierung. Sie halten es jedoch für          2009           2010           2011           2012           2013           2014           2015      2016
wichtig, dass bei ernsten Konflikten zwischen
                                                   Basis: Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre. Quelle: Allensbach / F.A.Z.-Grafik Niebel
den kulturellen Prägungen aus dem Herkunfts-
land und der deutschen Kultur die Letztere
den Vorrang hat. Der Begriff der Leitkultur,       mehr in ihrem Umfeld so frei bewegen kön-                               nen Querelen so geschwächt, dass sie deutlich
der in der öffentlichen Diskussion immer wie-      nen wie früher, ohne sich Risiken auszuset-                             unter 5 Prozent lag. Mit der Flüchtlingskrise
der zu Kontroversen führte, ist für die große      zen. Auch Einbruchdiebstähle beunruhigen                                und der Reaktion der im Parlament vertrete-
Mehrheit kein Reizwort, sondern eine Selbst-       der Bürger zunehmend. Zu diesen Risiken im                              nen Parteien auf diese Herausforderung nahm
verständlichkeit. Ob Integration gelingt,          Nahbereich kommt die Sorge, dass Deutsch-                               die Unterstützung für die AfD steil zu. In die-
hängt nach Überzeugung der meisten auch            land in internationale militärische Konflikte                           sem Jahr bewegen sich die Zweitstimmenwahl-
von der Entschiedenheit ab, mit der wesentli-      hineingezogen werden könnte. Für zwei Drit-                             absichten zugunsten der AfD bisher zwischen
che Grundprinzipien im Alltag durchgesetzt         tel der Bürger ist dies eine reale Gefahr.                              10 und annähernd 13 Prozent. Sämtliche
werden. Dass beispielsweise weibliche Ärzte           Die Zusammenballung von Risiken hat                                  Landtagswahlen sind zurzeit von diesem Hö-
zurückgewiesen werden oder Frauen der              nicht nur das Sicherheitsgefühl der Bevölke-                            henflug geprägt. Die Reaktion vieler Bürger
Handschlag verweigert wird, ist nach Überzeu-      rung unterminiert, sondern auch das Vertrau-                            auf die Erfolge der AfD bei Landtagswahlen
gung der großen Mehrheit nicht tolerierbar.        en in die Politik. Insbesondere die Reaktion                            zeigt eine Verbitterung über die im Parlament
   Die Beunruhigung über die noch lange            der etablierten Parteien auf die Flüchtlingskri-                        vertretenen Parteien, die weit über den Kreis
nicht erfolgreich bewältigte Flüchtlingswelle      se hat zu einer tiefen Entfremdung und zu                               der AfD-Anhänger hinausreicht. Nach den
ist jedoch nicht die einzige Quelle von Verunsi-   Misstrauen geführt, ob sich die Ziele und Vor-                          Landtagswahlen von Baden-Württemberg
cherung. Die Terroranschläge und Attentate         stellungen der Politik überhaupt noch nähe-                             und Rheinland-Pfalz begrüßten 46 Prozent
in Frankreich, Belgien und neuerdings auch         rungsweise mit denen der Bürger decken. Die                             der Bürger das Abschneiden der AfD mit dem
Deutschland unterminieren das Sicherheitsge-       politische Reaktion auf die Eskalation der                              Argument, dass die etablierten Parteien einen
fühl der Bürger.                                   Flüchtlingskrise war und ist teilweise noch                             derartigen Denkzettel brauchen.
   Die Anschläge kamen für die Mehrheit kei-       von einem bemerkenswerten Konsens der im                                   In der öffentlichen Diskussion wurde in den
neswegs überraschend. Schon vor der An-            Parlament vertretenen Parteien geprägt. Von                             letzten Monaten immer wieder die AfD als das
schlagsserie fürchteten drei Viertel der Bevöl-    der Linken über die Grünen bis zu CDU und                               eigentliche Problem und Risiko dargestellt.
kerung, dass es in absehbarer Zeit zu einem        SPD wurde die Flüchtlingspolitik im letzten                             Das eigentliche Problem ist jedoch der Vertrau-
Terroranschlag in Deutschland kommt. Nach          Jahr weitgehend mitgetragen – eine unge-                                ensverlust der etablierten Parteien, die AfD
den Anschlägen waren ebenfalls drei Viertel        wöhnliche Konstellation bei einem Ereignis                              das Ergebnis dieser Vertrauenserosion. Die
überzeugt, dass dies erst der Anfang ist und       von derartiger Tragweite und Sprengkraft.                               Mehrheit der Bevölkerung kann bei keiner Par-
weitere Anschläge drohen. 58 Prozent fürch-           Der Schock, die Besorgnis der Mehrheit, hat-                         tei überzeugende Konzepte für den Umgang
ten, dass man in Deutschland nie mehr so si-       te im Parlament kaum eine Stimme und wurde                              mit der Flüchtlingssituation erkennen.
cher leben kann wie zuvor. Knapp zwei Drittel      so politisch nicht aufgefangen. Dazu kam zeit-                             Dies schwächt besonders die Partei, die in
haben sogar das Gefühl, dass Terror und Ge-        weise eine Medienberichterstattung, die im                              der Verantwortung ist und die immer weitaus
walt mittlerweile zu unserem Alltag gehören.       Verbund mit dem breiten Konsens im Parla-                               mehr als andere Parteien als Garant von Si-
Die Gefahren, die von radikalen islamisti-         ment ein gesellschaftliches Klima beförderte,                           cherheit gesehen wurde und in abgeschwäch-
schen Gruppierungen für Deutschland ausge-         in dem die Mehrheit der Bevölkerung plötzlich                           ter Form auch noch gesehen wird – die CDU.
hen, treten immer mehr ins Bewusstsein der         den Eindruck hatte, dass man vorsichtig sein                            War bei der letzten Bundestagswahl sogar die
Bürger. Vor zehn Jahren veranschlagten 45          müsse, sich überhaupt mit seiner Meinung zur                            absolute Mehrheit in Reichweite, schwankt sie
Prozent diese Gefahren als groß, im letzten        Flüchtlingssituation zu exponieren. Die Be-                             zurzeit in der Bandbreite zwischen 33 und 35
Jahr bereits 68 Prozent, jetzt 77 Prozent.         richterstattung der Medien zu diesem Thema                              Prozent. Die anderen im Bundestag vertrete-
   Die wachsenden Sorgen über Terrorgefah-         wurde im letzten Jahr überwiegend kritisiert                            nen Parteien profitieren davon kaum, sondern
ren treffen auf ein gesellschaftliches Klima,      bis hin zum Vorwurf der „Lügenpresse“, der                              müssen auch kämpfen, um das Vertrauen der
das ohnehin von wachsender Besorgnis um            weit über den Kreis der Pegida- und AfD-An-                             Bürger zurückzugewinnen. Das ist angesichts
die innere Sicherheit geprägt ist. Schon seit      hänger hinaus erhoben wurde.                                            der zahlreichen Krisen, für die es keine einfa-
Jahren nimmt die Besorgnis über die Entwick-          Eine Folge des Eindrucks, weder in Medien                            chen Lösungen gibt, nicht leicht. Gerade in die-
lung von Gewalt und Kriminalität zu. Der An-       noch in der Politik mit den eigenen Sorgen                              sem Umfeld wird Vertrauen rasch zerstört,
teil der Bevölkerung, der sich in diesem Zu-       und Positionen Verständnis zu finden, war die                           aber nur schwer restauriert.
sammenhang Sorgen macht, stieg seit 2014           Renaissance und Stärkung der AfD. Noch im
von 52 auf 82 Prozent. Insbesondere Frauen         Frühsommer letzten Jahres war sie durch die                             Die Autorin ist Geschäftsführerin des Instituts
haben heute den Eindruck, dass sie sich nicht      Abspaltung des Lucke-Flügels und die inter-                             für Demoskopie Allensbach.
FLUCHTPUNKT DEUTSCHLAND - Eine Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
10   DENK ICH AN DEUTSCHLAND
DENK ICH AN DEUTSCHLAND                  11

Mit der Kraftanstrengung      eine Flüchtlingskolonne
der Wiedervereinigung ist     in Bayern). Mal mussten
die Aufgabe, Hunderttau-      die Behörden gestehen,
sende Ausländer aus den       dass in vielen tausend Fäl-
Kriegsgebieten dieser         len Menschen ins Land ge-
Welt zu integrieren, schon    kommen waren, die nicht
verglichen worden. Kein       registriert worden waren.
Wunder, dass da selbst die    Dann wieder kam es vor
Bürokratie, sonst in Wahr-    dem Berliner Landesamt
heit wie in der Karikatur     für Gesundheit und Sozia-
eigentlich eine Spezialität   les („LaGeSo“) wochen-
der Deutschen, häufiger       lang zu katastrophalen
schwächelte, als den Bür-     Szenen (Bild links), bis
gern lieb sein konnte.        diese Erstanlaufstelle zu
Nicht überall liefen Erfas-   einem Sinnbild für Staats-
sung und Unterbringung        versagen geworden war.
der Neuankömmlinge ge-        Fotos Matthias Lüdecke (links),
ordnet ab (im Bild oben:      Reuters

DAS VERWALTETE
ELEND
12   DENK ICH AN DEUTSCHLAND

     I
           n einem hellen Raum sitzen sechs Kin-
           der im Kreis mit zwei Erzieherinnen.
           Mal rufen sie im Chor, mal flüstern sie.
                                                          LAND,                                              nahmestopp“ verkündet. Man könnte auch
                                                                                                             „Obergrenze“ dazu sagen. Die Stadt hat diese
                                                                                                             Option nicht.
           Drumherum stapelweise Spielzeug. „Ra-
     madan, wo bist du?“, ruft eine Erzieherin.
     „Hier bin ich“, antwortet ein Junge. Die meis-
                                                          STADT,                                                Sie kann auch nicht verhindern, dass alle
                                                                                                             Flüchtlinge in bestimmte Viertel ziehen. Das
                                                                                                             Land könnte das. Die Wohnsitzregelung, die
     ten der Kinder sind Syrer. Seit zwei Monaten
     kommen sie jeden Morgen in die Kinderbe-
     treuung der Diakonie hier. Oberstes Ziel sei
                                                          MIGRANT                                            Teil des nun in Kraft getretenen Integrationspa-
                                                                                                             kets ist, wurde für Städte wie Essen geschaffen,
                                                                                                             um „Banlieue-Strukturen“ zu vermeiden, wie
     es, den Kindern eine Struktur zu geben und           Überschuldete Haushalte,                           es stets hieß. Allerdings haben die Bundeslän-
     sie in einem geschützten Raum Kind sein zu           soziale Verwerfungen: Viele                        der diese Regelung noch nicht umgesetzt. In Es-
     lassen, sagt eine Erzieherin. Man merke, dass                                                           sen heißt es nun, eine solche durch das Land
                                                          Kommunen kämpfen ohnehin
     das für viele das erste Mal ist.                                                                        sei „dringlich“.
        Die Kinder werden morgens von ihren El-           darum, für ihre Bewohner gute                         In der Stadt seien alle Systeme „bis an den
     tern aus dem benachbarten Zeltdorf gebracht,         Lebensbedingungen zu                               Rand gefordert“, sagt Björn Hermans, Leiter
     das in dem früheren Fußballstadion Mathias           schaffen. Jetzt kommen noch                        der Caritas Essen. Immer müsse das scheinbar
     Stinnes aufgestellt wurde. In Karnap im äußer-       Flüchtlinge hinzu – und alle                       Unmögliche möglich gemacht werden, damit
     ten Norden Essens, direkt neben der Müllver-                                                            die ganz normale Arbeit weitergehe. Zusätzli-
     brennungsanlage. Mittlerweile sind viele der
                                                          Systeme werden „bis an                             ches gebe es grundsätzlich nicht. Beispiel Dol-
     hohen weißen Zelte nicht einmal mehr zur             den Rand gefordert“.                               metscherkosten: Die sozialen Träger brauchen
     Hälfte belegt, dem stark zurückgegangenen Zu-        Das Beispiel Essen.                                für fast alle Tätigkeiten einen Übersetzer. Als
     zug von Asylsuchenden sei dank. Am Eingang           VON JULIAN STAIB                                   kürzlich die Finanzierung von Seiten der Stadt
     des riesigen Zeltes, in dem die Familien der                                                            unsicher war, wussten die Helfer nicht, wie sie
     Kinder untergebracht sind, sitzen drei Frauen.                                                          am nächsten Tag weiterarbeiten sollten. Dann
     Vor ihnen Dutzende Steckdosen, an denen sie         Durch den starken Zuzug von Flüchtlingen ha-        wurde ein Restbudget aufgetan. „Es ist immer
     ihre Handys aufladen. Eine der Frauen lacht,        ben nun viele die Sorge, dass ganze Stadtteile      kurz vor knapp“, sagt Hermans. „Das Hemd ist
     sie hält ein braunes Couvert in den Händen.         kippen. Und die hochverschuldete Stadt, die         immer zu kurz.“
     Darin ein Schreiben des Bundesamts für Migra-       schon eine Fülle von Problemen besitzt, hat da-        Auch er sorgt sich, dass die anerkannten
     tion und Flüchtlinge. Der Familie, es sind kur-     mit eine Krise mehr.                                Flüchtlinge nun alle in die gleichen Stadtteile
     dische Iraker, die seit sieben Monaten in              Essen funktioniert bisweilen wie ein Brenn-      ziehen und sich die Spaltung der Stadt ver-
     Deutschland leben, wurde Flüchtlingsschutz          glas. Weil sich an der Stadt die Probleme, die      stärkt. Die Caritas betreibt ein „Begegnungs-
     zugesprochen. Sie dürfen endlich raus aus der       sich durch Flüchtlinge ergeben, fast überspitzt     projekt“, das Flüchtlinge und Bewohner ande-
     Zeltunterkunft und für mindestens drei Jahre        aufzeigen lassen. Die fehlende Durchmi-             rer Viertel zusammenbringen soll. „Nette An-
     in Deutschland bleiben.                             schung der Viertel, aber auch Fragen der Inte-      sätze“, sagt Hermans dazu, aber bei der gegen-
        Wahrscheinlich werden sie sich zunächst          gration angesichts überschuldeter Haushalte         wärtigen Größenordnung seien die „homöopa-
     eine Wohnung im Essener Norden suchen,              und nicht zuletzt die Schwierigkeit, unterstüt-     thisch“. „Das geht alles nur mit Ressourcen,
     dort, wo die Mieten billig sind, und Hartz IV be-   zungsbedürftige Einheimische nicht gegen die        die nicht vorhanden sind.“
     antragen. So wie die meisten anerkannten            „Neuen“ auszuspielen – was die Sozialdemo-             Seine größte Sorge ist, dass die anerkannten
     Flüchtlinge. In Essen leben mittlerweile rund       kratie in größte Schwierigkeiten bringt.            Flüchtlinge zu lange unbeschäftigt in ihren
     18 000 Personen aus den Hauptherkunftslän-             In Essen kommt hinzu, dass über Monate an-       Wohnungen bleiben. „Die Allermeisten wol-
     dern. 7900 sind Syrer, Anfang 2015 waren es         erkannte Flüchtlinge aus anderen Bundeslän-         len ganz dringend etwas tun. Aber nach ein bis
     noch 1350. Essen war lange eine schrumpfen-         dern in die Stadt zogen. Dorthin zumeist, wo        zwei Jahren wird man bestimmte Gruppen
     de Stadt. Jetzt wächst sie wieder. Weil mehr        schon Verwandte und Bekannte leben. Auch            nicht mehr aktivieren können.“ Hermans ver-
     Kinder geboren werden und weil es mehr Zu-          den Zugezogenen muss die Kommune Hartz-             weist auf die libanesische Community in der
     zug gibt. Nicht nur von Flüchtlingen. Aber der      IV-Leistungen zahlen. Mittlerweile sind den         Stadt. Direkt neben dem Caritas-Hauptgebäu-
     Anteil der Deutschen ohne weitere Staatsange-       kürzlich in Kraft getretenen Änderungen des         de befindet sich das, was man in Essen als
     hörigkeit schrumpft deutlich, derjenige von         Aufenthaltsgesetzes zufolge anerkannte Flücht-      „Klein-Libanon“ bezeichnet. Hier im nördli-
     Personen mit ausländischer oder doppelter           linge verpflichtet, in dem Bundesland zu blei-      chen Teil der Innenstadt leben viele Libane-
     Staatsangehörigkeit dagegen steigt. Schon ge-       ben, in dem ihr Asylverfahren durchgeführt          sen, viele seit Jahrzehnten in Duldung. „Ausrei-
     schlossene Schulen werden wiedereröffnet.           wurde – es sei denn, sie finden irgendwo an-        sepflichtig“ steht teilweise noch in den Aus-
     3000 „Seiteneinsteiger“ kamen im vergange-          ders eine Arbeit. Damit ist für Essen der starke    weispapieren der Enkel derer, die einst nach
     nen Jahr in die Klassen, die meisten waren          Zuzug von außen gestoppt. Doch schon heute          Deutschland geflohen waren. Im April erst gab
     Flüchtlingskinder.                                  leben in der Stadt weit mehr Flüchtlinge, als ei-   es Schwerverletzte bei einer Schießerei zwi-
        Vereinfacht dargestellt, hat Essen einen rei-    gentlich vorgesehen sind gemäß der bundes-          schen Libanesen. Die Clans sind für die meis-
     chen Süden und einen armen Norden. Aus al-          weiten Verteilung anhand des Königsteiner           ten in Essen das Beispiel dafür, wie es keines-
     len Statistiken der Stadt lässt sich die Spaltung   Schlüssels.                                         falls laufen sollte mit der Integration.
     ablesen. Etwa die Sozialhilfequote: Im Norden          In den rund 800 Wohnungen, die von Cari-            „Bei denen dachten damals alle, die gehen
     beziehen je nach Viertel bis zu 35,5 Prozent        tas und Diakonie in der Stadt betreut werden,       schon wieder“, sagt Peter Renzel (CDU). Die
     der Personen Hartz IV oder andere existenzsi-       leben mittlerweile mehr hinzugezogene Flücht-       Stadt habe ihnen eine Unterkunft gegeben –
     chernde Leistungen, im Süden dagegen teilwei-       linge als solche, die in Essen ihre Anerken-        und sie dann in Ruhe gelassen. Diesen Fehler
     se nur ein Prozent der Personen. Die Kluft ist      nung erhielten. Die Wohlfahrtsverbände se-          dürfe man nun nicht wiederholen. Renzel ist
     historisch bedingt, wie in vielen Städten des       hen sich nicht in der Lage, noch mehr Perso-        Sozialdezernent Essens. Er sitzt im 14. Stock
     Ruhrgebiets. Doch seit Jahren vertieft sie sich.    nen zu betreuen, und haben nun einen „Auf-          des spektakulär unansehnlichen Rathauses
DENK ICH AN DEUTSCHLAND              13

mit Blick über die Stadt. Renzel unterstehen So-    werde, sagt er. Und warnt: „Was wir jetzt nicht    Welt. Guido Reil, ein bekanntes SPD-Ratsmit-
zialamt, Jugendamt, Gesundheitsamt, Schul-          tun, wird uns alles einholen.“ Dann könne          glied, 25 Jahre lang Sozialdemokrat, zudem
verwaltung und Jobcenter. Bei ihm laufen also       man in zehn, fünfzehn Jahren die Scherben zu-      Bergmann im letzten Steinkohlewerk des Ruhr-
die Fäden beim Thema Integration zusammen,          sammenkehren. Die Stadt habe schon immer           gebiets, rebellierte gegen die Flüchtlingspolitik
und auch Leute aus den anderen politischen          von der Einwanderung gelebt. Die Politik sei       – und lief zur AfD über. „Genug ist genug, Inte-
Lagern bescheinigen ihm, angesichts der knap-       dafür verantwortlich, dass es keine Spaltung       gration hat Grenzen, der Norden ist voll“, hieß
pen Mittel einen guten Job zu machen.               der Stadtgesellschaft gebe.                        im Januar ein Demonstrationsaufruf von SPD-
   Renzel spricht gerne von „Integrationspro-          Manche sagen, die gebe es schon längst. In      Ortsvereinen im Norden Essens. Die Demons-
zessen“, die es zu initiieren gelte, und kann re-   Essen beziehen rund 103 000 der etwa 589 000       tration wurde dann abgesagt.
gelrecht schwärmen von den vielen runden Ti-        Einwohner „existenzsichernde Leistungen“              Martin Schlauch nennt diesen Aufruf „däm-
schen in den Stadtvierteln, der Zusammenar-         wie Hartz IV. Die Quote steigt seit Jahren. Die    lich“. Sich gegen die temporäre Unterbringung
beit mit den Ehrenamtlichen und all den Refor-      allermeisten von ihnen leben im Norden der         in Zelten zu wenden sei überflüssig gewesen.
men, die bereits angepackt wurden. Doch auch        Stadt. Auf dem „Sozialatlas“ der Stadtverwal-      Wichtig sei vielmehr, wo die Flüchtlinge nach
er sagt: „Die Anzahl der Leute bringt uns an        tung ist fast der gesamte Norden rot eingefärbt,   ihrer Anerkennung hinzögen. Das sei nun mal
die Grenzen unserer Möglichkeiten.“ Und             der Süden bleibt hell. Als nun die provisori-      der Norden. Schlauchs Kernaussage ist: Wir
doch wirbt er dafür, optimistisch zu bleiben.       schen Flüchtlingszelte in den Norden gestellt      sollten uns nicht nur auf die Flüchtlinge kon-
„Was bleibt auch sonst?“, schwingt da mit. Er       werden sollten, regte sich dagegen Protest. In     zentrieren.
sei „positiv gestimmt, dass wir das schaffen.       der Essener SPD führte das zu tiefen Gräben.          Schlauch ist 30 Jahre alt, mit 17 trat er in die
Wir müssen das auch schaffen“, sagt er. Trotz          Wie die Quadratour des Kreises scheint der      SPD ein, seit 2014 sitzt er im Stadtrat. Stolz
der „horrenden“ finanziellen Beschränkungen         Versuch, das ureigene Klientel in den ärmeren      führt er durch sein Viertel Altenessen-Süd.
Essens. Die Integration sei eine „Mammutauf-        Vierteln des Nordens zu bedienen und zu-           Kleine Hochhäuser vor Schrebergartensiedlun-
gabe“, die ein, zwei Generationen brauchen          gleich offen zu sein für die Verfolgten dieser     gen, dann wieder Blockbebauung. Bieder ist
                                                                                                       das oft, teilweise auch heruntergekommen.
                                                                                                       Dann ein Park, der eher einer Wildnis gleicht.
                                                                                                       Die Stadt habe, um Geld zu sparen, aufgege-
                                                                                                       ben, ihn zu pflegen – und das Gebiet zu einem
                                                                                                       „Ökomodellprojekt“ erklärt, sagt Schlauch.
                                                                                                          Altenessen-Süd weist in den städtischen Ta-
                                                                                                       bellen regelmäßig Werte auf, die Sorgen berei-
                                                                                                       ten. So leben 46 Prozent der Kinder hier in ei-
                                                                                                       nem Haushalt, der von Hartz IV abhängt. Die-
                                                                                                       ser Wert steige seit Jahren signifikant, sagt
                                                                                                       Schlauch. Knapp 40 Prozent der Anwohner ha-
                                                                                                       ben eine doppelte Staatsangehörigkeit oder
                                                                                                       nur eine ausländische – in Essen insgesamt
                                                                                                       sind es 24 Prozent. Schlauch kennt all die Zah-
                                                                                                       len – und deren Folgen. 85 der Schüler hier hät-
                                                                                                       ten keinen deutschen Pass, und bei denjenigen
                                                                                                       mit deutscher Staatsangehörigkeit seien die
                                                                                                       Sprachkenntnisse oft auch nicht berauschend.
                                                                                                       An der Gesamtschule hier im Essener Norden
                                                                                                       betrage die Übergangsquote von Schülern von
                                                                                                       der Grundschule aufs Gymnasium 30 Prozent.
                                                                                                       Im Süden seien es über 80.
                                                                                                          Aus der Sicht Schlauchs hat Essen kein
                                                                                                       Flüchtlings- und auch kein Ausländerproblem,
                                                                                                       sondern ein soziales Problem. „Wir haben ei-
                                                                                                       nen ganz großen Block an Leuten, die resi-
                                                                                                       gniert haben.“ Schuld daran sei die Politik: Feh-
                                                                                                       lender sozialer Wohnungsbau, fehlende Durch-
                                                                                                       mischung. Kommen nun viele Flüchtlinge hin-
                                                                                                       zu, sorgt er sich, dass sein Viertel wegkippt.
                                                                                                       „Nichts ist fataler, als dass die Menschen her-
                                                                                                       umsitzen und nichts zu tun haben.“ Schlauch
                                                                                                       fordert, massiv in die betroffenen Viertel zu in-
                                                                                                       vestieren, in Schulen und Sozialwohnungen, in
                                                                                                       Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. „Aber nicht
                                                                                                       nur für Flüchtlinge.“ Dann, sagt er, gebe es so-
                                                                                                       gar die Chance, durch das „Vehikel Flüchtlin-
                                                                                                       ge“ alte Fehler zu korrigieren.

                                                                                                       Der Autor ist Redakteur in der politischen
                                                                                                       Nachrichtenredaktion der F.A.Z.
14   DENK ICH AN DEUTSCHLAND

     BISTDU                        H
                                                abe die Ehre“, sagt Walter Frey und
                                                lacht. Ein gutes Verkaufsgespräch
                                                beginne mit der passenden Anspra-
                                                                                      höchstens zehn Prozent in den Arbeitsmarkt in-
                                                                                      tegriert werden können.“ Mittelfristig sieht er
                                                                                      bei den Jüngeren gute Chancen, bei Älteren

     LEHRLING,                                  che des Kunden, sagt der Autohänd-
                                   ler aus Gersthofen vor den Toren Augsburgs.
                                   So etwas, da ist sich Frey sicher, lerne man in
                                                                                      wird es schwierig. In dieser Deutlichkeit hätte
                                                                                      er sich das auch von anderer Stelle gewünscht,
                                                                                      sagt Brossardt mit Blick auf überzogene Vor-

     BISTDU                        keiner Schule: „Das lernt man nur im Betrieb.“
                                   Asaad Al Azem kennt diese Sätze. Mehrere
                                   Wochen lang hat er hier ein Praktikum ge-
                                                                                      stellungen aus Politik und Wirtschaft aus dem
                                                                                      vergangenen Jahr, als von einem zweiten Wirt-
                                                                                      schaftswunder durch Flüchtlinge die Rede war.

     LEHRLING                      macht. In seinem früheren Leben war der 34
                                   Jahre alte Syrer auch Autoverkäufer. In seiner
                                   Heimat und in Erbil, der Hauptstadt des kur-
                                                                                         Heute zeigt sich die Größe der Aufgabe. „Es
                                                                                      dauert lange und kostet viel Geld“, fasst Frank-
                                                                                      Jürgen Weise, Chef der Bundesagentur für Ar-
     Sollen die Flüchtlinge        disch kontrollierten Teils im Irak. Dort habe er   beit, die Aussichten zusammen. Bis zum Jah-
     integriert werden, muss die   zehn Jahre lang für mehrere große Hersteller       resende werden wohl 350 000 arbeitslose
     Wirtschaft mitspielen.        gearbeitet, zuletzt sei er mit 40 Mitarbeitern     Flüchtlinge in seiner Statistik auftauchen, Ten-
                                   für Mitsubishi in ganz Kurdistan zuständig ge-     denz steigend.
     Das aber dauert lange –
                                   wesen. Dennoch hat er im Frühjahr zusammen            In Bayern hat man einen langen Atem.
     und kostet viel Geld.         mit seiner Frau die Flucht ergriffen, kam über     „Nach einem Jahr kann man sagen, auch wenn
     Zwei Beispiele aus Bayern.    die Balkan-Route nach Deutschland.                 es am Anfang chaotisch war, haben wir uns be-
     VON SVEN ASTHEIMER               Frey sagt, er könne sich gut in Asaads Lage     achtlich geschlagen“, so Brossardt. Wahr-
                                   hineinversetzen. Er sei schließlich selbst 1946    scheinlich werde man das Ziel bis Jahresende
                                   als Flüchtling aus dem Sudetenland nach Bay-       deutlich übererfüllen und bis zu 35 000 Flücht-
                                   ern gekommen. „Flüchtlinge hat noch nie je-        linge in Arbeit oder Ausbildung bringen, selbst
                                   mand gewollt“, sagt er. Er habe sich dennoch       wenn viele keine Dokumente über Schul- und
                                   sein Unternehmen mit drei Standorten und           Berufsausbildung vorweisen können.
                                   rund 30 Beschäftigten aus dem Nichts erarbei-         Auch Dickson Ominyi kann nur erzählen,
                                   tet. „Es hat mich damals angespornt.“ Deshalb      dass er in Nigeria verschiedene Jobs erledigt
                                   will er auch jetzt etwas tun angesichts Hundert-   hat, nachdem er zwölf Jahre zur Schule gegan-
                                   tausender Flüchtlinge, die auf den deutschen       gen sei. Unter anderem habe er auch sechs Jah-
                                   Arbeitsmarkt strömen. „Es wäre beängstigend,       re als Elektriker gearbeitet, erzählt der 29 Jah-
                                   wenn wir die jungen Leute nicht integrieren.“      re alte Mann. Dickson ist Christ und lebte im
                                   Er sei wie ein Vater zu den Leuten, findet Frey,   muslimisch dominierten Norden des Landes.
                                   deshalb stelle er auch Forderungen. „Wer hier      Sein Vater und sein Bruder seien wegen ihres
                                   in Deutschland Fuß fassen will, den kann man       Glaubens getötet worden. Deshalb floh er im
                                   nicht mit Samthandschuhen anfassen.“               Sommer 2014 von dort. Jetzt lebt er in einer
                                      Asaad weiß, was von ihm erwartet wird.          Einrichtung in Taufkirchen bei München. Sein
                                   Sein Führerschein aus Dubai ist hierzulande        Asylverfahren läuft noch, er hat eine Aufent-
                                   zwar anerkannt, aber er muss noch die Prü-         haltsgestattung.
                                   fung ablegen. Vor allem aber muss er Deutsch          Anfang September hat Dickson eine Ein-
                                   büffeln, obwohl er schon relativ gut spricht.      stiegsqualifizierung bei der Kuhn Elektro-Tech-
                                   650 Deutsch-Stunden hat er seit Jahresbeginn       nik GmbH in München begonnen. Dieses För-
                                   bekommen. An die erste Praktikumsphase             derinstrument soll Jugendliche reif für eine
                                   schließt sich ein Bewerbertraining an, danach      Ausbildung machen und kommt bei Flüchtlin-
                                   kommt er zum zweiten Mal ins Autohaus Frey.        gen häufig zum Einsatz. Wenn es gut läuft,
                                   Gerade hat Asaad einen Aufenthaltstitel für        könnte das Ganze nach einem Jahr in eine Aus-
                                   drei Jahre erhalten. „Wenn wir einen Platz für     bildung zum Elektroniker für Energie- und Ge-
                                   ihn haben, stellen wir ihn ein“, sagt Frey.        bäudetechnik münden. Geschäftsführer Flori-
                                      Der Syrer könnte einer von 20 000 sein, die     an Kuhn hat Erfahrung mit der Integration
                                   von „Ida“ profitieren sollen. Die Abkürzung        von Flüchtlingen. Sein Vater stellte vor fast
                                   steht für Integration durch Arbeit, einer Koope-   zwanzig Jahren den ersten ein; heute haben un-
                                   ration von bayerischer Landesregierung, Ar-        ter den rund 100 Beschäftigten sechs einen Mi-
                                   beitsagentur und Wirtschaftsverbänden, die         grationshintergrund. „Die Loyalität bei Flücht-
                                   schon vor der großen Flüchtlingswelle gestar-      lingen ist sehr hoch – das kann man für Geld
                                   tet wurde. Bertram Brossardt ist Hauptge-          nicht kaufen“, so Kuhn. Er will nur Pünktlich-
                                   schäftsführer der Vereinigung der Bayerischen      keit und Disziplin, den Rest bringe man den
                                   Wirtschaft und einer der Initiatoren des Pro-      Menschen schon bei. Die meisten seien froh,
                                   gramms. Dafür hat sein Verband 6,7 Millionen       wenn sie mal für 40 Stunden in der Woche
                                   Euro in die Hand genommen, das Gesamtvolu-         nicht als Flüchtlinge behandelt werden, glaubt
                                   men beträgt bis zu 20 Millionen. Deshalb är-       Kuhn. Ansonsten gelte die Regel: „Bist du Lehr-
                                   gern ihn pauschale Vorwürfe, „die“ Wirtschaft      ling, bist du Lehrling.“ Keine Ausnahmen.
                                   tue zu wenig für die Flüchtlinge. „Die Öffnung
                                   war eine politische Entscheidung, und wir ha-      Der Autor ist Redakteur im Wirtschaftsressort
                                   ben damals schon gesagt, dass kurzfristig          der F.A.Z.
DENK ICH AN DEUTSCHLAND             15

V
            or 15 Jahren bekamen die Deut-
            schen einen völlig neuen Begriff
            von terroristischer Bedrohung. Ter-
                                                     WENNDIE                         schen Terror zu beklagen. Auch in den Verei-
                                                                                     nigten Staaten gab es immer wieder Anschläge
                                                                                     mit Todesopfern.
            ror im eigenen Lande war bis dahin
der Terror der RAF, Terror von links, Terror,
der nicht willkürlich größere Bevölkerungs-
                                                     GEFAHR
                                                      ..
                                                                                        Noch mehr verschiebt sich die Perspektive,
                                                                                     wenn man von Deutschland aus nach Südosten
                                                                                     blickt. Vor allem die Türkei leidet enorm unter
gruppen traf, sondern gezielt Mitglieder der
politischen oder wirtschaftlichen Elite. Wer
nicht zu dieser Elite gehörte – und sei es als
                                                     NAHER                           Anschlägen mit vielen Toten, zum Teil von Isla-
                                                                                     misten verübt, zum Teil allerdings auch von
                                                                                     der kurdisch-separatistischen PKK. Vor allem
Fahrer –, konnte leidlich sicher sein, vom Ter-
ror nicht getroffen zu werden.
   Dann wurden ausgerechnet in Deutschland
                                                     KOMMT                           aber sterben Menschen in Ländern des Nahen
                                                                                     Ostens, im Irak und in Syrien, durch islamisti-
                                                                                     sche Anschläge. Seit einiger Zeit werden sie
jene Anschläge vom 11. September 2001 vorbe-         Die Anschläge in den            verstärkt von dem „Islamischen Staat“ verübt.
reitet, die zum Inbegriff der Bedrohung der          europäischen Nachbar-              Für die Islamisten ist es natürlich schwieri-
westlichen Welt durch den islamistischen Ter-        ländern haben die Deutschen     ger, Anschläge in der Ferne, in Amerika oder
rorismus wurden. Unbemerkt von den deut-                                             Europa, zu planen und auszuführen. Sie tun es
                                                     verunsichert. Viele fragen
schen Geheimdiensten, wurde in Hamburg die                                           dennoch, um dem Westen zu zeigen, welch lan-
Zerstörung des World Trade Center geplant.           sich: Importieren Flüchtlinge   gen Arm sie haben. Jeder Anschlag schließt
Zwar hatte es in anderen Teilen der Welt längst      die Gewalt?                     die Botschaft ein, dass eine Einmischung in
islamistische Angriffe gegeben, für die meisten      VON ECKART LOHSE                den Krisen- und Kriegsregionen des Nahen Os-
Deutschen war es aber eine neue Erfahrung.                                           tens Auswirkungen bis nach New York, Brüs-
   Die Politik reagierte sofort und sehr ent-                                        sel und Paris haben kann.
schlossen. Eine rot-grüne Bundesregierung                                               Oder bis nach Ansbach und Würzburg. Dort
verschärfte die Sicherheitsgesetze, ohne zu zö-                                      wurden knapp 15 Jahre nach „9/11“ erstmals
gern; der sozialdemokratische Bundeskanzler                                          auf deutschem Boden Menschen zu Opfern is-
Gerhard Schröder legte ein Solidaritätsverspre-                                      lamistischer Terroristen. Glücklicherweise star-
chen gegenüber dem getroffenen Verbündeten                                           ben nur die Täter und keines ihrer Opfer. Den-
Amerika ab. Deutschland hatte den islamisti-                                         noch ist die Botschaft, dass auch Deutschland
schen Terror als Bedrohung angenommen.                                               im Visier der Islamisten ist, noch nie so klarge-
   Seither hat das Gefühl, bedroht zu werden,                                        worden wie durch diese beiden Taten.
immer weiter zugenommen. Dabei sind wir                                                 In den Nachbarländern Frankreich und Bel-
lange Zeit verschont geblieben. Anschläge wur-                                       gien wurden die Anschläge von Islamisten be-
den geplant, doch keiner wurde vollendet. Die                                        gangen, die lange im Land lebten und die Lan-
Pläne der Sauerland-Gruppe wurden durch                                              dessprache sprachen. Zwei Merkmale einer In-
Hinweise des amerikanischen Geheimdienstes                                           tegration immerhin. Die Täter von Ansbach
frühzeitig entdeckt und konnten rechtzeitig                                          und Würzburg standen nach bisherigen Ermitt-
durchkreuzt werden. Andere Anschlagsversu-                                           lungen im Kontakt mit dem IS, wurden sogar
che scheiterten aus technischen Gründen,                                             bis unmittelbar zur Tat von einer Kontaktper-
etwa weil Sprengladungen nicht explodierten.                                         son aus dem Nahen Osten gesteuert. Sie waren
   Doch die Sorge, Opfer eines Anschlags zu                                          erst seit kurzer Zeit in Deutschland, waren als
werden, wuchs gleichwohl. Die Mehrzahl der                                           Asylsuchende hierhergekommen. Zwar hatte
Politiker wollte sich auf keinen Fall dem Vor-                                       vor allem der Mann, der in einem Vorortzug
wurf aussetzen, eine Gefahr unterschätzt und                                         bei Würzburg mit einer Axt auf Passagiere ein-
zu wenig getan zu haben. Zwischen 2001 und                                           schlug, schon erste Merkmale einer gelingen-
heute steigerten die Verantwortlichen ihre Rhe-                                      den Integration gezeigt. Er hatte immerhin bei
torik. Hieß es anfangs, Deutschland könne                                            einer Familie gewohnt. Doch im Vergleich zu
auch von einem schweren Anschlag mit vielen                                          den Tätern von Paris, Nizza oder Brüssel wa-
Toten getroffen werden, so wird dieses inzwi-                                        ren beide Täter so gut wie gar nicht in Deutsch-
schen von der Bundesregierung fast als sicher,                                       land integriert.
nur der Zeitpunkt als ungewiss dargestellt. Die                                         Es könnte sich also um eine neue Art von Tä-
Angst ist so stark gewachsen, dass eine rechts-                                      tern handeln. Zwar sollte die terroristische Ge-
konservative Partei mit xenophober Rhetorik                                          fahr nicht überbewertet werden, die durch die
und der Warnung vor der Bedrohung durch is-                                          große Zahl von Flüchtlingen mit nach Deutsch-
lamistische Gewalttäter auf bundesweite Um-                                          land gekommen ist. Das Gegenteil wäre aber
fragewerte von zehn Prozent kommt.                                                   ebenso fahrlässig. Es ist also wichtig, dass Poli-
   Dass die Angst so wächst, obwohl es bislang                                       tik und Behörden nicht nur die klassischen Si-
so wenige Opfer gab, liegt auch an den zahlrei-                                      cherheitsgesetze verschärfen, sondern auch
chen Attentaten von Islamisten in den europäi-                                       darauf achten, dass Integration nicht auf sol-
schen Nachbarländern. Nach „9/11“ wurden                                             che Weise massenhaft scheitert, wie es in
Großbritannien und Spanien schwer getroffen,                                         Frankreich und Belgien geschehen ist.
in jüngerer Zeit vor allem Deutschlands engs-
ter Partner Frankreich. Selbst das so viel kleine-                                   Der Autor ist politischer Korrespondent
re Belgien hat weit mehr Opfer durch islamisti-                                      der F.A.Z. in Berlin.
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