Keine taz mehr - Ohne mich! - Genossenschaftsinfo 01/2022
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Genossenschaftsinfo der taz Verlagsgenossenschaft eG 01/2022 Keine taz mehr ...? "Andi- Abschied Info" s- Ohne mich!
2 Keine taz mehr ... ? IMPRESSUM INHALTVERZEICHNIS Herausgeberin: Moin Genoss:innen Der Verträgliche taz, die tageszeitung. taz-Genossenschaft 3 Heike Holdinghausen 27 Verlagsgenossenschaft eG Friedrichstraße 21 Die junge Haustechnik des 10969 Berlin Der Chefempath alten Bull Telefon: (030) 25902 - 213 Aline Lüllmann 4 Helmut Höge 28 Fax: (030) 25902 - 516 E-Mail: geno@taz.de Personalentwickler der Karg, kantig und klar Verantwortlich: eigenen Art Bascha Mika 29 Aline Lüllmann, Andreas Marggraf 8 Andreas Marggraf v. i. S. d. P. Säckeweise Feenstaub Redaktion/Produktion: Mein lieber Aufpasser Nina Schoenian 29 Stefanie Baumeister, „Kalle" Ruch 10 Jana Renner, Celina Ploenes, Die „Bull-Analysen“-Analyse Doris Akrap Der Zahleninterpret Gereon Asmuth 30 Thomas Purps 13 Coverillustration: TOM Der Streitlustige Schrauber, Alexander, Der taz-Vorstand 32 Layout: Revolutionär Stefanie Weber ★ Johnny Eisenberg 16 Der Stilist Korrektorat: Jan Feddersen 34 Doris Benjack Der mit dem Kümmer-Gen Willi Vogelpohl 18 Druck: Der Saunaschreck A. Beig Druckerei und Verlag Beate Willms 35 GmbH & Co. KG Erneuerer und Versöhner Konny Gellenbeck 20 Der Anzeigenverteidiger Tobias Schulze 36 Abu forever! Der taz-Aufsichtsrat 21 Der Feminist Simone Schmollack 37 Eine loyale Haut Micha Mussotter 22 Für das Adiabatische im Leben Andreas Rüttenauer 38 Ein guter Whiskey Sigi Renner 25 Die Venusfalle oder der lange Weg zum Schwiegersohn Von einem, der alles kann Georg Baltissen 39 Die Chefinnenredaktion 26
Ohne mich!3 Moin Genoss:innen! Stefanie Baumeister V ielleicht wundern Sie sich über die- Sie merken, es kann sich viel tun in 30 Jah- ses besondere Genossenschaftsinfo ren. So auch in Andis 30-jähriger Geschichte als 1/2022. Normalerweise stellen wir Geschäftsführer der taz. Wie Andi mit „kompli- Ihnen hier Projekte der taz für das zierten Stellenkonstrukten“ das Personal managte kommende Jahr vor und laden Sie zum taz lab (S.8), Bundeswehranzeigen in der taz „verteidigte“, im April ein. Dieses Jahr ist alles ein wenig obwohl er sie selbst als Zumutung empfand (S.21) anders. Die Genossenschaft wird 30 und unser oder wie er ohne mit der Wimper zu zucken die Geschäftsführer Andi Bull geht Ende Januar in Rolle des Bad Cop übernahm, damit andere strah- den wohlverdienten Ruhestand. len können (S.4), lesen Sie in diesem Heft. Zu seinem Abschied widmen wir Andi dieses Die Genossenschaft war ihm immer wichtig. Genossenschaftsinfo, sozusagen ein Andiinfo, Mit „Moin Genoss:innen!“ begrüßte Andi uns mit Beiträgen von, für und mit Andi. Dieses stets, das Genossenschaftsteam im ersten Stock Heft steckt voller Erinnerungen und Bildern aus des taz Gebäudes, mit der linken Faust nach drei Jahrzehnten taz Geschichte, in denen Andi oben gestreckt. „Na alles fit“ oder „kommste die taz als Geschäftsführer maßgeblich gesteu- klar?“ wurden schon auch mal hinterhergescho- ert hat. Andi wurde Geschäftsführer der taz, ben. Dass es um Menschen und ihre Bedürfnisse als ich geboren wurde, das war 1991, als die taz- geht und nicht um Profit, hatte Andi längst ver- Genossenschaft in den Startlöchern stand, der standen. Wahrscheinlich schon 1968, als er KPD/ erste Webbrowser der Öffentlichkeit zugänglich AO-Zeitungen vor Fabriktoren verteilte (S.16). gemacht wurde und die Band Nirvana ihr zwei- 30 Jahre klingen vielleicht gar nicht so viel, aber tes Album Nevermind herausbrachte. in meinem Fall ist es ein ganzes Leben. Natürlich Wie sich das mit dem www entwickelt hat, hält auch das Leben nach der taz vieles für Andi wissen Sie alle, das Albumcover für Nevermind bereit, aber eines wird wohl für immer gelten, da zeigte ein nacktes Baby, Spencer Elden, der heute sind wir uns sicher: Keine taz mehr? Ohne mich. gegen die Nutzung dieses Fotos klagt. Und der Wenn ich Andi in der Zukunft mal über den Genossenschaft, das muss ich Ihnen nicht erzäh- Weg laufe, werde ich auf jeden Fall sagen: Moin len, geht es so gut wie nie zuvor (S.20). Genosse, na, kommst du klar? So erreichen Sie uns taz, die tageszeitung – Genossenschaft Friedrichstr. 21, 10969 Berlin, Telefon: (030) 25 90 22 13, Fax: (030) 25 90 25 16 Sie erreichen uns : Mo–Do: 9–17 Uhr, Fr: 9–16 Uhr, E-Mail: geno@taz.de, Internet: www.taz.de/genossenschaft André Wunstorf Folgen Sie uns auch auf Twitter: #GenoTaz
4 Keine taz mehr ... ? Der Chefempath Aline Lüllmann O Die taz ist eine ewige Bau- bwohl ich nicht bereit bin, dich gehen zwischenmenschliche Konflikte oder persönli- stelle und es gab nur einen, zu lassen, muss ich es tun, weil du in ches Leid. Du verurteilst es nicht oder lässt es dir der hier immer den Helm deiner Entscheidung leider so unum- zumindest nicht anmerken. auf hatte stößlich bist wie in deiner Zuversicht Deine Bereitschaft, auf jeden einzugehen, kos- Foto: Sebastian Wells und deiner Liebe zur taz. tet zwar viel Zeit und führt zu vielen Sonderlö- Eine junge Kollegin meinte neulich über dich: sungen. Aber sie ist auch das Geheimnis, wie du "Jedes mal, wenn ich mit Abu rede, fühle ich es geschafft hast, trotz begrenzter Ressourcen mich danach besser. Auch wenn wir gar nicht alle immer wieder zu motivieren und den Laden einer Meinung waren." Dieser Satz ist bei mir am Laufen zu halten. Und dabei bist du auch hängen geblieben, weil er den Kern trifft. noch stets darum bemüht, bloß nicht aufzufal- Was ich am meisten in der täglichen Zusam- len. Du agierst im Hintergrund. Denn das bist menarbeit mit dir vermissen werde, sind die du auch, der Mann aus der ersten Reihe, der sich Gespräche, nach denen ich mich besser orien- lieber in der zweiten Reihe aufhält. tieren konnte. Weil du deine Meinung nicht Deinen analytischen Blick und deine Weit- aufdrängst und die deines Gegenübers anhörst, sicht konntest du in 314 Bull-Analysen unter anerkennst und deine Meinung trotzdem deut- Beweis stellen. Eine der ersten Bull-Analysen lich artikulierst. stammt vom 16.11.2002 und beschäftigt sich mit den Einnahmen abseits des Abonnements: mit dem Special-Angebot „taz-CD-Archiv“, das auf 2 BLEIBE STETS UNTERKALORISCH. CDs Texte aus 16 Jahren taz versammelte. DANN BLEIBT AUCH DIE BISSIGKEIT Ob das Produkt oder dein Aufruf dazu geführt hat, dass die CD nach nur knapp 5 Monaten aus- verkauft war, wissen wir nicht. Was wir aber An dir kann Mensch sich reiben wie an den wissen: Du kannst jedem eindrücklich erklären, Positionen in der taz, ohne dass es sich nach warum die taz mal wieder die richtigen Ent- einem Konflikt anfühlt. Ich kann meinen Stand- scheidungen getroffen und deswegen auch die punkt nach jedem Gespräch mit dir besser for- richtigen Angebote hat. Du schaffst es sogar in mulieren - und das egal, ob wir einer oder ande- einem Text zur Tafelwasseranlage das perfekte rer Meinung waren. Abo-Angebot charmant unterzubringen. Du bist Aber auch das eigene Gefühl nach den Gesprä- Analytiker und Verkäufer zugleich. chen mit dir wird mir fehlen, denn du, Andi, bist Andi, du bist unser Archiv. Du erinnerst dich der Chefempath. Es gibt keine menschliche Reak- an die besten Geschichten und die kleinsten tion, die du nicht nachempfinden kannst und Details. Es gibt keine Mail, die du nicht finden mit soziologischem Interesse verfolgst, egal ob kannst, kein Dokument, das verloren geht.
6 Keine taz mehr ... ? EDV-Chef Ralf Klever und Du findest immer eine Antwort. Ob in deinem Hausmeister, der Reiseführer, der Pfleger der Lis- der Baustellenleiter auf dem Kopf oder in deinen Listen, die leider niemand ten, zerkleinerst die Pappkartons, liest Korrek- Dach des neuen taz-Hauses außer dir versteht. Ich könnte dir noch Jahre tur und bist der Kummerkasten und derjenige, Foto: Karsten Thielker zuhören und zugucken, aber du hast entschie- der freiwillig der Bad Cop ist, damit die anderen den, dass jetzt andere das Ruder übernehmen strahlen können. sollen. Du bist auch Andi, der Umsetzer. Woher du Und du hast den Zeitpunkt gut gewählt. Denn diese Energie nimmst, ist mir ein Rätsel. der taz geht es gut. Sehr gut sogar. Das ist wun- Vielleicht ist es wirklich der Trick, den du mir derbar, hat aber auch seine Tücken. Unruhen und vor einigen Jahren verraten hast und den wir Bedürfnisse werden laut, die zwar verständlich täglich sehen können, wenn du Mittags in der sind, aber mit verantwortungsbewusstem Weit- Kantine - ohne bestellen zu müssen - Salat und blick nicht befriedigt werden können. Nachtisch bekommst: "Bleibe stets unterkalo- Während alle nach einem Treffen mit der risch. Dann bleibt auch die Bissigkeit." Belegschaft nach diplomatischen Worten Bissig bist du bei Themen, nicht bei Menschen. suchen, hast du den Kern begriffen und fasst Du bist immer ansprechbar, auch wenn es dich präzise zusammen: "Ist doch alles super, nur die wieder und wieder aus der Arbeit reißt. Manch- Stimmung ist scheiße." mal staune ich, wie häufig du deine Arbeit unter- Es gibt keinen Job in der taz, für den du dir zu brechen musst und trotzdem jedes mal sagst: schade bist. So bleiben viele Aufgaben oft ewig Kein Problem. Daran fasziniert mich am meis- bei dir, weil eben niemand anderes es machen ten, dass du das nicht nur sagst, sondern auch so wollte oder so gut konnte wie du. Du bist der meinst.
Ohne mich!7 Nie geht jemand und du bist genervt. Ich habe Auch deinen Kampfgeist möchte ich hier dich auch nie mit schlechter Laune oder unmo- nicht unerwähnt lassen, du bist auch Andi, der tiviert gesehen. Kämpfer. Denn auch bei hartem „Gegenwind aus Du bist da und interessierst dich für Details Gremien“ bist du sattelfest geblieben, hast dich und für die Lösung. Auch wenn Personen kom- nicht beirren lassen, sondern konsequent daran men und schimpfen, bleibst du freundlich. Mit gearbeitet, die taz gut für die Zukunft aufzustel- dem Blick auf das Ganze und auf den langen Weg len: Mit dem Neubau, den Zukunftsprodukten, der taz, lässt du dich durch nichts und nieman- der Produktentwicklung, neuen Prozessen und den aus der Ruhe bringen. festen Strukturen, der Art und Weise des Mitein- anders und sogar einem Plan, wie wir den Lohn weiter heben können. DU FINDEST NICHT NUR Du bist radikal. Radikaler als viele ANTWORTEN, SONDERN AUCH – auch als viele in der taz. Wenn ein Kollege seine Kinder nicht in die DIE RICHTIGEN FRAGEN FÜR Schule in Kreuzberg schickt, sondern deswegen umzieht oder eine Privat- DIE ZUKUNFT schule wählt, ist das ein Verrat. Der ist dann unten durch. Wenn andere aufgelöst zu dir kommen und Aber du hast deine Rolle als GF verstanden um Rat bitten, verteilst du auch mal Ratschläge und hältst dich zurück. wie: "Jeden Tag kommt jemand und pinkelt dir Ich freue mich für dich: Jetzt musst du nichts ans Bein. Wenn er fertig ist, lächelst du ihn an mehr zurückhalten, du kannst frei und radikal und machst einfach weiter." und empathisch sein. Der taz und auch mir per- Auf jeder Weihnachtsfeier bist du der Mann sönlich wird diese Art fehlen, denn ein gutes mit dem Schlüssel, der Letzte, der geht, der für Gefühl nach einem Gespräch mit einem anderen die letzten Runden und immer wieder für eine Menschen ist vielleicht das wertvollste was man Verlängerung sorgt. seinem Gegenüber geben kann. Du tanzt durch jede Feier und durch deine Jahre als Geschäftsführer der taz, weil du hinter der taz stehst, in jedem Detail, mit jeder Person, Jemand, der immer auf mit jedem Gegensatz, mit jeder Besonderheit Augenhöhe bleibt, auch und jeder Macke - der taz als Ganzes. wenn man ihn anhimmeln Diesem Haus hast du mehr gegeben als Orien- möchte tierung und Struktur. In unzähligen Gesprächen Foto: Piero Chiussi hast du es immer wieder geschafft, den Kern des Problems zu finden, zu benennen und anderen dabei zu helfen, es zu lösen. Andi, du bist der Wegbereiter: Du findest nicht nur Antworten, sondern auch die richtigen Fragen für die Zukunft. Du siehst viele Entwick- lungen voraus und hast damit die Richtung der taz eingestellt. Du denkst rundum und langfris- tig. Manchmal hast du deinen Blick allerdings auf so ferne Ziele gerichtet, dass dein Gegenüber für akute Veränderungen - die sich dir nicht sofort erschließen – ganz schön viel reden und kämp- fen muss. Falls du mal zu lange gezögert hast oder sich deine Einschätzung mal als falsch herausstellt, lässt du aber keine Gelegenheit aus, genau das zu betonen: Du hattest unrecht. Du hast es nicht nötig, das unter den Teppich zu kehren.
8 Keine taz mehr ... ? Personalentwickler der eigenen Art Andreas Marggraf W Immer locker in der Hüfte, ie entwickelt man ein innovati- sonalabteilung effizient und vorausschauend auch bei der Staffelüber- ves Medienunternehmen, das mit selbst wahrgenommen hat. Gab es neue Aufga- gabe an die neue Geschäfts- einer extrem dünnen Personal- ben, aber keine freien Stellen, wurden beste- führung Andreas Marggraf ausstattung und weit unter Tarif hende Mitarbeiter*innen durch gutes Gespür (Mitte) und Aline Lüllmann liegenden Gehältern arbeiten muss? Mit Kreati- von Andi Bull mit scheinbar fachfremden Auf- Foto: Sonja Trabandt vität und strategischen Zielen. gaben betraut, mit denen sie sich dann oft her- Das Fehlen einer Personalabteilung fällt in vorragend weiterentwickeln konnten. Gab der der taz bisher nur begrenzt auf, weil Andi Bull Stellenrahmen keine freie Stelle her, wurde so über Jahrzehnte viele der Aufgaben einer Per- lange verschoben und gerechnet, bis mit Stel-
Ohne mich!9 lenanteilen von Teilzeitstellen zu 0,135 Prozent der unermüdliche Kampf gegen die Schaffung einer Vollzeitstelle Lösungen gefunden wer- neuer Stellen, weil nur so eine Gehaltserhö- den konnten. Dadurch entstanden oft kompli- hung ermöglicht werden könne. Ganz wichtig zierte Stellenkonstrukte, die für die nachfol- war ihm aber auch, dass eine Gehaltserhöhung gende Geschäftsführung teilweise schwierig in der Zukunft nur dann möglich sein würde, nachvollziehbar sind, die aber die Probleme wenn die taz diese als strategisches Ziel formu- nachhaltig und für alle Beteiligten zufrieden- liert. Und so war und ist es Andi Bull im Rahmen stellend gelöst haben. Bei Neubesetzungen hat des Szenario 2022 immer wichtig gewesen, dass Andi nicht davor zurückgeschreckt, durch taz- die Preise für den Qualitätsjournalismus der taz fernere Menschen frischen Wind in die taz zu so steigen müssen, dass damit der tatsächliche Aufwand bezahlt und die Mitarbeiter*innen GAB DER STELLENRAHMEN KEINE ausreichend entlohnt werden können. Dies FREIE STELLE HER, WURDE SO LANGE bedeutet auch, den VERSCHOBEN UND GERECHNET, BIS MIT Leser*innen immer wieder zu vermitteln, STELLENANTEILEN VON TEILZEITSTEL- dass es die taz nur so weit gebracht hat, weil LEN ZU 0,135 EINER VOLLZEITSTELLE LÖ- die Mitarbeiter*innen SUNGEN GEFUNDEN WERDEN KONNTEN ihr Bestehen durch niedrige Gehälter mitfinanziert haben. bekommen und die Zeitung so nachhaltig zu Wäre dieser Text hier eine Bull-Analyse, würde entwickeln und zu prägen. Aber genauso wenig sie mit diesem Call-to-Action schließen: Über- hat er davor zurückgeschreckt, manche Ent- legen Sie, ob Sie Ihren Abo-Preis nicht erhöhen wicklung von Personal nur außerhalb der taz zu oder zusätzlich zu Ihrem Abo- oder Genossen- sehen. In diesen Momenten kam es dann zu den schafts-Anteil einen regelmäßigen Beitrag leis- bei Insidern bekannten Balkongesprächen, die ten können, damit nicht nur der taz-Journalis- Andi Bull hätte auch Mode- für beide Seiten meist mit einer guten Lösung mus in der Zukunft Bestand haben kann, son- rator einer Zahleninterpre- endeten. dern auch die taz-Mitarbeitenden fair bezahlt tenshow werden können Das Ziel, branchenübliche Gehälter zu bezah- werden können. Foto: Wolfgang Borrs len, hat Andi in seinen Jahren bei der taz zwar nicht erreicht, aber er hat – teilweise auch Dank langsamer steigender und teilweise sinkender Gehälter bei der Konkurrenz – eine Annähe- rung erreicht und wesentliche Grundlagen für zukunftsfähige Gehälter gelegt. Geschafft hat er das unter anderem mit der Einführung des taz-Haustarifvertrags, der es mit unterschiedli- chen Gehaltsgruppen – zwar mit sehr geringer Spreizung - ermöglicht, Mitarbeiter*innen mit besonderen für die taz notwendigen Qualifika- tionen für die taz zu gewinnen bzw. sie zu hal- ten und die Übernahme von Arbeitgeberver- antwortung („Gegnerbezug“) zusätzlich zu ent- lohnen. Der Wirtschaftsplan wurde bis auf ein Jahr so aufgestellt, dass die Gehälter seit 1999 in jedem Jahr um durchschnittlich 2,5% ange- hoben werden konnten, eine Lohnsteigerung seither um insgesamt 70%. Das andere Erfolgs- rezept von Andi Bull war das notwendigerweise gebetsmühlenartig wiederholte Mantra und
10 Keine taz mehr ... ? Mein lieber Aufpasser Karl-Heinz „Kalle“ Ruch N Morgens vor der Türe ist ach 30 Jahren als Geschäftsführer volles beigetragen zu haben für einen schönen Andi Bull ein gern gesehener und Vorstand der taz-Genossenschaft Erfolg. Gast kommt für Dich nun der Abschied. An die Zeit vor der Genossenschaft werden Foto: Karsten Thielker Der Volksmund sagt, man soll gehen, sich nur noch die wenigsten in der taz erinnern. wenn es am schönsten ist. Die taz hat heute eine Es war die Dekade von 1979-89, in der die taz mit Reife erlangt, mit der sie jeder Krise gewach- den sozialen Bewegungen der alten Bundesre- sen ist. Wir beide haben viele Jahre gemein- publik groß wurde. Die taz der ersten zehn Jahre sam daran gearbeitet, diesem Projekt des linken war ein Kollektiv junger Leute mit der Idee der Journalismus eine unabhängige materielle und Selbstverwaltung aller Mitarbeitenden. Sam- soziale Basis zu geben. Der Weg war oft anstren- melbecken war der Verein „Freunde der alterna- gend, aber im Ergebnis hat es sich doch gelohnt. tiven Tageszeitung“. Wichtige und unwichtige Am Ende bleibt ein gutes Gefühl, etwas Sinn- Fragen wurden plenar diskutiert und entschie-
Ohne mich!11 den. Zwar gab es auch damals schon Geschäfts- Mauer und der real existierende Sozialismus, führerInnen in den ersten Abschreibungsgesell- nie ein Leitbild der linken taz, brach zusam- schaften, dies aber eher aus formalen Gründen men. Die Welt wurde neu gedacht. Die taz hatte des Gesellschaftsrechts. Zu sagen haben sollten den Schwung nach Tschernobyl ausgenutzt, die aber lieber nichts, geschweige denn, etwas zu sich einen neuen Standort im alten Berliner entscheiden oder zu bestimmen. Zeitungsviertel zu sichern und die Geschichte Im siebten Jahr, es war 1986 die Katastro- spielte sich jetzt direkt vor ihrer Haustür ab. phe in Tschernobyl, für die taz ein publizistisch Vielleicht wird es doch noch einmal eine his- wichtiges (und wirtschaftlich erfolgreiches) torische Randnotiz, dass der Ideengeber und Ereignis, verfestigte sich erstmals die Idee, dass Geburtshelfer bei der Gründung der taz-Genos- die taz doch entgegen aller Erwartungen blei- senschaft 30 Jahre später als Bundeskanzler ben würde. Es wurde über Strukturen für die das Land regieren würde. Fehlende strategische Zukunft der taz nachgedacht. Die ersten Orga- Weitsicht kann man ihm in diesem Fall nicht nisationsdebatten verliefen vorsichtig, Räte wurden gebildet (taz-Sprech:Elferrat) und Men- schen, die Verantwortung übernehmen sollten ICH WURDE AUSGEWÄHLT, WEIL hießen „Freigestellte“ und nicht Chef. Bestimmt wurde die Debatte von der Redaktion. Mitar- ICH DAS SCHON IMMER GEMACHT beitende aus anderen Bereichen, die Redaktion HATTE UND DU, WEIL DU AM EHESTEN nannte sie Technik und Verwaltung, waren zwar notwendig, die Zeitung musste schließlich VON ALLEN IN DER LAGE WÄREST, produziert und verkauft werden, wichtig und anerkannt waren sie aber nicht und manchmal AUF MICH „AUFZUPASSEN“ störten sie auch, wie die „Säzzer“, die ihre fre- chen Bemerkungen einfach in Klammern in die vorwerfen. Die Transformation der taz vom Redaktionstexte einfließen ließen. Das Nach- selbstverwalteten Projekt zur Genossenschaft denken über die Zukunft der taz hat uns beide war in der taz selbst sehr umstritten. Viele hat- erstmals zusammengeführt, Technik und Ver- ten einfach die Nase voll von diesem alterna- waltung sollten „Geschäftsführer“ benennen. tiven Gedöns mit niedrigem Einheitslohn und Ich wurde ausgewählt, weil ich das schon immer wollten etwas ganz anderes, waren aber hilf- Schon immer einer von den gemacht hatte und du, weil du am ehesten von los und schlecht beraten bei der Umsetzung Großen: Rechts mit Chris- allen in der Lage wärest, auf mich „aufzupassen“. ihrer Ideen. Die große Mehrheit entschied sich tian Ströbele (Mitte) und Die Jahre vor Gründung der taz-Genossen- für den Weg in die Genossenschaft, wohl weil Kalle Ruch (rechts). Links: schaft waren extrem spannend. In den grünen der Einfluss der Mitarbeitenden auch in dieser Aussprache der Mitarbei- Milieus wurde an Alternativen zum Bestehen- neuen Organisation weitgehend erhalten blieb. terInnen zur Genossen- den gearbeitet und die taz war das Medium für Manche verließen die taz und gingen in andere schaftsgründung 1991 solche Diskussionen. Dann fiel auch noch die Medien. Fotos: taz-archiv
12 Keine taz mehr ... ? Bei allem Witz: Andi Bull festigen, dass es uns als Handelnden über viele nimmt die taz stets sehr Jahre möglich war, den Kurs zu halten. ernst Die Organisation der taz als solidarische Fotos: Wolfgang Borrs (2x), Genossenschaft mit anhaltender Unterstützung Carlos Antoniazzi von inzwischen mehr als 20.000 GenossInnen, starkem Engagement und Mitwirkungsrech- ten der Mitarbeitenden und gut verteilten Rol- len der Leitungsaufgaben, auch zwischen Verlag und Redaktion, hat der taz in den letzten drei Jahrzehnten sehr gut getan. Vor allem nach dem Beginn der Zeitungskrise vor 20 Jahren und den Anforderungen der digitalen Transformation der Medien heute, erwies sich das solidarische Unternehmensmodell der taz als angemessene WIR KÖNNEN STATTDESSEN NUN wirtschaftliche und publizistische Basis für einen unabhängigen Journalismus. GLÜCKLICH UND GELASSEN AUS DEM Bleibt die Frage, ob wir die richtigen Führungs- figuren für die taz in dieser Zeit waren. Ein weites LIEGESTUHL HERAUS DIE ARBEIT Feld, auf das wir sicher Antworten kennen, die wir UNSERER BEIDEN SEHR GESCHÄTZTEN hier aber nicht verlautbaren müssen. Wir können stattdessen nun glücklich und gelassen aus dem NACHFOLGERINNEN ALINE UND Liegestuhl heraus die Arbeit unserer beiden sehr geschätzten NachfolgerInnen Aline und Andreas ANDREAS WEITER VERFOLGEN weiter verfolgen. Apropos Liegestuhl. Im ersten Frühling (2020) als taz-Rentner im Liegestuhl hier an der Havel fiel mir zuerst der aufgeräumte Wir beide haben uns bei der Gründung der Himmel auf. Keine Flugzeuge mehr - Corona! taz-Genossenschaft neben all den Auseinander- Mein erster Gedanke, ganz schön große Räder, setzungen um den richtigen Weg, die taz als lin- die Merkel und Scholz da drehen. Schalter umle- kes Zeitungsprojekt unabhängig zu erhalten und gen und alles steht still, Bazooka raus und alle zukunftsfähig zu machen, auch um unsere Rolle kriegen Geld - 500 Milliarden (500.000.000.000). als taz-Geschäftsführer gekümmert. In dieser Unser Instrumentarium als taz-Geschäftsführer Aufgabe wollten wir qualifiziert und gestärkt wer- war da doch etwas bescheidener. Die Brötchen, den: Wer entscheidet, muss auch verantworten, die wir buken, waren kleiner aber nicht ohne Biss. wer Verantwortung trägt, muss auch Entschei- Also Andi, ich kann dir sagen, es gibt ein dungen treffen dürfen. Heute nach 30 Jahren taz- Leben nach der taz. Kommt der Frühling, dann Genossenschaft können wir feststellen, dass es setz dich auf dein Motorrad und fahr an die gelungen ist, die Rolle der taz-Geschäftsführung Havel. Hier gibt es immer frischen Fisch. Gruß in einem immer spannungsreichen Umfeld so zu vom Lande.
Ohne mich!13 Der Zahleninterpret Thomas Purps J etzt ist also dieser Zeitpunkt, dass And- reas sich verabschiedet aus der taz und ich nun an der Reihe bin, wenn es zukünftig darum geht, von früher zu erzählen. Wie alles angefangen hatte, wie es sich zugetragen hat vor dreißig Jahren und davor, wie klein und überschaubar die taz damals war, welche Wege man in diesen dreißig Jahren gegangen ist und wie schwer manche Strecke davon zu gehen war. Alles war immer in Bewegung – es war ein Kom- men und Gehen, ein Auf und Ab und wieder Auf, viele neue Leute kamen in dieser langen Zeit, halfen der taz mit ihrer Arbeit und viele gingen dann wieder, sehr oft zum Leidwesen der in der taz und an der taz Arbeitenden. Andreas kam 1987 in die taz und unterstützte den Bereich der technischen Herstellung. In der Korrektur. Und darüber hinaus bei der techni- schen Koordination, wie es später auch in der taz zu lesen stand. Ich habe Andi 1990 kennengelernt. Damals unterstützte er den Aufbau der Ost-taz in der Berliner Oberwasserstraße, schulte die Kollegin- nen und Kollegen aus der DDR im Umgang mit der Computertechnik der taz und den damals gerade aufkommenden tragbaren Personal Com- putern. Er zeigte ihnen, wie man mit den Texis TRS-80 seine erfassten Texte in das Redaktions- system der taz einlesen konnte. Oder wie man ein Telefon-Modem an die für die mobile Text- erfassung genutzten ersten Toshiba-Laptops T1000 anschließt. Andreas ließ sich sehr gern von 5.520.200 DM von 2.975 Genossenschafts- Enger V-Kragenpullover in anstecken von der Aufbruchstimmung in der mitgliedern erhalten (Ende 1993). Der Jahresum- gedecktem Grün. Er kann Ost-taz, die unter den neuen KollegInnen aus satz in der taz-Gruppe betrug im ersten vollen nicht nur Zahlen, sondern der DDR herrschte und freute sich zugleich über Jahr der Genossenschaft 27,5 Millionen DM und auch Stil die neu gewonnenen Verbreitungsmöglichkeiten der Jahresverlust 1,6 Millionen DM (1993). Was Foto: taz-archiv für die taz. Das war alles kurz bevor der Ver- damals zur unbedingten Folge hatte, eine Ret- ein der Freunde der alternativen tageszeitung tungskampagne zu starten. „Keine taz mehr? mit schweren Geburtswehen eine Genossen- Ohne mich!“. Weitere mussten folgen. Letztlich schaft gründete. Andi wurde 1991 neben Kalle waren sie sehr erfolgreich, die taz konnte weiter Ruch zum Geschäftsführer und Vorstand der neu machen. Doch die ersten Jahre nach der Wie- gegründeten Genossenschaft berufen. Die taz dervereinigung waren für die taz nicht wirklich hatte damals 36.637 Abonnenten (IV/1991) und leicht. Der Abbau der Berlinförderung traf die 125 Vollzeit-Stellen (ohne Korrespondenten). Die taz und ihre MitarbeiterInnen schwer, führte zu Gründung der taz-Verlagsgenossenschaft wurde erheblichen Nettolohn-Einbußen, was die taz im April 1992 amtlich besiegelt und ein Jahr spä- nicht ausgleichen konnte. Allein 1995 waren wei- ter hatte das taz-Kollektiv ein Kapital in Höhe tere 1,87 Millionen DM Verluste von der Genos-
14 Keine taz mehr ... ? Kollegen und Kolleginnen alias Die Schals Foto: taz-archiv senschaft aufzufangen. Da waren zwar mittler- des Atomstroms zumindest etwas einzudäm- weile 4,481 Millionen DM Genossenschaftskapi- men sowie das Thema Ökostrom in der öffent- tal in die Genossenschaft einbezahlt, aber letzt- lichen Wahrnehmung zu stärken. Die taz und lich war das Geld aufgebraucht. Das buchmäßige ihre LeserInnen sollten da mit gutem Beispiel Eigenkapital war praktisch Null und der Fortbe- voran gehen. Ein Zähler in der Nähe der Schreib- stand der taz nur durch die stillen Reserven des tische der Geschäftsführung berichtete täglich Rudi-Dutschke-Hauses und der im Herbst 1993 vom guten Wirkungsgrad der taz-eigenen Solar- eingeführten Abopreisdifferenzierung noch anlage auf dem Dach der Kochstraße 18. Dieser gesichert. Weitere zwei Jahre später (1997) wuss- Ökostrom-Aktivismus war bei Andi dann anhal- ten wir dann: „Alles wird gut“. Im Jahr zuvor hat- tend. Später versorgte er den taz-Vertrieb für ten wir noch die „Vertrauensfrage“ gestellt. Jetzt die täglichen Handverkaufstouren in Berlin mit mit neuen journalistischen Angeboten in der einem voll elektrischen Renault-Lieferfahrzeug Zeitung lag die Abonnentenzahl bei fast 49.000 der ersten Generation. Im Winter froren die (I/97), so hoch wie dann nie wieder für die täg- Vertriebsfahrer zwar bei ihren weiten Fahrten lich gedruckte Zeitung. Andi Bull beobachtete durch die Berliner Nacht, aber der Umwelt und die Abonnementzahlen schon damals sehr dem Fortschritt war ein wenig geholfen. Auch genau, sichtbar wurde dies damals für Außen- das viele Jahre später angeschaffte tazpresso- stehende jedoch nur in seinen Diagrammen, die Mobil ist rein elektrisch und geht auf Andi’s das jährliche Mitglieder-Info illustrierten. Die Initiative zurück. regelmäßigen „Bull-Analysen“ begannen viel Der taz wurde in diesen für sie sehr unruhi- später, erst 2002. Da war in der taz über ihn zu gen und turbulenten 1990er Jahren bewusst, lesen: „Seine Welt sind die Zahlen. Er ist Chef- dass ihr wesentliches Kapital in ihrer Leser- analyst der taz in Sachen Abokurven“. Es gab in schaft bestand. Und in ihrer Genossenschaft. diesen gemeinsamen Jahren aber auch immer Und so war klar, dass wir eine bessere direkte wieder Themenfelder, denen sich Andreas plötz- Kommunikation mit der Leserschaft brauchten. lich und zu unserer Überraschung mit viel Ener- Und hatten diese plötzlich in der Bull-Analyse gie zuwendete: ich erinnere die im Jahr 2000 gefunden: ab Juni 2002 berichtete Andreas ausgerufene Kampagne für Ökostrom. Er selbst regelmäßig von den aktuellen Trends der taz- war seit Juni 2000 zufriedener Ökostromver- Abozahlen, dem Auf und Ab während der Feri- braucher und wollte mithelfen, die Verbreitung enzeit und den Erfolgen der taz-Werbekampag-
Ohne mich!15 nen. Er erklärte den LeserInnen die Schwierig- vorzustellen und ihnen die Idee der taz ausführ- keiten des Anzeigenverkaufs, den notwendigen lich in immer kurzweiligen und dankbar auf- Kompromissen bei der Auslieferung der taz und genommenen Vorträgen zu erklären. Der Erfolg nicht zuletzt von den vielfältigen taz-Produk- war mal mehr, mal weniger gut - wenn man ten, die wir für unsere LeserInnen bereit hielten ihn an der Zahl der Abo-Bestellungen gemessen und hoch schätzten: Le Monde diplomatique, hätte, die er danach mitbrachte. Diese Besuche das taz-Archiv auf CD/ DVD und nicht zuletzt waren nicht unumstritten in der taz, aber die unseren tollen Zeichner TOM. Seit November damit einhergehende Reibung konnte die taz bis- 2002 liefen dann diese Berichte unter dem Label her immer produktiv für sich nutzen. „Bull Analyse“. Nun ist 2022 und Andi erklärt seine Abo- zahlen-Welt einem Nachfolger. Die Abozahlen sind diverser geworden. Es reicht schon lange ES REICHT SCHON nicht mehr, nur eine Zahl zu nennen, wenn man LANGE NICHT MEHR, NUR die LeserInnen unserer Zeitung beziffern will. Den regelmäßigen LeserInnen der Bull-Analyse EINE ZAHL ZU NENNEN, ist diese Entwicklung vertraut und diese Verän- derungen als alternativlos erklärt worden. In den WENN MAN DIE LESERIN- Fokus der Beobachtungen sind neben den tägli- NEN UNSERER ZEITUNG chen gedruckten Zeitungen die Entwicklung der Auflage der taz am Wochenende, die belieferten BEZIFFERN WILL digitalen Abonnements und die Zahl der LMD- und Futurzwei-Abos gerückt. Die große lange Liste der taz-zahl-ich-LeserInnen nicht zu verges- Andreas machte es sichtlich Freude, die Zah- sen. Diese vielen neuen Angebote hat die Zahl der len zu ermitteln, zu bewerten und zu interpretie- direkten taz-UnterstützerInnen auf über 100.000 ren. Parallel unterhielt die Finanzbuchhaltung anwachsen lassen. Darin sind die GenossInnen über all die Jahre ihre eigenen Auswertungen der nicht mal mitgezählt. Über 300 MitarbeiterInnen Abonnementzahlen, die sie für ihre Buchhaltung zählt die taz heute. Unser Umsatz ist auf über 32 benötigte. Da lag es nahe, die dabei gewonnenen Millionen Euro angewachsen und für 2021 erwar- Erkenntnisse gemeinsam anzuschauen und mit ten wir ein sehr gutes wirtschaftliches Ergebnis. der anderen Seite zu vergleichen, zu besprechen Mit diesen Werten besitzt die taz wirtschaftlich und hin und wieder dann auch die unterschiedli- ein starkes Rückgrat und so sollte es Andi mög- chen Interpretationen heftig zu diskutieren. Das lich sein, unbeschwert einen neuen Lebensab- werde ich zukünftig sehr vermissen, denn hin- schnitt zu beginnen und sich neuen Aufgaben zu terher musste sich jede Seite eingestehen, natür- widmen. Dabei wünsche ich ihm sehr viel Glück lich Recht behalten, aber auch etwas dazu gelernt und Freude und wenn er Unterstützung dabei Immer am Rechnen zu haben. braucht, einfach melden. Alles Gute! Foto: taz-archiv Ein anderes, sehr beliebtes Steckenpferd von Andi war die Bundeswehr. Ich denke da an die immer wieder heftig umstrittenen Bundeswehr- Anzeigen in der taz. O-Ton Andreas: „Ich finde diese Anzeigen auch eine Zumutung“. Das hat die Genossenschaftsversammlung auf ihrer Generalversammlung kontrovers im Jahr 2016 diskutiert und mit einem deutlichen Votum entschieden. Andi leistete in seinen jungen Jah- ren den Wehrdienst mit dem Ziel ab, vor Ort in der Truppe den imperialistischen Geist dieser Armee aufzudecken und die Soldaten zu agitie- ren. Diese Idee setzte er später in der taz fort, als Anfragen zu Redaktionsgesprächen von Polit- Offizieren der Bundeswehr kamen. Er nahm sich die Zeit, den Gästen von der Bundeswehr die taz
16 Keine taz mehr ... ? Schrauber, Alexander, Revolutionär Johnny Eisenberg U Klassenkameraden auf m das voranzustellen: Dass Alexander Unwissenheit bloßzustellen, im Unterricht auf- dem Gymnasium in Kassel: Bull bei der taz tätig war, hatte mit mir forderte „Den Unterrichtsstoff der letzten Stunde Anwalt Johnny Eisenberg so wenig zu tun wie dass ich für die trägt mal vor…. Alexander Bull“. Stets erwies sich und Andi Bull taz seit Jahrzehnten tätig bin. Es war diese Aufforderung als aussichtslos, Alexander Foto: Rolf Zöllner Zufall (oder war es ein biografischer Gleichlauf?). kannte den Unterrichtsstoff nicht. Alexander heißt er für mich, weil sich unser Wir sind gleicher Jahrgang, Alexander aber Nazi-Chemielehrer seinen Namen nicht merken früh, ich spät im Jahr geboren und ich wohl etwas konnte und ihn stets und um seine chemische zurückgeblieben, jedenfalls nicht einschulungs-
Ohne mich!17 fähig. Daher kam ich ein Jahr später. Erstmals der früh verstorbener Kolumnist der taz). Statt kennen lernten wir uns auf dem humanistischen Hausaufgaben zu machen, verkaufte er die „Rote Gymnasium unserer Heimatstadt. Das Lyzeum Fahne“ und verteilte KPD/A0-Streitschriften vor ging erstmals in der Klassenstufe von Alexan- Fabriktoren. Das musste stets zur Unzeit mor- der das Wagnis der Coeducation ein. Die Klasse gens um 5 Uhr erfolgen, da konnte er übermüdet von Alexander war scheiße, reaktionär. Alle bis anschließend nicht mehr dem Unterricht folgen, auf den Sohn eines bekannten NPD-Funktionärs, zumal Alexander relativ frei aufwuchs und sich einem Sitzenbleiber und Alexander total ange- früh auch für Frauen interessierte, die den Rest paßt. Alexander selbst war Sohn eines sehr alten der Nacht (aus)kosteten. Wir anderen folgten ihm Vaters, Nazi-Richter und Vorsitzender einer Straf- nicht in das KPD/AO-Milieu, tranken aber wei- gerichtskammer am Landgericht, und er hatte ter mit ihm in der auf einem Trümmergrund- drei sehr viel ältere Geschwister. Mein Vater war stück seit den 1950er Jahren betriebenen Kneipe ebenfalls sehr alt, war in der Nazizeit Kriegsrich- Bier, rauchten Haschisch und hofften auf allerlei ter (so was wie Filbinger, diese Leute haben über Revolutionen. Alexander auch, aber anders als 30.000 Wehrpflichtige hemmungslos zum Tode wir. Er erwarb einen Heinkel-Roller und hielt uns für unernst und unproletarisch, was wir zweifel- los auch waren. Den Kontakt brach er aber nicht ER SCHIMPFTE ÜBER ab. Er schimpfte über uns, verlangte von uns ernsthaftes revolutionäres Engagement, verlor UNS, VERLANGTE VON sich aber nicht in sektenhaften Ausschließlich- UNS ERNSTHAFTES RE- keits-Bedingungen, fuhr und bastelte mit uns an unseren alten Mühlen. VOLUTIONÄRES ENGAGE- Natürlich ging er zur Bundeswehr, wir ande- ren entzogen uns. Ich flüchtete 1973 nach West- MENT, VERLOR SICH ABER Berlin, die Arztkinder wiesen Wehruntauglich- Während andere kifften und NICHT IN SEKTENHAFTEN keit auf. Alexander blieb in Kassel, wohnte dort Hausaufgaben machten, in Wohngemeinschaften. Wie er sich von der verkaufte Andi Bull während AUSSCHLIESSLICHKEITS- KPD/AO gelöst hat, weiß ich nicht. Er war zu weit seiner Schulzeit die kommu- weg von mir. Er kam später nach West-Berlin nistische Zeitung „Die rote BEDINGUNGEN nach und war bei einer psychiatrischen Selbst- Fahne“ hilfeorganisation tätig, ganz weit weg von mir Foto: Rote Fahne verurteilt) und auch ich hatte sehr viele ältere Geschwister. Beiden Vätern schadete ihre Ver- gangenheit nicht nur nicht, sondern beide mach- ten hervorragende Karrieren in der bundesrepu- blikanischen Justiz der 1950er Jahre. Alexander machte nicht mit. Er war aufsäs- sig, drängte nicht nach humanistischer Bildung (9 Jahre Latein, 7 Jahre Altgriechisch). In der 11. Klasse kam er daher herab zu mir, fand weiterhin kein Interesse am angebotenen Curriculum und verließ die Schule nach erneutem „Scheitern“. Seine Matricula erwarb er andernorts. In meiner Klasse kifften zwei Drittel der Discipuli mehr oder weniger gelegentlich, wir waren aufsässiger. Alexander erwarb statt Latein- und Altgriechi- schkenntnissen proletarisches Klassenbewusst- und meinen beruflichen und politischen Mili- sein (vermutlich über seine älteren Geschwister) eus, aber ganz offenbar nicht sektenhaft verengt. und wandte sich dem KOV zu (kommunistischer Als ich ihn dann bei der taz traf, war ich über- Oberschülerverband, Massenorganisation der rascht und erfreut: Wie es eben ist, wenn man KPD/AO, einer widerlich maoistischen Partei- unverhofft auf einen alten Kumpel trifft. gründung nach 1968 der Herren Horlemann Alexander ist viel zu jung und viel zu gesund und Christian Semler, später geschätzter und lei- für einen Ruhestand. Alles Gute wünsche ich Dir.
18 Keine taz mehr ... ? Der mit dem Kümmerer-Gen Willi Vogelpohl I Es gibt keinen Job in der ch weiß noch gar nicht, wohin ich mein ICH WÜSSTE KEIN taz, für den sich Andi Bull zu Kümmerer-Gen jetzt lenken soll...“, seufzte schade wäre es unlängst aus dem scheidenden Geschäfts- PROBLEM, FÜR DAS Foto: Karsten Thielker führer Andreas Bull. Mit diesem Problem lassen wir ihn, wenn auch ungern, alleine. Denn ER NICHT EINE LÖSUNG wir haben das viel gravierendere Problem, quasi HÄTTE. DIE LÖSUNG die Kehrseite des Seufzer-Inhalts: Wer kümmert sich ab dem 1. Februar um uns? Uns, die taz. GEFÄLLT EINEM „Die taz“ ist ganz viel und vieles, sie hat ihre Facetten, Ausfransungen, Zumutungen, Ent- VIELLEICHT NICHT, wicklungen, Fehltritte und Fortschritte, ihre ABER ER HAT SIE Mitarbeiter*innen, ihre Zahlen, ihre Phasen, Rituale, Zyklen und – ja, ein immer noch uner- hörtes Wort im taz-Kosmos – ihre Erfolge.
Ohne mich!19 Auch wenn viele glauben, dass die taz ein Organismus sei, etwas lebendiges, das uns, die Mitarbeitenden, formt, etwas, das den Mythos und das Erbe der Gründung in den 1970er Jahren auf geheimnisvolle Weise weiterträgt und jede neue Generation von tazler*innen infiziert mit der richtigen Mischung aus Widerstandsgeist, Genialität und Kargheit – Andi weiß, dass die taz in ihrem Kern etwas ganz einfaches ist: ein journalistisches Projekt, das ein Kollektiv von Journalist*innen, genannt Redaktion, am Laufen hält, unterstützt von einem Verlag, der lange Zeit nicht mehr als das Nötigste zu bieten hatte. So weit, so einfach. Wenn da nicht die Sache mit dem Kümmern wäre. Es muss sich nämlich jemand kümmern. Um die Kolleg*innen. Um die Überall dabei (oben mit Deniz Yücel) Fotos: Andreas Brühl, Wolf- gang Borrs, Karsten Thielker, taz-archiv Heizung. Um die Leserin, bei der die taz allzuoft nicht im Briefkasten liegt. Um die Abo-Statistik. Um die Weihnachtsfeier. Um die Zukunftspro- jekte. Um die Gerichtsprozesse. Um die Fassade. Um Gäste. Um die Fahne. Um den Fahrstuhl. Ums Auto. Um die Sorgen. Um die Abschiede. Um den immer wieder notwendigen Neubeginn. Um die Dinge, die getan werden müssen. Um die Dinge, die niemand tun will. Um uns. Um die taz. Es muss sich nämlich jemand kümmern, der all das kennt, den ganzen Apparat, die Kolleg*innen, einzeln und mit Namen, das Haus in seiner manchmal vielleicht überfordernden macht. Er ist einer, der immer wieder Anlauf Modernität, die Muster und Entwicklungen. Der nimmt, solange bis es irgendwann klappt, der weiß, was man aus der Vergangenheit lernen nicht aufhört mit Menschen zu reden, auch kann, und was aus den riesengroßen Excel-Tabel- wenn die schon längst nicht mehr erreichbar len für die Zukunft abzuleiten ist. scheinen, der Ideen hat und sich freut, wenn All dieses Kümmern hat Andi besorgt. Man eine von zehn funktioniert, der Chancen sieht, könnte auch sagen, er hat uns umsorgt, manch- die man ergreifen muss und der im Zweifel mal hat er sich auch um uns gesorgt, um Ein- auch den steinigen Weg geht. zelne, um Gruppen, manchmal, selten, auch um Ich wüsste kein Problem, für das er nicht eine den Kern, die taz. Lösung hätte. Die Lösung gefällt einem vielleicht Dabei sorgt er nicht in der Manier des huld- nicht, aber er hat sie. vollen Patriarchen. Er packt lieber an und Jetzt müssen wir uns selber kümmern.
20 Keine taz mehr ... ? Erneuerer und Versöhner Kornelia „Konny“ Gellenbeck Das Foto täuscht. Meistens hört man in der taz auf das, was Andi Bull zu sagen hat Foto: Piero Chiussi E igentlich heißt Andi ja Andreas, so wie ich Kornelia heiße. Wir haben VIELE STRUKTUREN, beruflich beide unsere jugendlichen DIE HEUTE IMMENS taz-Namen behalten, die auf unsere taz-Identitäten verweisen und einen immen- WICHTIG FÜR DAS WIRT- sen Teil unserer Arbeitsbiographie ausma- chen. Andi ist früh zur taz gestoßen, er hatte SCHAFTEN DER TAZ SIND, Sozialpädagogik studiert, was manche gele- LASSEN SICH DIREKT ZU gentlich meinten, an seinem Jargon hören zu können. Er hatte eine „K-Gruppen-Vergan- ANDI ZURÜCKVERFOLGEN genheit“. Das war in den späten Achtzigern keine Seltenheit. Er sah in der taz eine große gesellschaftliche Chance und stellte sich uneitel jeder Herausforderung – von Korrek- tur bis Personal. Andi gehört nicht zur allerersten „Tunix- Gründergeneration“, aber so viel steht fest:
Ohne mich!21 Ohne Andi gäbe es die taz heute sicher nicht mehr. Das wusste stets auch Kalle, der Abu forever! eigentlich Karl-Heinz heißt. Gemeinsam bil- Für den Aufsichtsrat deten sie ab 1991 über dreißig Jahre hinweg die „taz Geschäftsführung“ – ein Name, an Hermann-Josef Tenhagen den sich das bis dato selbstverwaltete Pro- jekt auch erst gewöhnen musste. Es löste blumige Verwaltungsgebilde ab, die auf E Nicknames wie „Sixpack“ oder „Elferrat“ getauft worden waren. inen schriftlichen Vertrag gabs vor Viele Strukturen, die heute immens wich- 30 Jahren für neue Redakteure nicht. tig für das Wirtschaften der taz sind, las- Aber nach gut zwei Stunden Vorstel- sen sich direkt zu Andi zurückverfolgen. lungsgespräch und in den Tagen dar- Ich meine damit nicht nur, aber auch die auf die telefonische Nachricht: Du hast den Genossenschaft. Nicht nur, aber auch die Job. Kam alles nicht direkt von Andi Bull, war drei Preise für das taz-Abo. Nicht nur, aber aber Andis Werk. In seiner noch gar nicht auch die Gemeinwohlbilanz. Andi hat früh offen deklarierten Funktion als Personalchef den Kontakt zu Grünen Unternehmer*innen der taz. Und es war gut so. geknüpft. Er sah schon Mitte der Neunziger Denn auch mündliche Arbeitsverträge sind Jahre die Möglichkeiten eines digitalen taz- gültig. Und aus der Sicht eines Arbeitnehmers Archives, er war als ‚Personaler‘ unerbittlich sind mündliche Arbeitsver- gegenüber Forderungen, den Stellenplan träge sogar etwas sehr Schönes, zu erweitern, aber sehr findig beim Ausbal- taz-gemäßes. Im Zweifel gilt dowern individueller Teilzeitlösungen für dann nämlich das Bürgerliche KollegInnen. Sein Wirken für die taz war Gesetzbuch, und das steht auf ausgleichend in einem besonderen Sinne: der Seite der Arbeitnehmer. Er versuchte die Widersprüche zu versöh- So habe ich Andi auch in den nen, ohne sie zu ignorieren. Wie können folgenden drei Jahrzehnten wir eine Zeitung machen, die weniger Papier erlebt. So viel Form wie nötig verbraucht? Wie können wir eine teure Zei- – aber so wenig wie möglich. tung an arme Leute verkaufen? Wie können Manchmal, nachdem ich nicht wir die taz professionalisieren, ohne ihre mehr Redakteur bei Andi Bull, alternativen Wurzeln zu verleugnen? sondern Aufsichtsrat für Andi In einer Doppelspitze zu arbeiten, ver- Bull geworden war, wars mir zu langt viel von den beiden Spitzen. Kalle und wenig – Form. Aber immer wars Andi ließen sich nie auseinanderdividieren. von ganz viel Elan getragen, Zweimal wurde versucht, Andi zu demissi- ganz viel Herz und der undog- onieren, um diese „Struktur aufzubrechen“ matischen Suche nach den – eine ganz harte Zeit für ihn. Aber Andis besten bezahlbaren Lösungen. Loyalität galt nie (allein) seinem Kollegen Erfolgreich! Damit hat Andi Kalle, sondern vor allem der taz. Als „Abu“ uns bei der taz weit getragen. steht er mit seiner Bullanalyse nach außen 31 Jahre und fast 90 Auf- für Zahlen, aber das greift viel zu kurz. Jetzt sichtsratssitzungen später verabschiedet sich „der Andi“ in einer Zeit, schickt sich Andi Bull an, in den Ruhestand Sportlich ist er sowieso allen in der das Auseinandersetzungsguthaben zu gehen. Wirklich, geht das? Eigentlich überlegen. Auch Hermann- steigt, also die Stärke der Genossenschaft unvorstellbar. Bei der letzten gemeinsamen Josef Tenhagen, der andere greifbar ist. Mit dem Marathon-Fonds und Sitzung von Vorstand und Aufsichtsrat war Zahlenmensch der taz dem Erbenprojekt gibt es zwei Projekte, die lange unklar, wer sie denn protokolliert, Foto: Piero Chiussi letzte Widersprüche auflösen und mithel- wenn nicht Andi. fen, die Zukunft des Projektes taz abzusi- Lasst uns ein bewegliches Andi-Denkmal chern. bauen, undogmatisch, mit viel Herz und Lieber Andi, danke für Deine Unterstüt- nur so viel Form wie unbedingt nötig. Dann zung, Ich bin Dir unendlich dankbar. bleibt er.
22 Keine taz mehr ... ? Eine loyale Haut Micha Mussotter W Klar hatte er auch mal lange oher Andi kam, wusste in der taz Was ihn in die taz brachte? Vielleicht war es Haare. Brainstorming in niemand so genau. 1987 soviel die Enttäuschung über die ausgefallene Revolu- der Rudi-Dutschke-Straße, steht fest - fing er in der Tech- tion, für die er zäh in einer K-Gruppe gekämpft damals noch Kochstraße nikabteilung an. Ich weiß nicht hatte. Schon damals war er nicht unvorberei- Foto: Ronnie Golz mehr, ob gleich festangestellt oder, wahrschein- tet in die Schlacht gezogen. Um kampfbereit licher, als Aushilfe. Jede Abteilung hatte ihren zu sein, ließ er sich beim ‚Bund‘ an der Waffe festen Stellenplan, der nicht überschritten wer- ausbilden. Doch vielleicht waren Buchstaben ja den durfte. Neue Stellen mussten von der taz- das schärfere Schwert? Es reizte ihn, in einem Vereinsversammlung genehmigt werden, ein Zeitungsprojekt zu arbeiten, wo die unterschied- immer heftig umstrittener Geschäftsordnungs- lichsten politischen Positionen aufeinander tra- punkt. fen, das basisdemokratisch organisiert war, wo
Ohne mich!23 man sich zwar einen beschissenen Lohn aus- zahlte, dafür aber selbstbestimmt arbeitete und lustvoll diskutierte. In der kleinen streitbaren Zeitung mit der angriffslustigen Pantertatze fand er Freiheit, Werte und Sinn. Kaum hatte er in der Kochstraße Fuß gefasst, fiel Andi bereits auf. Zum einen, weil er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Verantwor- tung übernahm und sich über die reine Arbeits- zeit hinaus in das Projekt einbrachte. Aber auch durch sein taz-untypisches Exterieur: Andi war durchtrainiert, drahtig, hartleibig. Ganz anders als wir haschischgeschwächten, sandinobe- dröhnten Schlurfies. Auch sein Spieltrieb war nicht so ausgeprägt wie unserer, die legendäre taz-Fußballmannschaft ließ ihn kalt. Andi war Individualist: Motorradfahrer, Fallschirmsprin- ger, der Karatetyp halt mit stets kantigem Kinn. Anfang 1990 wollte ich ihn in die Produk- tionskontroll- (PC)-Abteilung holen. Einer wie er schien wie gemacht für den stressigen Job, in dem hierarchiefreien Irrenhaus tagtäglich taz-Technik Foto: Isabel Lott den Redaktionsschluss durchzusetzen und die Seiten rechtzeitig in die Druckerei zu bringen. Doch er lehnte dankend ab. Er lugte damals schon über das Tagesgeschäft hinaus und las ER LUGTE SCHON ÜBER DAS völlig ungeniert mit großem Interesse den Wirt- schaftsteil der FAZ. Irgendetwas muss er dabei TAGESGESCHÄFT HINAUS UND LAS gelernt haben, denn 1991 wechselte er in die DAMALS SCHON VÖLLIG UNGENIERT Geschäftsführung. Selbst für taz-Verhältnisse war das ein forscher Karrieresprung. MIT GROSSEM INTERESSE DEN WIRT- Für mich als Abteilungsleiter Technik brachte Andis Aufstieg durchaus Vorteile mit sich. Nun SCHAFTSTEIL DER ’FAZ’. IRGENDET- konnte ich bei ihm den Bohrer ansetzen, um WAS MUSS ER DORT DABEI GELERNT mehr Mittel für meine Abteilung zu fordern. Soweit die Theorie. Doch Andi war schon immer HABEN, DENN 1991 WECHSELTE ER IN eine loyale Haut. Zwischen Geschäftsführer Kalle und ihn passte bald kein Blatt Papier. Mit DIE GESCHÄFTSFÜHRUNG großem Vergnügen ließen mich die beiden ein ums andere Mal mit ihrem Goodguy-Badguy- Spiel auflaufen. Unvergessen, wie ich mit Pro- grammierkönig Ralf vor den beiden regelrecht Sind das etwa Rastas? Auf auf Knien rutschen musste, um 10.000 Mark für jeden Fall ist es Andi eine 1 GB Backup-Platte für das Redaktionssys- Bull vor einem der ersten tem zu erbetteln. PCs Wir hatten unsere Auseinandersetzung, aber Foto: Sabine Sauer meistens zogen wir doch am selben Strang und wir konnten uns aufeinander verlassen. Was auch zu komischen Situationen führen konnte. Als im Februar 1990 die Ost-taz gegrün- det wurde, brauchten wir in der Redaktion in Ostberlin, genauer im ehemaligen ZK-Gebäude der SED, ein paar Computer für die Produk-
24 Keine taz mehr ... ? ES WAR SCHON EIN unsere PCs hochfuhren, während auf der ande- ren Seite Honecker-Porträtbilder in den Keller ERHEBENDES GEFÜHL, verschwanden. Aber nicht alles war lustig. 1991 waren wir in ALS KURZ DARAUF IN DEN der taz mal wieder in eine existenzielle Finanz- PATERNOSTER DES krise geraten. Wie da rauskommen war heftig umstritten. Die Mehrheit der Redaktion wollte ZK-GEBÄUDES UNSERE PCS einen Fremdinvestor in die taz holen, um die Zeitung weiterzuentwickeln und die armseli- HOCHFUHREN, WÄHREND gen Gehälter aufzupeppen. Verlag und Technik AUF DER ANDEREN SEITE waren fast einhellig dagegen. Wir fürchteten den Verkauf unserer Inhalte und den Verlust HONECKER-PORTRÄT- unserer Unabhängigkeit. Kalle war der Hauptgegner der Redaktion. Da BILDER IN DEN KELLER sie ihm nicht an den Kragen konnten, wurde ver- VERSCHWANDEN sucht, seine Position zu schwächen, indem sie Andi aus der Geschäftsführung drängen woll- ten. Damals stand Andi gewaltig unter Druck und hatte eine schwere Zeit in der taz. Schließlich setzte sich der Verlag auf einer denkwürdigen Versammlung gegen die Schrei- berlinge durch. Der taz-Verlag wurde in eine Genossenschaft überführt, um „neue Investiti- onsmittel zu erhalten und gleichzeitig die publi- zistische Unabhängigkeit zu wahren“. Die geschlagene Redaktion spielte darauf- hin mit dem Gedanken, in den Streik zu treten. Doch letztendlich war die Furcht zu groß, ein paar linksradikale Kreuzberger Autonome wür- den einspringen und die Seiten füllen. Deshalb schob die Redaktion aus Protest strikt Dienst nach Vorschrift, was uns ziemlich in die Bre- douille brachte. Es war keine schöne Zeit, als sich Redaktion und Technik wie ein zerstrittenes Ehepaar keines Blickes würdigten. Doch als ein paar Monate später der Aktuel- les-Redakteur Carlo mich mit Sport-Redakteurin Michaela knutschend im Aufgang erwischte, Mann mit unangezündeter tion. Eine offizielle Einfuhrgenehmigung stutzte er zuerst, grinste dann über das ganze Zigarette. Damals hätte in dieser chaotischen Zeit ewig gedau- Gesicht und rief: „Jetzt wird alles wieder gut“. Alleinstellungsmerkmal. ert. Also beschlossen Andi und ich, auf dem Was es auch wurde. Dem Laden ging es von Heute Trend kurzen Dienstweg ein paar Computer im Auto Jahr zu Jahr besser. Michaela und ich sind immer Foto: Isabel Lott „rüberzubringen“. Wir wussten nicht, was uns noch ein Paar, wie auch Andi mit seiner Steffi, am Grenzübergang Checkpoint Charlie erwartet die er sich in der Technik-Abteilung ausgeguckt und hatten ein bisschen Schiss, dass sie unser hatte - oder sie ihn. Equipment beschlagnahmen würden. Zum Lieber Andi, willkommen im Rentnerclub. Glück war der Grenzbeamte heillos überfordert, Jetzt wirst du doch bestimmt mehr Zeit für dich als wir auf seine Frage, was wir in der DDR mit haben! Was spricht dagegen, sich auf das Motor- Computern wollten, antworteten: „Eine Zeitung rad zu schwingen und mich auf dem Hof zu gründen“. Ein dezenter Hinweis auf Schabow- besuchen, wo wir am See beim Lagerfeuer in ski gab dem verunsicherten Wachmann den alten Erinnerungen schwelgen können? Nichts. Rest. Es war schon ein erhebendes Gefühl, als Also: Gib Gas, das Bier steht kalt. Auf ein Wie- kurz darauf in den Paternoster des ZK-Gebäudes dersehen freut sich Micha.
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