Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018

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Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Gedanken
für morgen
Das Magazin zum HARTMANN
Zukunftsforum 2018

Meinungen, Diskussion und Trends
zu den aktuellen Herausforderungen
unseres Gesundheitssystems
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Unser Gesundheitssystem
braucht neuen Antrieb.
Packen wir es an!

                              Liebe Leserinnen und Leser,
                              unsere Gesundheitsversorgung steht vor massiven Herausforderungen. Wir müs-
                              sen Antworten auf drängende Themen wie die Digitalisierung, den demografi-
                              schen Wandel, die Globalisierung oder den Fachkräftemangel finden. Und damit
                              sehen auch wir bei HARTMANN uns in der Pflicht, denn wir sind ein Teil dieses
                              Gesundheitssystems.

                                Aus diesem Grund haben wir am 13. Juni 2018 zum ersten Mal das HARTMANN
                              Zukunftsforum veranstaltet – als Plattform und Impulsgeber zugleich. Mehr als 400
                              Vertreter aus Apotheken, Kliniken, Pflege, Ärzteschaft und Politik haben in Heiden-
                              heim mit Top-Experten der Branche sehr rege über die Zukunft des Gesundheitswe-
                              sens in Deutschland diskutiert: Rückt der Fokus auf ökonomische Ziele die Ethik der
                              Patientenversorgung in Kliniken in den Hintergrund? Ist das klassische Altenheim ein
                              Auslaufmodell? Wie lassen sich die Online- und Offline-Welt der Apotheken sinnvoll
                              miteinander verbinden? Mit welchen Maßnahmen können wir junge Ärzte motivie-
                              ren, sich auf dem Land niederzulassen? Und wie lässt sich der aktuelle Pflegenot-
                              stand lindern?

                                Zu diesen und weiteren spannenden Fragen haben die Teilnehmerinnen und Teil-
                              nehmer intensive Gespräche geführt, die sicher viele von ihnen zum Weiterdenken
                              animiert haben. Genau das wollen wir nun mit diesem Magazin erreichen – auch
                              für Branchenkenner, die nicht dabei sein konnten. Wir haben viele Themen, die
                              beim Forum zur Sprache kamen, vertieft und um neue Aspekte ergänzt. Sei es die
                              Rolle von Humor im Krankenhaus, die Chancen von Medical Food, der Postbote als
                              Pflegedienst oder der Medibus als mobile Arztpraxis: Auf den folgenden Seiten fin-
                              den Sie innovative Gedanken für morgen. Für ein Gesundheitssystem, das uns gut
                              tut.

                              Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.

                              Andreas Joehle                         Dr. Chima Abuba
                              Chief Executive Officer                Senior Vice President
                              der HARTMANN GRUPPE                    HARTMANN Deutschland

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Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
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Rettet das Gesund-         „Der unsterbliche           Ökonomie versus
heitswesen! Aber nicht     Mensch ist heute            Medizin? Deutsche
dieses – ein Gastbeitrag   schon am Leben“ –           Kliniken brauchen
von Eckart von Hirsch-     ein Interview mit           beides!
hausen                     Sven Gábor Jánszky


 14                         18                          22
Neue Lebensmodelle         Die Apotheke muss           Krank auf dem Land:
erfordern neue             dort sein, wo der           Hausärzte entlasten
Versorgungsformen          Kunde sie braucht           und für den Beruf
                                                       werben

 26                         30
Illusion oder Perspek-     Pflege neu denken:          Impressionen und Berichte
tive? Die Pflege steht     Wir brauchen Smart          vom HARTMANN Zukunftsforum
genau dazwischen           Innovations! Ein Beitrag    2018 auch online unter https://
                           von Andreas Joehle          zukunftsforum.hartmann.info

                                                Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018   |   3
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Rettet das Gesundheitswesen!
Aber nicht dieses …
Früher war man ohne Arzt oft besser dran als mit. Das hat sich geändert.
Aber heute sind die Ärzte und die Patienten schlecht dran ohne Pflege!
Was wir gewinnen, wenn wir das Humane zurück in die Humanmedizin holen.
Ein Gastbeitrag von Dr. Eckart von Hirschhausen

E    s war bezeichnenderweise ein Patient, der
     etwas an sich selber beobachtete und ins
Rollen brachte. Der US-Journalist Norman Cou-
                                                                             Aber wenn die Pflege streikt, kommt keiner mehr
                                                                             vom Bett aufs Klo. Und nach zwölf Stunden ist
                                                                             jedem klar, was schlimmer ist.
sins litt unter einer rheumatischen Erkrankung                                  Alle reden von „personalisierter Medizin“, spa-
der Wirbelsäule, die stationär behandelt wurde.                              ren aber gleichzeitig am Personal. Lärm, Neon-
Von ihm stammt die wichtige Beobachtung: „Ein                                licht, Zeitdruck und schlechtes Essen – man muss
Krankenhaus ist kein guter Ort für kranke Men-                               schon ziemlich gesund sein, um im Krankenhaus
schen.“ Er buchte sich gegenüber der Klinik ein                              zu überleben, sowohl als Patient als auch als Mit-
Hotelzimmer, lud abends, wenn die Therapien                                  arbeiter. Im Gesundheitswesen arbeiten mehr
vorbei waren, Freunde ein und schaute seine                                  Menschen als in der Automobilindustrie – zynisch
liebsten Videos von den Marx Brothers. Dabei                                 könnte man die Automobilindustrie als einen
bemerkte er, dass er nach dem gemeinsamen                                    Zulieferer bezeichnen. Wir haben eines der bes-
Lachen weniger Schmerzmittel brauchte. Das teilte                            ten und teuersten Gesundheitssysteme der Welt.
er seinen Ärzten mit. Seine Biografie „Der Arzt in     2008 gründete von     In den vergangenen Jahren hat sich daraus eine
uns selbst“ wurde zum Bestseller – und zum Start-      Hirschhausen die      Industrie entwickelt, die versprach, immer effizi-
schuss für den gezielten Einsatz von Humor im          Stiftung HUMOR        enter und ökonomischer zu handeln. Dabei hat
                                                       HILFT HEILEN.
Gesundheitswesen.                                                            sie sich aber von den Bedürfnissen der Patienten
                                                       Sie bringt Clowns
   Der erste echte Klinikclown war Michael Chris-      in Krankenhäuser,     abgekoppelt: Es wird geröntgt und nicht geredet,
tensen vom New Yorker Big Apple Circus. Eine           setzt sich für die    es wird operiert statt abgewartet, es werden teure
seiner Mitarbeiterinnen, Laura Fernandez, brachte      Weiterbildung von     Medikamente entwickelt, statt dafür zu sorgen,
diese Idee vor gut 20 Jahren nach Deutschland.         Ärzten, Pflegekräf-   dass Prävention in den Lebenswelten Krankheiten
Inzwischen ist sie die künstlerische Leiterin meiner   ten und Clowns        verhindert.
                                                       ein und fördert
bundesweiten Stiftung HUMOR HILFT HEILEN.              das therapeutische
                                                       Lachen. Auch in
                                                                             Ein absurder Kreislauf
                                                       seinen Büchern        Die Ärzte in den Krankenhäusern sind frustriert,
Alle reden von „personalisierter                       kombiniert von        weil sie mehr oder minder direkt angehalten
Medizin“, sparen aber gleichzeitig                     Hirschhausen Me-      sind, Umsatz zu machen. Die Patienten fühlen
am Personal                                            dizin mit Humor.
                                                                             sich verloren, weil sie immer schneller durch die
                                                                             Maschine geschleust werden. Und die Pflege-
Je länger ich die Humorarbeit unterstütze, desto                             kräfte und Menschen in anderen therapeutischen
wichtiger werden mir die Pflegekräfte. Ausgerech-                            Berufen gehen auf dem Zahnfleisch, weil man an
net die Idealistischen und Hochmotivierten bren-                             ihnen am einfachsten sparen kann. Zuerst geht
nen am schnellsten aus, wenn ihre Ansprüche und                              die Motivation flöten, dann verlassen alle, die
die Realität aufeinanderprallen. Und die Flexiblen                           eine andere Option haben, fluchtartig das System.
und Mehrfachbegabten wechseln das Terrain,                                   Deutsche Ärzte und Pflegekräfte wandern in die
weil sie keine Aufstiegs- und Entwicklungschan-                              Schweiz und nach Skandinavien ab, weil sie hier
cen sehen. Wenn Lokführer oder Piloten streiken,                             für sich keine Perspektive sehen. Dafür werben wir
kommt man ein paar Tage nicht von A nach B.                                  mühsam wieder Personal in Osteuropa, Spanien

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Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
und Griechenland an, das sich hier schwertut.
Ein absurder Kreislauf, der dazu führt, dass bald
keiner mehr da ist, der Deutsch als Muttersprache
spricht. Und das, obwohl sich alle einig sind, wie
wichtig Zuhören, Sprechen und Kommunikation
im Team für eine erfolgreiche Behandlung sind.

Im Gegensatz zur Ärzteschaft hat
die Pflege zu wenig Standesvertreter
und politisches Gewicht

Es braucht Wissen und Motivation, Teamentwick-
lung und Führungskultur. Das geht aber nicht,
wenn jeden Tag neue Leute einspringen, weil Stel-
len chronisch unterbesetzt sind. Im Gegensatz zur
Ärzteschaft hat die Pflege zu wenig Standesvertre-
ter und politisches Gewicht. Deshalb finde ich es
richtig, eine Bundespflegekammer zu etablieren,
die Ausbildung zu akademisieren und aufzuwerten
und öffentlich mehr Druck zu machen, sich die-
sem großen Zukunftsthema anzunehmen, denn
früher oder später sind wir alle davon abhängig,
dass sich jemand um unsere Eltern, unsere Kinder
oder um uns selber kümmert.

Humor macht den Stress erträglich
„Pflegezeit ist Lebenszeit!“ – Das sollte für beide
Seiten, für Pflegebedürftige und Pflegekräfte, gel-
ten. Im Krankenhaus spielen für die Atmosphäre
auf Station untereinander und für die Beziehung
zu kleinen und großen Patienten Humor und
Spontaneität eine große Rolle. Viel davon lässt
sich lernen und üben. Es geht nicht darum, sich
zu verstellen oder sich lächerlich oder zum Clown
zu machen – im Gegenteil. Die Wahrheit und die
Situation sind oft viel komischer, wenn man sich
traut, damit umzugehen. Humor heißt nicht, sich
und den Anderen nicht ernst zu nehmen. Sondern
den Stress erträglich zu machen.
   Humanmedizin heißt auch, dass jeder Mensch
ein Recht darauf hat, nicht perfekt zu sein, nicht
zu funktionieren, Hilfe zu brauchen. Die Men-
schen leiden manchmal mehr an den zu großen
Erwartungen an das Leben als am Leben selbst.
Es kann entlasten, wenn wir anerkennen, dass
man eben nicht alles in der Hand hat. Und dass
der Tod keine Beleidigung der medizinischen
Kunst darstellt, sondern dass ein würdiges Sterben             Arzt, TV-Moderator, Komiker, Autor und
zum Leben und zur Medizin dazugehört. Mein                     Gründer der Stiftung HUMOR HILFT HEILEN:
Lieblingscartoon dazu stammt von den Peanuts.                  Dr. Eckart von Hirschhausen vereint alles in
                                                               einer Person. Am 13. Juni moderierte er in Hei-
Charly Brown ist deprimiert und sagt: „Eines Tages             denheim das ­HARTMANN Zukunftsforum 2018.
werden wir alle sterben.“ Und Snoopy kontert:
„Stimmt – aber an allen anderen Tagen nicht!“

                                                      Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018        |   5
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
„Der unsterbliche
Mensch ist heute
schon am Leben“

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Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Sven Gábor Jánszky ist Journalist, Politikwissen-
schaftler, Gründer und Chairman von 2b AHEAD,
einem deutschen Think-Tank und Trendinstitut.
Er war einer der Referenten beim HARTMANN
Zukunftsforum 2018. Im Interview spricht er
über die Chancen von Medical Food und das
menschliche Streben nach Selbstoptimierung.

Sie haben beim HARTMANN Zukunfts-             das Ergebnis eines falschen Lebensstils
forum 2018 Ihren Vortrag mit der Pro-         sind – werden seltener.
gnose eröffnet, dass wir uns in Rich-                                                   Wir Zukunftsforscher gehen davon aus,
tung Unsterblichkeit bewegen. Welche          Und mithilfe dieser Technologien wer-     dass beim Datenschutz der Zukunft
Technologien können das ermöglichen           den wir bald 150 Jahre alt.               ein Computersystem genau erkennen
und wie?                                      Davon gehe ich aus. Hinzu kommt           kann, welche Bedürfnisse ich habe.
Fünf Technologien sind wichtig, wovon         noch die fünfte Technologie: die Künst-   Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie ein
die ersten vier medizinisch sind. Die         liche Intelligenz. Es wird schon an der   anderes Datenschutzbedürfnis haben
erste ist die Genanalyse – die individu-      Nachbildung des menschlichen Hirns        als ich, ist sehr hoch. Denn das ist
elle Sequenzierung einer menschlichen         in einem Computer geforscht. Wenn         sehr individuell. Technologie kann das
DNA, mit der ich mein persönliches            es in den nächsten 110 bis 120 Jahren     erkennen und entsprechend reagieren.
Genom bestimmen kann. Die Kosten              möglich sein sollte, mein Bewusstsein     Vermutlich werden aber diejenigen, die
dafür werden voraussichtlich 2019 auf         auf einem Rechner zu speichern, ist der   keine Daten preisgeben, häufiger krank
unter 100 Euro sinken. In spätestens          erste Mensch, der unsterblich wird –      und sterben früher – weil sie eben ihr
fünf Jahren kann das jeder Mensch für         nicht mit seinem Körper, aber im Com-     Verhalten nicht anpassen können. Der
sich nutzen. Die zweite Technologie ist       puter – schon heute am Leben.             Nutzen, zehn bis 20 Jahre länger zu
das Genediting – das Bearbeiten und                                                     leben, steht dem Risiko gegenüber,
Reparieren einer DNA mit dem Ziel,            Welches werden die größten Heraus­        dass die Krankenversicherung vielleicht
Gendefekte herauszuschneiden. Das             forderungen sein, denen sich die          zehn Euro mehr im Jahr kostet. Für was
Instrument dazu, das CRISPR / Cas-Sys-        Gesundheitsbranche stellen muss –         entscheiden Sie sich? Diese Abwägung
tem, funktioniert ja bereits. In zehn bis     und inwiefern werden Innovationen         trifft jeder für sich. Meine Prognose ist
20 Jahren wird es massentauglich sein,        dabei eine Rolle spielen?                 aber: Der Nutzen wird so hoch sein,
ich kann also bei Bedarf meine Gene           Die größte technologische Herausfor-      dass die Menschen sich darauf ein-
optimieren. Als Drittes ist die Ersatzteil-   derung sind Echtzeitdaten. Der Patient    lassen, selbst wenn es zehn Euro im
produktion zu nennen. Dabei nimmt             wird künftig jederzeit wissen, zu wie     Monat mehr kostet.
man einige Zellen aus dem Körper,             viel Prozent er vom Normalzustand
vervielfältigt diese – und daraus ent-        abweicht. Mit dieser Information geht     Ihrer Meinung nach wird das
stehen per 3D-Druck die gewünschten           er nicht zum Arzt, sondern in seine       „Predictive Hospital“ das Krankenhaus
Organe. Mit Adern hat das schon               Küche – und nimmt etwas zu sich, was      der Zukunft sein. Was bedeutet das
geklappt. Es ist sehr wahrscheinlich,         diese Abweichung auflöst, ihn gesund      konkret?
dass in 20 bis 30 Jahren bezahlbare           macht. Womit wir wieder beim Medi-        Die Logik dahinter ist einfach: Alles,
Produkte existieren. Die vierte Techno-       cal Food wären. Die Nahrungsmittel-       was gemessen werden kann, kann
logie ist Medical Food, medizinische          branche wird in die Gesundheitsbran-      auch prognostiziert werden. In all
Nahrung. Anhand meiner eigenen                che einbrechen und viele Nutzen und       diesen Daten kann ich Muster erken-
Genanalyse kann ich ableiten, wie der         Funktionen übernehmen. Darauf muss        nen und sie voraussagen – also auch
ideale Bakterienmix in meinem Darm            sich Letztere einstellen und ein neues    den Zustand eines Körpers in naher
sein muss, damit die in mir angelegten        Selbstverständnis finden.                 Zukunft. Genauso lassen sich die Pro-
Krankheiten nicht ausbrechen. Ich kann                                                  zesse in einem Krankenhaus prognosti-
also künftig jeden Tag die Abweichung         Wie ist diese zunehmende Bedeu-           zieren. Wo brauche ich Werkzeug A, zu
zum Idealzustand korrigieren. Die typi-       tung von aktuellen Echtzeitdaten mit      welcher Uhrzeit und wo muss Patient
schen Lifestyle-Krankheiten – all jene,       unserem Streben nach Datenschutz          B stehen? Wenn ich das mit einer Soft-
die nicht genetisch angelegt, sondern         vereinbar?                                ware mache – in Supermärkten ist das

                                                                       Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018          |   7
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Vier medizinische Technologien, die uns laut                                             Automatisierung: Etwas Analoges zu
                                                                                         digitalisieren, damit die Abwicklung
Sven Gábor Jánszky der Unsterblichkeit näherbringen
                                                                                         schneller geht. Das muss passieren und
                                                                                         das tut es auch, aber das ist nicht das
                                                                                         Wesen von Digitalisierung. Digitalisie-

                                                                 1
                                                                                         rung bedeutet, Daten zu erheben, die
                                                                                         eine Prognose über künftige Zustände
                                                                                         zulassen, und so Prozesse und Pro-
                                                                                         dukte besser zu machen, sie an den
                                                                    Gen-
         +   A T G C                                                analyse
                                                                                         Kunden anzupassen. Wenn ich die Pro-
                                                                                         gnose habe, dass mein Körper heute
                                                                    Individuelle         Abend fünf Prozent kränker sein wird,
                                                                    Sequenzie-           als er jetzt ist, werde ich nicht bis dahin
                                                                    rung der             warten, sondern direkt etwas tun, um
                                                                    mensch-              das zu verhindern. Ich bekomme also
                                                                    lichen DNA           die Möglichkeit, mein Verhalten per-
                                                                                         manent zu optimieren.

    GENALANYSE
schon Realität – werden die Prozesse          die eigentlich ein Mensch mir geben        In naher Zukunft werden Computer so
verändert.   InSequenzierung
  Individuelle  Unternehmenderkann  man
                                 menschlichen könnte.
                                              DNA                                        schlau sein wie wir Menschen. Schon
damit 30 Prozent Kosten sparen.               Für mich ist das die Frage nach Alter-     jetzt können Quantencomputer mehr
                                              nativen. Auch mir wäre es am liebsten,     als der Supercomputer Watson, der
Die Gesundheitsbranche gilt als starker       wenn jeder Kranke oder jeder, der          zum Beispiel Krebs diagnostizieren
Treiber der Digitalisierung, weil sie dort    gepflegt werden muss, 24 Stunden am        kann. Wo wird Künstliche Intelligenz
einen großen Nutzen hat. Sie gehen            Tag einen anderen Menschen um sich         den Menschen ersetzen – und wo sind
davon aus, dass die Branche bereits in        herum hätte. Aber das ist nicht realis-    ihre Grenzen?
zehn Jahren komplett digitalisiert sein       tisch. Was ist besser – allein sein oder   In zwei Bereichen wird mittelfristig eine
wird. Wie stellen Sie sich dann etwa          einen digitalen Assistenten haben?         Substitution stattfinden. Das eine sind
den Alltag einer Pflegekraft vor?             Ich glaube Letzteres.                      Routinetätigkeiten wie Autofahren
Ich glaube, dass sich an der Hauptauf-                                                   oder eine Maschine bedienen: Immer
gabe, der Hinwendung zum Patienten,           Ist die Digitalisierung auch die Lösung    gleiche Muster folgen bestimmten
nichts ändern wird – außer, dass die          für den derzeit viel diskutierten          Regeln. Aber auch Expertenberufe
Pflegekraft mehr Zeit dafür hat. Tätig-       Pflegenotstand?                            lassen sich ersetzen, denn Computer
keiten wie schweres Heben werden              Natürlich können wir nicht alle Pflege-    werden in ein paar Jahren schlicht
Roboter übernehmen. Die größte Ver-           kräfte abschaffen und durch Digita-        mehr Wissen gespeichert haben und
änderung ist, dass die Pflegekraft mehr       les ersetzen, aber wir können ihnen        besser damit umgehen können als das
Daten vom Patienten hat. Nicht nur            maschinenmachbare Arbeit abnehmen                    menschliche Hirn. Was nicht
Krankheitsdaten, auch Informationen           und ihnen mehr Zeit geben für das,                    verschwindet, sind Tätigkei-
zum Emotionszustand – was bisher nur          was zählt: das Menschliche. Das wird

                                                                                                                 2
mithilfe von Erfahrungswerten oder            nicht das Pflegeproblem an sich
dem eigenen Bauchgefühl gedeutet              lösen, aber es kann ein Teil
werden konnte. Die Arbeit der Pflege-         der Lösung sein.
kraft wird sich dadurch verbessern.
Außerdem wird sie natürlich nicht rund        Wo ist der Unterschied                                             Ersatzteil-
um die Uhr bei einem Patienten sein.          zwischen Digitalisierung
                                                                                                                 produktion
Dieser wird einen digitalen Assistenten,      und Automatisierung?
eine digitale Pflegekraft haben, mit der      In den allermeisten Bran-                                          Organe per
er auch problemlos sprechen kann.             chendiskussionen treffe ich                                        3D-Druck
                                              auf den Irrglauben, dass                                           nachbauen
Dazu gibt es auch kritische Stimmen           Digitalisierung bedeuten
wie die von Eckart von Hirschhausen.          würde, man muss jedem
Der Vorwurf: Es sei nicht mehr sinnstif-      ein Tablet in die Hand
tend, wenn ein Computer sich mit mir          drücken und alle Zettel
unterhält und mir die Zuwendung gibt,         einscannen. Aber das ist

8    |   Gedanken für morgen
                                                                               ERSATZTEILPRODUKTION
                                                                               Organe per 3D-Druck nachbauen
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
nachvollziehen             puterchip in meine Hand implantieren
                                                                     können, wird das            lassen. Kostenpunkt: 100 Euro. Damit
                                                                    Leben menschlicher.          kann ich Türen öffnen, wenn das Haus
                                                                  Ich glaube, wir werden         eine entsprechende Schließanlage hat,
                                                                einen besseren Zugang            und wichtige Daten speichern. Die

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                                                                zu unseren Emotionen             kann ich auslesen, indem ich sie an
                                                               finden und sie vielleicht         ein Handy halte. Bald wird man damit
                                                               sogar besser steuern              auch bezahlen können. Und irgend-
                                                                können.                          wann werden die Chips Körperdaten
 Genediting                                                                                      nicht nur speichern, sondern auch
                                                                Was ist mit all jenen, die       selbst messen. So kennen Menschen
 Bearbeiten & Reparieren einer DNA
          GENEDITING                                        sich diese neuen Techno-             ständig die Echtzeitdaten ihres Körpers
           Bearbeiten ung Reparieren einer DNA logien nicht leisten können? Wird nicht           und können darauf reagieren.
ten, die mit Zuwendung zu tun haben            nur ein kleiner Teil der Gesellschaft
– und alles, was anderen Menschen              etwa von einer Genanalyse profitieren?            Aber es wird auch Menschen geben,
Identität gibt, etwa Coaching-Berufe:          Digitale Technologie folgt einer expo-            die das alles nicht mitmachen wollen.
den anderen verstehen, ihn begleiten,          nentiellen Entwicklung: Spätestens alle           Ja, das wird zwar eine Minderheit
ihn dazu bewegen, sich zu verändern            zwei Jahre verdoppelt sich die Qualität           sein, aber es wird sie geben. Diese
und neue Wege zu gehen.                        und halbiert sich der Preis. All diese            Menschen werden sich gegen Ende
                                               Technologien werden also irgendwann               dieses Jahrhunderts wohl ihre eigenen
Dieses Bedürfnis der Menschen, sich            in den Cent-Bereich rutschen. Zudem               technologiefernen Ressorts geschaf-
zu optimieren, schafft Raum für neue           sind die allermeisten der Technologien            fen haben. Wir kennen das aus der
Geschäftsmodelle. Wo sehen Sie die             nur dann sinnvoll für Hersteller, wenn            Geschichte von Klöstern, Ökodörfern,
größten Wachstumschancen?                      sie diese in den Massenmarkt bringen.             Gated Communities in den USA oder
An den Trend zum Medical Food schlie-          Natürlich werden die Industrieländer              dem spießig-deutschen Blumenau
ßen „Geschäftsmodelle der Unsterb-             am ehesten davon profitieren – aber               im brasilianischen Urwald. In Zukunft
lichkeit“ an. Das Streben des Menschen         langfristig gilt das für alle. Die Produk-        werden sich solche Communities der
nach ewigem Leben ist seit Urzeiten in         tion von Ersatzteilorganen hat zuge-              Allmacht der Computer ergeben und
uns angelegt. Auch ohne die Digitali-          gebenermaßen nicht viel mit digitaler             akzeptieren, dass diese schlauer sind
sierung ist die Lebensspanne des Men-          Technologie zu tun. Das Klonen von                – in ihrem Ressort aber die Nutzung
schen wahnsinnig gestiegen – alle zehn         Gewebezellen ist am Anfang noch                   von Handys verbieten. Die Mehr-
Jahre um zwei bis 2,5 Jahre. Techno-           teuer. Da ist es eine Frage des Sozial-           heit der Menschen wird das jedoch
logien, die dem Menschen ein längeres          systems, alle über die Krankenversiche-           nicht machen, sondern versuchen,
Leben ermöglichen, werden extrem               rung daran teilhaben zu lassen.                   die intelligenteste Spezies der Welt zu
wertvoll sein und große Wachstums-                                                               bleiben. Sie werden es als Teil der nor-
chancen für die Wirtschaft und den             Welche neuen Möglichkeiten würden                 malen Evolution sehen. Das ist keine
gesamten Gesundheitsbereich bringen.           Sie auch selbst nutzen?                           Science-Fiction.
                                               All die Dinge, die ich genannt habe.

                                                                                                         4
Während des Zukunftsforums war                 Wenn ich dadurch länger leben und
immer wieder die Rede davon, dass in           meine Kinder und Enkelkinder länger                                  Medical Food
der Medizin zunehmend die Mensch-              erleben darf, finde ich das                                          Dank spezieller
lichkeit verloren geht.                        großartig. Spannend ist für                                          Nahrung zum
Das halte ich für ein großes Miss-             mich vor allem diese Frage:                                          idealen Bakterien-
verständnis. Meiner Meinung nach               Was tun wir mit unserem Kör-                                         mix im Darm
ist genau das Gegenteil der Fall. Die          per, wenn wir irgendwann zur
Digitalisierung macht den Menschen             zweitintelligentesten Spezies
menschlicher. Das hängt natürlich              geworden sind, wenn Compu-
auch von Ihrer Definition von Mensch-          ter intelligenter sind als Men-
lichkeit ab. Wenn Sie glauben, dass            schen? Akzeptieren wir das und
der Mensch trotz seinen Limitationen           lassen die Computer einfach
jetzt schon im Idealzustand ist, wird          machen? Ich glaube nicht. Wir
die Welt unmenschlicher. Wenn Sie              werden diese Computertechnik
aber das Streben nach einem länge-             in unsere Körper hineinlassen. Ich
ren Leben, nach Selbstverwirklichung           habe mir vor Kurzem einen Com-

                                                                          Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018                |   9
                                                                                             MEDICAL FOOD
                                                                                             Dank spezieller Nahrung zum
Gedanken für morgen Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018
Ökonomie                                                                             zustellen. Gute Pflege benötigt eben
                                                                                     auch die entsprechenden finanziellen
                                                                                     Mittel. Das gilt für private Einrichtun-

versus Medizin?                                                                      gen genauso wie für öffentliche und
                                                                                     konfessionelle.

Deutsche Kliniken                                                                    Falsche Anreize
                                                                                     aus der Politik

brauchen beides!
                                                                                     Ebenfalls einig waren sich Holzinger
                                                                                     und Mörsberger darin, dass die Politik
                                                                                     seit Jahren falsche Anreize gibt. Sie
                                                                                     wirke „nicht positiv gestaltend auf
                                                                                     einzelne Krankenhäuser, sondern ver-
Rückt der Fokus des Krankenhausmanagements                                           folgt das eindimensionale Ziel der
                                                                                     kurzfristigen Kostensenkung, meist
auf ökonomische Ziele die Ethik der Patienten-                                       über Eingriffe in das Entgeltsystem. Die
versorgung wirklich in den Hintergrund?                                              Kannibalisierung von Krankenhäusern
                                                                                     ist die Folge und das gewollte Ergebnis
Nein – denn ökonomischer Erfolg ist eine                                             der Politik“, kritisierte Mörsberger mit
notwendige Voraussetzung für qualitativ hoch-                                        Blick auf das seit 2004 praktizierte leis-
                                                                                     tungsorientierte und pauschalierende
wertige Pflege. Und das gilt für alle Träger.                                        Vergütungssystem G-DRG (German
                                                                                     Diagnosis Related Groups), mit dem
                                                                                     stationäre sowie mitunter teilstationäre

I  m Klinikalltag arbeiten Ärzte und
   Pflegekräfte im Spannungsfeld zwi-
schen medizinischen, regulatorischen
                                          in deutschen Krankenhäusern deut-
                                          lich zugenommen. 707 waren es nach
                                          Angaben des Statistik-Portals statista
                                                                                     Krankenhausleistungen nach diagnose-
                                                                                     bezogenen Fallgruppen abgerechnet
                                                                                     werden.
und ökonomischen Aspekten der Pati-       im Jahr 2016 – das sind 221 mehr              Krankenkassen bezahlen die Kliniken
entenversorgung. Private Träger wer-      als noch 16 Jahre zuvor. Im gleichen       also nicht nach Liegezeit und indivi-
den oft mit dem Vorurteil konfrontiert,   Zeitraum ist die Anzahl der freige-        duellem Aufwand für die Patienten,
sich primär an ökonomischen Zielen        meinnützigen (von 912 auf 674) und         sondern nach den durchschnittlichen
statt an Patienten- und Personalbedürf-   öffentlichen (von 844 auf 570) Einrich-    Behandlungskosten für ihre Krank-
nissen zu orientieren. Als Indikatoren    tungen gesunken. Private Träger haben      heit. Diese Fallpauschalen haben in
hierfür gelten etwa die unterstellte      unrentable Kliniken übernommen mit         Krankenhäusern zu einer strikten Öko-
Konzentration auf Hochkostenpatien-       dem Ziel, diese wieder wirtschaftlich      nomisierung geführt – je kürzer ein
ten, Zielvereinbarungen und Erfolgs-      zu machen – was in vielen Fällen auch      Patient auf Station ist, desto höher der
beteiligungen mit Chefärzten, Out-        gelungen ist. Professionelles Manage-      Ertrag. Den vom Statistischen Bundes-
sourcing von Dienstleistungen oder die    ment und die gesteigerte Effizienz         amt veröffentlichten Grunddaten der
Arbeitsverdichtung in der Pflege.         haben zum Erfolg beigetragen.
   Aber auch freigemeinnützige und           Wird das Krankenhaus der Zukunft
öffentliche Träger geraten zunehmend      also durch eine ökonomische Orien­
unter Rechtfertigungsdruck. Ihnen wird    tierung geprägt sein – nicht zuletzt,
vorgeworfen, wirtschaftliche Aspekte      weil die knappen Ressourcen einen
zu wenig zu berücksichtigen, auch         patientenorientierten Fokus kaum noch
unwirtschaftliche Häuser weiterzu-        möglich machen?
führen, sich bei Unterfinanzierung aus       Die Klinikvertreter Stephan Holzinger
öffentlichen Geldern quer zu finan-       und Andreas Mörsberger sehen keinen
zieren und nur in ethisch-moralischen     Gegensatz zwischen Ökonomie und
Kategorien zu denken.                     Medizin. Beides muss Hand in Hand          Über die Zukunft der deutschen Kliniken
                                          gehen, um den größten Herausforde-         diskutierten beim HARTMANN Zukunfts­
Private Träger übernehmen                 rungen im Gesundheitswesen – demo-         forum 2018 Stephan Holzinger, Vor-
unrentable Kliniken                                                                  standsvorsitzender der RHÖN-KLINIKUM
                                          grafischer Wandel, Fachkräftemangel        AG, und Andreas Mörsberger, Vorstand
Fakt ist: In den vergangenen Jahren hat   und Digitalisierung – zu begegnen und      Finanzen der Paul Gerhardt Diakonie gAG.
die Anzahl der privaten Trägerschaften    auch künftig das Patientenwohl sicher-

10   | Gedanken für morgen
Klinik

   Technik oder Menschen? Effizienz oder
   Zuwendung? Nur in Kombination werden
   Kliniken bestehen können.

Krankenhäuser zufolge sind die Fallzahlen seit der                                 der medizinischen Dienste. Zudem ent-
Abrechnungsumstellung um rund 2,65 Millionen
                                                        2000                       falle bei einer Selbstkosten­erstattung
auf zuletzt rund 19,45 Millionen gestiegen. Zwar                                   der Pflegekosten jeder Anreiz zur effi­
                                                                            486
ist die Zahl der Pflegevollkräfte in Kliniken in den                               zienten Organisation der Pflege.
vergangenen zehn Jahren schrittweise auf aktuell               844
328.500 gestiegen, dennoch verschärft der demo-                                    Solide Investitions­
grafische Wandel die Situation: In den Klinikbetten                        912     bedingungen nötig
liegen zunehmend Multimorbide, Demenzkranke                                        Für Stephan Holzinger sind die jüngs-
und Schwerstpflegebedürftige. Als Konsequenz für                                   ten politischen Entscheidungen ledig-
alle deutschen Kliniken sieht Mörsberger den wei-       2016                       lich „Heißluftballone“. Die Loslösung
ter steigenden Rationalisierungsdruck und – damit                                  der Pflege von anderen Gesundheits-
einhergehend – die Notwendigkeit, Strategien an                                    dienstleistungen widerspreche dem
                                                                570         707
ökonomischen Prämissen auszurichten.                                               Ansatz eines umfassenden Gesund-
   Die Ankündigung von Union und SPD im Feb-                                       heitssystems. Er wünscht sich von der
ruar 2018, dass künftig „Pflegepersonalkosten                        674           Politik ein anderes Vergütungssystem
besser und unabhängig von Fallpauschalen vergü-                                    und solide Investitionsbedingungen.
tet“ werden sollen mit dem Ziel, dem Sparzwang                                     Beides sei wegen der digitalen Trans-
entgegenzuwirken, stieß zwar auf viel positive          Zahl der Krankenhäuser     formation dringender denn je erfor-
Resonanz. Aber manche Experten sehen das Vor-           in Deutschland             derlich. „Schaffen wir diesen Wandel
                                                           private
haben auch kritisch. Nach Ansicht des Gesund-                                      nicht, stehen angesichts des weiter
                                                           freigemeinnützige
heitsökonomen Prof. Dr. Boris Augurzky etwa                öffentliche             zunehmenden demografischen Drucks
treibe die Politik damit einen Keil in die Teamarbeit                              spätestens ab 2024 wahre Horrorsze-

                                                                  Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018       |     11
narien am gesellschaftlichen Horizont.
     Wie Kliniken durch Vernetzung effizienter werden                                              Durchaus denkbar ist dann die Ratio-
                                                                                                   nierung von Gesundheitsleistungen –
     Der Klinikverbund Südwest zeigt,                                                              zum Beispiel keine neuen Hüftgelenke
     dass Effizienz keine Domäne der Priva-                                                        mehr für Über-75-Jährige. Das wäre ein
     ten sein muss. Im Jahr 2006 schlossen
                                                                                                   ultimatives Armutszeugnis für eines der
     sich die Krankenhäuser in Böblingen,
     Calw, Herrenberg, Leonberg, Nagold                                                            reichsten Länder der Erde.“
     und Sindelfingen zu einem der größten                                                            Investitionen halten beide Klinik-
     und leistungsfähigsten kommunalen                                                             vertreter für absolut notwendig, um
     Krankenhausverbünde in Baden-Würt-                                                            die Zukunft ihrer Häuser zu sichern.
     temberg zusammen. Er verfügt zudem                                        Leonberg              Die RHÖN-KLINIKUM AG sieht sich
     über ein verbundeigenes Therapie-
                                                                                                        hierfür dank einer hohen Eigen-
     zentrum und vier medizinische Versor-
     gungszentren. Aus den konkurrieren-      auf. Vorsorge,          Calw               Sindelfingen    kapitalquote gut aufgestellt und
     den Häusern hat sich ein erfolgreicher   Behandlung,                                Böblingen        treibt die digitale Transformation
     Klinikverbund mit mehr als 1.500 Plan-   Rehabilitation                                              voran, um Prozesse effizienter zu
                                                                                  Herrenberg
     betten entwickelt, an dem jährlich rund  und Pflege                                                  gestalten, Ärzte und Pflegekräfte
     80.000 Patienten stationär und bis zu    werden fließend
                                                                                                         zu entlasten und Patienten noch
     300.000 ambulant behandelt werden.       ineinander über-             Nagold
                                              gehen. Auf einem                                          besser zu behandeln. Am weitesten
     Wissensaustausch fördern                 Klinikgelände werden                                  fortgeschritten ist das Medical Cock-
     Für die kommenden sechs Jahre sind       ambulante und stationäre                             pit, eine intelligente Suchmaschine, die
     Investitionen in Höhe von mehr als       Angebote sowie eine Vielzahl medizini-               die Datenflut aus Arztbriefen, Röntgen-
     700 Millionen Euro geplant. Um den       scher Service- und Vorsorgeleistungen,               befunden und OP-Berichten aufbereitet
     Wissensaustausch zwischen den Klini-     die bisher räumlich und systemisch
                                                                                                   und dem behandelnden medizinischen
     ken zu fördern, Behandlungsstandards     getrennt waren, miteinander verzahnt:
     festzulegen und den Patienten die Fort-  der niedergelassene Facharzt, die Klinik,            Personal auf einer Plattform einen
     schritte in der Medizin zeitnah zur Ver- die Rehabilitation und die Pflege.                   schnelleren, umfassenden Über-
     fügung stellen zu können, werden die                                                          blick ermöglicht. Ein Großprojekt der
     Kompetenzen in standortübergreifen-      Digitaler Anamnesebogen
                                                                                                   RHÖN-KLINIKUM AG ist darüber hinaus
     den Fachzentren und Netzwerken ver-      Die digitale Vernetzung aller Akteure
                                                                                                   der Campus Bad Neustadt (siehe Info-
     stärkt gebündelt. Solche Fachzentren     – mit intelligenten IT-Lösungen und
     sind bereits in zwölf Behandlungssek­    Kommunikationssystemen für den ärzt-                 kasten) – ein Modell, das Holzinger
     toren etabliert, etwa in der Gastroente- lichen, pflegerischen und Verwaltungs-               auch als Lösung für die medizinische
     rologie, Onkologie und Kardiologie.      bereich – ist dabei unverzichtbar. Dazu              Versorgung im ländlichen Raum sieht.
        Auf Synergien setzt auch die             zählen die elektronische Patientenakte
     RHÖN-KLINIKUM AG. Der Klinikbe-             oder ein digitaler Anamnesebogen, der           „Wir können Pflegekräfte
     treiber errichtet in Bad Neustadt a. d.     von allen Ärzten und Pflegekräften des          weder backen noch
     Saale derzeit einen hochmodernen,           Campus jederzeit abrufbar ist. Auch
                                                                                                 entführen“
     vernetzten Medizinkomplex, den              das Medical Cockpit – ein digitales Sys-
     Campus Bad Neustadt. Ziel ist, mit          tem, das die relevanten Patientendaten          Digitale Technologien wie intelligente
     diesem sektorenübergreifenden und           zusammenfasst – soll den Behand-                Pflegebetten, die mittels Sensorik die
     integrativen Ansatz die Gesundheitsver-     lungsprozess beschleunigen. Auch                Sicherheit und Mobilisation bettläge­
     sorgung im ländlichen Raum zu sichern       Technologien der Telemedizin werden
                                                                                                 riger Patienten überwachen, oder
     und Patienten eine wohnortnahe medi-        eine wichtige Rolle spielen – etwa Car-
     zinische Versorgung anzubieten. Eine        dio-Secur zur Unterstützung der Nach-           Exo-Skelette – eine äußere Stützstruk-
     viertel Milliarde Euro hat das Unterneh-    sorge kardiologischer Patienten oder            tur, die Patienten als Geh-Assistenz
     men in das Projekt investiert. Anfang       TeleStroke zur Übermittlung relevanter          dient – können laut Holzinger auch die
     2019 nimmt der Campus seinen Betrieb        Daten von Schlaganfallpatienten noch            Effizienz steigern. Gleiches gilt für die
                                                 vor Eintreffen in der Klinik.                   Auslagerung von Tätigkeitsbereichen
                                                                                                 wie Wäscherei und Essensauslieferung,
                                                                                                 die keine examinierte Pflegekraft erfor-
                                                                                                 dern. Der Einsatz von Robotik oder
                                                                                                 Apps setze aber auch einen Kulturwan-
                                                                                                 del voraus. Beide Ansätze hätten letzt-
                                                                                                 lich auch das Ziel, das eigene Personal
                                                                                                 zu entlasten und zu unterstützen.
                                                                                                    Das ist dringend nötig, denn der
                                                                                                 Fachkräftemangel – insbesondere in
                                                                                                 der Pflege – stellt das Gesundheits-

12    | Gedanken für morgen
Klinik

wesen vor massive Herausforderungen.
Beide Klinikvertreter glauben nicht an
                                                        Digitalisierung als Chance
eine politische Lösung, sondern setzen
auf Eigeninitiative und mutige Ansätze,
um die Arbeitsattraktivität in ihren                    60 %                                                                                      58 %
Häusern zu steigern. Sie bieten etwa                    der Klinikmanager                                                                              setzen zur
für ihr Personal Resilienz-Kurse an, in                 gehen von einer                                                                              Ergebnisver-
                                                        Eintrübung ihrer                                                                           besserung auf
denen durch Achtsamkeits- und Ent-                      wirtschaftlichen                                                                       Digitalisierungs-
spannungsübungen das Wohlbefinden                       Rahmenbedingungen                                                                       maßnahmen …
und die psychische Widerstandskraft                     aus
gestärkt werden. Laut Holzinger muss
das Problem des Fachkräftemangels im
eigenen Land gelöst werden: „Wir kön-
                                                        40 %
nen Pflegekräfte weder backen noch                      der Kliniken
entführen. Deswegen setzen wir neben                    haben 2016
attraktiven Entwicklungsmöglichkeiten                   keinen
                                                        Überschuss
unserer Mitarbeiter auf interdiszipli-
                                                        erwirtschaftet                                                                                           31
näre, klinikübergreifende Zusammenar-                                                                                                                            %
beit im Team – ein zentraler Bestandteil                                                                                                               17
unserer Personalstrategie.”                                                                                                                            %
   Für Mörsberger ist die derzeitige                                                                                                               2016 2017
Situation „nur die Spitze des Eisbergs“.                                                                                                          … und erzielen
Deutsche Kliniken seien auf den zuneh-                                                                                                              zunehmend
menden Anteil von Frauen in der medi-                                                                                                               signifikante
                                                                                                                                                   wirtschaftliche
zinisch-pflegerischen Arbeitswelt oder

                                                                                                                          89 %
                                                                                                                                                    Wertbeiträge
veränderte Erwartungen von Mitarbei-
tern unzureichend vorbereitet. Daher
seien alle Krankenhäuser gleicherma-
                                                                                                                    haben eine Digitalisierungsstrategie
ßen gefordert, ihre Arbeitsbedingun-
gen durch gute Arbeitsorganisation                      Quelle: Roland Berger Krankenhausstudie 2017.
sowie Personalführungs- und -entwick-                   Befragt wurden Topmanager der 500 größten Krankenhäuser in Deutschland.

lungsprogramme zu verbessern. Auch
die Industrie könne als Wertschöp-
fungspartner genutzt werden. Holzin-              gungsqualität der Patienten, schaffen                               sie eigentlich verdient. Über Jahrzehnte
ger sieht etwa große Potenziale in der            durch Zeitgewinn einen messbaren                                    hinweg sind die Ausgaben für das
Zusammenarbeit bei der Implementie-               Mehrwert für Fachkräfte und haben                                   Gesundheitswesen als Prozentsatz vom
rung von Robotik im medizinisch-pfle-             einen positiven wirtschaftlichen Effekt.                            Bruttosozialprodukt konstant geblie-
gerischen Alltag.                                                                                                     ben. In der gleichen Zeit ist allerdings
   Was jedoch auch für smarte Inno-               Drehen wir an den                                                   die Diagnostik fortgeschritten, Krank-
vationen gelten muss: Sie sind einfach            richtigen Schrauben?                                                heiten haben sich verändert, die Liege-
anzuwenden, leicht in den Arbeitsalltag           Vielleicht hat Gesundheit in Deutsch-                               zeiten der Patienten wurden immer
integrierbar, verbessern die Versor-              land noch nicht den Stellenwert, den                                geringer und die Belastung wird immer
                                                                                                                      höher.
                                                                                                                         Die Qualität der Pflege ist abhängig
Mit Pflegesoftware                                                                                                         vom Erreichen ökonomischer Ziele.
zum optimalen Workflow                                                                                                       Wer nicht ökonomisch handelt,
                                                                                                                             kann sich folglich auch keine
Das Start-up NursIT Institute hat mit CareIT Pro eine
                                                                                                                              höheren Löhne leisten, in mehr
Software entwickelt, mit deren Hilfe Pflegekräfte
nach eigenen Angaben 60 Minuten pro Patient und                                                                               Personal investieren oder ein
pro Tag sparen können. Die Software optimiert den                                                                              attraktives Fortbildungsangebot
Pflege-Workflow und reduziert die Dokumentation,                                                                               machen. Das System ist nicht
weil etwa der Pflegeplan und der Pflegekomplex-                                                                                 per se ineffizient – die Frage
maßnahmen-Score automatisch generiert werden.                                                                                   lautet vielmehr: Drehen wir
Mehr Infos unter http://nursit-institute.de
                                                                                                                                 an den richtigen ­Schrauben?

                                                                                     Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018                            |     13
Neue Lebensmodelle
erfordern neue
­Versorgungsformen
Pflegeeinrichtungen werden sich verändern. Das Angebot wird
heterogener – mit klein­teiligeren und flexibleren Versorgungs­
formen. Die finanziellen Möglichkeiten der Pflege­bedürftigen
­müssen dabei im Fokus bleiben.

W       ir leben immer länger, haben einen höhe-
        ren Lebensstandard und auch eine andere
Vorstellung davon, wie wir unsere letzten Jahre
                                                                           meinnützigen Einrichtungen üblich. Dies verdeut-
                                                                           lichen die massiven Investitionen ausländischer
                                                                           Investoren in den deutschen Pflegeheimmarkt der
verbringen möchten. Das liegt nicht zuletzt                                vergangenen Jahre.
daran, dass die Erwerbsbiografie künftiger
Rentner eine andere ist als die der Kriegs-            44                  Klassisches Altenheim
                                                                           als Auslaufmodell?
                                                           %
generation. Der demografische Wandel erfor-
dert neue Konzepte, damit Deutschland die                                  Einer der großen Player in Europa ist die französi-
Zunahme Pflegebedürftiger bewältigen kann.                                 sche Orpea-Gruppe mit europaweit fast 800 Ein-
Dabei geht es nicht nur um mehr Pflegeeinrichtun-                          richtungen. Orpea Deutschland gehört mit seinen
                                                      In nur 16 Jahren
gen, sondern auch um die Entwicklung neuer, fle-                           zehn Marken zu den größten privaten Anbietern
                                                      stieg die Zahl der
xibler Versorgungsformen. Denn die ältere Gene-       deutschen Pfle-      von Seniorenhäusern mit stationärer Pflege. Die
ration möchte möglichst lange selbstbestimmt          geheimplätze um      165 Einrichtungen tragen dabei individuelle, in der
leben – und kommt auch immer später ins Heim.         44 %. Die meisten    Region seit Langem bekannte Namen. Für CEO
  Durch den Wunsch nach Entscheidungsfreiheit         entstanden bei       Dr. Erik Hamann ist das klassische Altenheim
                                                      privaten Trä-
und einer an die individuellen Bedürfnisse ange-                           dennoch ein Auslaufmodell. Die jetzt alternde
                                                      gern, deren Ange-
passten Betreuung ist das Angebot heterogener         bot um 118 %         Generation brauche ein anderes Produkt – nicht
geworden. Zudem sind aufgrund des Primats             auf rund 360.000     zuletzt deshalb, weil „immer mehr Menschen
„ambulant vor stationär“ neue Versorgungsformen       Plätze wuchs.        keine Angehörigen haben oder von diesen nicht
wie Tages- und Kurzzeitpflege, Mehrgeneratio-         (Quelle: GBE-Bund)   erwarten (können), dass sie sie pflegen“.
nenwohnen, Seniorenwohngemeinschaften und                                     Der Trend geht zu sogenannten Campus-
Pflege­gruppen entstanden. Auch die Träger der                               Modellen oder dem Quartierwohnen – Kon-
stationären Altenpflege haben ihr Versorgungs-
spektrum um entsprechende Angebote erweitert.
  Doch welche Formen der vollstationären Alten-
                                                          118                 zepte, die an einem Standort zahlreiche Zusatz-
                                                                               services über ambulante Pflege, Tagespflege

                                                                  %
                                                                               bis hin zu einer vollstationären Pflege anbieten.
pflege werden wir in Zukunft noch brauchen –                                  Das Pflegeheim als integraler Bestandteil einer
und vor welchen Herausforderungen stehen die                                 mehrstufigen, durchlässigen Versorgungskette.
Träger dieser Einrichtungen? Etwa die Hälfte aller                         Auch für Hamann stehen solche Konzepte im
Pflegeheime befindet sich in privater Trägerschaft.                        Vordergrund, wie das von Orpea in Dortmund
Hier sind höhere Renditeerwartungen als in freige-                         geplante Campus-Modell an der Uferpromenade

14   | Gedanken für morgen
Alten- und Pflegeheime

des Phoenix-Sees beweist. Auch dort wächst das               Pflege, doch künftig seien flexible, ineinandergrei-
Angebot mit den Anforderungen der Bewohner.                  fende Konzepte gefragt. Seiner Einschätzung nach
   Wichtig sind laut Hamann dabei Kriterien wie              können sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung die
die Architektur und Angebote wie Fitness- und                Unterbringung auf einem Campus leisten. „Das
Wellnesseinrichtungen oder ein Restaurant. Auch              sind Menschen, die sich auch etwas gönnen wol-
die Lage ist entscheidend – solch ein Campus                 len.“ Die Nachfrage habe sich geändert.
müsse mitten im Leben stehen. „Als Paket muss                   Es muss jedoch gewährleistet sein, dass auch
alles zusammen auch für aktive Senioren attraktiv            finanziell Schwächere eine gute Pflegequalität
sein, die nicht permanent mit Altwerden und Ster-            erfahren. Vor allem in großen Städten können sich
ben konfrontiert werden möchten“, so Hamann.                 pflegebedürftige Menschen in Deutschland die
Dies bedeute zwar nicht das Ende der stationären             ambulante oder stationäre Versorgung oft nicht

„Call & Check“ – die Post als Pflegedienst
Wir brauchen neue Ideen für die häusliche       Medikamente oder Arzttermine erinnern.            der die Infrastruktur eines Postdienst-
Pflege, denn die Anforderungen der altern-      Das Feedback der Kunden ist laut Dickin-          leisters nutzt. Ein Dienst, der letztlich
den Bevölkerung steigen. Joe Dickinson          son sehr positiv. Das Gesundheitsamt von          für die Gesundheits- und Sozialbehörden
hatte 2013 eine solch innovative Idee –         Jersey finanziert „Call & Check“ inzwischen.      genauso bedeutend sein kann wie für das
und machte den Praxistest auf der Kanalinsel       „Call & Check“, zu dem auch ein eigenes        Postwesen an sich, denn in Zeiten von
Jersey mit seinem Service „Call & Check“:       IT-System gehört, ist der erste soziale Dienst,   E-Mails und Packstationen müssen auch
Dort besuchen Zusteller der Jersey Post                                                           Postbetreiber ihre Dienstleistungen weiter-
während ihrer normalen Touren ältere Men-                                                         entwickeln. „Call & Check“ hat das Potenzial,
schen und fragen sie, wie es ihnen geht                                                           Kernelement eines neuen, kosteneffektive-
und ob sie medizinische oder soziale Hilfe                                                        ren Pflegedienstes zu werden. Auch andere
benötigen – täglich, wöchentlich oder nach                                                        Länder haben bereits Interesse signalisiert,
individueller Vereinbarung.                                                                       ähnliche Programme zu entwickeln – das
   Hat der Kunde ein Anliegen, leitet der                                                         „Call & Check“-Team berät sie dabei.
Postmitarbeiter die Information an die pas-                                                          Mehr Informationen unter http://www.
sende Stelle weiter: den Arzt, die Kirchenge-                                                     callandcheck.com und ein Beitrag der
meinde oder einen ehrenamtlichen Dienst.                                                          BBC unter http://dpaq.de/OpAgr. Fragen
Die Zusteller können zudem regelmäßige                                                            beantwortet Joe Dickinson auch per Mail:
Verschreibungen liefern und Kunden an                                                             joe@callandcheck.com.

                                                                           Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018                  |   15
mehr leisten, wie eine aktuelle Auswertung des       habe hier einen großen Nachholbedarf, betonte
                        Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln (IW)      der Orpea-Manager und nannte als Beispiel die
                        zeigt. In Großstädten bezieht rund ein Viertel der   Einführung einheitlicher Softwarelösungen, um die
                        Menschen, die gepflegt werden, die Sozialleistung    Mitarbeiter zu entlasten – und damit auch mehr
                        „Hilfe zur Pflege“ – Spitzenreiter ist Hamburg mit   Zeit für die Betreuung der Bewohner zu erhalten.
                        25,6 Prozent, knapp dahinter folgen Essen, Frank-       Der Entlastung der Mitarbeiter kommt eine
                        furt am Main und Berlin. Im bundesweiten Schnitt     hohe Bedeutung zu, denn zum einen wird die
                        nehmen 12,2 Prozent derer, die gepflegt werden,      Anzahl schwerstpflegebedürftiger Bewohner
                        die Leistung in Anspruch.                            zunehmen, zum anderen wird sich der Kampf um
                          Deswegen wird es auch in Zukunft „normale“         Fachpersonal verschärfen. Einrichtungen, die mehr
                        Altenheime geben: „Auch wir haben Pflegeheime        Gehalt zahlen und bessere Arbeitsbedingungen
                        mit einem Anteil von 40 Prozent Sozialhilfeemp-      bieten, werden dann die Gewinner sein. Auch der
                        fängern“, sagte Hamann. Insbesondere dort sind       gelernte Gesundheits- und Krankenpfleger Markus
                        aus wirtschaftlicher Sicht zwei Themen wichtig:      Mattersberger, der als Präsident von Lebenswelt
                        Standardisierung und Digitalisierung. Die Pflege     Heim rund 30.000 Beschäftigte in Österreich ver-
                                                                             tritt, setzt auf flexible Arbeitszeitmodelle, neue
                                                                             Ansätze in Führung und Management, aber auch
                                                                             technische Lösungen und wirtschaftliche Koopera-
                                                                             tionen, um Menschen für den Beruf zu begeistern.

                                                                             Das Pflegeheim
                                                                             als „soziales Hybridwesen“
                                                                             Als „soziales Hybridwesen“ müsse ein Pflegeheim
                                                                             den Zwiespalt zwischen den Erfordernissen der
                                                                             Einrichtung und den Bedürfnissen der Bewohner
                                                                             meistern. Auf der einen Seite wollen Bewohner
                                                                             unabhängig sein, doch zugleich sei der Mensch
                                                                             ein soziales Wesen – und nur in einem Pflegeheim
                                                                             gebe es für ihn Sicherheit und soziale Interaktion
Fit, aktiv und gut vernetzt im Quartier                                      ohne das Gefühl, jemandem zur Last zu fallen.
                                                                             In der Diskussion liege der Fokus zu oft auf den
Das Pilotprojekt „NetzWerk GesundAktiv“ (NWGA), ein sektorenüber-
greifendes Hilfs- und Betreuungsnetzwerk im Hamburger Bezirk Eims-           Kosten. Mattersberger will hin zu einer Qualitäts-
büttel, möchte Senioren bis ins hohe Alter ein selbstbestimmtes Leben in     diskussion. „Was möchten und können wir älteren
den eigenen vier Wänden ermöglichen. Dazu verknüpft es vorhandene            Menschen bieten?“ Seiner Ansicht nach müsse
Strukturen im Quartier mit digitalen Anwendungen. Teilnehmen können          auch die Wertschätzung gegenüber älteren Men-
bis zu 1.000 Versicherte der beteiligten Krankenkassen TK, BARMER,
                                                                             schen in der Gesellschaft steigen.
DAK-Gesundheit und KNAPPSCHAFT, die gefährdet sind, hilfs- und pfle-
gebedürftig zu werden, oder bereits einen Pflegegrad haben.                     Geben alte Menschen ihre Würde tatsächlich,
   Zentrum des NWGA ist eine „Koordinierende Stelle“ am Albertinen-          wie oft gehört, an der Tür des Pflegeheimes ab?
Haus – Zentrum für Geriatrie und Gerontologie, wo Experten mithilfe          Das verneinten beide Experten. Für Markus Mat-
umfassender Untersuchungen und Mobilitäts-Tests die individuellen            tersberger ist ein Umzug ins Heim zwar ein defini-
Bedürfnisse der Teilnehmer erfassen – und darauf basierend den jewei-        tiver Schritt, der letzte Wohnortwechsel und damit
ligen Unterstützungsplan erstellen. Zu den Maßnahmen gehören:
                                                                             auch die Konfrontation mit der eigenen Endlich-
Rehabilitation, Hilfen für Angehörige, Betreuung bei Demenz, technische
Assistenzsysteme und Förderung der Gesundheitskompetenz. Behan-              keit. Eigene Befragungen hätten jedoch gezeigt,
delnde Hausärzte werden ebenso einbezogen wie andere Quartiersan-            dass neun von zehn Bewohnern zufrieden sind.
gebote. Darüber hinaus erhalten alle Teilnehmer einen Tablet-PC, mit         Und Erik Hamann ergänzte: „Alle haben Angst vor
dem sie Nachrichten senden und empfangen, Termine verwalten, mit             dem Alter. Das kann man nicht trennen.“
Angehörigen per Videochat sprechen und Dienstleistungen wie „Essen
auf Rädern“ bestellen können. Geplant sind weitere Funktionen wie ein        Kundenwünsche im Fokus
„Schwarzes Brett”, auf dem die Senioren Veranstaltungshin-
weise abrufen oder eine Online-Sprechstunde mit den Ärz-                     Die größte Kontroverse dreht sich um die Frage:
ten der „Koordinierenden Stelle” vereinbaren können. Das                     Ist es in Ordnung, in diesem Metier Geld zu ver-
NWGA erhält eine Förderung in Höhe von maximal 8,9                           dienen? Geht dabei Qualität verloren oder spiegelt
Millionen Euro über vier Jahre aus dem Innovationsfonds                      der Pflegemarkt nicht einfach die normale Gesell-
des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA). Mehr
                                                                             schaft wider? Rendite zu erwirtschaften muss
Informationen unter https://netzwerk-gesundaktiv.de
                                                                             keineswegs zu sinkender Qualität führen. Wichtig

16   | Gedanken für morgen
Alten- und Pflegeheime

dabei ist, dass die Überschüsse aus                          täts-Credo: „Bieten Sie etwas an, wo
dem Einpreisen von Zusatzangeboten                           Menschen freiwillig hinmöchten!“
entstehen und nicht aus der Einspa-
rung von Pflegeleistungen. Auch Mat-                         Mehr Normalität,
tersberger hat „nichts gegen Unter-                          Häuslichkeit und Teilhabe
nehmen, die Geld verdienen möchten“                          Konsens herrschte darüber, dass es
– sofern die Qualität stimmt und die                         mehr Normalität, Häuslichkeit und
Menschen genügend Zuwendung                                  Teilhabe geben sollte, statt Menschen
erfahren.                                                    zu institutionalisieren. Ein Teilnehmer
  Für Hamann schwingt bei diesem                             bemerkte, Teilhabe sei sowohl für                Über neue Lebensmodelle und Versorgungs-
Thema immer der Vorwurf mit, dass                            Bewohner als auch für das informelle             formen diskutierten beim HARTMANN
                                                                                                              Zukunftsforum 2018 Dr. Erik Hamann,
„die Leute nicht bekommen, was sie                           ambulante Pflegenetz wichtig, das mit
                                                                                                              CEO Orpea Deutschland, und Markus
brauchen“ – dabei stehen für ihn die                         dem Umzug ins Pflegeheim zerstört                Mattersberger, Präsident von Lebenswelt
Wahlmöglichkeiten seiner Kunden,                             wird. Er plädierte für eine Teilhabever-         Heim, dem Bundesverband der Alten- und
Mieter und Bewohner im Fokus. Sein                           einbarung, nach der das Helfernetz               Pflegeheime Österreichs.
Unternehmen reinvestiere zudem alle                          auch im Pflegeheim aktiv sei, während
Überschüsse in neue Einrichtungen.                           zugleich die „Profis“ dort bestimmte
Modernisierung sei ein wichtiges                             Aufgaben übernehmen. Durch die                   denn ein Campus funktioniere eben
Thema, denn mehr als 200.000 Pfle-                           Umwandlung von klassischen Wohn-                 nicht in einem Dorf mit 3.000 Einwoh-
geheimplätze seien älter als 30 Jahre                        bereichen in Wohngruppen solle man               nern. Zudem wird sich die jeweilige
– zugleich würden bis zu 14.000 neue                         „institutionelle Mauern einreißen“.              Versorgungsform an der finanziellen
Plätze benötigt. „Bund und Länder                               Individuelle Lösungen werden wich-            Leistungsfähigkeit des Einzelnen orien-
können das bestimmt nicht besser als                         tiger – Wohngruppen und flexible                 tieren. Die Gesellschaft hat sich gewan-
private Anbieter“, sagte er mit einem                        Hausgemeinschaftskonzepte mit Bezug              delt, der Bedarf an maßgeschneiderten
Seitenhieb auf Stuttgart 21 und den                          zum Quartier. Erik Hamann hat jedoch             Lebensmodellen ist groß. Was wollen
Berliner Flughafen. Hamanns Quali-                           Zweifel, ob das so kleinteilig klappt –          wir und was ist auch finanzierbar?

Selbstbestimmt leben dank ALADIEN
Die Evangelische Heimstiftung möchte Pflege auch im digi-
talen Zeitalter aktiv mitgestalten. Dafür hat sie erste Meilen-
steine gesetzt: Die neuen WohnenPLUS-Residenzen sind eine                                    automatische
innovative Wohnform, die eine ambulante Alternative zum                                      Licht- und Rollladen-
klassischen Pflegeheim bietet und flexibel auf individuelle                                  steuerung
Anforderungen der Kunden reagieren kann. Ziel ist es, Men-
schen trotz Pflegebedarf in der eigenen Häuslichkeit individu-
ell zu versorgen, ihnen lange ein selbstbestimmtes Leben zu                                      auto-
ermöglichen und Teilhabe zu fördern.                                                             matische
   Dieses Konzept wird digital unterstützt durch „ALADIEN“:                                      Herdab-
                                                                                                 schaltung
Alltagsunterstützende Assistenzsysteme mit Dienstleistun-
gen. Diese Technologie soll den Bürger-Technik-Profi-Mix
koordinieren und wird zum Knotenpunkt eines Hilfsnetzwerks
aus Angehörigen, Ehrenamtlichen und professionellen Dienst-                                           Sturzsensoren
leistern. Die Senioren steuern es mittels eines für ihre Bedürf-
nisse optimierten Tablets.

                                                                          ts                              moderner
                                                         rrangemen
                            W  o  h n -  und Pfegea                          blierte                      Hausnotruf
      Kombinierb
                       a re                                 refreie te öilm
                               m  it A  LA  DIEN: barrie
                       hnen                                       truf
      77 Pflegewo                                  che, Hausno
                  ohn  un ge nm  it Einbaukü
         Mie   tw                                                               iertes
                           aftsdienst                           aft: teilmöbl
           nd Bereitsch
          u                       ute   W  o h  n gemeinsch              ag sbeg lei-                          24-Stunden-
                       t betre                                  e, Allt
       77 Ambulan               W  C ,  G em  ei nschaftsräum                                                  Service
                          Bad/                                 st
           Zimmer mit                        reitschaftsdien
              ng , Pfleg ek räfte und Be              un g,  Hau  swirtschaft
            tu
                         ien st e:  Pfl ege, Betreu             8   bis 18 Uhr
        77 Mobile D                         bis  So nntag von
                            e: Mo   nt  ag                     er und Bürger
         77 Tagespfleg            Tr ef fp un  kt für Bewohn
                          tref f:
         77 Quartiers
                                                                                         Das Magazin zum HARTMANN Zukunftsforum 2018           |   17
Die Apotheke
                                                                        muss dort sein,
                                                                        wo der Kunde
                                                                        sie braucht
                                                                        Der deutsche Apothekenmarkt
                                                                        befindet sich im Umbruch,
                                                                        an Altbewährtem lässt sich
                                                                        nur schwer festhalten. Es gilt,
                                                                        Online- und Offline-Welt sinn-
                                                                        voll miteinander zu verbinden –
                                                                        und dabei sicherzustellen, dass
                                                                        Patienten fundiert informiert
                                                                        und beraten werden.

S   ind Status und Rahmenbedingun-
    gen der deutschen Apotheken mit
europäischem Recht vereinbar? Darü-
                                                                                      lichen Krankenversicherung (GKV) im
                                                                                      Jahr 2004 kann allerdings jeder Apo-
                                                                                      theker neben seiner Hauptapotheke
ber diskutiert die Branche bereits seit                                               bis zu drei Filialapotheken im näheren
Jahren. Kritiker der aktuellen Situation                                              Umkreis betreiben.
bemängeln, dass der stark regulierte                                                     In seinem Urteil vom 19. Mai 2009
deutsche Apothekenmarkt durch eine                                                    hat der Europäische Gerichtshof (EuGH)
atomistische Angebotsstruktur mit                                                     in Luxemburg bestätigt, dass das
einer vergleichsweise hohen Apothe-                                                   Fremdbesitzverbot in Deutschland ein
kendichte und einem sehr begrenzten        Über die Bedrohung der deutschen           zulässiges und wirksames Instrument
Preiswettbewerb gekennzeichnet ist.        Apotheken durch Europa diskutierten beim   des Verbraucherschutzes ist. Die kont-
                                           HARTMANN Zukunftsforum 2018
Im Fokus steht dabei das deutsche                                                     roverse Diskussion ist damit aber nicht
                                           Dr. Klaus Michels, Vorstandsvorsitzender
Fremd- und Mehrbesitzverbot, das von       des Apothekerverbandes Westfalen-Lippe,    beendet.
manch europäischem Marktteilnehmer         und Prof. Dr. Christian Franken, Chief
als Wettbewerbshindernis gesehen           Pharmaceutical Officer und Chefapotheker   Mehr Filialapotheken,
wird.                                      der Versandapotheke DocMorris.             doch die Gesamtzahl sinkt
  Das seit 1960 bundesrechtlich ver-                                                  Der Sachverständigenrat zur Begutach-
ankerte Fremdbesitzverbot betont die                                                  tung der Entwicklung im Gesundheits-
persönliche Verantwortung und Haf-                                                    wesen schlug 2014 vor, beide Verbote
tung des frei- und heilberuflich tätigen   orientierte Arzneimittelversorgung der     aufzuheben. Ebenso gibt es Überle-
Apothekers. Es schreibt vor, dass der      Bevölkerung sichergestellt werden. Das     gungen, die Apothekerhonorierung zu
Betreiber einer Apotheke Pharmazeut        eng mit diesem Gesetz verbundene           reformieren, etwa durch Einführung
sein muss. So soll eine ordnungsge-        Mehrbesitzverbot hat ebenfalls bis         apothekenindividueller Handelsspan-
mäße, unabhängige und nicht aus-           heute Bestand – seit Inkrafttreten des     nen. Die Apotheken erhielten damit
schließlich an Gewinnmaximierung           Modernisierungsgesetzes der Gesetz-        einen Wettbewerbsparameter, um mit

18   | Gedanken für morgen
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