GIG-ECONOMY - Alternative Bank Schweiz
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GIG-ECONOMY Millionenschwerer Abstimmungs- kampf in den USA : Wenn Firmen Gesetze schreiben 4 Gig-Economy in der Schweiz: Genf bekämpft als erster Kanton arbeitsrechtliche Rückschritte bei Uber und Co. 6 Arbeitslosenversicherung auch für Selbständige? Ökonom Magazin für Geld und Geist online Mathias Binswanger entwickelt ein neues Modell 10 moneta.ch # 3 2021
I N H A LT Uber & Co. in die Pflicht nehmen Gig-Economy, die Vermittlung von Dienstleistungen GIG-ECONOMY über digitale Plattformen, auch Plattformökonomie 4 Wenn Firmen Gesetze genannt, hat sich im letzten Jahrzehnt vom Silicon schreiben Valley aus über den Globus ausgebreitet. Befeuert 6 Genf kämpft gegen wurde ihr Siegeszug von der fortschreitenden Digitali- die «Uberisierung» sierung des Alltags und der Arbeitslosigkeit nach der Finanzkrise von 2008/2009. Einige der prominentesten 8 Plattformarbeit nimmt auch in der Schweiz zu Plattformunternehmen wie Airbnb und Uber wurden während der Krise gegründet und erlebten im darauffolgenden Jahrzehnt 10 « Man muss eine ein enormes Wachstum. Inzwischen werden in zahlreichen Branchen neue Art von Absicherung finden » Leistungen via Online-Plattformen angeboten, neben den in der Pande- mie boomenden Lieferdiensten auch Bürotätigkeiten wie Textarbei- 13 Selbständig – und ten oder Programmierung, aber auch technische Supportleistungen, trotzdem angestellt Reinigung oder Zügeln. Wie viele Erwerbstätige heute als sogenannte Gig-Worker gelten, ist unklar – für die USA gehen Schätzungen inzwischen von über 30 Prozent DIE SEITEN DER ABS 14 Alles rund um die aktuellen aus –, aber es fehlen verlässliche Zahlen dazu, auch in der Schweiz. Dies Themen der Alter- liegt unter anderem daran, dass der Begriff «Gig-Economy» nicht klar nativen Bank Schweiz definiert ist. Im engeren Sinn bedeutet er, dass diese Plattformen keine PERSÖNLICH langfristigen Jobs, sondern nur kurzfristige Aufträge vermitteln (deshalb 24 Markus Unternährer «Gig», in Anlehnung an den Auftritt von Musikschaffenden). Die Bezah- «Keine Bewertung ist auch eine Information» lung erfolgt nicht pro Stunde, sondern pro Auftrag. Wem die Plattform keinen «Gig» zuweist, der verdient nichts. Auch fehlen Sozialleistungen wie bezahlte Ferien, Arbeitslosenversicherung oder Beiträge an die Altersvorsorge. Zudem müssen die Arbeitnehmenden für ihre Ausrüs- tung (etwa ein Auto, E-Bike oder Laptop) selbst aufkommen. Diese Aushöhlung von arbeitsrechtlichen Standards ist möglich, moneta #3—2021 weil Plattformbetreiber wie Uber und Co. sich nicht als Arbeitgeber, Magazin für Geld und Geist sondern als Arbeitsvermittler definieren. Die Arbeitnehmenden betrach- moneta erscheint vierteljährlich in deutscher und französischer Sprache und geht kostenlos an ten sie entsprechend nicht als Angestellte, sondern als selbständige Kundinnen und Kunden der Alternativen Bank Schweiz AG ( ABS ). Die Wiedergabe von Texten Erwerbstätige, die das unternehmerische Risiko selbst tragen müssen. und eigenen Illustrationen ist nur unter Quellen angabe und mit schriftlicher Zustimmung der Gegen diese Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen regt sich in Redaktion erlaubt. Herausgeberin Alternative Bank Schweiz AG vielen Ländern Widerstand, in den USA , in Grossbritannien und auch Redaktionsleitung Katharina Wehrli (kw) Redaktion Esther Banz (eb), Roland Fischer (rf ), in der Schweiz: Als erster Kanton hat Genf Uber dazu verpflichtet, seine Katrin Wohlwend (kw), Muriel Raemy (mr) Online-Redaktion Katrin Wohlwend Taxifahrerinnen und Essenskuriere als Angestellte anzuerkennen – Übersetzung Nicole Wulf, Fabio Peter Inserate Bruno Bisang, Luzia Küng wogegen das US -Unternehmen Widerstand leistet. Was diese Auseinan- Layout Clerici Partner Design, Zürich Illustrationen Claudine Etter dersetzung für die Schweiz bedeutet, ja, wie wichtig die Gig-Economy Druck Ropress Genossenschaft, Zürich Papier RecyStar Nature, 100 Prozent Recycling in der Schweiz überhaupt ist, welche Branchen betroffen sind und welche Adresse Alternative Bank Schweiz AG , moneta, Amthausquai 21, Postfach, 4601 Olten, arbeitsrechtlichen Lösungsansätze jetzt diskutiert werden, lesen Sie in Telefon 062 206 16 16, moneta @ abs.ch dieser moneta. Auflage d ieser Ausgabe 24 000 Ex. Beilagen Werbung und Beilagen, die nicht von der ABS stammen, sind bezahlte Inserate — diese Einnahmen helfen uns, die Produktions Katharina Wehrli, Redaktionsleiterin kosten des Magazins zu decken. Wichtiger Hinweis zu den Inseraten und Beilagen Zeich nungsangebote für Beteiligungen oder Obligatio nen in dieser Zeitung sind von der ABS nicht geprüft. Sie stellen deshalb keine Kaufempfehlung der ABS dar. Wenn Sie als Bankkundin/-kunde umziehen, melden Sie uns Ihre neue Adresse bitte schriftlich oder via E-Banking-System. Verpassen Sie keine Ausgabe und abonnieren Sie Online-Magazin: Alle Schwerpunktartikel den moneta-Newsletter unter moneta.ch/newsletter-anmeldung von moneta erscheinen auch online unter moneta.ch. 2 moneta 3—2021
Auf «Klimaspuren» durch die Schweiz moneta wird von der Alternativen Vom 1. Juni bis zum 12. Juli dieses Jahres wanderten im Rahmen des Programms «Klimaspuren» insgesamt rund 600 Personen in Bank Schweiz ( ABS) herausgegeben 42 Etappen von Ilanz GR nach Genf. Auf fast 700 Kilometern und von einer unabhängigen entdeckten sie die Folgen der Klimaerwärmung in der ganzen Redaktion b etreut. Schweiz. «Die Bilanz ist zweifellos alarmierend, aber jetzt ist der Die Beiträge geben nicht notwendigerweise Moment, um die Schweiz mit vereinten Kräften schnellstmög- die Haltung der ABS wieder, ausser auf den lich klimaneutral zu machen», so Lucie Wiget, Mitglied der «Seiten der ABS » oder in speziell markierten Kerngruppe, die den Marsch organisierte. Auf der ganzen Stre- Kommentaren. cke warteten 73 Vorträge, Diskussionen und Besichtigungen auf die Teilnehmenden. «Das war eine der Stärken unserer Wande- rung: Wir zeigten die Vielfalt der Initiativen und Ansätze auf, die in der Schweiz zur Bekämpfung der Klimaerwärmung oder zur Anpassung daran verwirklicht werden. Unser Ziel war es, in einen konstruktiven Dialog zu treten, der uns allen ermöglicht, Projekte zur Klimarettung gesucht aktiv zu werden. Wir hatten beispielsweise einen erhellenden Austausch mit Vertretern der Raffinerie Cressier über den Ver- Die neu gegründete Stiftung Clima Now sucht Projektideen brauch von fossilen Energien. Die Firma Holcim empfing uns an mit potenziell hoher Wirkung gegen die Klimaerhitzung. ihrem Standort in Mormont, wo wir über Beton und das Bauen Ins Leben gerufen wurde die Stiftung von einer Gruppe um diskutierten. Wir haben Bauernhöfe und ein Kloster besucht, die Gebrüder Meili, die mit ihren privaten Mitteln kommenden mit Vertreterinnen und Vertretern von Industrie, Wissenschaft Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen wollen und Technik gesprochen und uns mit Politikerinnen, Politikern (siehe auch moneta 1–20). Schnell müsse es jetzt gehen, da ist und Kulturschaffenden ausgetauscht.» man bei C lima Now einig, denn viel Zeit bleibt der Menschheit Die Ergebnisse der Wanderungen werden in Text und Bild auf nicht mehr, um zu verhindern, dass sich die Erde durchschnitt- der Website www.klimaspuren.ch präsentiert. Besonders inter- lich um mehr als 1,5 Grad erhitzt und Kipppunkte erreicht essant ist das «Fazit in 12 Schritten» mit Vorschlägen für Sofort- werden, die die Katastrophe unumkehrbar machen. Noch bis massnahmen. Der von Enrico Fröhlich gedrehte Dokumentar- Ende September 2021 nimmt Clima Now über ihre Website film über das Projekt wird anlässlich des Klimakongresses vom Projektvorschläge entgegen. Auch bereits bestehende Projekte 30. September bis zum 3. Oktober 2021 im Zentrum Salecina in können eingegeben werden, sagt Geschäftsführerin Nathalie Maloja gezeigt. Auch ein Buch ist in Vorbereitung. Die Vernissa- Moral, «aber wir möchten vor allem Leute mobilisieren, die mit ge ist an den Klimagesprächen in Flüeli Ranft vom 18. und neuen Ideen kommen». Idealerweise würden die Ideenge 19. Juni 2022 geplant. (mr) klimaspuren.ch, zentrumranft.ch benden ihre Projekte auch selber umsetzen, von der Stiftung in einem einjährigen Coaching mit diversen Workshops unter- stützt. Wer sich das nicht zutraue, müsse mindestens eine gute Vorstellung davon haben, wie die Umsetzung aussehen könnte. (eb) climanow.ch online moneta.ch Exklusiv in unserer digitalen Ausgabe: Klimademos – jetzt mit Aktionsplan www.moneta.ch/gig-economy Die Schweizer Klimajugend nutzte die stille Zeit der Pande- mie, um zu zeigen, wie ihre Forderung – netto null bis 2030 – sozialverträglich umsetzbar ist: Anfang Jahr veröffentlichten Der unsichtbare Mensch die jungen Aktivistinnen und Aktivisten den Klima-Aktions- plan, an dem auch etliche Wissenschaftlerinnen und Experten Von Roland Fischer der ETH sowie anderer Hochschulen und Organisationen Dass Amazons Crowdworking-Platt- unentgeltlich mitgearbeitet haben. Klar: Bei einer so komple- form «MTurk» heisst, ist kein Zufall: xen Aufgabe kann auch ein über 300-seitiger Bericht nicht Der namensgebende «Schachtürke» alle Fragen beantworten, geschweige denn für alle Herausforde- aus dem 18. Jahrhundert war eine Art rungen rundum befriedigende Lösungen präsentieren. Aber Zaubertrick, um den Menschen in der Aktionsplan ist reichhaltig. Jetzt ist es an der Politik, sich der Maschine verschwinden zu lassen. der vorgeschlagenen 138 Massnahmen ernsthaft anzunehmen – Auch auf d igitalen Plattformen nach dem Scheitern des CO2-Gesetzes erst recht. Der Druck leisten Menschen derzeit viel anony- der Strasse wird helfen. An den ersten internationalen Klima me Arbeit im Dienst von künstlichen streiks seit über einem halben Jahr bietet sich allen die Intelligenzen. Gelegenheit, für Klimagerechtigkeit und wirkungsvolle Mass nahmen zu streiken und zu demonstrieren: am 24. Septem- ber und am 22. Oktober. (eb) climatestrike.ch KURZNACHRICHTEN moneta 3— 2021 3
Wenn Firmen Gesetze schreiben Das Silicon Valley ist der Treiber der Das Risiko tragen die Arbeitenden globalen Gig-Economy. Uber, DoorDash Das Silicon Valley bietet mit seinem hyperindivi oder Amazon geben alles daran, dualisierten, technokratischen und urbanen Charakter ihre Vision der Arbeit voranzutreiben. den perfekten Nährboden für die Gig-Economy. Man- Sie haben volle Kriegskassen und gels staatlicher Infrastruktur und Regulierung und keine Hemmungen, Arbeitskämpfe dank schier endlos verfügbarem Risikokapital können zu unterdrücken. die Firmen ihre Umwelt ganz nach eigenem Gutdünken Text: Florian Wüstholz gestalten und ausbeuten. Google und Apple haben eige- ne Buslinien, um die Arbeitenden zu transportieren, weil ein öffentlicher Verkehr fehlt. Wer nicht bei den Es war der wohl teuerste Abstimmungskampf über ein Techunternehmen arbeitet, muss selber nach Lösungen einzelnes Gesetz in den USA . Über 200 Millionen Dol- schauen. lar verpulverten die Gig-Economy-Unternehmen Uber, Dabei ist die Gig-Economy ein Produkt der Finanz- Lyft, DoorDash und Instacart im letzten Jahr, um ein und Schuldenkrise. Airbnb wurde 2008 gegründet, ein Gesetz im Bundesstaat Kalifornien durchzudrücken. Jahr später folgte Uber. Die neu gegründeten Plattform Das Ziel: Die eigenen Fahrerinnen und Lieferanten soll- unternehmen profitierten davon, dass viele Arbeitende ten weiterhin als Selbständige gelten und damit kein in den USA durch die Rezession ihren Job oder ihr Haus Anrecht auf Sozialleistungen erhalten. verloren hatten, und sie besassen die nötigen techni- Nebst klassischer Werbung wurden die eigenen Ar- schen Mittel, um die Situation optimal auszubeuten. beiterinnen und App-Nutzer gezielt mit Propaganda Denn sie bieten eine schnörkellose Plattform und un- geflutet. In den Apps erschienen Hinweise auf die komplizierte Erwerbsmöglichkeiten. Typisch für die Abstimmung. Lieferantinnen von Instacart mussten Gig-Economy ist auch die Rückkehr zu einer Lohnform, Sticker in die ausgelieferten Einkaufstaschen legen. die als ausgestorben galt: dem Stücklohn. Die Mitarbei- Und die Arbeiter von DoorDash wurden gezwungen, tenden von Uber werden pro Fahrt und diejenigen von Plastiktüten der Ja-Kampagne zu verwenden. Die gigan- DoorDash pro Lieferung bezahlt, es gibt weder geregelte tische Maschinerie hatte Erfolg: Am 3. November 2020 Arbeitszeiten noch einen fixen Stundenlohn. Schiebt stimmten fast 59 Prozent in Kalifornien für die «Propo- ihnen der Algorithmus keine Aufträge zu, gehen sie leer sition 22». aus. So lassen sich die unternehmerischen Risiken ge- schickt auf die Arbeitenden abwälzen und diese gleich- Steuerung ja, soziale Verantwortung nein zeitig kontrollieren und disziplinieren. Mit dem neuen Gesetz sicherten sich die Liefer- und So befördert die Gig-Economy auch den Trend zur Transportfirmen eine massgeschneiderte Ausnahme massenhaften Überwachung und Datafizierung des von der 2019 in Kalifornien beschlossenen «Assembly Lebens. Sämtliche Interaktionen der Arbeitenden und Bill 5». Diese sah eigentlich vor, dass Arbeitende in der Plattformnutzerinnen werden aufgezeichnet, algorith- Gig-Economy als Angestellte gelten und entsprechend misch gesteuert und bewertet. Nur, wer sich an die Vor- behandelt werden müssen. Das hätte das Geschäftsmo- gaben hält, erhält längerfristig Zugang zu den Dienst- dell von Uber und Co. auf die Probe gestellt. Denn sie leistungen (siehe Interview Seite 10). Ein Verständnis profitieren davon, die Mitarbeitenden algorithmisch zu des gesellschaftlichen Zusammenlebens, das im Silicon steuern und gleichzeitig keine soziale und arbeitsrecht- Valley als alternativlos gilt. liche Verantwortung für sie übernehmen zu müssen. So erstaunt es nicht, dass die Unternehmen vor der Ab- Flexibilisierte Arbeit breitet sich aus stimmung drohten, sich bei einer Ablehnung aus Kali- Die «Proposition 22» ist also nicht bloss ein Gesetz fornien zurückzuziehen, weil ihnen ohne das neue Ge- in einem einzelnen Bundesstaat. Sie läutet womöglich setz ein «irreparabler Schaden» zugefügt würde. eine neue Ära ein. Immerhin gehen Schätzungen davon Besonders frappant: Die Firmen schrieben das Ge- aus, dass 36 Prozent der Arbeitenden in den USA in der setz gleich selber mit und erreichten, dass eine nach- Gig-Economy tätig sind. Gleichzeitig stülpen die Unter- trägliche Änderung fast unmöglich wird. Um es abzu- nehmen ihre eigene Vision der Arbeit dem Rest der Ge- wandeln, wäre eine Mehrheit von sieben Achteln nötig sellschaft über. Bereits träumen Investoren von Uber – eine bisher noch nie da gewesene Hürde. So zeigten öffentlich davon, wie die Gig-Economy bald in allen die Gig-Economy-Unternehmen eindrücklich, wie sehr möglichen Arbeitsbereichen Einzug halten könnte: in sie der Politik und der Gesellschaft bereits ihren Stem- der Landwirtschaft, im Unterricht, auf Baustellen, in der pel aufdrücken können. Pflege, im Finanzbereich oder in Restaurants. Sie wür- 4 moneta 3— 2021 GIG-ECONOMY
Kleinstadt Bessemer, Alabama. Im dortigen Versand- zentrum stimmte am Ende eine Mehrheit der Ange- stellten gegen die Bildung einer Gewerkschaft. Wie Uber und Co. bei der «Proposition 22» setzte Amazon auch in Bessemer auf Einschüchterung und die blanke Macht des eigenen Kapitals. Teure Beraterinnen und Berater wurden eingestellt, Angestellte mussten an Informationsanlässen teilnehmen und wurden dort darauf eingeschworen, gegen das Vorhaben zu stimmen. Es ist auch bekannt, dass der zweitgrösste Arbeitgeber der USA die eigene Belegschaft rund um die Uhr digital überwacht – eine Tatsache, die die freie Meinungsäus- serung nicht fördert. Da Arbeitende in Plattformunternehmen wie Uber und Co. nicht als Angestellte gelten, ist ihre gewerk- schaftliche Organisation zusätzlich erschwert. Ihre Ver- handlungsmacht ist entsprechend gering, sodass die Gig-Economy-Unternehmen sie schlicht ignorieren können. So schreibt das Gig Workers Collective im Nachgang der Abstimmung in Kalifornien: «Unsere Or- ganisation war immer schon unkonventionell, da wir nicht als Angestellte gelten und nicht über den rechtli- chen Schutz verfügen, um uns gewerkschaftlich zu or- ganisieren. Trotzdem haben wir einen Weg gefunden, den am liebsten das Zeitalter der geregelten Arbeit be- die Macht der Arbeitenden aufzubauen und uns zur enden. Die mit der Gig-Economy verbundenen Arbeits- Wehr zu setzen.» Immerhin mussten Uber und Co. eine und Abstimmungskämpfe sind deshalb auch über die Rekordsumme in Propaganda stecken, um ihre Interes- Grenzen des Silicon Valley hinaus von grösster Relevanz, sen an der Urne durchzusetzen. gilt doch die Gig-Economy als «Labor der flexibilisier- ten und digitalisierten Arbeit». Bereits kündigten erste Niedergang der Demokratie? Supermärkte und Unternehmen an, ihre eigenen Liefer- Solche Beispiele zeigen, wie sich die Gewerkschaften dienste durch «Selbständige» zu ersetzen. Das Narrativ und Arbeitenden in den USA in einer hoffnungslosen ist dabei altbekannt: Man wolle «einen effizienteren Zwickmühle befinden. Sie können sich entweder auf Ablauf schaffen». Auch für die Politik hat die «Proposi- den schweren und wenig aussichtsreichen Kampf gegen tion 22» Signalwirkung: Bereits werden ähnliche Geset- Gesetze wie die «Proposition 22» einsetzen. Oder sie ze in anderen Bundesstaaten aufgegleist. Die Lobbyis- können mit den Unternehmen kooperieren und einen ten der Gig-Economy haben auch beste Verbindungen Kompromiss akzeptieren, um Schlimmeres zu verhin- zur Regierung von Joe Biden, der eigentlich versprach, dern. Nach dem durchschlagenden Erfolg der «Proposi- Arbeitende in der Gig-Economy besser zu schützen. tion 22» sind immer mehr Gewerkschaften bereit, den zweiten Weg einzuschlagen und das System der Gig- Gewerkschaftliche Organisation kaum möglich Economy nicht mehr anzugreifen, um kleine Verbesse- Der Kampf gegen diese Entwicklungen erweist sich rungen wie eine Gesundheitsvorsorge zu erkämpfen. in den USA als besonders schwierig. Gewerkschaften Die «Proposition 22» zeigt auch, wie die Player der haben dort seit jeher einen schweren Stand: Das «union Gig-Economy mit Angstmacherei und Erpressung ihre busting» – die systematische Bekämpfung und Zerstö- eigene Denkweise durchsetzen und damit die demokra- rung von Gewerkschaften – wurde in den USA quasi er- tische Macht untergraben können. Die Organisation funden. Techkonzerne wie Amazon oder Google wehren Gig Workers Rising schreibt gar, dass die Unternehmen sich vehement gegen die gewerkschaftliche Organisa die Bevölkerung gezielt hinters Licht geführt hätten: tion von Arbeitenden und bemühen sich, jegliche Ver- «Der Erfolg der ‹Proposition 22› ist eine Niederlage für suche im Keim zu ersticken. Im April scheiterte zum unsere Demokratie, welche die Tür für andere Versuche Beispiel eine wegweisende und medial beachtete Kam- von Konzernen öffnet, ihre eigenen Gesetze zu schrei- pagne zur Gewerkschaftsbildung bei Amazon in der ben.» • GIG-ECONOMY moneta 3— 2021 5
Genf kämpft gegen die «Uberisierung» Als erster Kanton verpflichtet Genf Plattformunternehmen wie Uber und Eat.ch dazu, ihre «scheinselbständigen» Taxifahrerinnen und Essenskuriere anzustellen. Doch Uber leistet Widerstand und will seine eigenen Spielregeln durchsetzen. Die Gewerkschaften krempeln die Ärmel hoch und eröffnen die Debatte auf nationaler Ebene. Text: Muriel Raemy «Ich bin müde», sagt ein Fahrer, den ich während der Re- cherche für diesen Artikel in Genf traf. Er warte immer noch: «Es hat sich nichts geändert, ich habe immer noch keinen Vertrag. Die 25 Prozent, die Uber zurückbehält, sind viel zu viel. Die Arbeit ist ein Verlustgeschäft. Aber was kann ich schon tun?» Er wird auf den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts warten müssen, der dieses Jahr fallen soll. Ein Blick zurück auf eine mehrstufige Auseinander- setzung, die zunächst nur den Essenslieferdienst und seit 2015. Das US -Unternehmen meldete Anfang 2021 später auch den Personenfahrdienst von Uber betraf: mehr als 3000 aktive Fahrerinnen und Fahrer in der Im Juni 2019 zwangen die Genfer Behörden Uber Eats Schweiz. Diese Zahl scheint nicht riesig, doch das Bun- und seine Konkurrenten wie Eat.ch dazu, «sich an das desamt für Statistik (BfS) berechnete für das Jahr 2019, Gesetz zu halten» und ihre selbständigen Kurierinnen dass 0,1 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung über und Kuriere anzustellen. Während die anderen Anbieter eine Plattform Taxidienstleistungen anbietet. Der pro- die Vorgaben akzeptierten, legte Uber Eats Rekurs ein. zentuale Anteil jener, die Kurierdienste erbringen, wird Im Juni 2020 unterlag das Unternehmen vor dem kanto- vom BfS nicht separat ausgewiesen; zusammen mit nalen Verwaltungsgericht und legte danach Beschwerde jenen Erwerbstätigen, die über eine Plattform weite- beim Bundesverwaltungsgericht ein. Im Dezember des- re Dienstleistungen wie Programmierung, Hausarbeit selben Jahres verpflichtete der Kanton Genf Uber dazu, oder Übersetzung erbringen, machen sie 0,3 Prozent der auch den Arbeitnehmerstatus seiner Taxifahrerinnen erwerbstätigen Bevölkerung aus. Für die Folgejahre und -fahrer anzuerkennen. Doch auch dagegen leistete stellte das BfS eine zunehmende Tendenz fest. das US -amerikanische Unternehmen Widerstand. Juristischer Erfolg auch in Grossbritannien Die Kosten tragen die Fahrerinnen und Fahrer Die Gewerkschaften wiesen schon früh auf die Män- Die Frage, ob die Uber-Fahrerinnen und -Fahrer nun gel im System hin, die zu prekären Arbeitsbedingun- selbständig oder unselbständig seien, beschäftigt die gen führen: zu tiefe Pauschalentlöhnung, unbezahlte Gewerkschaften seit den Anfängen des multinationalen Standzeiten, weder Sozialversicherungen noch bezahlte Unternehmens aus San Francisco im Jahr 2009. «Sie Ferien. Der Entscheid des Kantons Genf ist daher ein sind ganz klar Angestellte. Ihr Status ist in unserer Ge- Meilenstein: «Wir haben bezüglich Art der Zusammen- setzgebung schon lange definiert», stellt Umberto Ban- arbeit eine Schlacht gewonnen. Die Fahrerinnen und diera ohne Zögern klar; bis vor kurzem war er Gewerk- Fahrer sind jetzt als Angestellte anerkannt», so Martin schaftssekretär für Transport und Logistik bei Unia Malinovski, Gewerkschaftssekretär bei der SIT, der in- Genf. «Diese Plattformunternehmen behalten einen terprofessionellen Gewerkschaft Genf. grossen Prozentsatz der Einnahmen für die Fahrten Auch in Grossbritannien waren die neuen Arbeits- oder Kurierdienste ein. Doch alle Unterhaltskosten für modelle der Gig-Economy kürzlich Gegenstand eines das Auto oder Velo sowie die Sozialversicherungsbeiträ- Gerichtsurteils. Uber muss die 70 000 britischen Fahre- ge und weitere Auslagen gehen zulasten der Fahrerin- rinnen und Fahrer nun als Angestellte behandeln. Sie nen und Fahrer. Diese müssen geschützt und diese Art haben ein Anrecht auf den Mindestlohn und bezahlte von Unternehmen muss reglementiert werden – und Ferien und können in die Pensionskasse einzahlen. Für zwar dringend!» die Unia und die SIT deckt sich dieses Urteil mit jenem Bandiera übernahm das Dossier, als Uber 2014 anfing, des Kantons Genf und stellt klar, dass sich Uber und Taxidienste in Genf anzubieten. In Zürich ist Uber seit andere Plattformunternehmen den Gegebenheiten des 2013 auf dem Markt, in Basel seit 2014 und in Lausanne Landes anpassen müssen, in dem sie tätig sind. Die Ge- 6 moneta 3— 2021 GIG-ECONOMY
verständlich, sagt Umberto Bandiera, weshalb man die- sen Unternehmen uneingeschränkt die Macht überlas- se, undemokratische Spielregeln aufzustellen: «Wenn man die Unternehmen geschäften lässt, wie sie wollen, dann gibt es Marktverzerrungen. Wir beobachten eine starke Zunahme der Nachfrage nach Hauslieferungen. Es ist höchste Zeit, eine Tätigkeit, die von mehreren Tausend Menschen in der Schweiz ausgeübt wird, an- ständig zu regeln.» Der Druck steigt denn auch: Unter- nehmen wie Smood, Eat.ch und Updelivery machen Uber Eats Konkurrenz und sichern sich Anteile an die- sem Markt, der dank der Pandemie ein starkes Wachs- tum verzeichnet. Neustes Beispiel: Die Migros ist mit der Firma Smood, an der sie seit 2019 beteiligt ist, eine Zusam- menarbeit eingegangen. Smood verspricht eine Heim- lieferung der Lebensmittel innerhalb von 45 Minuten werkschaften sind überzeugt, dass es in der Schweiz ab Bestellung. Bei shop.migros.ch, dem Online-Shop auch auf nationaler Ebene früher oder später zu Ände- der Migros, sind es 24 Stunden. Die vom «orangen Rie- rungen kommt. sen» für den eigenen Online-Shop beschäftigten Fahre rinnen und Fahrer profitieren von denselben Anstel- Das Gesetz des Stärkeren lungsbedingungen wie alle Migros-Mitarbeitenden. In der Zwischenzeit ist aus Sicht von Umberto Ban- Bei Smood hingegen sind die Bedingungen prekär. diera die Intervention der Kantone entscheidend. Doch diese haben unterschiedliche Sichtweisen, und der Ein neues Kapitel im Kapitalismus Bund ist mit der Regulierung der stark wachsenden Laut Umberto Bandiera zahlen bei diesen Modellen Plattformwirtschaft ziemlich im Rückstand. «Dieser ausser dem Plattformbetreiber alle Beteiligten einen Ist-Zustand ist illegal. Er wird von unseren Behörden höheren Preis: «Alle verlieren: die Kundinnen und geduldet, der Staat kommt seiner Aufsichtspflicht nicht Kunden, die einen höheren Endpreis zahlen; das Res- nach. In Bezug auf Genf bin ich nach wie vor optimis- taurant beziehungsweise der Geschäftspartner, dessen tisch, doch im Rest der Schweiz passiert nichts», sagt Marge vom Anbieter der Plattform aufgefressen wird; Bandiera. die Kurierfahrerinnen und -fahrer, die nach allen Abzü- In Genf haben die internationalen Unternehmen ihr gen einen Hungerlohn verdienen», klagt er an. Geschäftsmodell angepasst, um weiterhin im Kanton Dennoch trifft diese Art von Tätigkeit auf eine ech- tätig sein zu dürfen. Doch wie sieht das in Tat und Wahr- te Nachfrage seitens der Arbeitnehmenden. Bei einer heit aus? Einige umgehen das Problem, indem sie die Fahrt mit einem zweiten Uber-Fahrer in der Agglome- Fahrerinnen und Fahrer durch eine Drittfirma rekrutie- ration Genf erzählt dieser, dass die über die App vermit- ren lassen. «Wir haben keinerlei Kontrolle. Die Kurier- telten Fahrten sein einziges Einkommen bilden. Er ist dienste gelten rechtlich als Personalverleih, und diese über den Druck, den Genf auf Uber ausübt, höchst ver- dürfen die Personalrekrutierung nicht an andere Ge- ärgert, denn er hat kein Interesse daran, dass sich seine sellschaften outsourcen. Trotzdem wird es gemacht. Arbeitsbedingungen verkomplizieren oder – schlim- Die Gesamtarbeitsverträge des Hotel- und Gastgewer- mer noch – dass er seine Dienste nicht mehr anbieten bes, die auch die Lieferdienste regeln, werden zurzeit darf. «Die Personen, die mit den Plattformen zusam- nicht eingehalten, der Mindestlohn erst recht nicht. menarbeiten, sind Einzelkämpfer. Es ist schwierig, sie Diese Unternehmen machen, was sie wollen!», ärgert zu erreichen und sie dabei zu unterstützen, ihre Rechte sich Martin Malinovski. einzufordern – oder ihnen nur schon aufzuzeigen, wor- auf sie sich eingelassen haben», stellt Bandiera fest. Für den Gewerkschafter stellt dieser arbeitsrechtli- « Der Entscheid des Kantons Genf ist ein Meilenstein. che Rückschritt – die «Uberisierung» – ein neues Kapi- Die Fahrerinnen und Fahrer sind jetzt als Angestellte tel im Kapitalismus dar. Und dieses ist noch nicht fertig anerkannt. » geschrieben: Die starke Zunahme der Online-Plattfor- men und die Flexibilisierung der Arbeit werden nach und nach alle Formen der Beschäftigung und alle Beru- fe betreffen. «Das Signal, das von Genf ausgesendet Arbeitsbedingungen wie im 19. Jahrhundert wurde, muss gehört werden. Wir kämpfen für eine Zu- Die Gewerkschaften prangern an, dass die neuen kunft der Arbeit, in der sich technischer Fortschritt und Plattformtechnologien den Unternehmen ermöglichen, sozialer Schutz nicht gegenseitig ausschliessen, wie das Arbeitsbedingungen durchzusetzen, wie sie zur Zeit der heute der Fall ist.» ersten industriellen Revolution herrschten. Es sei un- Der Ball liegt nun definitiv beim Gesetzgeber. • GIG-ECONOMY moneta 3— 2021 7
Plattformarbeit nimmt auch in der Schweiz zu Gewerkschaften warnen vor einem Prekariat von Gig-Arbeiterinnen und -Arbeitern. Doch harte Zahlen zum Ausmass der neuen Arbeitsform fehlen. Sicher scheint bloss: Sie wächst. Text: Daniel Bütler Hector Garcia* wurde unfreiwillig zum Gig-Worker. Im Der globale Konzern Uber steht für viele Probleme Frühjahr 2020 konnte er wegen der Corona-Pandemie der Gig-Wirtschaft. Wer für eine Gig-Plattform arbeitet, nicht mehr als Fitnesstrainer arbeiten. Deshalb meldete hat in der Regel keinen Arbeitsvertrag, kein fixes Ein- er sich bei der Schweizer Plattform Kork und erhielt so kommen und erhält keine Sozialleistungen. Deswegen Aufträge wie Zügeln oder Autowaschen. Für den 20-Jäh- schlagen Gewerkschaften Alarm. Syndicom, die die rigen ein Glücksfall. Auch heute führt er neben seinem Branchen Medien, Logistik und Grafik abdeckt, sieht ein Hauptjob gelegentlich solche Arbeiten aus: Das sei ein Prekariat von scheinselbständigen Billigarbeiterinnen interessanter Nebenverdienst. und -arbeitern entstehen, auf deren Buckel globale Wie Garcia ist eine Mehrheit von Gig-Workern jung Plattformen hohe Gewinne einfahren. «Mit der nicht und männlich. Von Reinigung über Grafikdesign bis zu regulierten arbeitsrechtlichen Situation können die Software-Entwicklung und juristischen Aufträgen lässt Firmen heute eine Lücke ausnützen», sagt der Ökonom sich heute eine grosse Bandbreite an Dienstleistungen Mathias Binswanger im Interview (siehe Seite 10). Die via Online-Plattform bestellen. Manche werden global Plattformarbeit stellt die Gesellschaft vor neue Fragen. ausgeschrieben und ortsunabhängig von Heimarbei Sind Gig-Worker als Angestellte oder als Selbständige terinnen und -arbeitern an ihrem Laptop ausgeführt, zu betrachten? Braucht es künftig eine obligatorische andere müssen in der Nachbarschaft erledigt werden. Arbeitslosenversicherung für sie? Werden die Einnah- Auch Schweizer Firmen lagern Arbeiten aus. Swisscom men korrekt versteuert? etwa schickt für gewisse Supportarbeiten nicht mehr eigene Mitarbeitende, sondern vermittelt via die Platt- Noch fehlen verlässliche Zahlen form Mila unabhängige Technikerinnen und Techniker. Entstanden ist die neue Arbeitsform mit der Aus- breitung des Internets in den letzten 20 Jahren; in den Firmen profitieren von arbeitsrechtlicher Lücke USA ist sie seit der Finanzkrise von 2008/09 stark ange- Garcia ist nicht der Einzige, der in der Pandemie zum wachsen (siehe Seite 4). Gemäss Syndicom ist die Gig- Gig-Worker wurde. Explodiert ist etwa die Nachfrage Economy auch hierzulande ein wichtiger Wirtschafts- nach Essenslieferungen. Der Lieferservice Uber Eats faktor: Zehn Prozent der Schweizerinnen und Schwei- steigerte laut «Tages-Anzeiger» den Umsatz um 600 Pro- zer sollen regelmässig Plattformarbeit leisten (siehe zent. Ob die Gig-Ökonomie wegen Corona insgesamt Box). Für 135 000 Personen sei dies die einzige Einkom- gewachsen ist, ist aber unklar. In vielen Branchen brach mensquelle. Die Schätzungen des Bundesamts für Sta- *Namen der Umsatz ein. tistik (BfS) sind aber viel tiefer: Bloss 0,4 Prozent aller geändert 8 moneta 3— 2021 GIG-ECONOMY
Schweizerinnen leisteten 2019 gemäss BfS internetba- trotzdem ein positives Fazit: «Ich konnte in den Bereich sierte Plattformarbeit; die grosse Mehrheit verdiente Korrekturlesen einsteigen, habe viel gelernt, und die Ar- damit unter 1000 Franken pro Jahr. Dass sich die Zahlen beit fand ich spannend.» so stark unterscheiden, dürfte unter anderem daran lie- gen, dass das Phänomen nicht klar definiert ist. Im en- Gig-Worker besser schützen geren Sinn bedeutet Gig-Economy, auch Crowdwork ge- Für Schweizerinnen und Schweizer ist Plattformar- nannt, dass die Arbeitskräfte nur pro Auftrag («Gig», beit meist ein Nebenerwerb: Laut Jan Marco Leimeister wie es in der Musik heisst) bezahlt werden und die Ver- von der Uni St. Gallen sind das «Dritt- bis Fünftjobs», mittlung über eine Online-Plattform stattfindet. die «als einfach verfügbarer Zuverdienst dienen oder Auch global weichen die Schätzungen zur Gig-Eco- Abwechslung zu anderen Tätigkeiten bieten». Doch für nomy stark voneinander ab. Laut der Internationalen manche Personen mit kleinen Arbeitspensen, etwa Stu- Arbeitsorganisation ( ILO ), die sich auf verschiedene dierende, dürfte Crowdwork der Haupterwerb sein. Und Studien und Angaben von Statistikdiensten bezieht, ha- für viele der Tausenden von Uber-Taxifahrern wichtig ben zwischen 0,3 und 22 Prozent der erwachsenen Welt- zur Existenzsicherung – neben einer gering bezahlten bevölkerung schon Plattformarbeit geleistet. Gemäss Hauptarbeit. Für gewisse gering Qualifizierte dürfte zu- OECD beschäftigen Plattformen zwischen 1 und 3 Pro- dem die Arbeit für den Velokurierdienst Uber Eats die zent aller Arbeitskräfte weltweit. In den USA sollen laut einzige Möglichkeit überhaupt sein, Geld zu verdienen. diversen Quellen bis zu 30 Prozent der Arbeitskräfte Auch wenn es nur 10 Franken pro Stunde sind. Gig-Worker sein – wobei unklar ist, ob hier nicht nur Manchmal können die Auftragnehmenden den Gig-Worker im engen Sinn, sondern alle selbständig Tä- Lohn selber steuern. Bei der Plattform Kork kann man tigen miteingerechnet werden. Unabhängig vom ge- Offerten auf die Aufträge abgeben. Hector Garcia sagt, nauen Ausmass: Einig ist man sich in Fachkreisen, dass die Kundinnen und Kunden würden neben dem Preis Plattformarbeit am Zunehmen ist. Im Zeitalter der digi- auch andere Kriterien berücksichtigen, den Zuschlag er- talen Heimarbeit gewinnt sie an Attraktivität. halte nicht unbedingt der günstigste Anbieter oder die günstigste Anbieterin. Er selber verdiene 30 bis 40 Fran- Tiefstlöhne – für Schweizer Verhältnisse ken pro Stunde. Gig-Arbeit ist oft schlecht bezahlt. Das liegt unter Um eine faire Bezahlung breit durchzusetzen, for- anderem daran, dass hinter den Vermittlungsplattfor- dert Syndicom einen besseren Schutz für Gig-Worker. men Firmen stehen, die sich an einem internationalen Dazu seien neue Regeln und Gesetze notwendig. Platt- Lohnniveau orientieren. Über Freelancer.com oder Up- formen sollen mittels Zertifikat garantieren, dass sie work.com schreiben sie Arbeiten global aus. Das hat rechtliche und soziale Mindeststandards einhalten. Die nicht nur Nachteile: Was in der Schweiz ein Dumping- Gewerkschaft geht davon aus, dass die Gig-Economy honorar ist, ist in Indien vielleicht eine gute Bezahlung. stark zulegen wird. Doch für die Schweiz sei das mo- Auch Seraina Schmid* hat für eine internationale mentan unwahrscheinlich, sagt Jens Meissner, der an Plattform gearbeitet. Die 46-Jährige zog für einige Mo- der Hochschule Luzern zum Thema New Work forscht: nate ins Ausland und suchte einen Nebenverdienst. «Solche Prophezeiungen haben sich bisher nicht be- Fündig wurde sie bei Scribbr: Die Plattform mit Sitz wahrheitet.» Die Pandemie habe die Plattformarbeit in den Niederlanden bietet Lektoratsarbeiten an. «Ver- vielleicht begünstigt, aber es würden keine Kerntätig- sprochen waren 25 Euro Stundenlohn, doch bei meinen keiten ausgelagert. «Dafür eignen sich nur stark stan- Aufträgen kam ich auf keine 10 Euro», erzählt Schmid. dardisierte Arbeiten», sagt Meissner. Zudem würden Eine 15-seitige wissenschaftliche Arbeit sei mit 35 Euro Arbeitssuchende, zumindest solche im Bereich qualifi- entlöhnt worden. Bald habe sie gemerkt, dass sich das zierter Arbeit, kaum aus Not zu Gig-Workern. «In der nicht rechne, und die Arbeit beendet. «Für eine Schwei- Schweiz gibt es genügend gute Arbeit, und nach wie vor zerin sind solche Ansätze ein Tiefstlohn», sagt Schmid. herrscht quasi Vollbeschäftigung und Fachkräfteman- «Doch in anderen Ländern kann das in Ordnung sein, gel.» In anderen Ländern könne Gig-Work attraktiv besonders für geübte Korrekturleserinnen.» Sie zieht sein, weil es an fair bezahlter Arbeit fehle. • Junge haben mehrere Gig-Jobs 2017 nahmen in der Schweiz Gig-Arbeit gesucht, 18 % min- dieser Umfrage machten: Die dem eigenen Gerät, Be 2000 Personen zwischen 16 und destens einmal geleistet, und Hälfte von ihnen sind weniger sorgungen für andere Leute, 70 Jahren an einer Internetum- 10 % arbeiten jede Woche über als 34 Jahre alt, drei Viertel jün- Haushalt, Putzen, Fahr- frage teil, die in verschiedenen eine Plattform. Für 135 000 Per- ger als 44. Gut 50 % sind Voll- und Lieferdienste, Design, europäischen Ländern unter sonen ist dies die einzige Ein- zeit beschäftigt, gut 20 % Teil- redaktionelle Arbeiten, der Leitung der Universität kommensquelle. Aufgrund zeit (und üben die Gig-Arbeit Software-Entwicklung, Hertfordshire durchgeführt der schwachen Datenbasis sind daneben als Zusatzjob aus). Übersetzungen, juristische wurde. Laut Hochrechnung der diese Zahlen nicht wissen- Je 5 % sind Pensionierte und Dienstleistungen und Schweizer Umfrageergebnisse schaftlich fundiert. Aussage- Studierende. Die meisten üben Buchhaltung. auf die gesamte erwerbstätige kräftiger sind weitere Angaben, mehr als eine T ätigkeit aus: Bevölkerung haben 32 % schon die die Gig-Arbeitenden in Computerarbeiten auf GIG-ECONOMY moneta 3— 2021 9
« Man muss eine neue Art von Absicherung finden » Selbständige waren noch nie gegen Arbeitslosigkeit versichert. Prekarisiert die Gig-Economy sie nun zusätzlich? Ja, sagt der Ökonom Mathias Binswanger. Er arbeitet an einer Lösung. Interview: Esther Banz moneta: Mathias Binswanger, Sie forschen Und was bedeutet es, wenn sich die wirtschaft hauptsächlich zu Wachstum und Glück. Jetzt liche Lage verschlechtert? befassen Sie sich mit der sozialen Absiche- Dass man eine neue Art von Versicherung oder von Ab rung von Selbständigen, Freischaffenden und sicherung finden muss, weil sonst zu viele Menschen aus sogenannten Gig-Arbeitenden. Warum? dem bestehenden Sozialversicherungssystem heraus Mathias Binswanger Die Gewerkschaft Syndicom hat ein fallen. Eine andere Möglichkeit wäre, die Unternehmen zu Forschungsteam an der Fachhochschule Nordwestschweiz zwingen, die Arbeitnehmenden wieder traditionell an damit beauftragt, ein funktionierendes Modell für eine zustellen. Mit der nicht regulierten arbeitsrechtlichen Arbeitslosenversicherung für Selbständige und Freischaf- Situation der Selbständigen können die Firmen heute eine fende zu entwickeln. Syndicom vertritt die Interessen von Lücke ausnützen: Sie müssen nicht die gleichen Sozial Grafikerinnen, Fotografen und Journalistinnen – Berufs- leistungen erbringen wie in den andern, regulierten Berei- gruppen, deren Arbeitsplatzsicherheit schon länger chen der Wirtschaft. Diese Lücken versucht man jetzt abnimmt. Die Plattformökonomie schafft jetzt zusätzlich zu schliessen. Der Vorschlag, den wir derzeit erarbeiten, neue Realitäten. zielt darauf ab. Inwiefern? In diesen Berufen werden Leute zunehmend nicht mehr fest angestellt, sondern nur noch punktuell beigezogen. In der Pandemie zeigte sich, dass die fehlende Arbeitslosenversicherung ( ALV ) für Freischaffen- de und Selbständige ein grosses Problem ist. Seit 1977 sind die Angestellten bei uns obligato- risch gegen Arbeitslosigkeit versichert – warum die Selbständigen nicht? Ein Selbständiger ist traditionell ein Unternehmer, der ein unternehmerisches Risiko eingeht – was man im Normal- fall nur tut, wenn man eine gewisse Erwartung hat, erfolg- reich zu sein. Ist man mit diesem System bisher gut gefahren? Insgesamt schon. In der Schweiz gibt es ganz viele kleine Unternehmen, die KMU. Lange Zeit lief die Wirtschaft so gut und die Arbeitslosenquote war so tief, dass Firmen- gründer und -gründerinnen schnell wieder eine An stellung fanden, wenn es mit dem eigenen Unternehmen nicht klappte. 10 moneta 3— 2021 GIG-ECONOMY
Foto: zvg Geht Ihr Vorschlag in Richtung ALV-Obligato Hätten die Gewerkschaften die Entwicklung, dass rium für Selbständige? sich immer mehr Menschen selbständig machen Ja. Aber er sieht nicht vor, dass Unternehmer ebenfalls ALV und nicht mehr arbeitslosenversichert sind, nicht einzahlen müssen. Ein Grossteil der Unternehmen in der vorhersehen müssen? Schweiz ist erfolgreich, auch Kleinunternehmen. Da stellt Die Gewerkschaften sind zum Teil immer noch im Denken sich das Problem gar nicht. Auch sind Unternehmens der Industriearbeit verhaftet, fixiert auf traditionelle Ar- Mathias Binswanger konkurse in einem gewissen Mass normal. Es geht viel- beitsverhältnisse und das Stundendenken: Da kämpft man ist Professor für Volkswirt- mehr darum, das Loch wieder zu schliessen, das sich jetzt für eine Reduktion der Wochenarbeitszeit und für den schaftslehre an der Fachhoch- schule Nordwestschweiz in bildet, weil sich immer mehr Leute selbständig machen. Erhalt des Rentenalters. Syndicom sucht jetzt als erste Ge- Olten und Privatdozent an der Im Fokus stehen jene, die vielleicht zwei Jahre erfolgreich werkschaft nach Mitteln gegen die Prekarisierung Universität St. Gallen. Zu sind und dann vorübergehend nicht mehr. Ohne Ver Selbständiger und Freischaffender, weil «ihre» Berufe be- seinen Forschungsschwer- punkten zählen Makroökono- sicherung sind sie gezwungen, in Konkurs zu gehen und sonders betroffen sind. Angesichts des Szenarios, dass mie, Finanzmarkttheorie, Um- mit viel Mühe wieder etwas Neues aufzubauen. Das die Gig-Ökonomie die Honorare in absehbarer Zeit zusätz- weltökonomie, Glück und von uns entwickelte Modell soll ihnen ermöglichen, eine lich unter Druck setzen wird, hat die Frage der besseren Einkommen sowie Wachstum. Er ist Autor der Bestseller schwierige Zeit zu überbrücken. sozialen Absicherung an Dringlichkeit zugenommen. «Die Tretmühlen des Glücks» (2006), «Sinnlose Wettbe- Damit sie nicht wegen einer Baisse aufhören Syndicom geht von einem Anstieg der Gig- werbe» (2010) und «Der Wachstumszwang» (2019). müssen? Economy-Arbeitsverhältnisse aus. Was begüns- Der gebürtige St. Galler zählt Genau. Phasen, in denen es weniger gut läuft, sind normal, tigt eine solche Entwicklung? zu den einflussreichsten Öko- auch wegen wirtschaftlicher Schwankungen und unvorher- Die ökonomische Lage: Wenn die Wirtschaft sehr gut läuft, nomen der Schweiz. www.mathias-binswanger.ch sehbarer Situationen wie der Corona-Pandemie, in denen sind typischerweise wenige Leute selbständig, weil man Aufträge ausbleiben. Unser neues Versicherungsmodell ist genügend relativ gut bezahlte Jobs findet; also nimmt aber nicht so gedacht, dass man drei Jahre davon profitie- man das Risiko der Selbständigkeit gar nicht erst auf sich. ren könnte. Die Leistung soll zeitlich begrenzt sein. Wenn die Wirtschaft schlechter läuft, sind mehr Leute gezwungen oder wenigstens bereit, selbständig zu arbei- Das ist ja auch bei der ALV so. Wären auch ten. Sie sagen sich: Dann versuche ich es halt selber. die Beiträge vergleichbar? Heute bieten Online-Plattformen vermeintlich einfache Ja. Aber die neue Versicherung ist komplexer und flexibler und bessere Möglichkeiten, sich zu vermarkten. angedacht. Wir haben sie als eine Art Guthaben konzipiert, das man anspart und in schlechten Zeiten anzapfen kann. Auf einer Gig-Plattform bot kürzlich ein Texter Wenn es wieder besser läuft, soll man wieder einzahlen seine Dienste für 8.50 Franken die Stunde an. können. Es ist wie eine Mischung aus Pensionskasse und Bedeuten diese Plattformen das Ende existenz direkter Versicherung. Wichtig ist, keine Fehlanreize ent- sichernder Löhne? stehen zu lassen. Das haben Sie wohl auf einer internationalen Plattform gesehen. Dort offerieren auch Leute aus Billiglohnländern Worin würden diese bestehen? ihre Leistungen. Häufig sind die Honorare aus diesem Wenn es darauf hinauslaufen würde, dass die einen nur Grund so tief. Ausserdem gibt es auch hierzulande Leute, einzahlen und die andern nur beziehen. für die die Arbeit via Plattformvermittlung nur ein Zusatz- verdienst ist. Fliessen in Ihren Vorschlag bereits Überlegun- gen hinsichtlich der politischen Mehrheits Deshalb spielt es für sie keine Rolle, wenn fähigkeit ein? die Honorare tief sind? In gewisser Weise ja. Es macht keinen Sinn, etwas zu ent- Ja. Die Höhe des Stundenansatzes ist für eine Person, die wickeln, von dem man von vornherein weiss, dass es abge- bereits ein Einkommen respektive eine Rente hat oder de- lehnt wird. ren Partner gut verdient, weniger relevant. Das wirkt sich freilich auf den Markt aus und setzt jene unter Druck, die Welche Argumente sprechen dagegen, die auf ein existenzsicherndes Einkommen angewiesen sind. Lücke jetzt zu schliessen und die soziale Absicherung jener, die sonst durch die Maschen Müsste die Politik nicht ein dringliches Inter fallen, zu verbessern? esse daran haben, diese Entwicklung zu korrigie- Es fallen zusätzliche Kosten an. Jene Selbständigen, die ren? Wer sich keine ausreichende Vorsorge an jetzt erfolgreich sind, werden vielleicht gar keine Lust sparen oder erben kann, wird im Alter mit grosser haben, sich zu versichern; denn dies würde sie allenfalls Wahrscheinlichkeit auf Ergänzungsleistungen dazu zwingen, teurer zu offerieren, und dadurch könnten angewiesen sein. ihnen Aufträge abhandenkommen. Man muss auch Es ist tatsächlich ein nicht diskutiertes Thema, dass immer genau schauen, wie es im Ausland aussieht. Wenn sich mehr Menschen Ergänzungsleistungen brauchen. Inzwi- die Leistungen hier verteuern, aber im Ausland billig schen schieben alle politischen Kräfte das Rentenproblem bleiben, weil dort die Regulierungen fehlen, haben wir vor sich her, weil die Fronten komplett verhärtet sind. auch ein Problem. Klar ist, dass es so nicht weitergehen kann. GIG-ECONOMY moneta 3— 2021 11
››› In einem Beitrag im Syndicom-Magazin schrei- Sie forschen ja seit längerem zu Glück und ben Sie, dass es immer mehr neue Arbeitsformen Lebenszufriedenheit: Welche Bedeutung gebe und dies eine Herausforderung für die hat die Arbeitsplatzsicherheit für das Wohl ALV sei. Inwiefern? befinden der Menschen? Ich meinte damit das System der Arbeitslosenversiche- Sie ist ein ganz zentraler Aspekt unserer Lebensqualität. rung: Wenn immer weniger Menschen versichert sind, Die Schweiz hat hier im Vergleich mit anderen Län- kommt auch weniger Geld herein, um die Leistungen zu dern sehr hohe Werte. Die Mehrheit der Menschen in bezahlen. Die ALV wird von Arbeitnehmern und Ar- der Schweiz muss nicht damit rechnen, demnächst beitgebern zu gleichen Teilen finanziert. So wäre es auch den Arbeitsplatz zu verlieren. Wenn doch, beeinflusst beim Modell gedacht, das wir Syndicom vorschlagen. das die Lebenszufriedenheit negativ. Und was würde es ganz allgemein für ein Land edeuten, wenn künftig immer weniger Men- b « Das von uns entwickelte Modell soll Selbständigen schen gegen Arbeitslosigkeit versichert wären? ermöglichen, eine schwierige Zeit zu überbrücken. » Quasi ein Rückfall in eine Zeit, in der man noch ganz viele kleine Unternehmer hatte, die nicht versichert waren. Man sieht dies heute noch in den Entwicklungsländern: Ganz viele Leute arbeiten im informellen Sektor und sind nicht In Ihrem letzten, 2019 erschienenen Buch abgesichert. So war das früher auch bei uns. geht es um Wachstum. Was beschäftigte Sie dabei konkret? Die Schweiz zurück auf Niveau Entwicklungsland, Die Frage, wieso Wirtschaften nur mit Wachstum funktio- was die Absicherung bei Arbeitslosigkeit betrifft – niert, und welche Konsequenzen das mit sich bringt, würde da nicht unser ganzes Sozialversicherungs- wo das hinführt und wie sich das Wirtschaftssystem wei- system ins Wanken geraten? terentwickelt. Grundsätzlich ja. Im Moment weisen die Daten noch nicht auf eine grosse Gefahr hin. Aber es ist an der Zeit, die in- Kann man Sie als wachstumskritisch bezeichnen? ternationale Entwicklung der Gig-Economy zu beobachten Ich sehe Wachstum ambivalent. Lange Zeit herrschten und Massnahmen zu überlegen. die Vorteile vor, jetzt beginnen in den hoch entwickelten Ländern die Nachteile zu dominieren. Das Wachstum Syndicom schlägt auch eine Zertifizierung produziert Kollateralschäden, vor allem in der Umwelt, der Gig-Plattformen vor. Was halten Sie davon? und die Menschen werden nicht mehr glücklicher oder Ich weiss es noch nicht. Man will sicherstellen, dass die zufriedener mit zunehmendem Wohlstand. Wir treiben das Plattformen gewisse Mindestanforderungen einhalten. System nicht mehr mit unseren Bedürfnissen an, sondern Aber wir haben bereits so viele Zertifikate. Und ich habe das System treibt uns an. Wir sind gezwungen, weiterzu- Zweifel daran, dass wir alle Probleme damit lösen können. machen, auch wenn wir gar nicht mehr wissen, warum und wozu. • Gerade die Internationalisierung der Arbeit, wie sie die Gig-Plattformen ermöglichen, machen eine Regulierung wahrscheinlich um ein Vielfaches komplexer. Selbständig und freischaffend: dasselbe? Ja. International hat sich noch nichts etabliert. Auch die Begriffe rund um die Gig-Arbeit sind noch nicht exakt Die Sozialversicherungen AHV Freie Mitarbeitende wieder- definiert, und wir kennen keine verlässlichen Zahlen. Des- (Alters- und Hinterlassenen um sind – gemäss Bundesge- halb haben wir schlicht keine Ahnung, wie viele Menschen versicherung), IV (Invaliden- richt – weder eindeutig zur sich mit dem Modell, das wir jetzt entwickeln, versichern versicherung) und EO Definition der Arbeitnehmen- lassen würden. (Erwerbsersatzordnung) un- den noch den Selbständigen terscheiden zwischen zuzurechnen. Auf Deutsch Auf der Suche nach einem versicherungstechnisch Unselbständigerwerbenden werden sie oft als Freelancer, dritten Weg – zwischen angestellt und selb (Angestellten) und Selb Freischaffende, Freiberufler ständig – fischen Sie und Ihre Kolleginnen und ständigerwerbenden. oder eben als freie «Mit Kollegen also ein Stück weit im Trüben? arbeiter» bezeichnet. Free- Ja. Aber nur indem man die Herausforderung genau an- Als sozialversicherungsrecht- lance-Tätigkeiten kommen schaut, kann man sie auch verstehen und Lösungen lich selbständigerwerbend in vielen Schattierungen vor. dafür finden. Man muss die Karten auf den Tisch legen gelten Personen, die unter und einen Vorschlag machen. Dann sieht man, ob die eigenem Namen und auf eige- Leute eine solche Versicherung überhaupt wollen. Oder ne Rechnung arbeiten sowie was sie daran stört und welche Anpassungen es braucht. in unabhängiger Stellung sind Man muss mit etwas anfangen. und ihr eigenes wirtschaft liches Risiko tragen. 12 moneta 3— 2021 GIG-ECONOMY
Selbständig – und trotzdem angestellt Die Westschweizer Genossenschaft Neonomia ermöglicht selbständigen Erwerbstätigen, ihr eigenes Unternehmen zu führen und gleich zeitig von den Sozialleistungen zu profitieren, die normalerweise Angestellten vorbehalten sind. Ein Modell mit Zukunft? Text: Muriel Raemy Selbständig und angestellt sind zwei berufli- ternehmerinnen und Unternehmer müssen also ledig- che Status, die sich traditionellerweise gegen- lich Rechnungen verschicken, um alles andere küm- überstehen; sie zu vereinen, ist keine leichte mert sich die Genossenschaft. Aufgabe. «Wir sind das einzige Unternehmen Auch wenn das Schweizer Obligationenrecht keine dieser Art in der Westschweiz, vielleicht sogar das angestellten Unternehmerinnen und Unternehmer einzige in der Schweiz», sagt Yann Bernardinelli, vorsieht, entspricht der Arbeitsvertrag von Neonomia Wissenschaftsjournalist, Mitgründer und Präsident einem solchen Verhältnis. Für selbständig Erwerbstäti- von Neonomia. In der berufsübergreifenden Ge ge kann dies eine grosse Verbesserung sein, gerade in nossenschaft sind Menschen aus unterschiedlichen Krisenzeiten: «Bevor ich vor zwei Jahren zu Neonomia Branchen vertreten, ausgenommen sind Hotellerie stiess, hatte ich keine Erwerbsausfallversicherung und und Gastronomie, der Bausektor und das Gesundheits- keine zweite Säule. Meine Kollegen und ich erhielten wesen. Wer an einem Beitritt interessiert ist, muss eine sogar schon ab dem ersten Lockdown Kurzarbeitsent- selbständige Erwerbstätigkeit nachweisen und die schädigung», sagt Jo-Anne Jones Lütjens, Redaktorin, Charta von Neonomia für eine sozialere, solidarischere Übersetzerin und Produzentin von Kulturveranstaltun- und nachhaltigere Wirtschaft unterzeichnen. Die Char- gen. Mittlerweile zählt Neonomia 25 Genossenschafts- ta hält fest, dass Genossenschaftsmitglieder ethische mitglieder. Projekte entwickeln sollen (sowohl in sozialer wie in ökologischer Hinsicht), und bestimmt weiter, dass sie Das Modell lässt sich gut verbreiten so weit wie möglich Kundinnen und Geschäftspartner Risiken auf mehrere Personen verteilen, unangeneh- vermeiden sollen, deren Aktivitäten diesen Werten wi- me Aufgaben bündeln und damit Lust auf eine selb- dersprechen. ständige Tätigkeit machen: Neonomia stellt ein Labor für neue Arbeitsformen dar. Yann Bernardinelli ist Eine grosse Erleichterung für Selbständige davon überzeugt, dass sich das Modell kopieren lässt – Neonomia ging aus einem Pilotprojekt des Netz- sofern die Bedingungen den Bedürfnissen der verschie- werks für eine soziale und solidarische Wirtschaft Genf denen Branchen angepasst werden. Trotzdem betont er, hervor und wurde 2016 gegründet. Finanziell am Pilot- dass ein politischer Impuls willkommen wäre. «Als projekt beteiligt war auch die Stadt Genf, die damit Genossenschaftsmitglieder leiten wir Neonomia auf den Status von angestellten Unternehmerinnen und ehrenamtlicher Basis, was sehr viel Zeit und Energie Unternehmern testen wollte. Die Idee dazu stammt ur- kostet. In Anbetracht unseres gemeinnützigen Status sprünglich von französischen Genossenschaften, die könnte eine externe Unterstützung, zum Beispiel durch seit über 30 Jahren existieren und im französischen Ar- ein bedingungsloses Grundeinkommen, dazu beitragen, beitsrecht verankert sind. eine Schlüsselposition in unserer Struktur zu profes Das Prinzip: Die Unternehmerinnen und Unterneh- sionalisieren und das Modell zu verbreiten.» Der Präsi- mer unterschreiben mit Neonomia einen Arbeitsver- dent von Neonomia hofft, eine kritische Masse von et- trag. Sie rechnen ihre Leistungen über die Genossen- wa 50 Genossenschafterinnen und Genossenschaftern schaft ab und erhalten nach Abzug der Sozial- und zu erreichen, um zu beweisen, dass dieses Modell den Versicherungsabgaben ihren Lohn. Ein Teil des Umsat- Unternehmergeist stärkt. «Plattformen wie Uber stel- zes – zwischen sieben und zehn Prozent – wird als Bei- len keine existenzfähige Lösung für unternehmerische trag an die Betriebskosten einbehalten. Darunter fallen Tätigkeiten dar. Wir erfinden unsere Arbeitsbedingun- die Buchhaltung, Verwaltungsaufgaben, Beratung oder gen neu, um ein Einkommen und ein nachhaltiges wirt- die Miete des Co-Working-Space. Die angestellten Un- schaftliches Umfeld zu sichern.» • www.neonomia.ch GIG-ECONOMY moneta 3— 2021 13
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