Franz Schubert Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

Die Seite wird erstellt Timo Schilling
 
WEITER LESEN
Sonntag, 14. November 2021
                                                                    15.03 – 17.00 Uhr

                   Franz Schubert
     Die Musikserie von Christine Lemke-Matwey

                         Herzenskammermusik:
                    Wie Schubert uns berührt (20/21)
Der Titel der heutigen Folge ist doppeldeutig: „Herzenskammermusik“ heißt er. Das
lässt sich entweder als „Herzens-Kammermusik“ lesen und sprechen, als Kammer-
musik, die zu Herzen geht, oder als „Herzenskammer-Musik“, als Musik, die aus dem
Herzen spricht, aus der (linken oder rechten) Herzkammer. Sie sehen, der Begriff
schillert, er lässt vieles offen und zu. Willkommen zu zwei Stunden über die nicht
weniger schillernde Frage, wie Schubert uns berührt. Ja, wie eigentlich?

 1    Orfeo            Franz Schubert                                             3‘36
      LC 08175         Sonate B-Dur op. posth. D 960
      C 706 061 B      Nr. 3 Scherzo: Allegro vivace con delicatezza
      Track 10         Clara Haskil, Klavier
                       (1957, Salzburger Festspiele)

Die große rumänische Pianistin Clara Haskil, hier in einer Live-Aufnahme von den
Salzburger Festspielen 1957, mit dem Scherzo aus Schuberts später B-Dur Sonate.
Von Schubert hat Haskil überhaupt nur die späten Sonaten gespielt und am aller-
liebsten und häufigsten diese hier. Wozu sich mit Vorläufigerem abgeben, schien sie
sich zu sagen, wenn es die letzten Dinge sind in der Musik, die zu Herzen gehen. Und
Schuberts B-Dur Sonate geht zu Herzen, auch der zwischen Haydn und Mendels-
sohn changierende Gestus. Wie sich da mittendrin ein paar Trio-Takte ducken, wie
um das Ganze zu erden, wie um zu sagen: hier walten noch andere Prinzipien,
andere Kräfte. Wegrennen, sich dem Schicksal an den Hals werfen, nützt nichts –
das lässt tief blicken. Nicht nur in Schuberts Musik, sondern auch in die menschliche
Seele. Mit Schuberts Musik in die menschliche Seele.

Über Clara Haskils Aura gibt es viele zeitgenössische Berichte, der schönste stammt
von der russischen Pianistin Tatjana Nikolajewa, die nach Salzburg reiste, um
Karajan zu hören und im selben Konzert auf Haskil traf, eine gebeugte, „hexen-
hafte“ Person mit zerzausten Haaren. „Als Haskil aber die Hände auf die Tasten
legte, liefen mir Tränen über das Gesicht“, schreibt Nikolajewa. Noch bevor Haskil
also einen Ton gespielt hatte, war die Atmosphäre so dicht, dass alle Musik darin
geborgen zu sein schien, aufgehoben. Ist es dann eigentlich noch wichtig, was
Franz Schubert – 20. Folge                 Seite 2 von 8

gespielt wird? Natürlich. Denn die Atmosphäre ist ja voll von Mozart, voll von Schu-
bert, sie speist sich immer aus dem, was da kommt, aus den Gedanken und dem
Versunkensein der Interpretin.
Pathetische Persönlichkeiten sind heute rar. Die Hektik des modernen Lebens nivel-
liert, schleift Ecken und Kanten ab, der Markt legt fest, was Erfolg verspricht und
sich verkaufen lässt. Das mag grundsätzlich bedauerlich sein. Für Schubert – lassen
Sie mich diese These wagen – heißt es nicht viel. Denn Schubert ist, bei aller Zer-
brechlichkeit, nicht zerstörbar. Wie jede große Musik. Das Schlimmste, was passie-
ren kann, ist, dass sich das eine oder andere in seiner Schlichtheit vielleicht etwas
belanglos anhört und man sich fragt, was an dieser Musik so toll sein soll. Toll ist die
Stille, in die hinein Schubert seine Melodien oft stellt; toll ist ihre Einfachheit, eben
ihre Schlichtheit, weil sie ganz direkt Emotionen aus- und anspricht und keinen
artistischen Überbau braucht. Der allwissende Künstler ist Schubert fremd, er sitzt
– im übertragenen Sinn – immer mehr unten im Parkett, bei den Zuhörern, den Men-
schen, als oben auf der Bühne, im Scheinwerferlicht.

Und das tut künstlerisch jetzt auch der israelische Pianist Amir Katz, bei dem man
gut heraushört, was für ein famoser Liedbegleiter er ist. Das Impromptu Nr. 3 in B-
Dur aus der zweiten Sammlung D 935.

 2   ORFEO                Franz Schubert                                                  11‘50
     LC 08175             Impromptus op. 142 D 935
     C 898 151 A          Nr. 3 B-Dur
     Track 7              Amir Katz, Klavier
                          (2016)

Schuberts viel geliebte Rosamunde-Musik, hier in Form eines lyrischen Klavier-
stücks: Eine Aufnahme von 2016 war das. Mit kristallinem, hoch beredtem Anschlag
spielte Amir Katz das Impromptu in B-Dur op. 142,3. Fünf Variationen sind das über
ein liedhaftes Thema, Variationen, die alle Winkel der menschlichen Seele ausleuch-
ten. Mal verspielt, mal virtuos, mal leidenschaftlich und düster wie in der b-Moll
Variation, der dritten. Es gibt ja die Theorie, dass die vier Impromptus op. 142 die
vier Sätze einer Sonate sind, und dass Schubert sie seinem Verleger Tobias Haslin-
ger aus Geldgründen schließlich doch einzeln angeboten hat, eben als Impromptus.
Robert Schumann hat das als erster so gesehen, das B-Dur-Impromptu freilich stand
aber quer zu dieser Idee: dieses sei doch ein seltsamer Fremdkörper.

Fremdkörpergefühle begegnen einem bei Schubert oft: sei es, dass er formal expe-
rimentiert, im Bemühen, den traditionellen Sonatensatz für seine Zwecke geschmei-
dig zu machen; sei es, dass er das harmonische Denken und Fühlen revolutioniert,
indem er die Terz aufwertet und die Dominante entmachtet, das klassische Span-
nungsverhältnis also zwischen der ersten und fünften harmonischen Stufe.

Dies alles hören wir heute nicht mehr: in den knapp 200 Jahren nach Schubert
haben unsere Ohren buchstäblich zu viel erlebt, um noch so fein wahrzunehmen.
Uns fehlt die Differenzerfahrung, und man muss viel Mühe und Konzentration auf-
wenden, um sie wiederherzustellen, durch Vergleiche zwischen Schubert und
Beethoven zum Beispiel. Wir hören also nicht mehr, wie unerhört Schubert vorgeht,

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                          www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                 Seite 3 von 8

aber wir spüren es. Davon bin ich überzeugt. Wir spüren seine Zweifel, die Getrie-
benheit und Unsicherheit, mit der er Neuland betritt – und sehen darin unsere
eigene Unsicherheit und Getriebenheit. Auch deshalb ist Schubert dem 21. Jahrhun-
dert so nah.

Geradezu schlagende Beispiele für das Nicht-Hören im Hören liefern Schuberts
Messe-Vertonungen. Wer ist heute auch mit der katholischen Liturgie und Literatur
so vertraut, dass er Abweichungen, Disproportionen oder Kürzungen sofort erken-
nen würde? Schuberts Zeitgenossen sind vertraut mit dieser Konvention – und fei-
ern seine Es-Dur Messe, als sie 1829, ein knappes Jahr nach Schuberts Tod, im
Wiener Alsergrund uraufgeführt wird. Vielleicht ist die Begeisterung ja auch deshalb
so groß, weil Schubert im Credo das Bekenntnis zur „katholischen und apostoli-
schen“ Kirche nicht komponiert. Das tut er in keiner seiner Messen. Er glaubt an den
Glauben – an die Kirche als Institution glaubt er nicht. Das dürfte uns auch heute
wohl vertraut sein. Dass man sich zur Metaphysik auch so auf großartige Weise
bekennen kann, das hören wir jetzt.

Das Credo aus der Nr. 6 in Es-Dur D 950. Es singen Genia Kühmeier, Christa
Mayer, Timothy Robinson, Oliver Ringelhahn und Matthew Rose sowie der Staats-
opernchor Dresden, es musiziert die Staatskapelle Dresden, die Leitung hat
Charles Mackerras.

 3   Carus               Franz Schubert                                                   14‘49
     LC 03989            Messe Nr. 6 Es-Dur D 950
     83.249              Credo
     Tr. 6-8             Staatsopernchor Dresden
                         Staatskapelle Dresden
                         Ltg.: Charles Mackerras
                         (2008)

Der längste Satz aus Schuberts später Es-Dur Messe, das Credo – mit einer der
längsten Fugen der klassisch-romantischen Messkompositionen überhaupt: 224
Takte auf „et vitam venturi saeculi“, die finale Frage nach dem ewigen Leben. Wir
hörten eine Aufnahme von 2008 mit der Dresdner Staatskapelle und dem Staats-
opernchor Dresden unter Charles Mackerras, die Gesangssolisten waren Genia
Kühmeier, Christa Mayer, Timothy Robinson, Oliver Ringelhahn und Matthew Rose.
Noch als die Messe 1865 im Druck erscheint, setzt es dafür harsche Kritik. Mangeln-
den Respekt vor der Konvention wirft man Schubert post mortem vor und vor allem:
zu wenig liturgischen Gebrauchswert und viel zu viel Konzertanmutung. In unserer
säkularisierten Welt fällt dieser Vorwurf natürlich weniger ins Gewicht.

Mit dem ewigen Leben hat Schubert sich sehr viel weniger beschäftigt als mit dem
Tod. Das folgende Lied gehört für mich in diesem Sinne zu seinen allerschönsten:
„Das Zügenglöcklein“ von 1825, nach einem Gedicht von Johann Gabriel Seidl. Die
Zügenglocke wird in manchen Regionen heute noch geläutet, wenn ein Mensch
gestorben ist. Schubert lässt sie im Diskant des Klaviers durch alle fünf Strophen
des Liedes klingen. Fast lullt einen der rhythmische Gleichmut ein, wie bei einem
Wiegenlied, als wäre alles behütet und alles im Lot. Das Thema aber ist der Tod, der

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                          www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                 Seite 4 von 8

entscheidende Schritt über die Schwelle hinaus in die andere Welt, das Abgeholt-
werden aus einem noch nicht fertig gelebten Leben.

 4   Hyperion          Franz Schubert                                                       4’37
     LC 56801          „Das Zügenglöcklein“ D 871
     J33011            Brigitte Fassbaender, Mezzosopran
     Track 10          Graham Johnson, Klavier
                       (1990)

Brigitte Fassbaender und Graham Johnson mit dem „Zügenglöcklein“ D 871. Mit
wem identifiziert sich Schubert hier wohl? Mit dem „Müden“, den die Brüder haben
verwaisen lassen, oder mit dem „Frohen“, der in Liebe und Freundschaft lebt? Die
Interpretation, die wir gehört haben, neigt eher dem Müden, Einsamen zu, würde
ich denken. Wobei die Ambivalenz, die sich hier auftut, dass man es nicht genau
weiß, etwas sehr Schuberttypisches ist. Und zugleich etwas sehr Modernes. Schu-
berts Musik kennt kaum Differenzen zwischen den beiden Strophen – außer dass
das Forte des Schlusses bitter klingen könnte, trotzig, ja empört darüber, dass oft
eben nicht die Müden abberufen werden, die sich danach sehnen, sondern die Glück-
lichen und Frohen. Das Faszinierende an Schubert ist, dass die größten Widersprü-
che bei ihm mit kleinen Rückungen in ein musikalisches Kleid passen, ohne dass es
jemals erzwungen oder aufgesetzt wirkt. Das hat etwas ebenso Tröstliches wie auch
Trügerisches.

Eine ganz ähnliche Spannung findet sich in seinem B-Dur Klaviertrio, dem jüngeren
von zwei Trios, entstanden im Herbst 1827. Auf Anhieb wirkt dieses Stück heiter,
fast sorglos. Schon die schiere Länge aber verheißt, dass das nicht alles sein kann:
Wir sprechen hier von einer durchschnittlichen Aufführungsdauer 35 bis 40 Minu-
ten! Schubert braucht diese Dimension, um zwei Prinzipien seines Spätstils auf die
Spitze treiben zu können: zum einen seine sich zwar aussingen wollenden, aber nie-
mals aussingen könnenden Melodien. Eben jene „himmlischen Längen“, von denen
Robert Schumann im Blick auf die Große C-Dur Sinfonie sprach, die „verschwende-
rische Wiederholungsfülle“, die Kritiker ihm gerne zur Last legen. Das zweite Prinzip
besteht in einer Art der Durchführung, die nicht an der Entwicklung als Weiterent-
wicklung interessiert ist, an einer Beethovenschen Synthese, sondern mehr an
einem Mäandern, einem harmonischen sich Verströmen der Musik bis in die kleins-
ten Verästelungen und entlegensten Winkel hinein. Beides zusammen schafft eine
Unübersichtlichkeit, die gewollt ist. Für Schubert ist die Welt diverser als für
Beethoven (um bei diesem Vergleich zu bleiben), und er tritt nicht an, sie hierar-
chisch neu zu ordnen.

Hören Sie, was gleich im Kopfsatz des Trios passiert, wie dort immer neue Steige-
rungen immer neue Pausen und Zusammenbrüche provozieren. Erst Forte, dann
Fortissimo und schließlich sogar, in der Coda, dreifaches Fortissimo – was bei Schu-
bert extrem selten vorkommt. Welche Kräfte sind hier im Spiel, fragt man sich? Wer
kämpft gegen wen oder was? Das Individuum mit der Gesellschaft, mit Gott – oder
mit sich selbst?

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                          www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                 Seite 5 von 8

Allegro moderato, der erste Satz aus Schuberts Klaviertrio in B-Dur op. 99. Es spielt
das Oliver Schnyder Trio.

 5   RCA                  Franz Schubert                                                  14‘25
     LC 00316             Klaviertrio B-Dur op. 99 D 898
     88765443442          1. Allegro moderato
     Tr. 201              Oliver Schnyder Trio
                          (2011)

Etwas Sisyphosartiges haftet dieser Musik an, eine Vergeblichkeit, die nicht nur des-
halb berührt, weil man sie als Hörerin oder als Hörer von sich selber kennt, sondern
auch, weil sie so unverdrießlich munter daherkommt. Was bleibt, ist der Gesang,
sagt Schubert, über alle Widrigkeiten hinweg. Sie hörten den ersten Satz aus
Schuberts B-Dur Klaviertrio, es spielte das Oliver Schnyder Trio.

Interessant wird dieses Singen im langsamen Satz, einem Andante un poco mosso
(einem etwas bewegten Andante). Interessant, weil Schubert hier sich selbst zitiert,
und zwar nicht motivisch-thematisch, sondern strukturell. Das melancholische
Thema wird vom Cello vorgestellt, dann von der Geige übernommen und schließlich
vom Klavier weitermoduliert. Für ein Klaviertrio mag das unspektakulär klingen;
wenn man aber bedenkt, dass Schubert exakt die gleiche Vorgehensweise schon
einmal praktiziert hat, in seinem Oktett, dann könnte hinter dieser Satz-Eröffnung
auch ein Nachdenken über die eigenen Erfolgsstrategien stecken. Das Oktett war
der Versuch, es Beethovens außerordentlich populärem Septett gleichzutun, daran
erinnert sich Schubert hier. Und übertrifft sich an Schlichtheit, an Innigkeit fast
selbst. Das zweite Thema ist dann zwar etwas bewegter, un poco mosso, im Konzert
der drei Stimmen aber überwiegt auch hier die Melancholie.

Das junge Leipziger Trio Marvin: der zweite Satz aus dem B-Dur Trio D 898.

 6   Konzertaufnahme             Franz Schubert                                             7‘55
     LC 00000                    Klaviertrio B-Dur op. 99 D 898
     BR                          2. Andante un poco mosso
                                 Trio Marvin
                                 (2018)

Das Andante un poco mosso aus Schuberts Trio in B-Dur op. 99. Das erste Thema
dieses Satzes übrigens taucht später noch zweimal auf: im Agnus Dei der Es-Dur
Messe und im „Schwanengesang“, in der Heine-Vertonung „Der Doppelgänger“.
Schubert entwickelt ein eigenes musikalisches Vokabular, wenn man so will, das er
in verschiedenen Kontexten ausprobiert, mit dem er experimentiert. Und von man-
chen seiner Eingebungen und Melodien ist er offenbar so begeistert, dass er sie
einfach mehrfach verwenden muss.

Die Aufnahme, die wir gehört haben, stammt vom ARD-Wettbewerb 2018, gespielt
hat das Leipziger Trio Marvin, ausgesprochen junge Musiker also. Das ist eine
Beobachtung, die ich öfter mache: Wie gerne gerade junge Menschen Schubert spie-
len und singen, oft stehen sie mit ihm an der Schwelle zu einer größeren Karriere.

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                          www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                  Seite 6 von 8

Warum ist das so, was in seiner Musik berührt sie so besonders? Die Jugend, um es
kurz zu machen. Als Schubert stirbt, ist er 31 Jahre alt. Gemessen an der durch-
schnittlichen Lebenserwartung der Zeit ist das zwar weniger dramatisch früh, als
man heute meinen könnte, aber auch keinesfalls ein langes Leben. Zum Vergleich:
Sein Malerfreund Moritz von Schwind wird 67 Jahre alt, Schober sogar stolze 86.

Was immer Schubert also komponiert: Es ist junge Musik. Junge Musik, die existen-
zielle Fragen stellt, weil sie früh in den Schatten des Todes gerät. Als junge Schu-
bert-Interpretin oder junger Schubert-Interpret sieht man sich demnach zwar mit
„letzten Dingen“ konfrontiert, hat aber nie das Gefühl einer altmeisterlichen Über-
forderung. Bei Bachs wohltemperiertem Klavier oder den späten Beethoven-
Streichquartetten heißt ja es gern: Das sei etwas für reife, erfahrene Musiker, daran
wage man sich lieber nicht zu früh. Für Schubert gilt nun nicht gerade das Gegenteil,
im Sinne eines „je früher desto besser“; natürlich braucht es eine gewisse intellek-
tuelle Schärfe, um die Komplexität seines Streichquintetts zu erfassen oder die Hin-
tergründigkeit der „Wandererfantasie“. Die Jugendlichkeit des Komponisten aber
schafft Allianzen, die man bei Komponisten vor ihm (die auch nicht alt geworden
sind) so nicht kennt. Das biedermeierliche Ich spricht anders zu den Menschen als
das klassische.

Dabei gibt es von Schubert auch wirklich junge Musik, also jung im Sinne von uner-
fahren oder sogar ungelenk. Dazu zählt – um beim Klaviertrio zu bleiben – ein
„Sonatensatz“ in B-Dur vom Sommer 1812. Schubert ist 15, als er ihn schreibt und
hat dabei ein gewichtiges Vorbild im Ohr: Mozart, den Kopfsatz aus dessen B-Dur
Klaviertrio KV 502. Das Spannende ist, dass er diesem Vorbild zwar folgt, thema-
tisch und bis in einzelne Proportionen hinein; gleichzeitig aber setzt Schubert sich
mit fast generöser Geste über viele Konventionen hinweg. Als wollte er sagen: seht
her, was ich mich traue, was ich kann! Das nennt man jugendlichen Wagemut und
Überschwang. Und den hört man auch.

Auf historischen Instrumenten: das italienische Trio La Gaia Scienza mit der Sonate
in B-Dur für Klavier, Violine und Violoncello D 28.

 7   Tudor                Franz Schubert                                                   10‘33
     Winter&Winter        Sonate B-Dur für Klavier, Violine und Violoncello
     LC 02829             D 28
     910 006-2            La Gaia Scienza
     Track 5              (1998)

Sind das nicht herrliche Juchzer und Jauchzer in der Geige? Federica Valli, Stefano
Barneschi und Paolo Beschi waren das, das Ensemble La Gaia Scienza, mit Schu-
berts frühem Sonatensatz in B-Dur für Klavier, Violine und Violoncello.

Die Frage, wie Schubert uns berührt, richtet sich immer in besonderer Weise an
seine Kunstmusik. Und das heißt: weniger an seine geistlichen Kompositionen, so
diese eine Funktion haben und erfüllen – und am allerwenigsten an die so genannte

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                           www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                 Seite 7 von 8

Unterhaltungs- oder Gesellschaftsmusik. Denn die ist per se dem Gebrauch ver-
pflichtet und einem konkreten Zweck. Tänze werden geschrieben und gespielt,
damit man sich amüsiert, und Vokalquartette sind auch deshalb so populär, weil sie
so vielfältig einsetzbar sind. Außerdem singt man im frühen 19. Jahrhundert einfach
gern. Beide Genres setzen das Kollektiv voraus, eine Gemeinschaft, die aktiv werden
will. Das ist im bürgerlichen Konzert anders. Da geht es zwar auch ums gemein-
schaftliche Erleben, man versammelt sich an bestimmten Orten, in einem festgeleg-
ten Rahmen; aber doch mehr passiv. Und je größer die Räume werden, desto stärker
vereinzelt sich das Erleben. Wie Schubert uns berührt, lässt sich letztlich also
schwer sagen. Wie er Sie berührt oder mich, das könnten wir gelegentlich in einem
Gespräch klären, immerhin.

Ich finde ja, Schuberts Vokalquartette, vor allem die a cappella gesungenen, haben
oft etwas Rührendes. Gerade weil uns die Welt der Pfänderspiele und Scharaden, in
die sie gehören, so fremd ist. Zwei frühe Quartette nach Schiller, „Ein jugendlicher
Maienschwung“ und „Frisch atmet des Morgens lebendiger Hauch“. Es singen die
Singphoniker.

 8   cpo                  Franz Schubert                                                    3‘50
     LC 08492             „Ein jugendlicher Maienschwung“ D 61
     999 398-2            „Frisch atmet des Morgens lebendiger Hauch“ D 67
     Track 10 + 19        Die Singphoniker
                          (1996)

Da hatte der junge Schubert offenbar eine Schiller-Phase: 13 Vokalquartette nach
Schiller komponiert er zwischen Frühjahr und Herbst 1813. Daraus hörten wir zwei
Lieder, gesungen haben die wunderbaren Singphoniker.

In der Literatur liest man bisweilen, dass Schubert immer nach einem poetischen
Programm komponiert habe. Bei Liedern, mehrstimmigen oder einstimmigen, ist
das klar, da ist der Text das Programm. In der absoluten Musik ist das schwieriger –
da Schubert es ja nicht macht wie später Gustav Mahler, der Programme aufsetzt,
die er nach der Komposition wieder tilgt. Das heißt, zweimal macht er das schon, in
der „Forelle“ und in „Der Tod und das Mädchen“, beide sind erst Lieder und werden
dann zu Kammermusik, und den Text als Programm hört man sicher auch mit, wenn
die Worte fehlen. Das innere Programm einer Musik kann aber auch eine Widmung
sein, eine Zueignung, die von Anfang an mit komponiert wird. Schubert ist kein gro-
ßer Widmungsschreiber, mit ein paar strategischen Ausnahmen, wenn er sich von
den Widmungsträgern Aufträge oder Geld erhoffte. Etwas anders verhält es sich bei
seiner f-Moll Fantasie für Klavier zu vier Händen, die zwischen Januar und März
1828 entsteht, also in seinem Todesjahr. Schubert bietet sie dem Schott-Verlag in
Mainz an und schreibt oben auf die Partitur: „Der Comtesse Caroline Esterhazy
gewidmet“. Caroline, seine Klavierschülerin seit zwei Sommern auf Schloss Zelisz,
Caroline, die unerreichbar ferne Geliebte, Caroline, der „ohnehin alles“ in seiner
Musik gewidmet ist, wie der Komponist ihr einmal gesteht. „Schubert scheint im
Ernst in die Comtesse E. verliebt. Mir gefällt das von ihm. Er gibt ihr Lektion“, notiert
Eduard von Bauernfeld in sein Tagebuch. Doch was sagt die Fantasie selbst? Die
Vierhändigkeit beschwört zunächst das gemeinsame Sitzen am Klavier, das Lernen,
Musizieren und Konzertieren, die körperliche Nähe. In dem Moment aber, in dem die

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                          www.rbb-online.de/rbbkultur/
Franz Schubert – 20. Folge                  Seite 8 von 8

Musik anhebt, ist es mit der Idylle und den Träumen vorbei. Schon die Tonart f-Moll,
verheißt Übles: In einer zeitgenössischen Tonartencharakteristik steht sie für „tiefe
Schwermuth, Leichenklage, Jammergeächz und grabverlangende Sehnsucht“.

Das muss man nicht wörtlich nehmen, f-Moll aber ist eine bewusste Entscheidung,
Schubert will damit etwas sagen. Vielleicht will er hier wirklich seine Liebe begraben
und es nicht nur die Widmungsträgerin wissen lassen, sondern alle, seine Hörer, uns.
Das Leben als Programm, auch das berührt bei Schubert auf eine besondere, sozu-
sagen durchlässige Weise. Und zwar nicht nur, weil man unwillkürlich bei sich selbst
nach Parallelen sucht – wer hätte noch keine unglückliche Liebe erlebt? –, sondern
auch, weil Schubert das Leben zu einer so großartigen Kunst verdichtet. Die f-Moll
Fantasie mag viel Schwärze kennen, viel düstere Leidenschaft und pochende Resig-
nation – dass es sie gibt, hebt uns ein Stück über uns selbst hinaus.

Die Fantasie f-Moll D 940 für Klavier zu vier Händen. Es spielen Maria João Pires
und Hüseyin Sermet.

 9   ERATO             Franz Schubert                                                      18‘46
     LC 00200          Fantasie f-Moll D 940 für Klavier zu vier Händen
     10718-2           Maria João Pires, Klavier
     Tr. 001-003       Hüseyin Sermet, Klavier
                       (1987)

Was soll man nach dieser Musik noch sagen? Am besten nichts oder nicht viel. Die
Fantasie in f-Moll für Klavier zu vier Händen D 940 war das, ein Gipfel- und Schlüs-
selwerk des späten Schubert. Gespielt haben Maria João Pires und Hüseyin Sermet.
Damit geht die heutige Folge unserer Sendereihe über Franz Schubert zu Ende.
Nächsten Sonntag werde ich mich mit Schuberts weit verstreutem Nachlass
beschäftigen – ein echter Krimi, wenn man bedenkt, dass zu seinen Lebzeiten über-
haupt nur zehn Prozent seiner Kompositionen im Druck erschienen sind. Ich bin
Christine Lemke-Matwey, genießen Sie den Abend!

©      Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb)                           www.rbb-online.de/rbbkultur/
Sie können auch lesen