Frauen bewegen Landwirtschaft - Veränderte Rollenbilder von Frauen in landwirtschaftlichen Familienbetrieben von Veronika Grossenbacher ...
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Der kritische Agrarbericht 2019 Frauen bewegen Landwirtschaft Veränderte Rollenbilder von Frauen in landwirtschaftlichen Familienbetrieben von Veronika Grossenbacher Der Umbruch in der Landwirtschaft im globalen Kontext stellt Frauen – und mit ihnen die Männer– auf ihren Höfen zunehmend vor widersprüchliche Herausforderungen hinsichtlich Partnerschaft, Familie und Betrieb. Wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderungen weichen traditionelle Rol- lenvorstellungen sowie die Arbeitsteilung in Familie und Betrieb auf. Die Rollen von Frauen auf den landwirtschaftlichen Betrieben werden vielseitiger und vielfältiger – und damit anspruchsvoller. Für Frauen besteht die Herausforderung in der Vereinbarkeit dieses »Zugewinns« mit partnerschaft- lichen Rollenvorstellungen, Quantität und Qualität ihrer Arbeit sowie der individuellen Leistbarkeit im beruflichen wie privaten Alltag. Der nachfolgende Beitrag geht diesen Veränderungsprozessen weiblicher Lebens- und Arbeitsrealitäten nach, unter anderem anhand von Selbst- und Fremdzu- weisungen, wie sie sich im Sprach- und Begriffsgebrauch niederschlagen. Setzt man sich mit der Rolle von Frauen in landwirt- tin war damals noch nicht im Sprachgebrauch. In mei- schaftlichen Familienbetrieben auseinander, bedarf es nem Lehrabschlusszeugnis steht zwar: »Der Inhaber zunächst einer Begriffsklärung, bevor die verschiede- ist berechtigt, den Titel ›Landwirt‹ zu führen.« Land- nen Rollen mit all ihren Erwartungen und Zuweisun- wirt war jedoch der Begriff, den man nur in schrift- gen beschrieben werden. Wenn wir eine Annäherung licher Form verwendet hat. Die Landwirtin gab es of- an die unterschiedlichen Begriffsverständnisse und fiziell noch gar nicht. In meinem schweizerischen und Identitäten suchen, dann vor allem, damit wir einander süddeutschen Sprachraum pflegte man damals nur richtig verstehen und auch richtig verstanden werden. die Begriffe »Bauer« und »Bäuerin«. Damit waren Be- Dabei geht es nicht um den Versuch einer Vereinheitli- ruf und Rollenbezeichnung gleichermaßen festgelegt. chung von Begriffsverständnissen. Es geht vielmehr um Mit meiner Berufswahl hatte ich mich für einen Beruf die Bewusstmachung des unterschiedlichen Sprach- entschieden, nicht aber für eine Rolle, wie es die weib- und Begriffsgebrauchs von Frauen in der Landwirt- liche Bezeichnung »Bäuerin« assoziierte. Nun, mei- schaft und damit von potenziellen Missverständnissen. nem Umfeld erklärte ich dann einfach, dass ich »Bau- erin« werden würde. »Bäuerin« war ein anderer Beruf Wer bin ich? Was bin ich? und vor allem eine andere Rolle. Ich lernte »Bauerin«! Beschäftigt man/frau sich mit den Identitäten von Betriebsleiterin? Landwirtin? Bäuerin? Mitunterneh- Frauen in der Landwirtschaft im deutschsprachigen merin? Betriebsinhaberin? Landfrau? Hoferbin? Mit- Raum, so stellt man fest, dass sowohl das Selbstver- helfende Familienangehörige? Unternehmerin? Oder, ständnis als auch die Fremdzuweisungen in den un- oder, oder …? terschiedlichen deutschsprachigen Regionen ganz un- Als ich in den 1980er-Jahren eine landwirtschaftli- terschiedlich sind. In Vorbereitung einer Tagung, die che Ausbildung absolviert habe, war ich im landwirt- 2017 in Schwäbisch Hall stattfand (siehe Kasten), frag- schaftlich-dörflichen Umfeld eine noch ungewohnte te ich eine österreichische Agraringenieurin, was sie Exotin. »So, dann wirst Du also Bäuerin«, lautete die beruflich mache. Sie antwortete: »Ich bin Biobäuerin.« Reaktion der Menschen, wenn ich erzählte, dass ich Fragt man im nördlichen Deutschland Frauen, welche eine landwirtschaftliche Ausbildung mache. »Nein«, »über die Liebe« zur Landwirtschaft gekommen sind, sagte ich, und suchte nach einem passenden Begriff ist die Wahrscheinlichkeit verhältnismäßig groß, dass für das, was ich da werden wollte. Landwirt/Landwir- sie antworten: »Ich bin Landwirtin«, auch wenn sie 310
Agrarkultur nen Europas – und so vielfältig sind die Rollen und die Frauen bewegen Landwirtschaft – Namen für Frauen und Männer in der Landwirtschaft. Landwirtschaft bewegt Frauen Es gibt viele ganz unterschiedliche Bereiche, welche den Sprach- und Begriffsgebrauch von Frauen (und Der vorliegende Beitrag geht zurück auf die 3. Interna- Männern) in der Landwirtschaft definieren: tionale deutschsprachige Tagung zum Thema Frauen in der Landwirtschaft, die vom 4. bis 6. April 2017 in ■ Ausbildung und Berufsbezeichnungen definieren Schwäbisch Hall stattfand. Veranstalter waren das vergleichsweise genau, wie man/frau sich nennen Evangelische Bauernwerk in Württemberg und die darf, wie der Beruf lautet. Allein der Alltagssprach- Agrarsoziale Gesellschaft. 165 Frauen – Praktikerinnen, gebrauch sieht manchmal anderes aus. Beraterinnen, Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen ■ Rolle/Status: Der Alltagssprachgebrauch orientiert und Vertreterinnen von Verbänden – aus Österreich, sich überwiegend an der Rolle bzw. am Status der der Schweiz, Südtirol, den Niederlanden und Deutsch- betreffenden Frau auf dem Hof. land trafen sich zum Austausch über Forschungser- ■ Tätigkeit/Arbeit: Ebenso prägt die Tätigkeit bzw. gebnisse und Praxisberichte zu den Rollen von Frauen die Arbeit, die eine Frau auf einem Hof ausübt, den in landwirtschaftlichen Betrieben. Die Tagung bot ein Sprachgebrauch. Forum mit breitem Wissens- und Erfahrungsaustausch ■ Rechtsbereiche/Gesetze: Verschiedene Rechtsbe- für alle jene, die sich in Theorie und Praxis mit Gender- reiche und Gesetze definieren, wer ein Landwirt/ fragen in der Landwirtschaft befassen und sich für die eine Landwirtin ist und wer nicht (z. B. Steuerrecht, Veränderung der Situation von Frauen in der Landwirt- Alterssicherung, Unfallversicherung). Was das eine schaft interessieren. Die Tagung ist dokumentiert in Gesetz als Landwirt/-in definiert, sieht in einem an- dem von Ines Fahning, Veronika Grossenbacher, Tanja deren Gesetz manchmal wieder anders aus. Einheit- Mölders und Brigitte Wotha herausgegebenen Band: liche, rechtsbereichübergreifende Begrifflichkeiten Frauen bewegen Landwirtschaft – Landwirtschaft gibt es nicht. bewegt Frauen Waldenburg-Hohenbuch und Göttingen ■ Erwerbsstatistiken/Agrarberichte pflegen wiederum 2017 (Bezug über: frauentagung2017@hohebuch.de). andere Definitionen. ■ Tradition und Sprachgebrauch eines Landes/einer Region beeinflussen den Begriffsgebrauch stark. nie eine landwirtschaftliche Lehre gemacht haben. Im ■ Lebensgefühl/Lebensweise: Manch ein Begriffsge- Süden Deutschlands liegt man begrifflich irgendwo brauch ist auch Ausdruck eines Lebensgefühls bzw. dazwischen. Eine gelernte oder studierte Landwirtin der Lebens- oder Wirtschaftsweise. bezeichnet sich hier entweder als »Landwirtin« oder ■ Änderungen der Begriffsverständnisse im Lauf der als »Landwirtschaftliche Betriebsleiterin«. Frauen, die Zeit: Wo sich landwirtschaftliche Strukturen ver- über einen Partner (»über die Liebe«) in die Land- ändern, verändern sich auch die Identitäten und wirtschaft gekommen sind und sich im Betrieb mit damit die Bezeichnung von Menschen in der Land- engagieren, verstehen sich eher als Bäuerinnen – das wirtschaft. mittlerweile aber auch nur noch bedingt. Das sind nur einige Beispiele von vielen, die auf- Berufsbezeichnungen von Frauen in Land- zeigen, wie unterschiedlich wir im deutschen Sprach- und Hauswirtschaft raum Bezeichnungen für Frauen in der Landwirt- schaft verwenden. So vielfältig die Landschaften und Die Berufsbezeichnungen von Frauen in Land- und die Mentalitäten, so vielfältig ist auch die Landwirt- Hauswirtschaft im deutschsprachigen Raum unter- schaft in den verschiedenen deutschsprachigen Regio- scheiden sich wie folgt (Tab.1): Tab. 1: Berufsbezeichnungen von Frauen in Land- und Hauswirtschaft im deutschsprachigen Raum Deutschland Schweiz Österreich Südtirol Landwirtschaft Landwirt/-in Landwirt/-in Facharbeiter/-in Fachfrau/-mann Landwirtschaft für Landwirtschaft Hauswirtschaft Ländliche Fachfrau/-mann Facharbeiter/-in länd- Fachkraft für Ernährungs- Hauswirtschafter/-in für Hauswirtschaft liches Betriebs- und Haus- wirtschaft/hauswirtschaft- Diplomierte Bäuerin haltsmanagement liche Dienstleistungen Neu seit 2016: Bäuerinnenschule Südtirol 311
Der kritische Agrarbericht 2019 Tab. 2: Berufs- bzw. Rollenbezeichnungen Deutschland Schweiz Österreich Südtirol Bäuerin • Traditionell: die Frauenrolle in • Traditionell bis Gegenwart: • Frau heiratet in Hof und Frauen in der Landwirtschaft, unabhängig mitarbeitende Frau eines Land- Familie ein der Land- von Eigentumsverhältnissen und wirts • Bäuerin = berufstätige wirtschaft Berufsausbildung • Ausbildung: diplomierte Bäuerin Frau • Heute: mitarbeitende Frau mit Fachausweis eines Landwirts (»B-Rolle«) – im Süden mehr als im Norden Landwirtin • Ausbildungsberuf: Landwirt/-in • Ausbildungsberuf: Landwirt/-in Begriff wird wenig benutzt Nicht • Teilweise Bezeichnung der Frau • Traditionell: nicht gebräuchlich gebräuchlich eines Landwirts (unabhängig • Heute: als Berufsbezeichnung von ihrer Ausbildung) – eher im gebräuchlicher Norden gebräuchlich Betriebs- • Frau, meist mit landwirtschaft- • Frau, die unabhängig von ihrer • Frau, die formal einen Weniger leiterin licher Ausbildung, die einen land- Ausbildung einen landwirt- Betrieb leitet gebräuchlich wirtschaftlichen Betrieb führt und schaftlichen Betrieb führt und • Ca. 40 Prozent Betriebsleite- ihn nach außen vertritt (A-Rolle) ihn nach außen vertritt (A-Rolle) rinnen (sozial und pensions- • Acht Prozent Betriebsleiterinnen rechtliche Überlegungen) In diesen unterschiedlichen Berufsbezeichnungen Darum differenziere ich bei den Mitunternehmerin- sind im Länder und Regionen übergreifenden Dialog nen weitere Rollen. potenzielle »Missverständnisse« bereits angelegt. Das verstärkt sich noch, wenn wir weitere Bezeichnungen Typ I: Landwirtschaftliche Betriebsleiterinnen von Frauen in der Landwirtschaft betrachten. Landwirtschaftliche Betriebsleiterinnen sind Frauen Nachfolgend nähern wir uns exemplarisch den Be- mit meist landwirtschaftlicher Ausbildung, die einen rufs- bzw. Rollenbezeichnungen »Bäuerin«, »Land- landwirtschaftlichen Betrieb führen und nach außen wirtin« und »Betriebsleiterin« an (Tab.2). vertreten, den sie meist im Zuge des innerfamiliären Der Eindruck, den diese tabellarische Gegenüber- Generationenwechsels übernommen haben. Acht bis stellung hinterlässt, täuscht. Denn trotz der aufgezeig- neun Prozent der landwirtschaftlichen Betriebsleiter ten Unterschiede im gängigen Sprachgebrauch lassen in Deutschland sind weiblich. sich die verschiedenen Bezeichnungen von Frauen Die rollenspezifischen Herausforderungen für die- in der Landwirtschaft im deutschsprachigen Raum se Frauen lassen sich folgenden Bereichen zuordnen: kaum einheitlich abgrenzen, nicht einmal innerhalb Konflikte in der Familie, Partnerschaft, Vereinbarkeit eines engeren Sprachraumes. Je nach Perspektive des von Betrieb, Familie und Haushalt, Kraft und Technik Betrachters/der Betrachterin, werden auch innerhalb sowie Wahrnehmung im sozialen Umfeld. Betriebslei- eines Sprachraumes Bezeichnungen von Frauen in der terinnen müssen nach wie vor Vätern, Berufskollegen Landwirtschaft unterschiedlich verwendet. Die Varia- oder ihrem Umfeld »beweisen«, dass sie Landwirt- bilität steigt zudem, wenn man die Zeitdimension mit schaft und Betriebsleitung können, auch wenn in den hinzunimmt: Wo sich Strukturen verändern, wie in letzten 20 bis 30 Jahren hier nicht mehr jede Frau an der Landwirtschaft der letzten Jahrzehnte, verändern allen Fronten kämpfen muss. Kompetente landwirt- sich Identitäten und damit auch der Sprachgebrauch schaftlich ausgebildete Frauen sind heute akzeptierter und mit ihm Deutung und Interpretation landwirt- als noch vor Jahren. schaftlicher Berufs- und Rollenbezeichnungen. Betriebsleiterinnen mit landwirtschaftlichen Part- nern finden sich jedoch nicht selten in einer Konkur- Rolle der Frau im Familienbetrieb renzsituation mit ihren ebenfalls landwirtschaftlich kompetenten Partnern. Wo sie und er klar getrennte Frauen im landwirtschaftlichen Familienbetrieb las- Verantwortungsbereiche haben, ist die Konkurrenz sen sich nicht mehr allein auf die traditionelle Rolle nicht so ausgeprägt, wie dort, wo scheinbar gemein- der eingeheirateten Ehefrau und Mitarbeiterin im sam verantwortet wird. Männer tun sich nach wie Betrieb festlegen. Im Folgenden unterscheide ich vor schwer mit ihren landwirtschaftlich kompetenten zwei Grundtypen von Frauenrollen und ihre spezi- Frauen auf Augenhöhe oder wo gar sie die A-Rolle fischen Herausforderungen: »Landwirtschaftliche und er die B-Rolle innehat. Spätestens mit der Famili- Betriebsleiterinnen« und »Frauen als Mitunterneh- engründung und der Geburt des ersten Kindes finden merinnen«. Die Vielfalt an Rollen ist ungleich größer. sich Betriebsleiterinnen mit Partnern im Betrieb häu- 312
Agrarkultur fig auf einmal in der B-Rolle wieder. Sie haben zwar ten Beruf, zumeist in Teilzeit mit durchschnittlich die Hälfte der beruflichen Welt erobert, ihre Männer einer halben Stelle. Bei einer Ausweitung der Berufs- jedoch nicht die Hälfte der Familien- und Hausarbeit. tätigkeit reduzieren Frauen zwangsläufig die (Mit-) Arbeit im landwirtschaftlichen Betrieb. Eine Heraus- Typ II: Frauen als Mitunternehmerinnen forderung für die betreffenden Frauen besteht jedoch Diese Frauen kommen in erster Linie über die Liebe darin, dass die Reduzierung der betrieblichen Arbeit in die Landwirtschaft. Den weitaus größten Teil der geringer ausfällt als der zeitliche Mehraufwand für die Frauen in der Landwirtschaft führte ihr Weg über externe Berufstätigkeit. die Heirat eines Landwirts auf einen Hof. Sie arbei- ten nach wie vor größtenteils im landwirtschaftlichen Mitunternehmerinnen, die einen eigenständigen Betrieb mit. Wir sprechen hier mehrheitlich von den Betriebszweig aufgebaut haben Frauen, welche man traditionell als »Bäuerinnen« be- Wo Frauen innerbetrieblich eigene Betriebszweige zeichnen würde. Sie übernehmen Aufgaben in Fami- aufgebaut haben, stehen diese vor ähnlichen Heraus- lie, Haushalt, Betrieb und gesellschaftlichem Umfeld. forderungen wie die Frauen, welche neben der be- Die erste Herausforderung, die sich diesen Frauen trieblichen Arbeit noch außerbetrieblicher Beschäfti- stellt, ist es, auf dem Hof und in der Familie ihren Platz gung nachgehen. Eine florierende Direktvermarktung, und ihre Rolle zu finden, wo sie auf ein bereits eingeüb- zufriedene Gäste bei Urlaub auf dem Bauernhof, Hof- tes Zweigenerationenteam treffen. Im Gegenzug sind bäckerei und Hofcafé verlangen den vollen Einsatz der Mann, Schwiegereltern und manchmal Geschwister Frauen. Die Mehrfachbelastung der Frauen geht auf herausgefordert, Platz zu schaffen, Aufgaben neu zu Dauer jedoch einher mit Erschöpfung, wenn mit dem (ver-)teilen. Den Männern bzw. Söhnen kommt in diesem Prozess eine Schlüsselrolle zu. Frauen, die auf einen Hof einheiraten, brauchen einen Partner, der Folgerungen & Forderungen ihnen mehr Gewicht gibt, als den eigenen Eltern und Geschwistern. Es muss ein Loyalitätstransfer von der ■ In der Landwirtschaft ist die Eindeutigkeit von Rol- Ursprungsfamilie auf die neue Kernfamilie stattfinden. lenzuweisungen für Frauen größeren Gestaltungs- Gemäß einer Studie des Rheinischen Land- möglichkeiten, -notwendigkeiten und einer Vielfalt Frauenverbandes und des Westfälisch-Lippischen von Erwartungen gewichen. LandFrauenverbandes aus dem Jahr 2016 sind die ■ Frauenrollen in der Landwirtschaft sind vielfältiger Arbeitsschwerpunkte dieser Frauen das Agrarbü- geworden. Die entsprechenden Veränderungen auf ro (77 Prozent), Einsatz als »Springer« (74 Prozent) der männlichen Seite hinken jedoch hinterher. sowie Stallarbeit (64 Prozent). Nur 30 Prozent helfen ■ Im Bereich der Care-Arbeit haben es Veränderungen im Ackerbau mit. Sonstige Tätigkeiten schlagen mit bis heute schwer. Noch immer stehen Frauen für die fünf Prozent zu Buche. Die Springertätigkeit verlangt »Soft Skills« traditionell höher in der Pflicht als Män- vielseitige Kompetenzen, da eine Vielzahl von Arbei- ner. Beide Geschlechter sind hier gefordert, mehr ten beherrscht werden muss, und ein Höchstmaß an Freiheit in der Rollenfindung zu suchen – zum Wohle Flexibilität, da die Abrufbarkeit fast jederzeit möglich von Frauen und Männern und für diejenigen, für die sein muss – trotz der Vielzahl und Vielfalt an regu- sie Sorge tragen. lären Tätigkeiten dieser Frauen. ■ Die Kompetenzen für Kommunikation und Konflikt- management werden nicht den heutigen Anforde- Mitunternehmerin, mitarbeitend und zugleich engagiert rungen entsprechend ausgebildet. Berufliche Ausbil- im erlernten Beruf dung ist nach wie vor zu einseitig fachspezifisch aus- Das Beispiel Nordrhein-Westfalen zeigt, welcher gerichtet. Innerpsychische und soziale Kompetenzen Wandel die Rolle der Mitunternehmerinnen in den finden in Lehrplänen und Ausbildung zu wenig zurückliegenden Jahren erfahren hat. Frauen in der Berücksichtigung und Gewichtung. Landwirtschaft verfügen heute mehrheitlich (63 Pro- ■ Wirkliche Freiheit in der Rollengestaltung in land- zent) über berufliche Qualifikationen außerhalb der wirtschaftlichen Familienbetrieben braucht eine »grünen« Berufsfelder und sind damit Quereinstei- stärkere Sensibilisierung für Geschlechterrollen gerinnen in der Landwirtschaft. Die Doppelorientie- in der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung rung in der Erwerbsarbeit – sowohl als Mitarbeiten- sowie die Verankerung von Soft Skills in Schul-, de im landwirtschaftlichen Familienbetrieb als auch Aus- und Weiterbildung. Politik, Bildungs- und Wei- als außerlandwirtschaftlich Berufstätige – hat sich terbildungsträger sind hier gefordert, in Dialog zu in den letzten zehn Jahren rasant erhöht. In Nord- treten und entsprechende Rahmenbedingungen und rhein-Westfalen arbeitet mehr als jede dritte Bäuerin Bildungsangebote zu schaffen. (36 Prozent) außerlandwirtschaftlich in ihrem erlern- 313
Der kritische Agrarbericht 2019 Aufbau des eigenen Betriebszweiges nicht im selben lenzuweisungen klar, vorgegeben und wenig flexibel, Maße andere Aufgaben wegfallen. gibt es heute mehr Freiheit und vordergründig we- niger eindeutig definierte Erwartungen an die Rolle Frauen, die eigene außerlandwirtschaftliche berufliche der Frauen. Die »neue« Freiheit fordert Frauen und Wege gehen Männer aber auch stärker. Mehr Freiheit und mehr In Nordrhein-Westfalen geben 17 Prozent der Frau- Möglichkeit der Rollengestaltung bedeuten gleich- en an, nicht im landwirtschaftlichen Betrieb tätig zu zeitig auch mehr Notwendigkeit des Aushandelns sein. Das sind vor allem junge Frauen, deren »eige- der Rollen zwischen den Partner untereinander. Eine ner« Beruf großes persönliches und ökonomisches Freiheit, die gelernt sein will. Entwicklungspotenzial bietet und zugleich der hohe Spezialisierungsgrad des landwirtschaftlichen Betrie- bes differenziertes spezifisches Fachwissen erfordert. Verwendete und weiterführende Literatur Außerbetriebliche Berufstätigkeit schafft für diese M. Baur und K. Schraag: Betriebsleiterinnen in der Landwirt- schaft – eine Fallstudie in Baden-Württemberg (2014). Zentrale Frauen größere finanzielle Sicherheit und Unabhän- Ergebnisse in: I. Fahning et al. (Hrsg.). Frauen bewegen Land- gigkeit. Eine Herausforderung besteht darin, dass wirtschaft – Landwirtschaft bewegt Frauen. Waldenburg-Hohe- nicht immer von allen, die auf dem Hof arbeiten, die buch und Göttingen 2017, S. 34–39. außerlandwirtschaftliche Tätigkeit auch als »Arbeit« R. Bender: Das Problem hat System. In: I. Fahning et al. (Hrsg.). anerkannt und geschätzt wird. Problematisch wird es, Frauen bewegen Landwirtschaft – Landwirtschaft bewegt Frau- en. Waldenburg-Hohebuch und Göttingen 2017, S. 128–133. wenn die Frau von der betrieblichen Kommunikation H. Brändle und A. Sigel: Family Farming und die Rolle der Frauen. weitgehend ausgeschlossen ist. Es erfordert viel Kraft In: I. Fahning et al. (Hrsg.). Frauen bewegen Landwirtschaft – und Organisation, den Spagat zwischen außerbetrieb- Landwirtschaft bewegt Frauen. Waldenburg-Hohebuch und lichem Beruf, betrieblichen Anforderungen und fami- Göttingen 2017, S. 134–139. S. Contzen: Alles in Butter – oder doch nicht? Geschlechtergerechtig- liären Erfordernissen zu meistern. keit auf Landwirtschaftsbetrieben von Frauen. In: I. Fahning et al. Auch wenn die Frau eines Landwirts außerbetrieb- (Hrsg.). Frauen bewegen Landwirtschaft – Landwirtschaft bewegt lich berufstätig ist, lebt sie trotzdem betrieblichen Er- Frauen. Waldenburg-Hohebuch und Göttingen 2017, S. 40–55. folg wie Misserfolg mit. Wo Banken bei Darlehensver- Rheinischer LandFrauenverband und Westfälisch-Lippischer trägen die Mitunterschrift der Ehegatten einfordern, LandFrauenverband (Hrsg.): Frauen in der Landwirtschaft in Nordrhein-Westfalen. Münster 2016 (www.wllv.de/fileadmin/ haften Frauen zudem mit. Umso wichtiger ist hier eine dateien/aktuelles/FraueninderLandwirtschaft.pdf). gute Kommunikation in der Familie. V. Grossenbacher: Frauen als Betriebsleiterinnen. In: Der kritische Neben der bereits beschriebenen Vielfalt berufli- Agrarbericht 1996, S. 186–192. chen und betrieblichen Engagements von Frauen in V. Grossenbacher und I. Fahning: Wer bin ich? Betriebsleiterin, Landwirtin, Bäuerin oder…? In: I. Fahning et al. (Hrsg.). Frauen der Landwirtschaft, ist die Care-Arbeit (Kinderbetreu- bewegen Landwirtschaft – Landwirtschaft bewegt Frauen. ung und Pflege) nach wie vor in weiblicher Hand. Da Waldenburg-Hohebuch und Göttingen 2017, S. 8–15. Familien in der Landwirtschaft überdurchschnittlich H. Kuhlmann: Balanceakt Bäuerin. In: I. Fahning et al. (Hrsg.). Frau- viele Kinder haben und Pflege in der Landwirtschaft en bewegen Landwirtschaft – Landwirtschaft bewegt Frauen. größtenteils im Familienkontext stattfindet, liegt die Waldenburg-Hohebuch und Göttingen 2017, S. 70–87. T. Oedl-Wieser und G. Wiesinger: Landwirtschaftliche Betriebslei- Care-Leistung von Bäuerinnen über dem Durch- terinnen in Österreich. Eine explorative Studie zur Identitäts- schnitt erwerbstätiger Frauen in Deutschland. Laut der bildung. Forschungsbericht Nr. 62 der Bundesanstalt für Berg- Studie in Nordrhein-Westfalen leisten Frauen in der bauernfragen. Wien 2010. Landwirtschaft in der Kinderbetreuung durchschnitt- R. Rossier und L. Reissig: Beitrag der Bäuerinnen für die landwirt- schaftlichen Familienbetriebe in der Schweiz. Agroscope Trans- lich 42 Stunden pro Woche, Großeltern neun Stunden fer 21. Ettenhausen 2014. und Väter 15 Stunde pro Woche. Hier besteht noch M. Schmitt: Landwirtinnen – Chancen und Risiken von Frauen in vielseitiger und umfangreicher Entwicklungsbedarf einem traditionellen Männerberuf. Opladen 1997 gerade auch für Männer, bis die Hälfte des Terrains Südtiroler Bäuerinnenorganisation: Heint zu Tog Bäuerin sein. der Familien-und Hausarbeit gewonnen ist, Männer Bozen 2012 (www.baeuerinnen.it/wir-ueber-uns/broschueren- und-publikationen/199-heint-zu-tog.html). und Frauen Care-Arbeit partnerschaftlich teilen und Frauen entlastet sind. Fazit Veronika Grossenbacher Diplom-Agraringenieurin ist Bildungs- Die Vielfalt der Identitäten und Rollen von Frauen in referentin und stellvertretende Geschäfts- der Landwirtschaft haben sich – abhängig von Aus- führerin des Evangelischen Bauernwerks in Württemberg e.V. bildung, geprägt von Tradition, Lebensgefühl und Region – in den letzten 50 Jahren mental und gesell- Hohebuch 16, 74638 Waldenburg schaftsbedingt stark verändert. Waren früher die Rol- v.grossenbacher@hohebuch.de 314
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