Frauen.komAusgabe Winter 2021 - Katholische ...

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Frauen.komAusgabe Winter 2021 - Katholische ...
frauen.kom
                                                                   Ausgabe Winter 2021

Zeitschrift der Katholischen Frauenbewegung Salzburg

                               Herzensbildung
                                                  Kein Zufall, sondern eine
                                                  bewusste Entscheidung
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  Bittersüß                 Island                        An der schönen Pforte
  Alles für das Kind?       Elfen und die Kunst           Was ich habe, geb ich dir
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Editorial

    Liebe Leser*innen,

    Meine Religion ist Güte, sagt der Dalai Lama.

    Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sagt Jesus und ergänzt,               Olivia Keglevic (Chefredakteurin)
    das ist das größte Gebot. Es gibt kein größeres Gebot.         (Mk.12,31)

    Gütig sich selbst und den anderen gegenüber. Liebe sich selbst und den
    anderen gegenüber. Im Lot sein mit sich selbst und den anderen … ein
    ungewohnter Ansatz in einer Gesellschaft, die ganz andere Ziele hat:
    Geiz ist geil, ich habe doch nix zu verschenken, meine Freiheit ist alles,
    jeder ist sich selbst der Nächste …

    Seltsam, sind wir Menschen doch von Geburt an auf ein Du angewiesen
    und ausgerichtet. Ohne die Liebe der Eltern würden Babys in den
                                                                                 Manuela Maier      Evelin Ferner
    Windeln verkommen. Und noch seltsamer, wie glücklich es die Eltern
    machte, sich um ihre Kinder kümmern zu dürfen, wie sehr ihnen dabei
    das Herz aufgeht …

    Wer schon mal einen lieben Menschen am Totenbett begleitet hat, weiß,
    dass angesichts dieser Endgültigkeit plötzlich ganz andere Dinge zählen
    als die, denen wir im Alltag hinterherlaufen.

    Nicht immer ist das, was ich mir wünsche, gut für mich, sagt James Doty.

    Wie aber entdecken, was gut für mich ist?                                     Birgit Dottolo   Elisabeth Ebner

    Niemand will sich im eigenen, einsamen Universum verlieren. Aber wie
    diesen anderen Weg finden? Wie Selbstliebe lernen? Wie Nächstenliebe
    lernen?

    Zwischen dem Du und dem Ich scheint sich die ganze Welt eines Wir
    zu entfalten. Und dieses Wir haucht unserer Sehnsucht nach Glück und
    Erfüllung Leben ein. Aber wie diesen Weg finden? Wie die Balance hin-
    bekommen? Was tun mit der Angst, sich selbst zu verlieren?
                                                                                 Elmar Prokopetz Magdalena Barth
    Viele Fragen, die bleiben, aber auch Menschen, die gute Antworten leben.

    Wir wünschen euch die Sehnsucht nach eurer eigenen Antwort.

    Olivia Keglevic
    Chefredakteurin                                                                Sara Gerner     Isabella Fredrich

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Inhaltsverzeichnis

   Herzensbildung                                      Literatur selbstgeschrieben
   04 Meine Religion ist Güte                          20 Fräulein Hübsch
   06 Sie haben Ihr Ziel erreicht
   08 Bittersüße Entbehrungen                          Klimaschutz und Nachhaltigkeit
   10 Ohne Vorwarnung                                  23 Für dumm verkauft?
   12 Wieviel Selbstlosigkeit brauchen wir?
                                                       kfb – Regionalteil
   Frauen aus anderen Kulturen                         24 kfb Frauen
   14 Island, Land mit Geschichte(n)                   28 Highlights & gute Ideen
                                                          aus den Regionen

   Was sagt Mann dazu?                                 31 Carearbeit & Aktion Familienfasttag

   16 Das Wunder vom Parkplatz                         34 Weltgebetstag
                                                       35 Veranstaltungen
   Glaube und Wissen
   18 Was ich habe, geb ich dir                        Impressum

Zirbenschnaps
zum Verlieben
Ob Original, vom Eichenfass oder
mit Chili - Handmade in Salzburg
                                         Manuel Schmied,
                                              Fotograf                  THEATER & SHOWEINLAGEN
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                                                                                frauen.kom 2021/2   3
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    Herzensbildung

                        Meine R eligion
                                   Güte          ist
                                                                                     (Dalai Lama)

                             Mitgefühl und Güte sind ansteckend

Jeder, der schon mal danach gehandelt hat, weiß, dass es so ist. Man fühlt sich zufrieden und eins mit der
Welt und dem ganzen Universum, wenn einen ein Kind, eine Freundin oder auch ein Partner dankbar an-
lächelt, weil man Rettung in letzter Not gewesen ist.
Für Kinder unserer Zeit, die mit „Geiz ist geil“-Parolen aufgewachsen sind, hat die Universität Stanford ein
großes Forschungszentrum (Ccare – Center for Compassion and Altruism Research und Education) ge-
gründet, das der Frage nachgeht, welche Auswirkungen Meditation und Mitgefühl auf das menschliche Hirn
haben. Zusätzlich dazu entwickelt das Institut Trainingsprogramme für das Kultivieren von Mitgefühl.

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M               itgefühl ist ein Instinkt, so viel weiß man
                heute. Unsere Gehirne sind dafür verant-
wortlich. Das ist nicht nur bei den Menschen so, sondern
auch bei den Tieren, die Artgenossen und auch anderen
                                                                nutzen könnte, um sein Leben aktiv in die Hand zu neh-
                                                                men. Wichtigste Bedingung, die sie stellt: Er muss gewillt
                                                                sein, täglich zu üben. Sie zeigt ihm einfache Meditations-
                                                                techniken, um ruhiger werden und Abstand zu seinen Pro-
Tieren helfen. Kommen wir anderen zu Hilfe, werden Lust         blemen finden zu können, Visualisierungsübungen, um sich
und Belohnungszentren in unserem Hirn aktiviert und das         und anderen Gutes zu wünschen, besonders seinen Eltern,
– erstaunlicherweise – sehr viel stärker, als wenn uns selbst   die ihm so vieles schuldig geblieben sind. Und sie animiert
geholfen wird.                                                  ihn, sich gezielt und konkret vorzustellen, was er im Leben
                                                                erreichen möchte. Selbstlos und über Wochen gibt sie ihm
So bleibt die Frage, warum manche Menschen alles tun,           ihre Einsichten und Weisheiten weiter, begegnet ihm mit ei-
um anderen zu helfen, und andere wiederum Menschen,             ner Güte, die er in dieser Form noch nie erlebt und in ihm
denen es schlecht geht, problemlos den Rücken zukehren          den Wunsch genährt hat, sich selbst und anderen gegenüber
können.                                                         Güte zu kultivieren. Ihre verblüffende Zuneigung macht ei-
Unser Herz ist ein mächtiges Organ und neben dem Hirn           nen anderen Menschen aus ihm und darüber hinaus einen
die Schaltstelle unseres Lebens. Es schlägt 100.000x pro Tag,   berühmten Hirnchirurgen, den auch die tristen Verhältnisse
pumpt 7500l Blut durch ein kompliziertes System von Blut-       während seiner Schul- und Studienzeit nicht daran hatten
gefäßen, das, würde man es aufk lappen, ca. 96.000 Kilome-      hindern können, seinem Ziel treu zu bleiben.
ter Länge hätte, also mehr als zweimal der Umfang der Erde.
Das Wort der alten Ägypter für Glück war Awt-ib, ein weites     Waren es zunächst Geld und Ruhm, von denen er träum-
Herz, hingegen hieß das Wort für Traurigkeit ab-ib, ein ab-     te, musste er auf leidvolle Weise lernen, dass ihn dies nicht
gestumpftes Herz.                                               wirklich zu erfüllen vermochte. Sein Leben fühlte sich leer
                                                                an, obwohl er Millionen Dollar auf dem Konto hatte.
In vielen Kulturen wird das Herz als Sitz der Seele betrach-
tet. Und auch in der Forschung ist klar: Das Herz stellt ein    Da begann er zu trainieren, das eigene Herz für sich selbst
ähnliches Intelligenzzentrum dar wie das Hirn, oder anders      und auch für andere Menschen aufzumachen und der Welt
gesagt, das Herz ist der emotionale Teil des großen mensch-     ganz bewusst mit Liebe und Wohlwollen zu begegnen, zu
lichen Intelligenzzentrums, des großen Nervengeflechtes,        sich selbst und zu den anderen gut zu sein. Es war genau je-
das Hirn der kognitive Teil. Hirn und Herz kommunizieren        ner Ratschlag, den er von seiner mütterlichen Freundin als
miteinander über den Vagusnerv, aber es existieren mehr         Teenager nicht verstanden hatte. Jetzt ging ihm auf, was sie
Nervenverbindungen vom Herzen ins Hirn als umgekehrt.           gemeint hatte und sein Leben änderte sich nochmals radikal.
                                                                Heute ist Doty davon überzeugt, dass die Wirkmacht, die je-
Sowohl unsere Gedanken als auch unsere Gefühle besitzen         der Einzelne auf das Leben eines anderen Menschen hat, viel
eine große Kraft. Doch obwohl ein starkes Gefühl einen Ge-      gewaltiger ist, als wir wahrhaben wollen.
danken vertreiben kann, vermag ein Gedanke selbst kaum
ein Gefühl auszulöschen oder zu beruhigen. Das kennt jeder,     Das Talent und die Fähigkeit, mit anderen in Verbindung zu
der schon mal Nächte wach gelegen ist, obwohl der Partner       treten, haben wir alle, sagt er – über Millionen kleine Wege
mit Vernunftargumenten zu beruhigen versuchte.                  kommunizieren unsere Herzen miteinander, über Kunst,
                                                                Musik, Literatur, Vorträge oder auch Zuhören, Lachen. Wir
Vollständig nutzen wir unser gesamtes Nervengeflecht, un-       spüren oft plötzlich selbst, dass wir mit anderen auf einer
ser Intelligenzzentrum, erst, wenn wir auch das Herz zu Wort    Wellenlänge einschwingen, die uns guttut, die uns glücklich
kommen lassen und Herz und Hirn miteinander verbinden.          und lebendig macht. Dieses Miteinander-in-Kommunika-
Von der Kraft, die daraus erwächst, berichtet der Leiter und    tion-treten schenkt Erfüllung.
Gründer des Instituts Ccare, James Doty, ein Hirnchirurg
aus Amerika in seinem Buch „Das Alphabet des Herzens“.          Verblüffend bleibt für Doty vor allem die Tatsache, dass,
                                                                wenn wir gütig handeln, unser Tun andere Menschen ani­
James Doty hat im eigenen Leben erfahren, wie viel ein          miert, selbst gütig zu handeln.
Mensch mit Güte und Mitgefühl bei einem anderen Men-
schen bewirken kann, und erzählt sehr anschaulich seinen        Und mit dieser Behauptung schließt sich sein Kreis zum
persönlichen Werdegang. Als Kind eines alkoholkranken           Dalai Lama, der Dotys Forschungsinstitut für Mitgefühl und
Vaters und einer depressiven Mutter, die oft mehrere Tage       Selbstlosigkeit mit privaten Spenden intensiv unterstützt.
nicht aus dem Bett findet oder im Krankenhaus verbringt,
lernt er früh, dass er nur geringe Chancen hat, aus seinen                                                    Olivia Keglevic
sozial schwachen Verhältnissen herauszufinden. Seine eige-
nen Fähigkeiten und Stärken zu entdecken oder gar weiter-
zuentwickeln, ist nicht einmal ein Gedanke, muss er sich         Buchtipp
doch vorwiegend um seine Eltern kümmern! Da lernt er die
Inhaberin eines Zaubereiladens kennen, die Zuneigung zu           James Doty, Das Alphabet des Herzens,
ihm fasst und ihn einlädt, täglich zu kommen, damit sie ihm       Knaur.Leben 2019
lehrt, wie er seine mentalen und emotionalen Fähigkeiten

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          Selbstliebe
                         Das Rennen um
    die

Selbstliebejournals boomen. Liebevolle Affirmations-
karten, Achtsamkeitstagebücher bis hin zu Selbst-
liebe-Seminare erfreuen sich aktuell besonderer
Beliebtheit. Auf Instagram – eine Plattform, wo vor-
rangig Bilder und zweitrangig Texte geteilt werden
können – gibt es unzählige Accounts zum Thema
Selbstliebe. Klingt schön, ist es meistens auch, jedoch
wird es schwierig, wenn Selbstliebe als Konsum-
mittel verscherbelt und an Bedingungen geknüpft
wird. Dabei möchte ich einen Aspekt besonders
hervorheben.

E
            rst wenn du dich selbst liebst, kannst du ein er­    Wenn ein Tag oder drei einfach nur in die Mülltonne ge-
            fülltes und glückliches Leben leben.                 hören? Wenn der Kampf um die Selbstliebe dafür sorgt,
                                                                 mich und mein Leben noch stärker zu verurteilen, dann
          Du liebst dich nicht selbst? Sorry, dann wird das      läuft doch irgendwas falsch, oder?
mit dem Happy-Life dieses Mal wohl eher nichts. Dass das er-
füllte Leben erst beginnt, wenn ich mich selbst liebe, erzeugt   Aber nicht verwunderlich: Die Darstellung von Selbst liebe
unheimlichen Druck. Denn wer will nicht am besten morgen         erfolgt oft aus einer privilegierten Perspektive, die dazu
schon ein glückliches, sorgloses Leben haben? Der Count-         neigt, stark schwarz-weiß zu denken und diesen Prozess
down beginnt. Selbstliebe wird auf Instagram gerne einmal        als eine Ja-Nein-Frage abzutun. Menschen, die unter ihren
als etwas verkauft, das ich auf einer Liste abhaken kann, sie    Selbstzweifeln leiden und mit ihrem Selbstwert generell
wird zu einer unumgänglichen Bedingung, zu einer Hürde           auf Kriegsfuß stehen, werden unter dieser Hoffnungslosig-
oder zu einem Ziel. Aber ist Selbstliebe nicht vielmehr ein      keit und diesem Druck noch stärker zermürbt als eh schon.
Prozess, der unterschiedlich leicht und schwer verläuft, eine    Ihnen wird die Vorstellung geraubt, jemals ein erfülltes Le-
lebenslange Übung und Herausforderung? Wenn Selbst liebe         ben leben zu können, weil sie ihren Anblick im Spiegel kaum
heißt, mit sich selbst eine Beziehung einzugehen und sich        ertragen oder ständig mit dem Glauben zu kämpfen haben,
selbst zu begegnen, wie kann dann jemand verlangen, dass         in nichts gut genug zu sein.
diese Beziehung unproblematisch und geradlinig verläuft?
Dass da nie gestritten, ignoriert, geweint oder verzweifelt      Radikale Selbstliebe
wird? Heißt Selbstliebe wirklich, dass ich nur mehr Glück
und Zufriedenheit empfinde und mich nie wieder irgendwas         Instagram-Accounts kennen kaum Entschuldigungen und
ärgern wird? Was tue ich dann, wenn ich einmal traurig bin?      können in ihren Aufforderungen nahezu radikal werden:

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„Würdest du dich selbst mehr lieben, wär das alles eh kein      Es ist ein bisschen wie mit der Vorstellung, dass mich die
Problem für dich!“ Das ist kränkend und verletzend, weil es     Hausärztin gesund machen wird, dabei stellt die Hausärztin
einem unterstellt, sich selbst nicht genug zu lieben und sich   „nur“ die Diagnose, die Tabletten darf ich letztlich selber
nicht genügend Mühe zu geben – und das dann noch einem          schlucken. Und so ist es mit der Einladung zur Selbstliebe:
Menschen mit Depressionen zu sagen? Super.                      Am Ende kann einem niemand sagen, was es bedeutet,
                                                                sich selbst zu lieben. Jedoch können einem andere Men-
Wenn Menschen in ihrer Kindheit oder Jugend nie gelernt         schen Optionen aufzeigen, sie können die Selbstreflexion mit
haben, was Liebe bedeuten soll, wie Liebe aussehen kann,        wesentlichen Fragen anleiten und mit einer ausgewogenen
was ihre Bedürfnisse sind und wie sie diesen nachgehen          Dosis Achtsamkeit kann man vielleicht auch beginnen, sein
können, woher sollen sie dann wissen, was Selbstliebe be-       Verhalten zu beobachten und lernen, sich in Selbstakzeptanz
deutet? Das erzeugt schnelle Abhängigkeit und im besten         zu üben.
Szenario schnappt die Konsumfalle zu. Menschen werden
davon abhängig, dass ihnen andere Menschen sagen, wie           Aber kein Druck. Das Leben läuft und wir manchmal mit
Selbstliebe auszusehen hat, ohne zu hinterfragen, ob das        ihm mit. Vielleicht ist es weniger ein „Wann beginne ich mit
ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt stillt. Sie glauben da-      der Selbstliebe?“ und viel mehr ein „Wie kann ich mir selbst
ran, dass ein monatelanges, teures Seminar all ihre Pro-        begegnen, wenn das Leben mich herausfordert?“
bleme lösen wird, weil ihnen jemand sagt, was sie zu tun
und wie sie sich selbst zu lieben haben. Was übrigens nicht                                                      Sara Gerner
heißen soll, dass alle Seminare zur Selbstliebe verwerflich
sind. Doch vielleicht wäre es in diesem Fall mehr Selbst-
liebe gewesen, genau dieses Seminar nicht zu besuchen.

                                                                                                    frauen.kom 2021/2                            7
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Bittersüße
                        Entbehrungen

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E           in Kind bedeutet Verzicht. Ein Kind heißt, sich selbst an die zweite Stelle zu rücken. Das weiß
            jeder, denn diese Aussagen hört man überall. Doch was es wirklich bedeutet und wie es sich
            tatsächlich anfühlt, weiß man nur aus eigener Erfahrung.

Was drückt mehr Nächstenliebe aus als die Entscheidung,           Nichts ist    den Schlaf gewogen, damit sich der Terror,
ein Kind zu bekommen? Sich wissentlich zu entscheiden,                          den es beim Überziehen der Haube macht,
                                                                  mehr (so
dass es viele Jahre lang nicht mehr um einen selbst, sondern                    in Grenzen hält, will der Zeitpunkt für den
(fast) nur noch um jemand anderen gehen wird? Dass sich           einfach)      Spaziergang exakt gewählt sein. Gerade los-
alles und jeder nur noch um einen neuen schutzbedürftigen         wie vorher    marschiert, liegt das Baby jedoch viel lieber
Menschen drehen wird? Dass man von einem 50-cm-Zwerg                            in Mamas Arm als im Kinderwagen. So spa-
restlos aus dem Rampenlicht vertrieben wird? Tagtäglich                         ziert man den Großteil des Weges mit Baby
beschließen Paare nicht nur freiwillig, sondern auch noch                       im (tauben) Arm, versucht es möglichst nicht
freudig diesen Akt der Nächstenliebe. Denn spätestens,                          fallen zu lassen und schiebt mit dem ande-
wenn das Baby da ist, heißt es neben Füttern, Wickeln und         ren Arm den leeren Kinderwagen, der sich von selbst in alle
Trösten (in dieser Reihenfolge), den eigenen Egoismus zu-         möglichen Richtungen manövriert. Es macht einem nichts
rückzustellen und so etwas wie Fremdsteuerung zuzu­lassen.        aus, man macht es gerne.
Einfacher gelingt das vielleicht, wenn man bereits ein biss-
chen Egoismus gelebt und viel Selbstliebe betrieben hat. Man      Die Premiere des ersten eigenen Theaterstücks kann man
hofft einfach, dass es dadurch leichter fällt, sich selbst eine   leider auch nicht sehen, das Baby ist noch zu klein, um al-
(sehr lange) Weile hintanzustellen und auf so manches zu          leine bei Papa zuhause zu bleiben und das Theater zu laut
verzichten.                                                       und aufregend, um es dorthin mitzunehmen. So sieht man
                                                                  sich (mit ein wenig schlechtem Gewissen, weil man das Kind
Doch was genau heißt es eigentlich, zu verzichten? Es beginnt     abends dorthin karrt) zumindest die Anfangsszenen des ei-
damit, dass man bereits in der Schwangerschaft zum Beispiel       genen Stücks an und kehrt nach dem ersten Anzeichen von
              auf die geliebte Salami und den köstlichen Ca-      Quengeln nach Hause zurück. Es macht einem nichts aus,
Opfer,        membert verzichtet. Aber kein Problem, man          man macht es gerne. Eine zweite Gelegenheit gibt es dafür
              weiß ja, es ist nur für ein paar Monate. Und        allerdings nicht.
die man dennoch steht man genau jetzt mit wässrigem
gerne         Mund vorm Käseregal. Verbotenes ist auch in         Man streicht auch den Praktikumsplatz im Studium, weil
bringt        dieser Lebensphase am interessantesten. Es geht     das Baby noch zu unregelmäßig trinkt und man sich nicht
              damit weiter, dass gewisse Betätigungen in der      so lange von zuhause davonstehlen kann und will. Nächstes
              Schwangerschaft irgendwann mühsam werden.           Jahr, nächste Gelegenheit für das Praktikum. Es macht ei-
              Ich spreche nicht vom Schuhbänderbinden un-         nem nichts aus, man macht es gerne.
              ter Atemnot, denn die coolen Schnürer hat man
sowieso schon lange gegen bequeme Slipper, oder wenn man          Und das ist erst der Anfang, wir sprechen hier von Woche
sich komplett aufgegeben hat, gegen Birkenstock-Pantoffeln        zwei im Leben mit Kind. Später kommen noch Fieberschübe,
eingetauscht. Nein, ich rede vom geliebten Bergsport-­Hobby.      Koliken, Zahnschmerzen usw., die ausgerechnet dann auf-
Sprang man früher wie ein Gamsbock den Berg hinauf,               treten, wenn man nach intensiven Termin-
gleicht man jetzt eher einer Lokomotive, die langsam mit          vereinbarungen endlich wieder einmal mit         Planen
viel Geschnaufe den Berg hinaufschleicht. Der Verzicht gip-       Freunden verabredet gewesen wäre. Abend-
felt darin, dass man die zweitägige Glockner-Dirndlgwand-         essen abgesagt, nächste Gelegenheit in fünf kann man
Wallfahrt, auf die man sich zwei Jahre gefreut hat, nicht mit-    Monaten. Das Planen hat man mittlerweile        sich ab­
macht. Es ist zu anspruchsvoll für eine Hochschwangere und        komplett aufgegeben.                         schminken
wäre einfach egoistisch. Schließlich ist ein Blasensprung auf
2.600m für alle verzichtbar. Es macht einem aber nichts aus,      So geht das eine ganze Weile und immer wie-
man verzichtet gerne darauf. Nächstes Jahr dann wieder. So-       der einmal. Wie lange es dauert, bis man sol-
fern das Baby mitmacht.                                           che Situationen wirklich als Verzicht wahr-
                                                                  nimmt, ist fraglich. Hoffentlich nie, vermutlich das ein oder
Ist das Baby erst da, merkt man sehr schnell, dass nichts         andere Mal schon. Trotzdem ist die Zeit mit dem eigenen
mehr wie vorher ist. Die Zeit, in der man früher in Ruhe jog-     Kind die kostbarste schlechthin. Denn auch dafür gibt es
gen oder ins Fitnessstudio gegangen ist, spaziert man jetzt       keine zweite Gelegenheit, keine Chance auf Wiederholung.
mit Kinderwagen an der Salzach entlang. Aber das funk­
tioniert keinesfalls spontan. Gefüttert, gewickelt und in                                                         Evelin Ferner

                                                                                                      frauen.kom 2021/2     9
Frauen.komAusgabe Winter 2021 - Katholische ...
Ohne Vorwarnung
Vor fünf Jahren hat sich das Leben meiner Tante für sie und ihre nächste Umgebung radikal ver­
ändert. Eine schwere Gehirnblutung raubte ihrem Leben die Freiheit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit
und auch die Lebensfreude. Von einem Tag auf den anderen. Sie ist ihren körperlichen Beschwerden,
ihren Alzheimer­Demenz­Schüben und Albträumen hilflos ausgeliefert.

I
         ch schrecke aus meinen Gedanken, die darum               Frau zu schicken, obwohl diese kein Wort mit ihr sprechen
         kreisen, wie es weitergehen soll.                        und kein Wort von ihr verstehen kann, steckt mir immer
                                                                  noch in den Gliedern.
          Jetzt sitze ich wieder mal alleine mit meiner Tante     Die Agentur reagierte gelassen auf meine Beschwerden,
Sophie an ihrem Tisch.                                            nämlich gar nicht. Also: kündigen und das ganze Prozedere
Schon lange haben wir versucht, Sophie ein Heim oder eine         wieder von vorne. Alleine auf der Suche nach einer neuen
24h-Betreuung schmackhaft zu machen. Doch was tun, wenn           Betreuung.
ein hilfsbedürftiger Mensch nicht sehen kann oder will, was
für andere offensichtlich ist, und sich strikt dagegen wehrt?   Als Kind habe ich meine Tante Sophie als taffe Frau in Er-
Soll man die „guten Tipps“ Außenstehender annehmen und          innerung, die ich für die damalige Zeit als sehr emanzipiert
sie ihrem Schicksal selbst überlassen? „Mal sehen, sie wird     empfand. Ich habe ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit
schon ein Heim annehmen, wenn sie merkt, dass es alleine        immer bewundert. Sagen ließ sie sich selten etwas, höch-
nicht mehr geht…“                                               stens von ihrem jüngeren Bruder, den sie abgöttisch liebte,
Das „Mal sehen“ war mir dann doch zu riskant und da ich         obwohl mir der Umgang zwischen ihnen eher wie ein Katz-
diejenige ihrer vier Nichten und zwei Neffen bin, die zufäl-    und-Maus-Spiel vorkam. Auch die Beziehung zu ihrer älte-
lig am meisten Zeit für sich hatte, und auch in ihrer Stadt     ren Schwester Anna war, vorsichtig und höflich ausgedrückt,
lebe, war die Sache klar. Ich übernehme. Meine Ein-                        speziell. Beide sind vor nicht allzu langer Zeit ver-
wände, vielleicht doch nicht eine so gute Pflegerin zu   Manchmal storben.
sein, waren ganz schnell vom Tisch, der restlichen         braucht         Als sie jung war, machte sie verrückte Sachen, wie
Familie gar nicht so wichtig. Sie würden mir schon        ein Leben        zum Beispiel eine Überquerung des Arlbergs zu
helfen…                                                                    zweit mit einer Freundin auf ihrem Roller auf dem
                                                        eben ein biss- Weg in die Schweiz. Einfach, weil diese dringend
Doch die Hauptarbeit und Verantwortung liegen            chen mehr dahin musste. Sie liebte Autos. Ihren Führerschein
bei mir und ich fühle mich oft hilflos und alleine ge-     Wir und         machte sie ganz still und heimlich und knallte das
lassen. Ich habe das Gefühl, die Unterstützung oft                         Dokument ihrem verdutzten Vater auf den Kü-
nur durch „gute Tipps“ für mich zum Erledigen zu weniger Ich. chentisch. Sie machte mit meinem Bruder (18 Jahre
erhalten.                                                                  jung und ohne Führerschein, sie ließ ihn aber oft
Vor Kurzem hat sie endlich, zwar widerwillig, ei-                          ans Steuer) eine Reise mit dem Wohnmobil durch
ner 24h-Pflege zugestimmt. Ich war so glücklich über die        Kanada. Sie war auch sicher eine der ersten Personen, die ei-
Aussicht einer Entlastung gewesen. Keine Kocherei mehr          nen Computer ihr Eigen nannte.
mittags. Aber auch glücklich über eine Entlastung meiner        Ihre Beziehungen genoss sie ohne Verpflichtungen. Einen
achtzigjährigen Mutter, die mich beim Kochen unterstütz-        Ehemann ließ sie erst sehr spät in ihr Leben und jagte ihn
te und auch dreimal die Woche ein frisches, gesundes Menü       auch ganz schnell wieder aus ihrem Leben. Doch auch die
für ihre Schwägerin kreierte. Und auch glücklich für Sophie,    Zeit nach enttäuschter Ehe konnte sie in vollen Zügen genie-
dass sie gut versorgt sein würde. Ihre Stürze haben sich in     ßen. Aber das ist schon lange her.
letzter Zeit bedenklich gehäuft.
Wir hatten eine, wie uns schien, passende Agentur ausge-        „Ist heut Sonntag?“
sucht. Wichtig waren uns die guten Deutschkenntnisse der        Ihre Frage reißt mich kurz aus der Überlegung, ob wir es
Betreuerin und eine Nicht-Raucherin musste es sein. Für         hoffentlich pünktlich zur ÖGK schaffen würden. Der Ter-
diese – auch schrift liche – Zusicherung unserer Bedürfnisse    min ist um 11:30 Uhr, der zeitlich späteste, den ich bekom-
wurde der übliche Tagessatz kräftig erhöht.                     men konnte. Seit acht Uhr früh bin ich jetzt schon in ihrer
Wer kam, war eine junge, rumänische Frau, die kein einziges     heiß geliebten Wohnung und der erste Part ist geschafft: das
Wort Deutsch sprach und Raucherin war.                          Aus-dem-Bett-holen. Die größte Herausforderung. Da kann
Der Schock über einen so unsensiblen Umgang, eine Pflege-       es schon passieren, dass sie soooooooo müde ist, und einfach
rin zu einer an Demenz erkrankten fünfundachtzigjährigen        liegenbleibt, Termin hin oder her.

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„Nein, heut ist Dienstag.“                                         das Ankleiden, stehen uns noch bevor, eine weitere Drei-
„Kommt heut noch wer?“                                             viertelstunde.
„Nein, heut bin nur ich da, morgen kommen dann die Mutti           „Wo müss’ ma denn schon wieder hin?“
und die Marlene (ihre Schwägerin und eine meiner Schwes-           Tja, das hätte ich diesen Morgen auch schon dreimal erklärt.
tern) da könnt’s dann wieder karteln.“ Kurz glänzen ihre leicht    „Zur ÖGK wegen der neuen Zahnprothese.“
geröteten, von blauen Adern durchzogenen Augen. Sie nimmt          „Hat der die immer noch nicht zurückgebracht, der Saubazi,
einen weiteren Schluck Kaffee. Obwohl sie die Tasse fest mit       der Elendige!“
ihren schlanken, weißen Händen umklammert, zittert sie.            Ich versuche sie zu beruhigen, bevor sie sich noch mehr in
Ebenso ihr rechtes Bein, das aus dem Schlafmantel gerutscht        diese bodenlose Gemeinheit hineinsteigern kann, dass neu-
ist. Ganz gemächlich nimmt sie einen weiteren Schluck.             lich in der Nacht einer gekommen sei, und ihr die Prothese
Das ist das Schwierigste für mich, diese endlose Trödelei auszu-   gestohlen habe.
halten. Es kostet mich irrsinnige Kraft, geduldig zu bleiben.      „Sophie, es ist keiner gekommen, du hast sie sicher irrtüm-
Und freundlich. Und nett. Also beherrsche ich mich und             lich entsorgt! Kein Mensch kann mit einem fremden Gebiss
betrachte diese schönen, schlanken Hände, die trotz ihres          was anfangen. Würdest du ein fremdes Gebiss in deinem
hohen Alters ohne viel Altersflecken und hervorquellende           Mund wollen, das ist doch grauslich!“ Nein, würde sie nicht
Adern jung geblieben sind.                                         wollen. „Aber der Saubazi verkauft’s dann am Markt im Aus-
„Hast du noch ein Semmerl?“                                        land. Und du glaubst ma wieda nix!“
„Nein, leider, dafür haben wir jetzt echt keine Zeit mehr!“        „Ich glaub’ dir schon was, aber nicht alles!“
Ungehalten blickt sie mich an:                                     Ich freue mich, dass ich ihr einen kleinen Schmunzler ent-
„Immer das Gehetze mit dir!“                                       locken kann.
Das „Gehetze“ dauert jetzt schon eine Dreiviertelstunde für        „Wo müss’ ma denn hin?“
eine Scheibe Brot, eine Semmel und eine Tasse Kaffee. Das
nächste „endlose“ Gehetze, nämlich die Morgentoilette und                                                        Birgit Dottolo

                                                                                                      frauen.kom 2021/2                               11
Wieviel
                       Selbstlosigkeit          brauchen wir?

Für die junge Frau in der folgenden Erzählung wurde der Schock, das Leben eines Menschen abgekürzt zu
haben, letztlich zu einem heilsamen. Er half ihr, ihre abhandengekommene Selbstwahrnehmung wiederzu­
beleben. Das wurde für sie ein erster kleiner Schritt, sich um die eigene, nicht gefühlte Mitte zu kümmern. Und,
auch mit therapeutischer Hilfe, später eine warmherzige, gut geerdete „Nächstenliebende“ zu werden.

R      Rosalie ist knappe 17 Jahre alt, aus sogenanntem
       „guten Hause“. Finanziell verwöhnt, gefühlsmäßig von
ihren Eltern aber vernachlässigt. Aufgrund einer Wette hat
                                                                  Brieföffner in den Bauch gestochen, um das sich quälend
                                                                  stauende Bauchwasser abzulassen. Weil man ihn so kurz
                                                                  hintereinander nicht schon wieder punktieren kann, das
sie sich nach einem Rot-Kreuz-Kurs für einen Ferialjob im         will er nicht akzeptieren. „Wir haben ihn ins Badezimmer
Krankenhaus gemeldet, Sitzwache bei einem Schwerkranken.          geschoben, er ist sehr unruhig und bekommt zweistündlich
                                                                  sein Morphium.“
„Das hältst du nie durch!“, unkt ihre Stiefmutter. „Grässlich,
diese Kranken!“ Sie aber hat keine Angst, denn seit sie die       Rosalie unterdrückt ein Glucksen. Wie grotesk das alles ist.
Appetitzügler – täglich zwei rosa Muntermacher – zu sich          Gedämpft hört sie ein Stöhnen aus einem der anderen Zim-
nimmt, steht ihre Gefühlsskala endgültig gegen Null. Auch         mer, hinter der offenen Badezimmertür ein klägliches „Wil-
vorher war da viel Leere. Aber jetzt: Ekel vielleicht noch, Ab-   ma!“, Herr v.K. ruft wieder nach seiner verstorbenen Frau.
neigung und spöttische Distanz. Viel mehr geht nicht mehr.
Sie will nur ihrem lästernden Vater etwas beweisen.               Erstaunt stellt sie fest, dass alles Gehörte ganz isoliert in ih-
                                                                  rem Kopf bleibt, sie nicht erreicht. Als säße sie in einem Film
Sie steht vor dem Spiegel der kleinen Umkleidekabine der          mit einer 3-D-Brille vor den Augen. Alle Geräusche und Ein-
Interne-Abteilung und sieht die dunklen Ringe unter ih-           drücke sausen zwar auf sie zu, doch es bedarf nur einer klei-
ren Augen – eigentlich braucht sie dringend Schlaf, das ist       nen eleganten Drehung des Kopfes, um auszuweichen.
ihr klar. Und etwas zu essen. Aber ihr Ziel – endlich ihr
Wunschgewicht zu erreichen – ist noch nicht in Sicht. Ihr         Die Badezimmertür am Ende des Ganges steht offen. Der
ist übel. Schwindlig. Auch ihre Zeitwahrnehmung verliert an       Stationsarzt beugt sich über Herrn v.K. und injiziert ein
Kontur. Sie ist schon wieder zu spät.                             Schmerzmittel in dessen quittengelben Oberschenkel. Er
                                                                  wendet sich Rosalie zu: „Bei Bedarf jederzeit weitere 2 ml,
Herr v.K., wird Rosalie bei Dienstübergabe von der Kranken-       dann wird er heut wohl endlich erlöst werden.“
schwester lakonisch mitgeteilt, habe sich heute mit seinem

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                                                                                   selbstverständlich doch für die anderen das eigene Unfass-
                                                                                   bare ist“, denkt sie und etwas Unbekanntes drückt von hin-
                                                                                   ten gegen ihre Augen.

                                                                                   Dann plötzlich laute Schreie von Herrn v.K.:
                                                                                   „Ich will nicht erlöst werden!“

                                                                                   Es ist kurz vor Mitternacht. „Das muss jetzt noch passieren,
                                                                                   in einer Stunde wär ich erlöst gewesen“, denkt Rosalie ver-
                                                                                   ärgert. Dem herbeigerufenen Arzt gelingt es, Herrn v.K. zu
                                                                                   bändigen und andere aufgescheuchte Patienten zu beruhi-
                                                                                   gen. Er öffnet den Suchtschrank. Da geht plötzlich der Notruf
                                                                                   „Herzalarm!“ beim Doktor ein. „Ich muss auf die Intensiv-
                                                                                   station, geht’s, Rosalie, mit der Spritze? Sonst auf Schwester
                                                                                   Annelies warten!“ Und weg ist er mit flatterndem Arztkittel.
                                                                                   Herr v.K. scheint wieder zu schlafen. Die durchsichtigen, silb-
                                                                                   rig glänzenden Augenlider sind geschlossen. Rosalie streift
                                                                                   erneut Handschuhe über und zieht die Decke weg. Wie sie es
                                                                                   gelernt hat, misst sie mit gespreizten Fingern das Dreieck, in
                                                                                   dessen Mitte sie die Nadel sticht. Ein leichtes Schaben an der
                                                                                   Spitze machte sie darauf aufmerksam, dass sie den Knochen
                                                                                   angestoßen hat.

                                                                                   Während sie beginnt, die Flüssigkeit zu injizieren, sagt Herr
                                                                                   v.K. plötzlich klar und deutlich, ohne sich zu bewegen, in die
                                                                                   lähmende Stille hinein: „Jetzt ist’s also soweit.“

                                                                                   Und jetzt kommt Rosalie zu sich, der Schreck sitzt. Im
Rosalie nimmt nur die Anwesenheit Bernis, eines jungen                             Zentrum. Mitten in der Bewegung zieht sie die Nadel zu-
Zivildieners, wahr. „Hallo!“, strahlt sie ihn fröhlich an und                      rück, die restliche Flüssigkeit tropft auf den Oberschenkel
ist erschrocken, wie abweisend er sie anschaut. Er setzt sich                      und zeichnet eine glänzende Spur. Das Röcheln setzt wieder
auf den Bettrand und nimmt Herrn v.K.s Hand, tätschelt sie                         ein. Was war das? Und genervt über ihre eigene Aufregung
und spricht leise auf ihn ein, bis sich dessen Unruhe legt und                     schließt sie unsanft die Tür hinter sich. Nichts mehr hören.
er röchelnd wegdämmert.                                                            Bald heimgehen. Vor allem nichts spüren.

Rosalie, trotz dieser späten Stunde hellwach, schiebt sich ei-                     Jetzt scheint ihr, als würde die Zeit schleppen, überempfind-
nen bequemen Stuhl auf den Gang und legt die Beine hoch.                           lich nimmt sie jeden Sekundenschlag der Uhr wahr. Klack,
Sie hört den rasselnden Atem aus der offenen Tür des Ba-                           klack, klack... Unruhig beginnt sie, den Gang auf und ab zu
dezimmers, ab und zu schlurfende Schritte, wenn einer der                          gehen, immer schneller, mechanisch die Zimmernummern
schlaftrunkenen anderen Patienten die Toilette aufsucht.                           abzählend. An der Badezimmertür verschärft sich ihre
Die Ziffern der überdimensionalen elektronischen Uhr im                            Wahrnehmung: Von drinnen kein Laut. Dröhnend der
Gang glitzern im Halbdunkel neonfarben. Das klackende                              Sekundenzeiger. 0 Uhr 33 Minuten. Eine abstrakte Zahl,
Geräusch des Sekundenzeigers gibt einen Zeittakt vor, der                          denkt sie, und öffnet die Tür.
Rosalie nichts bedeutet. Dann ein dezentes Dröhnen, der
Alarmknopf über der Badezimmertür leuchtet auf. Herr v.K.                          Die Bettdecke ist zu Boden gefallen. Herr v.K. liegt seltsam
                                                                                   gekrümmt seitlich in den Kissen. Unter den halbgeöffneten
Er sitzt am Bettrand und versucht, aufzustehen. Fällt hinten-                      Lidern ein zeitloser Blick, dessen Leere Rosalies innere Starre
über. Sie schiebt seine Beine unter die Decke, nicht ohne vor-                     durchdringt.
her nach den Einmalhandschuhen aus dem Spender an der
Wand zu greifen.                                                                   Es ist vorbei. Für Herrn v.K.

Als sie beim Verlassen des Raums im Vorbeigehen auf der                            Für Rosalie aber ist es ein Beginn. Sie streift die Einmalhand-
Badezimmerkonsole das kleine Päckchen sieht, fliegt sie                            schuhe ab, staunt über die Wärme seiner kalten Hände in
schon wieder ein nervöses Kichern an: vorsorglich bereit-                          den ihren.
gelegte Utensilien zum Versegnen des Verstorbenen, mit ei-
nem frischen Flügelhemd und dem Zettelchen für die große                           Und ist glücklich über die Tränen.
Zehe. Von den geistlichen Schwestern, auf dem Weg zur
Kapelle zum Avegebet hier abgelegt. Wie umsichtig. „Wie                                                                           Elisabeth Ebner

                                                                                                                        frauen.kom 2021/2      13
© Roksolana / Adobe Stock
 Frauen aus anderen Kulturen

             Island,           Land mit
                               Geschichte(n)

14   frauen.kom 2021/2
„Wenn jemand eine Reise tut, so hat er etwas zu erzählen.“ Keine Ahnung, ob der deutsche Dichter
Matthias Claudius in Island war. Wenn, dann ist er sicherlich nicht nur mit einer Geschichte zurück-
gekehrt, sondern mit einem ganzen Buch voller Eindrücke. Weite. Vulkane, die langsam aus ihrem
Schlaf erwachen. Mächtige Gesteinsmassive, halb vom Nebel verschluckt. Vatnajökull, der riesige
Gletscher, der über allem thront und vor dem man nur mit Bedacht und Respekt stehen kann. Seine
kalbenden Ausläufer, schwarze Kirchen aus Holz mitten im Nirgendwo, verborgene Wasserfälle, die
entdeckt, wer sich mutig über aus dem Fluss ragende Steine ins Innere der Höhlen wagt.

D
             er Mensch ist in Island        dicht-bewachsenen Birkenwald macht           Band. Der eigene Tag scheint nur halb
             nur Gast – selbst auf der      klar, warum sich viele Sagen um diesen       so viele Stunden zu haben wie der der
             Ringstraße, dem Haupt-         Ort ranken.                                  anderen. Eigentlich weiß man: Das hilft
             verkehrsweg des Landes,                                                     mir selbst aber nicht. Es gibt einem kein
begegnet man auf den über ein­tausend­      Doch wer nimmt sich Zeit, die Ge- gutes Gefühl, den eigenen Weg mit
dreihundert Kilometern nur weni-            schichten zu erzählen? In Island dem der anderen zu vergleichen. Im-
gen Reisenden. Weicht man von der           – ­ v iele Menschen. Nirgends sonst merhin weiß man nie, welche Steine die
Hauptroute ab, sind es oft nur Schafe,      wo auf der Welt werden pro                           andere Person schon überwin-
Islandpferde und Eissturmvögel, die         Einwohner*in mehr ­Bücher ge-            Keine       den musste oder ob sich die ei-
bezeugen, dass in dieser oft unwirtlich     lesen oder veröffentlicht. Als           Kon­        gene Straße hinter der nächsten
scheinenden Landschaft überhaupt            UNESCO-Literatur­stadt bietet
                                                                                   kurrenz, Kurve von Schotter in Asphalt
Leben möglich ist. Wer Island aus-          Reykjavík ein jährliches Litera-                     verwandelt.
gesetzt ist, muss gut für die wechsel­      turfestival, das international be- sondern
haften Bedingungen ausgerüstet sein.        kannt ist. Generell haben Litera- ein Mit­           Die Isländer*innen scheinen
„Du magst das Wetter nicht? Warte           tur und Kunst einen Platz in dem einander kein Preisschild an die Kunst
fünf Minuten.“ Das hört man oft, die        nordischen Land eingenommen,                         zu heften und vielleicht kann
Einwohner*innen kennen ihr Land             der seinesgleichen sucht. Auf                        sie sich so breit machen, weil
und dessen Unberechen­barkeit. Island       der touristischen Hauptstra-                         sie nicht von Vergleichen ein-
weiß, wie man Sonnen­    schein, Sturm      ße, bekannt durch den Regen­       bogen geschränkt wird. Was klar wird? Dass
und schwere Regenfälle in nur einen         auf dem Asphalt, gibt es viele von diese Leben-und-Leben-lassen-Kultur
Tag verpackt, manchmal schnürt es           Künstler*innen geführte Geschäfte. förderlich ist. Für die eigene Kreativi-
das Paket noch enger und der wunder-        Töpfer*innen schließen sich zusam- tät, für Glück und Hin­gabe an das Tun,
schönste Spätsommertag ver­     wandelt     men, um gemeinsam einen Laden zu für den Output, für die Zusammen­
sich in graues, nasses Winter­wetter und    führen, in dem einmal die eine Person arbeit mit anderen. Wird Kunst des-
wieder ­zurück.                             und dann die andere hinter der Kasse halb mehr geschätzt, sicht­barer? Oder
                                            sitzt, wo die Werke von Kunstschaffen- liegt es vielleicht an den Wintern, die
Sicherlich ist nicht nur das Spiel des den auf die der anderen aufmerksam zwar nicht kälter als im Rest Europas
Wetters daran beteiligt, dass Island machen.                                             sind, aber länger und dunkler? Inspi-
ein Land der Geschichten ist –                                                           riert die Landschaft und das ab Herbst
Nebel und Regen hauchen der            Nur           Kunst  passiert im Kollektiv.  Es   langsam schwindende Tageslicht die
Natur (und der Kreativität der                       scheint, als würde das Schaf- Menschen dazu, kreativ zu werden?
                                         zu
Menschen) neuen Geist ein.                           fen keine Konkurrenz ken- Was immer die Schöpferkraft befeuert:
Unerklärliche Gesteinsforma-           Gast          nen, sondern ein Miteinander. Gut, dass die Künstler*innen Kunst
tionen gelten als Trolle, die im                     Wertschätzen und Annehmen. machen, anstatt die Winter­monate vor
anbrechenden Tages­licht verstei-                    A kzeptanz dessen, was man dem Laptop zu hängen, um Netflix zu
                                                     ­
nerten. Im Norden liegt Ásbyrgi, ein selbst und was die anderen kreieren, schauen. Dass sie Geschichten erzäh-
Canyon, der wie ein Hufeisen (Odins nicht in Vergleich gesetzt zueinander. len, die die brachiale Schönheit Islands
achtbeiniges Pferd soll dort versehent- Und das ist heilsam.                             ihnen in den Mund legt.
lich die Erde berührt haben) geformt ist
und in dem das gesellschaftliche und In Zeiten von Instagram wird uns oft Es stimmt: Wer eine Reise tut, der hat
wirtschaftliche Zentrum der Elfen lie- ein Spiegel vorgehalten. Dieser Künst- etwas zu erzählen. Und Island? Island
gen soll. Egal, ob man als Besucher*in ler hat gerade die Follower-Marke von sorgt dafür, dass das so bleibt.
an die Existenz der Wesen glaubt – die zehntausend geknackt, diese A         ­ utorin
Abwesenheit von Geräuschen in einem produziert Bestseller am laufenden                                                  Anna Lane

                                                                                                        frauen.kom 2021/2     15
Was sagt Mann dazu?

          Das       Wunder

                                                                                            © Ralf-Udo Thiele / Adobe Stock
           vom Parkplatz
Nein, bitte nicht schon wieder ein Alarm bei Tante Renate.
Das ist heute das dritte Mal. Was soll ich denn machen, ich kann
nicht die ganze Zeit bei ihr sein, das ginge platztechnisch schon
gar nicht, geschweige von meiner persönlichen Situation her.
Es ist 20:15 Uhr, mein Fünfjähriger wird aus dem Bett gerissen.

D     as Pyjamakind wird in eine Decke
      gewickelt, unsanft ins Auto gesetzt
und wir zwei rasen in Richtung Andrä-
                                            Unfall, am Einsatzort eintreffen. Am
                                            Andrä-Parkplatz beschwöre ich den
                                            Halbschlafenden in seiner Teletubbies-
viertel zu Tante Renate. Von wegen Tan-     Kuscheldecke, er solle sich nicht rühren
te? Ich bin nicht mal mit ihr verwandt.     und brav weiterschlafen.
Egal, ich bin der letzte Mohikaner, der,
der überblieb, aus einer Reihe von guten    Ich stürme die Wohnung in Erwartung
Bekannten und Freunden.                     einer Katastrophe und ernte ein ver-          Wie armselig von mir, im Nachhin-
Jener, der es sich anfangs           Das    wundertes „Was machst du denn hier?“          ein betrachtet. Ich habe mich richtig
nicht eingestehen wollte,       Pyjama-     Ich suche das Notfall-Armband und                            reinlegen lassen, die De-
dass seine Bezugsperson kind wird           finde es um den Stiel der Klobürste ge-       Die            menz war längst so fort-
und Mentorin, unaufhör-            in die   wickelt. Das dürfte ihr wohl vom Arm          Demenz         geschritten, dass Pflege-
lich in die Demenz rutsch-                  gerutscht sein. Ich quittiere den Alarm       war weit       bedarf bestand. Aber was
                                   Decke
te. Anfangs klang es wie                    und melde mich beim Roten Kreuz, dass                        hätte ich tun sollen, ich
                                                                                          fortge-
ein Täuschungsmanöver, gewickelt            alles in bester Ordnung wäre. „Nichts                        war nur ein Bekannter
immer      wiederkehrende                   ist in bester Ordnung“, höre ich von ihr      schritten      von ihr, wie schon gesagt,
Fragen nach dem Wetter,                     im Hintergrund, „wie soll denn alles in                      der, der überblieb von ei-
ob ich denn heute noch                      Ordnung sein, wenn du mich dauernd                           ner Schar von Freunden
arbeiten müsse usw. Besuch bekam sie        im Stich lässt?“ Ich solle gefälligst blei-                  und Bekannten, aber die
auch nicht mehr, obwohl sie mir von         ben. Ich denke an meinen Buben, ein-          waren alle nicht mehr greifbar. Zu-
lustigen Kaffeerunden berichtete. Ir-       gesperrt und hoffentlich schlafend im         rückgezogen oder selber steinalt und
gendwann ist mir klar geworden, zwei        Auto. Habe ich das Auto abgesperrt?           bedürftig, was macht das schon für
aus dem lustigen Kaffeekränzchen wa-        Ich bin leicht nervös. Ich predige wie        einen Unterschied? Für mich war klar,
ren schon seit Jahren tot.                  ein Geistlicher, das rote Licht am Mo-        einer musste was tun, die Auswahl war
                                            nitor nicht auszuschalten,                    gering, also tat ich was. „Was man sich
Ich fuhr wie ein Besessener, um ja          denn sonst gäbe es wieder Ich stürme          vertraut gemacht hat, für das ist man
nicht zu spät zu kommen, egal was es        Alarm, die Marmeladen-          die Woh-      auch verantwortlich“, danke, Saint-
war. Leider hatte ich es mir zu Hause       gläser in der Nacht nicht         nung in     Exupéry, ich hatte mir schon so was
schon gemütlich gemacht, mein Bub           auszulöffeln, das wäre zu Erwartung           Ähnliches gedacht!
schlief schon, und ich genoss meinen        viel Zucker, und nicht im einer Kata-
neuen Nussschnaps, der mit heutigem         Nachthemd auf den Bal-                        Okay. Für die Nacht ist gesorgt. Frisch
                                                                             strophe.
Tag seine Reifezeit beendet hatte. Und      kon zu gehen, schon gar                       umgezogen, die Zähne geputzt, fünf-
jetzt sollte ich möglichst schnell, ohne    nicht ohne Hausschuhe.                        zehnmal am Klo und 150 Mal durch-

16      frauen.kom 2021/2
gekämmt und versichert,          Für die    reduzieren. Es kommt erneut ein Anruf      führerscheinlos mit einem schlafen-
dass die Frisur perfekt        Nacht ist    vom Roten Kreuz, Alarm bei meiner          den Kind auf dem Arm durch die kalte
sitzt. „Wann kommst du          gesorgt!    Tante. Sie hat schon wieder den roten      Nacht irren. „Lieber Gott, warum ich,
wieder?“ kann ich mit ei-                   Knopf gedrückt! Ich bin am Durchdre-                    warum tust du mir das
nem ehrlichen „Bestimmt                     hen. Ich nehme die Verantwortung auf       Das          an? Das arme Kind, die
sehr bald“ beantworten.                     mich und beschwöre sie, niemanden zu       Wunder       arme Tante, zwei kaputte
                                            schicken, ich wäre ja buchstäblich noch    vom          Autos und ein Führer-
Aus dem Haus gelaufen, rüber zum            in der Wohnung. Nein, eigentlich stand     Parkplatz scheinloser, der eigentlich
Parkplatz mit schlafendem Kind im Wa-       ich zwischen zwei demolierten Autos                     gar nicht hier sein dürfte,
gen, und eigentlich eine Wut im Bauch,      die Polizei rufend. Mein Kleiner muss                   wenn es Verwandte und
weil ich mich auch alleine gelassen und     aufs Klo. Kein Problem, der Parkplatz                   Freunde gäbe.“ Innerlich
hilflos fühle. Warum eigentlich ich?        ist groß genug. Trinken möchte er auch     bedaure ich den Verlust meines Füh-
Habe ich nicht schon genug Sorgen in        noch was, aber das muss ich ihm schul-     rerscheines, während ich mich unge-
meiner Beziehung? Muss das auch noch        dig bleiben.                               schickt anstelle, um in das blöde Röhr-
sein? Ich drehe den Schlüssel, starte den                                              chen zu blasen.
Wagen und setze rasant zurück, mitten       Rasch wieder rein in die Kuscheldecke.
in die Seitenfront einer wunderschönen      Die beiden Polizistinnen sind jung und     Urteilsverkündung: 0,0 Promille! Äh …
BMW-Limousine. Durch den Krach              hübsch und freundlich. Wortreich er-       Okay, wenn es die Frau Polizistin sagt?
wird das arme Kind munter. „Was ist         kläre ich den Sachverhalt und den Stress   Da schlägt die Turmuhr, 21:00 Uhr.
das?“, kommt es schlaftrunken aus der       mit meiner Tante. Alles kein Problem,      Reflektorisch sage ich: „Ich danke
Kuscheldecke. Nichts, außer ein kräftig     bis zu der Sekunde, in der sich die eine   dir.“ Und richte meinen Blick zu den
beschädigter BMW und eine demolierte        fast entschuldigend mit den Worten an      Türmen der Andräkirche. Das Wun-
Hinterseite an unserem Auto.                mich wendet: „Routinemäßig müssen          der vom Parkplatz, anders kann ich es
                                            wir leider einen Alkoholtest machen.“      nicht erklären, auch heute noch nicht!
Ich suche verzweifelt nach einem Kau-       Ich knicke ein! Das wird schlichtweg
gummi, um meinen Alkohol-Atem zu            eine Katastrophe. Ich sehe mich schon                             Elmar Prokopetz

                                                                                                      frauen.kom 2021/2     17
Glaube und Wissen                                              Meine Bibel-Lieblingsstelle
                                                                 besprochen von Manuela Maier

        Was ich habe,
                          geb’ ich dir

                                                                                                      © Артём Князь / Adobe Stock

Petrus und Johannes gingen um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf. Da wurde
ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des
Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um
Almosen betteln. Als er nun Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen.
Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an! Da wandte er sich ihnen zu
und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen. Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht.
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Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher! Und er fasste
ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke; er sprang
auf, konnte gehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher
und lobte Gott. Sie erkannten ihn als den, der gewöhnlich an der Schönen Pforte des Tempels saß und
bettelte. Und sie waren voll Verwunderung und Staunen über das, was mit ihm geschehen war.

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Z
         uerst möchte ich euch auf zwei Kleinigkeiten auf-        Nicht       Begegnungen. Ich sage nicht, dass jeder Mensch
         merksam machen: Zweimal wird in der Geschichte           immer       ein Apostel ist. Doch ich durfte immer wieder
         darauf hingewiesen, dass der Gelähmte an der „Schö-                  die Erfahrung machen, mit einer positiven und
nen Pforte“ sitzt, wenn er um Almosen bittet. Außerdem            leicht      offenen Einstellung meinen Mitmenschen ge-
wird betont, dass der Gelähmte – ohne Petrus und Johannes                     genüber besondere Menschen in meinem Leben
als Jünger Jesus’ zu erkennen – erwartet, etwas von ihnen zu                  begrüßen zu dürfen, die mich aufrichteten und
bekommen. Wir lesen also von einem bereits sein ganzes Le-                    mich nicht als von der Vergangenheit gelähmte
ben lang gelähmten, bettelnden Mann, der an der „­Schönen         Frau wahrnahmen, sondern als eine von ihnen und als sol-
Pforte“ sitzt und erwartet, Gutes von den Menschen zu be-         che durfte bzw. darf ich ein Stück meines Weges mit ihnen
kommen, die an ihm vorbeiströmen. Mein absolutes High-            gehen. Ich hüpfe vor Freude und lobe Gott bei dem Gedan-
light dieser Bibelstelle ist die Heilung des Gelähmten. P
                                                        ­ etrus   ken an die vielen Wunder, die mir durch die Hand anderer
spricht zu dem Gelähmten: „Silber und Gold besitze ich            Menschen widerfahren sind.
nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu
Christi, des Nazoräers, geh umher!“ Mit seinen Worten al-         Der Glaube an Apostel-Menschen hat mein Leben geret-
lein ist das Wunder aber noch nicht vollbracht. Petrus nimmt      tet. Durch die Trennung meiner Eltern wurde ich schon in
den Gelähmten bei der Hand und richtet ihn auf.                   sehr jungen Jahren damit konfrontiert, was Menschen, die
                                                                  sich vermeintlich lieben, einander antun können und auch
Ich liebe diese Geschichte, weil sie mein Lebensmotto wider­      ich musste lernen, wie es sich anfühlt, wenn sich Menschen
spiegelt. Ich möchte, auch wenn ich mich durch gewisse Le-        von einem abwenden, von denen man dachte, sie würden ein
bensumstände oder Glaubenssätze gelähmt                           ganzes Leben lang zu einem stehen. Man ließ mich völlig
fühle, immer versuchen, mich an die „Schöne              Mein     gelähmt zurück, aber damit wollte ich mich nicht abfinden.
Pforte“ zu begeben und daran zu glauben, dass         Lebens­     Vielleicht muss man einmal am Boden gewesen sein, um sich
ich von den Menschen, die meinen Pfad kreu-                       bewusst dafür entscheiden zu können, ein positiver Mensch
                                                        motto
zen, Gutes erwarten kann. Von dieser Ein-                         zu sein. Was mir damals am schmerzlichsten bewusst wurde,
stellung geleitet, habe ich oft auf unerwartete                   war, dass ich keine Freunde hatte, auf die ich mich in meiner
­Weise Menschen kennengelernt, die mir die                        Lähmung stützen konnte oder die mich zur
 Hand reichten und mich aufrichteten, die mir                     „Schönen Pforte“ tragen konnten. Und dann              Ohne
 weder Silber noch Gold schenkten, sondern das unbezahl­          habe ich zum ersten Mal wirklich gebetet. Lähmung
 bare Geschenk einer bedingungslosen Freundschaft. Für            Ich habe Gott darum gebeten, mir einen En-            gibt es
 mich ist die Welt voller Apostel: Menschen, die mich inspi-      gel zu schicken. 10 Jahre später ist S. immer
 rieren, sei es durch die unglaubliche Güte, die von ihnen aus-   noch meine beste Freundin und mein Beweis
                                                                                                                           kein
 geht, oder durch die positive Art und Weise, wie sie durchs      für die unendliche Liebe Gottes. Sie hat mir        Wunder
 Leben gehen oder ihre Berufswelt gestalten.                      die Hand gegeben und mich aufgerichtet, wie
                                                                  viele nach ihr.
Mit dieser Einstellung durchs Leben zu gehen, fällt jedoch
nicht immer leicht. Vielen von uns wurden von Menschen            Manchmal habe ich das Gefühl, Gott hat nie aufgehört, die-
Unrecht getan oder schlimme Dinge zugefügt: Ein gewalt-           ses Gebet zu erhören. Ich habe vielleicht keine klassische
tätiger Elternteil, ein schlimmer Betrug vom Ehepartner           Familie, die hinter mir steht, aber ich habe Freundschaften,
oder besten Freund, ein Überfall von einer gänzlich fremden       die man weder mit Silber noch mit Gold aufwiegen kann
Person haben vielen das Fürchten vor den Menschen gelehrt.        und ich betrachte mich als unglaublich reichen und glück­
All dies sind Situationen, in denen wir uns komplett gelähmt      lichen Menschen. Dies führe ich alles darauf zurück, dass ich
und von Gott verlassen fühlen. Wir können es oft nicht glau-      mich als gelähmter Bettler bewusst dafür entschieden habe,
ben, zu welchen Taten Menschen fähig sind. Aber besonders         Ausschau nach den Geschenken Gottes zu halten und wenn
dann ist es wichtig, die „Schöne Pforte“ aufzusuchen und an       ich zurückblicke, ist für mich die Lähmung das größte Ge-
das Gute in den Menschen zu glauben. Denn tut man das             schenk. Denn ohne Krankheit gibt es keine Heilung, ohne
nicht, verpasst man so viel Schönes und so viele heilsame         Lähmung kein Wunder.

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Fräulein Hübsch,
                         es geht nicht mehr besser!

Jessika nervt seit einer geschlagenen Stunde. Meine lautstarke Bemerkung: „Fräulein Hübsch,
es geht nicht mehr besser“, dringt nur bruchstückhaft durch die Badezimmertüre.

I
       rgendwelche Worte, wie „keine       Warum glaube ich immer, sie sei Ein-        sam. Warum habe ich eigentlich solche
       Ahnung“, „keinen Schimmer“          flüssen ausgesetzt, die ihr à la longue     Angst um sie?
       oder „völlig ‚out of time‘ “, be-   nicht gut tun? „Das kann es aber jetzt
komme ich zurück. Ja, ja, da wird sie      nicht sein, sag einmal, schämst du dich     Habe ich es versäumt, ihr die nötige
wohl recht haben. Mir ist so viel nicht    nicht? Das ist ja wohl das Letzte!“ Mit     Portion Selbstvertrauen, christliche
mehr verständlich. Jessy kommt aus         diesen Worten traf mich das Strafge-        Werte wie kritisches Denken, Mäßi-
dem Bad, einem Popstar ähnlich ge-         richt meiner Frau. In meiner Verzweif-      gung und Nächstenliebe zu vermitteln?
schminkt oder besser gesagt gestylt,       lung habe ich mich neulich hinreißen        Oder bin ich hysterisch und sehe hier
aber sie ist nicht mehr sie, meine klei-   lassen, Jessikas Handy zu kontrollie-       einen Jugendtrend schon als Welt­
ne Jessika, sie hat fremde Züge ange-      ren. Ich betrat eine Welt, die mir so       anschauung etabliert?
nommen. Sie dreht einige Pirouetten        unverständlich und fremd war, wie ich
und lächelt verliebt in den Spiegel.       es kaum für möglich gehalten hatte.         Denke ich an meine Jugend, dann höre
Noch eine Haarsträhne hier, noch eine      Unzählige Gesundheits- und Fitness-         ich meinen Vater mit donnernder Stim-
Lippen­kontur da.                          Apps bedecken die Oberfläche. Sie wird      me: „Man muss nicht bei jedem Blöd-
„Wo gehst du heute hin?“                   doch nicht krank sein und wir wüssten       sinn mitmachen!“ oder „Man muss
Die Frage bleibt unbeantwortet.            nichts davon? Meine liebe Jessika, das      nicht den größten Deppen hinterher-
                                           fröhliche Wesen, welches so heiter an       laufen!“ Damit war alles gesagt! Eine
Ich bringe es nicht übers Herz, es ihr     unserem Tische sitzt und manchmal           Diskussionsrunde war nicht vorge­
zu sagen. Aber für mich hat sie ein las­   noch so Kind sein kann, lebt in einer       sehen. Wie einfach, wie klar!
zives, beinahe schon ordinäres Aus-        Welt, in der sie scheinbar ständig gefor-
sehen angenommen, auf alle Fälle ein       dert wird. Aussehen, Kleidung, Musik,       Das Bad ist frei, ich sehe Schmink­
nicht zu ihrer Jugend passendes. Ich       selbst der Humor scheint mir uniform        utensilien, welche ich nicht zuordnen
drücke ihr einen Fünfziger in die Hand     vorgegeben zu sein. Empfindet man           kann. Gottlob, sie hat ihre Smartwatch
und nehme ihr das Versprechen ab, sich     anders, ist man ein Loser oder ein Op-      nicht mitgenommen, das ist ein Zei-
nicht in Hassans aufgemotzter 500PS-       fer. Orientieren kann man sich an dem,      chen, dass sie an diesem Abend unge-
„Schüssel“ nach Hause fahren zu lassen.    was gerade trendy ist, was mega ange-       stört bleiben möchte.
Völliges Unverständnis fahre ich als       sagt ist oder ein unbedingtes „Must-
Ernte ein. Wieso eigentlich? Ich mache     have“ darstellt. Und diese Unmengen         Ich betrachte mich im Spiegel und phi-
mir Sorgen! Das steht mir als Vater zu!    an Selbstportraits, für wen sind die ge-    losophiere. Jessika scheint mir nicht un-
                                           macht? Das ist ihre Welt, in der sie mir    glücklich zu sein, trotz all dem Druck,
Vor Kurzem konnte sie mich überzeu-        aber nicht unglücklich erscheint, trotz     der auf ihr lastet. Wirklich wissen tu
gen, ihr teures Fitness-Center-Abo zu      der permanenten Anforderungen, auch         ich es aber nicht. „Was machst du im
verlängern, weil ihr Hintern zu groß       noch optisch top sein zu müssen.            Bad? Ist was?“, kommt aus der Küche.
geworden sei. Genauso, wie sie mir das                                                 „Nein, nicht wirklich!“, gebe ich mit
Versprechen abgerungen hatte, wenigs-      Jessy kehrt zurück, reißt die Türe auf,     aufgesetzter Fröhlichkeit zurück.
tens ein Tattoo zu erlauben. Inzwischen    dreht sich kurz vorm Spiegel und ruft:
sind es aktuell drei, ich habe sie gese-   „Hab nur was vergessen, kommen nicht        Wie sagte meine Oma immer?
hen, obwohl sie trickreich versucht, sie   vor Mitternacht!“
vor mir zu verbergen. Bei ihrer Mutter     „Ist gut, mein Schatz, schönen Abend!“,     Wer ständig über seinen Sorgen brütet,
rennt sie offene Türen ein. „Lass sie in   kommt aus der Küche.                        dem schlüpfen sie auch aus.
Ruhe, sie ist ein junger Mensch!“, höre    „Soll ich dich nicht lieber…?“, kommt
ich dann von ihr.                          von mir, aber da war ich jetzt zu lang-                             Elmar Prokopetz

                                                                                                      frauen.kom 2021/2     21
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