Frauen.komAusgabe Winter 2021 - Katholische ...
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
frauen.kom Ausgabe Winter 2021 Zeitschrift der Katholischen Frauenbewegung Salzburg Herzensbildung Kein Zufall, sondern eine bewusste Entscheidung © Fokke / Adobe Stock Bittersüß Island An der schönen Pforte Alles für das Kind? Elfen und die Kunst Was ich habe, geb ich dir
Editorial Liebe Leser*innen, Meine Religion ist Güte, sagt der Dalai Lama. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, sagt Jesus und ergänzt, Olivia Keglevic (Chefredakteurin) das ist das größte Gebot. Es gibt kein größeres Gebot. (Mk.12,31) Gütig sich selbst und den anderen gegenüber. Liebe sich selbst und den anderen gegenüber. Im Lot sein mit sich selbst und den anderen … ein ungewohnter Ansatz in einer Gesellschaft, die ganz andere Ziele hat: Geiz ist geil, ich habe doch nix zu verschenken, meine Freiheit ist alles, jeder ist sich selbst der Nächste … Seltsam, sind wir Menschen doch von Geburt an auf ein Du angewiesen und ausgerichtet. Ohne die Liebe der Eltern würden Babys in den Manuela Maier Evelin Ferner Windeln verkommen. Und noch seltsamer, wie glücklich es die Eltern machte, sich um ihre Kinder kümmern zu dürfen, wie sehr ihnen dabei das Herz aufgeht … Wer schon mal einen lieben Menschen am Totenbett begleitet hat, weiß, dass angesichts dieser Endgültigkeit plötzlich ganz andere Dinge zählen als die, denen wir im Alltag hinterherlaufen. Nicht immer ist das, was ich mir wünsche, gut für mich, sagt James Doty. Wie aber entdecken, was gut für mich ist? Birgit Dottolo Elisabeth Ebner Niemand will sich im eigenen, einsamen Universum verlieren. Aber wie diesen anderen Weg finden? Wie Selbstliebe lernen? Wie Nächstenliebe lernen? Zwischen dem Du und dem Ich scheint sich die ganze Welt eines Wir zu entfalten. Und dieses Wir haucht unserer Sehnsucht nach Glück und Erfüllung Leben ein. Aber wie diesen Weg finden? Wie die Balance hin- bekommen? Was tun mit der Angst, sich selbst zu verlieren? Elmar Prokopetz Magdalena Barth Viele Fragen, die bleiben, aber auch Menschen, die gute Antworten leben. Wir wünschen euch die Sehnsucht nach eurer eigenen Antwort. Olivia Keglevic Chefredakteurin Sara Gerner Isabella Fredrich 2 frauen.kom 2021/2
Inhaltsverzeichnis Herzensbildung Literatur selbstgeschrieben 04 Meine Religion ist Güte 20 Fräulein Hübsch 06 Sie haben Ihr Ziel erreicht 08 Bittersüße Entbehrungen Klimaschutz und Nachhaltigkeit 10 Ohne Vorwarnung 23 Für dumm verkauft? 12 Wieviel Selbstlosigkeit brauchen wir? kfb – Regionalteil Frauen aus anderen Kulturen 24 kfb Frauen 14 Island, Land mit Geschichte(n) 28 Highlights & gute Ideen aus den Regionen Was sagt Mann dazu? 31 Carearbeit & Aktion Familienfasttag 16 Das Wunder vom Parkplatz 34 Weltgebetstag 35 Veranstaltungen Glaube und Wissen 18 Was ich habe, geb ich dir Impressum Zirbenschnaps zum Verlieben Ob Original, vom Eichenfass oder mit Chili - Handmade in Salzburg Manuel Schmied, Fotograf THEATER & SHOWEINLAGEN www.hoamatgenuss.at www.bilder-schmiede.at DESIGN, GRAFIK & MALEREI Versandkostenfrei ab € 70 www.bamer-ebner.com frauen.kom 2021/2 3
© alonaphoto / Adobe Stock Herzensbildung Meine R eligion Güte ist (Dalai Lama) Mitgefühl und Güte sind ansteckend Jeder, der schon mal danach gehandelt hat, weiß, dass es so ist. Man fühlt sich zufrieden und eins mit der Welt und dem ganzen Universum, wenn einen ein Kind, eine Freundin oder auch ein Partner dankbar an- lächelt, weil man Rettung in letzter Not gewesen ist. Für Kinder unserer Zeit, die mit „Geiz ist geil“-Parolen aufgewachsen sind, hat die Universität Stanford ein großes Forschungszentrum (Ccare – Center for Compassion and Altruism Research und Education) ge- gründet, das der Frage nachgeht, welche Auswirkungen Meditation und Mitgefühl auf das menschliche Hirn haben. Zusätzlich dazu entwickelt das Institut Trainingsprogramme für das Kultivieren von Mitgefühl. 4 frauen.kom 2021/2
M itgefühl ist ein Instinkt, so viel weiß man heute. Unsere Gehirne sind dafür verant- wortlich. Das ist nicht nur bei den Menschen so, sondern auch bei den Tieren, die Artgenossen und auch anderen nutzen könnte, um sein Leben aktiv in die Hand zu neh- men. Wichtigste Bedingung, die sie stellt: Er muss gewillt sein, täglich zu üben. Sie zeigt ihm einfache Meditations- techniken, um ruhiger werden und Abstand zu seinen Pro- Tieren helfen. Kommen wir anderen zu Hilfe, werden Lust blemen finden zu können, Visualisierungsübungen, um sich und Belohnungszentren in unserem Hirn aktiviert und das und anderen Gutes zu wünschen, besonders seinen Eltern, – erstaunlicherweise – sehr viel stärker, als wenn uns selbst die ihm so vieles schuldig geblieben sind. Und sie animiert geholfen wird. ihn, sich gezielt und konkret vorzustellen, was er im Leben erreichen möchte. Selbstlos und über Wochen gibt sie ihm So bleibt die Frage, warum manche Menschen alles tun, ihre Einsichten und Weisheiten weiter, begegnet ihm mit ei- um anderen zu helfen, und andere wiederum Menschen, ner Güte, die er in dieser Form noch nie erlebt und in ihm denen es schlecht geht, problemlos den Rücken zukehren den Wunsch genährt hat, sich selbst und anderen gegenüber können. Güte zu kultivieren. Ihre verblüffende Zuneigung macht ei- Unser Herz ist ein mächtiges Organ und neben dem Hirn nen anderen Menschen aus ihm und darüber hinaus einen die Schaltstelle unseres Lebens. Es schlägt 100.000x pro Tag, berühmten Hirnchirurgen, den auch die tristen Verhältnisse pumpt 7500l Blut durch ein kompliziertes System von Blut- während seiner Schul- und Studienzeit nicht daran hatten gefäßen, das, würde man es aufk lappen, ca. 96.000 Kilome- hindern können, seinem Ziel treu zu bleiben. ter Länge hätte, also mehr als zweimal der Umfang der Erde. Das Wort der alten Ägypter für Glück war Awt-ib, ein weites Waren es zunächst Geld und Ruhm, von denen er träum- Herz, hingegen hieß das Wort für Traurigkeit ab-ib, ein ab- te, musste er auf leidvolle Weise lernen, dass ihn dies nicht gestumpftes Herz. wirklich zu erfüllen vermochte. Sein Leben fühlte sich leer an, obwohl er Millionen Dollar auf dem Konto hatte. In vielen Kulturen wird das Herz als Sitz der Seele betrach- tet. Und auch in der Forschung ist klar: Das Herz stellt ein Da begann er zu trainieren, das eigene Herz für sich selbst ähnliches Intelligenzzentrum dar wie das Hirn, oder anders und auch für andere Menschen aufzumachen und der Welt gesagt, das Herz ist der emotionale Teil des großen mensch- ganz bewusst mit Liebe und Wohlwollen zu begegnen, zu lichen Intelligenzzentrums, des großen Nervengeflechtes, sich selbst und zu den anderen gut zu sein. Es war genau je- das Hirn der kognitive Teil. Hirn und Herz kommunizieren ner Ratschlag, den er von seiner mütterlichen Freundin als miteinander über den Vagusnerv, aber es existieren mehr Teenager nicht verstanden hatte. Jetzt ging ihm auf, was sie Nervenverbindungen vom Herzen ins Hirn als umgekehrt. gemeint hatte und sein Leben änderte sich nochmals radikal. Heute ist Doty davon überzeugt, dass die Wirkmacht, die je- Sowohl unsere Gedanken als auch unsere Gefühle besitzen der Einzelne auf das Leben eines anderen Menschen hat, viel eine große Kraft. Doch obwohl ein starkes Gefühl einen Ge- gewaltiger ist, als wir wahrhaben wollen. danken vertreiben kann, vermag ein Gedanke selbst kaum ein Gefühl auszulöschen oder zu beruhigen. Das kennt jeder, Das Talent und die Fähigkeit, mit anderen in Verbindung zu der schon mal Nächte wach gelegen ist, obwohl der Partner treten, haben wir alle, sagt er – über Millionen kleine Wege mit Vernunftargumenten zu beruhigen versuchte. kommunizieren unsere Herzen miteinander, über Kunst, Musik, Literatur, Vorträge oder auch Zuhören, Lachen. Wir Vollständig nutzen wir unser gesamtes Nervengeflecht, un- spüren oft plötzlich selbst, dass wir mit anderen auf einer ser Intelligenzzentrum, erst, wenn wir auch das Herz zu Wort Wellenlänge einschwingen, die uns guttut, die uns glücklich kommen lassen und Herz und Hirn miteinander verbinden. und lebendig macht. Dieses Miteinander-in-Kommunika- Von der Kraft, die daraus erwächst, berichtet der Leiter und tion-treten schenkt Erfüllung. Gründer des Instituts Ccare, James Doty, ein Hirnchirurg aus Amerika in seinem Buch „Das Alphabet des Herzens“. Verblüffend bleibt für Doty vor allem die Tatsache, dass, wenn wir gütig handeln, unser Tun andere Menschen ani James Doty hat im eigenen Leben erfahren, wie viel ein miert, selbst gütig zu handeln. Mensch mit Güte und Mitgefühl bei einem anderen Men- schen bewirken kann, und erzählt sehr anschaulich seinen Und mit dieser Behauptung schließt sich sein Kreis zum persönlichen Werdegang. Als Kind eines alkoholkranken Dalai Lama, der Dotys Forschungsinstitut für Mitgefühl und Vaters und einer depressiven Mutter, die oft mehrere Tage Selbstlosigkeit mit privaten Spenden intensiv unterstützt. nicht aus dem Bett findet oder im Krankenhaus verbringt, lernt er früh, dass er nur geringe Chancen hat, aus seinen Olivia Keglevic sozial schwachen Verhältnissen herauszufinden. Seine eige- nen Fähigkeiten und Stärken zu entdecken oder gar weiter- zuentwickeln, ist nicht einmal ein Gedanke, muss er sich Buchtipp doch vorwiegend um seine Eltern kümmern! Da lernt er die Inhaberin eines Zaubereiladens kennen, die Zuneigung zu James Doty, Das Alphabet des Herzens, ihm fasst und ihn einlädt, täglich zu kommen, damit sie ihm Knaur.Leben 2019 lehrt, wie er seine mentalen und emotionalen Fähigkeiten frauen.kom 2021/2 5
Sie haben Ihr Ziel erreicht! Selbstliebe Das Rennen um die Selbstliebejournals boomen. Liebevolle Affirmations- karten, Achtsamkeitstagebücher bis hin zu Selbst- liebe-Seminare erfreuen sich aktuell besonderer Beliebtheit. Auf Instagram – eine Plattform, wo vor- rangig Bilder und zweitrangig Texte geteilt werden können – gibt es unzählige Accounts zum Thema Selbstliebe. Klingt schön, ist es meistens auch, jedoch wird es schwierig, wenn Selbstliebe als Konsum- mittel verscherbelt und an Bedingungen geknüpft wird. Dabei möchte ich einen Aspekt besonders hervorheben. E rst wenn du dich selbst liebst, kannst du ein er Wenn ein Tag oder drei einfach nur in die Mülltonne ge- fülltes und glückliches Leben leben. hören? Wenn der Kampf um die Selbstliebe dafür sorgt, mich und mein Leben noch stärker zu verurteilen, dann Du liebst dich nicht selbst? Sorry, dann wird das läuft doch irgendwas falsch, oder? mit dem Happy-Life dieses Mal wohl eher nichts. Dass das er- füllte Leben erst beginnt, wenn ich mich selbst liebe, erzeugt Aber nicht verwunderlich: Die Darstellung von Selbst liebe unheimlichen Druck. Denn wer will nicht am besten morgen erfolgt oft aus einer privilegierten Perspektive, die dazu schon ein glückliches, sorgloses Leben haben? Der Count- neigt, stark schwarz-weiß zu denken und diesen Prozess down beginnt. Selbstliebe wird auf Instagram gerne einmal als eine Ja-Nein-Frage abzutun. Menschen, die unter ihren als etwas verkauft, das ich auf einer Liste abhaken kann, sie Selbstzweifeln leiden und mit ihrem Selbstwert generell wird zu einer unumgänglichen Bedingung, zu einer Hürde auf Kriegsfuß stehen, werden unter dieser Hoffnungslosig- oder zu einem Ziel. Aber ist Selbstliebe nicht vielmehr ein keit und diesem Druck noch stärker zermürbt als eh schon. Prozess, der unterschiedlich leicht und schwer verläuft, eine Ihnen wird die Vorstellung geraubt, jemals ein erfülltes Le- lebenslange Übung und Herausforderung? Wenn Selbst liebe ben leben zu können, weil sie ihren Anblick im Spiegel kaum heißt, mit sich selbst eine Beziehung einzugehen und sich ertragen oder ständig mit dem Glauben zu kämpfen haben, selbst zu begegnen, wie kann dann jemand verlangen, dass in nichts gut genug zu sein. diese Beziehung unproblematisch und geradlinig verläuft? Dass da nie gestritten, ignoriert, geweint oder verzweifelt Radikale Selbstliebe wird? Heißt Selbstliebe wirklich, dass ich nur mehr Glück und Zufriedenheit empfinde und mich nie wieder irgendwas Instagram-Accounts kennen kaum Entschuldigungen und ärgern wird? Was tue ich dann, wenn ich einmal traurig bin? können in ihren Aufforderungen nahezu radikal werden: 6 frauen.kom 2021/2
© atiger / Adobe Stock „Würdest du dich selbst mehr lieben, wär das alles eh kein Es ist ein bisschen wie mit der Vorstellung, dass mich die Problem für dich!“ Das ist kränkend und verletzend, weil es Hausärztin gesund machen wird, dabei stellt die Hausärztin einem unterstellt, sich selbst nicht genug zu lieben und sich „nur“ die Diagnose, die Tabletten darf ich letztlich selber nicht genügend Mühe zu geben – und das dann noch einem schlucken. Und so ist es mit der Einladung zur Selbstliebe: Menschen mit Depressionen zu sagen? Super. Am Ende kann einem niemand sagen, was es bedeutet, sich selbst zu lieben. Jedoch können einem andere Men- Wenn Menschen in ihrer Kindheit oder Jugend nie gelernt schen Optionen aufzeigen, sie können die Selbstreflexion mit haben, was Liebe bedeuten soll, wie Liebe aussehen kann, wesentlichen Fragen anleiten und mit einer ausgewogenen was ihre Bedürfnisse sind und wie sie diesen nachgehen Dosis Achtsamkeit kann man vielleicht auch beginnen, sein können, woher sollen sie dann wissen, was Selbstliebe be- Verhalten zu beobachten und lernen, sich in Selbstakzeptanz deutet? Das erzeugt schnelle Abhängigkeit und im besten zu üben. Szenario schnappt die Konsumfalle zu. Menschen werden davon abhängig, dass ihnen andere Menschen sagen, wie Aber kein Druck. Das Leben läuft und wir manchmal mit Selbstliebe auszusehen hat, ohne zu hinterfragen, ob das ihm mit. Vielleicht ist es weniger ein „Wann beginne ich mit ihre eigenen Bedürfnisse überhaupt stillt. Sie glauben da- der Selbstliebe?“ und viel mehr ein „Wie kann ich mir selbst ran, dass ein monatelanges, teures Seminar all ihre Pro- begegnen, wenn das Leben mich herausfordert?“ bleme lösen wird, weil ihnen jemand sagt, was sie zu tun und wie sie sich selbst zu lieben haben. Was übrigens nicht Sara Gerner heißen soll, dass alle Seminare zur Selbstliebe verwerflich sind. Doch vielleicht wäre es in diesem Fall mehr Selbst- liebe gewesen, genau dieses Seminar nicht zu besuchen. frauen.kom 2021/2 7
E in Kind bedeutet Verzicht. Ein Kind heißt, sich selbst an die zweite Stelle zu rücken. Das weiß jeder, denn diese Aussagen hört man überall. Doch was es wirklich bedeutet und wie es sich tatsächlich anfühlt, weiß man nur aus eigener Erfahrung. Was drückt mehr Nächstenliebe aus als die Entscheidung, Nichts ist den Schlaf gewogen, damit sich der Terror, ein Kind zu bekommen? Sich wissentlich zu entscheiden, den es beim Überziehen der Haube macht, mehr (so dass es viele Jahre lang nicht mehr um einen selbst, sondern in Grenzen hält, will der Zeitpunkt für den (fast) nur noch um jemand anderen gehen wird? Dass sich einfach) Spaziergang exakt gewählt sein. Gerade los- alles und jeder nur noch um einen neuen schutzbedürftigen wie vorher marschiert, liegt das Baby jedoch viel lieber Menschen drehen wird? Dass man von einem 50-cm-Zwerg in Mamas Arm als im Kinderwagen. So spa- restlos aus dem Rampenlicht vertrieben wird? Tagtäglich ziert man den Großteil des Weges mit Baby beschließen Paare nicht nur freiwillig, sondern auch noch im (tauben) Arm, versucht es möglichst nicht freudig diesen Akt der Nächstenliebe. Denn spätestens, fallen zu lassen und schiebt mit dem ande- wenn das Baby da ist, heißt es neben Füttern, Wickeln und ren Arm den leeren Kinderwagen, der sich von selbst in alle Trösten (in dieser Reihenfolge), den eigenen Egoismus zu- möglichen Richtungen manövriert. Es macht einem nichts rückzustellen und so etwas wie Fremdsteuerung zuzulassen. aus, man macht es gerne. Einfacher gelingt das vielleicht, wenn man bereits ein biss- chen Egoismus gelebt und viel Selbstliebe betrieben hat. Man Die Premiere des ersten eigenen Theaterstücks kann man hofft einfach, dass es dadurch leichter fällt, sich selbst eine leider auch nicht sehen, das Baby ist noch zu klein, um al- (sehr lange) Weile hintanzustellen und auf so manches zu leine bei Papa zuhause zu bleiben und das Theater zu laut verzichten. und aufregend, um es dorthin mitzunehmen. So sieht man sich (mit ein wenig schlechtem Gewissen, weil man das Kind Doch was genau heißt es eigentlich, zu verzichten? Es beginnt abends dorthin karrt) zumindest die Anfangsszenen des ei- damit, dass man bereits in der Schwangerschaft zum Beispiel genen Stücks an und kehrt nach dem ersten Anzeichen von auf die geliebte Salami und den köstlichen Ca- Quengeln nach Hause zurück. Es macht einem nichts aus, Opfer, membert verzichtet. Aber kein Problem, man man macht es gerne. Eine zweite Gelegenheit gibt es dafür weiß ja, es ist nur für ein paar Monate. Und allerdings nicht. die man dennoch steht man genau jetzt mit wässrigem gerne Mund vorm Käseregal. Verbotenes ist auch in Man streicht auch den Praktikumsplatz im Studium, weil bringt dieser Lebensphase am interessantesten. Es geht das Baby noch zu unregelmäßig trinkt und man sich nicht damit weiter, dass gewisse Betätigungen in der so lange von zuhause davonstehlen kann und will. Nächstes Schwangerschaft irgendwann mühsam werden. Jahr, nächste Gelegenheit für das Praktikum. Es macht ei- Ich spreche nicht vom Schuhbänderbinden un- nem nichts aus, man macht es gerne. ter Atemnot, denn die coolen Schnürer hat man sowieso schon lange gegen bequeme Slipper, oder wenn man Und das ist erst der Anfang, wir sprechen hier von Woche sich komplett aufgegeben hat, gegen Birkenstock-Pantoffeln zwei im Leben mit Kind. Später kommen noch Fieberschübe, eingetauscht. Nein, ich rede vom geliebten Bergsport-Hobby. Koliken, Zahnschmerzen usw., die ausgerechnet dann auf- Sprang man früher wie ein Gamsbock den Berg hinauf, treten, wenn man nach intensiven Termin- gleicht man jetzt eher einer Lokomotive, die langsam mit vereinbarungen endlich wieder einmal mit Planen viel Geschnaufe den Berg hinaufschleicht. Der Verzicht gip- Freunden verabredet gewesen wäre. Abend- felt darin, dass man die zweitägige Glockner-Dirndlgwand- essen abgesagt, nächste Gelegenheit in fünf kann man Wallfahrt, auf die man sich zwei Jahre gefreut hat, nicht mit- Monaten. Das Planen hat man mittlerweile sich ab macht. Es ist zu anspruchsvoll für eine Hochschwangere und komplett aufgegeben. schminken wäre einfach egoistisch. Schließlich ist ein Blasensprung auf 2.600m für alle verzichtbar. Es macht einem aber nichts aus, So geht das eine ganze Weile und immer wie- man verzichtet gerne darauf. Nächstes Jahr dann wieder. So- der einmal. Wie lange es dauert, bis man sol- fern das Baby mitmacht. che Situationen wirklich als Verzicht wahr- nimmt, ist fraglich. Hoffentlich nie, vermutlich das ein oder Ist das Baby erst da, merkt man sehr schnell, dass nichts andere Mal schon. Trotzdem ist die Zeit mit dem eigenen mehr wie vorher ist. Die Zeit, in der man früher in Ruhe jog- Kind die kostbarste schlechthin. Denn auch dafür gibt es gen oder ins Fitnessstudio gegangen ist, spaziert man jetzt keine zweite Gelegenheit, keine Chance auf Wiederholung. mit Kinderwagen an der Salzach entlang. Aber das funk tioniert keinesfalls spontan. Gefüttert, gewickelt und in Evelin Ferner frauen.kom 2021/2 9
Ohne Vorwarnung Vor fünf Jahren hat sich das Leben meiner Tante für sie und ihre nächste Umgebung radikal ver ändert. Eine schwere Gehirnblutung raubte ihrem Leben die Freiheit, Unabhängigkeit, Selbständigkeit und auch die Lebensfreude. Von einem Tag auf den anderen. Sie ist ihren körperlichen Beschwerden, ihren AlzheimerDemenzSchüben und Albträumen hilflos ausgeliefert. I ch schrecke aus meinen Gedanken, die darum Frau zu schicken, obwohl diese kein Wort mit ihr sprechen kreisen, wie es weitergehen soll. und kein Wort von ihr verstehen kann, steckt mir immer noch in den Gliedern. Jetzt sitze ich wieder mal alleine mit meiner Tante Die Agentur reagierte gelassen auf meine Beschwerden, Sophie an ihrem Tisch. nämlich gar nicht. Also: kündigen und das ganze Prozedere Schon lange haben wir versucht, Sophie ein Heim oder eine wieder von vorne. Alleine auf der Suche nach einer neuen 24h-Betreuung schmackhaft zu machen. Doch was tun, wenn Betreuung. ein hilfsbedürftiger Mensch nicht sehen kann oder will, was für andere offensichtlich ist, und sich strikt dagegen wehrt? Als Kind habe ich meine Tante Sophie als taffe Frau in Er- Soll man die „guten Tipps“ Außenstehender annehmen und innerung, die ich für die damalige Zeit als sehr emanzipiert sie ihrem Schicksal selbst überlassen? „Mal sehen, sie wird empfand. Ich habe ihre Selbständigkeit und Unabhängigkeit schon ein Heim annehmen, wenn sie merkt, dass es alleine immer bewundert. Sagen ließ sie sich selten etwas, höch- nicht mehr geht…“ stens von ihrem jüngeren Bruder, den sie abgöttisch liebte, Das „Mal sehen“ war mir dann doch zu riskant und da ich obwohl mir der Umgang zwischen ihnen eher wie ein Katz- diejenige ihrer vier Nichten und zwei Neffen bin, die zufäl- und-Maus-Spiel vorkam. Auch die Beziehung zu ihrer älte- lig am meisten Zeit für sich hatte, und auch in ihrer Stadt ren Schwester Anna war, vorsichtig und höflich ausgedrückt, lebe, war die Sache klar. Ich übernehme. Meine Ein- speziell. Beide sind vor nicht allzu langer Zeit ver- wände, vielleicht doch nicht eine so gute Pflegerin zu Manchmal storben. sein, waren ganz schnell vom Tisch, der restlichen braucht Als sie jung war, machte sie verrückte Sachen, wie Familie gar nicht so wichtig. Sie würden mir schon ein Leben zum Beispiel eine Überquerung des Arlbergs zu helfen… zweit mit einer Freundin auf ihrem Roller auf dem eben ein biss- Weg in die Schweiz. Einfach, weil diese dringend Doch die Hauptarbeit und Verantwortung liegen chen mehr dahin musste. Sie liebte Autos. Ihren Führerschein bei mir und ich fühle mich oft hilflos und alleine ge- Wir und machte sie ganz still und heimlich und knallte das lassen. Ich habe das Gefühl, die Unterstützung oft Dokument ihrem verdutzten Vater auf den Kü- nur durch „gute Tipps“ für mich zum Erledigen zu weniger Ich. chentisch. Sie machte mit meinem Bruder (18 Jahre erhalten. jung und ohne Führerschein, sie ließ ihn aber oft Vor Kurzem hat sie endlich, zwar widerwillig, ei- ans Steuer) eine Reise mit dem Wohnmobil durch ner 24h-Pflege zugestimmt. Ich war so glücklich über die Kanada. Sie war auch sicher eine der ersten Personen, die ei- Aussicht einer Entlastung gewesen. Keine Kocherei mehr nen Computer ihr Eigen nannte. mittags. Aber auch glücklich über eine Entlastung meiner Ihre Beziehungen genoss sie ohne Verpflichtungen. Einen achtzigjährigen Mutter, die mich beim Kochen unterstütz- Ehemann ließ sie erst sehr spät in ihr Leben und jagte ihn te und auch dreimal die Woche ein frisches, gesundes Menü auch ganz schnell wieder aus ihrem Leben. Doch auch die für ihre Schwägerin kreierte. Und auch glücklich für Sophie, Zeit nach enttäuschter Ehe konnte sie in vollen Zügen genie- dass sie gut versorgt sein würde. Ihre Stürze haben sich in ßen. Aber das ist schon lange her. letzter Zeit bedenklich gehäuft. Wir hatten eine, wie uns schien, passende Agentur ausge- „Ist heut Sonntag?“ sucht. Wichtig waren uns die guten Deutschkenntnisse der Ihre Frage reißt mich kurz aus der Überlegung, ob wir es Betreuerin und eine Nicht-Raucherin musste es sein. Für hoffentlich pünktlich zur ÖGK schaffen würden. Der Ter- diese – auch schrift liche – Zusicherung unserer Bedürfnisse min ist um 11:30 Uhr, der zeitlich späteste, den ich bekom- wurde der übliche Tagessatz kräftig erhöht. men konnte. Seit acht Uhr früh bin ich jetzt schon in ihrer Wer kam, war eine junge, rumänische Frau, die kein einziges heiß geliebten Wohnung und der erste Part ist geschafft: das Wort Deutsch sprach und Raucherin war. Aus-dem-Bett-holen. Die größte Herausforderung. Da kann Der Schock über einen so unsensiblen Umgang, eine Pflege- es schon passieren, dass sie soooooooo müde ist, und einfach rin zu einer an Demenz erkrankten fünfundachtzigjährigen liegenbleibt, Termin hin oder her. 10 frauen.kom 2021/2
© Franco Tognarini / Adobe Stock „Nein, heut ist Dienstag.“ das Ankleiden, stehen uns noch bevor, eine weitere Drei- „Kommt heut noch wer?“ viertelstunde. „Nein, heut bin nur ich da, morgen kommen dann die Mutti „Wo müss’ ma denn schon wieder hin?“ und die Marlene (ihre Schwägerin und eine meiner Schwes- Tja, das hätte ich diesen Morgen auch schon dreimal erklärt. tern) da könnt’s dann wieder karteln.“ Kurz glänzen ihre leicht „Zur ÖGK wegen der neuen Zahnprothese.“ geröteten, von blauen Adern durchzogenen Augen. Sie nimmt „Hat der die immer noch nicht zurückgebracht, der Saubazi, einen weiteren Schluck Kaffee. Obwohl sie die Tasse fest mit der Elendige!“ ihren schlanken, weißen Händen umklammert, zittert sie. Ich versuche sie zu beruhigen, bevor sie sich noch mehr in Ebenso ihr rechtes Bein, das aus dem Schlafmantel gerutscht diese bodenlose Gemeinheit hineinsteigern kann, dass neu- ist. Ganz gemächlich nimmt sie einen weiteren Schluck. lich in der Nacht einer gekommen sei, und ihr die Prothese Das ist das Schwierigste für mich, diese endlose Trödelei auszu- gestohlen habe. halten. Es kostet mich irrsinnige Kraft, geduldig zu bleiben. „Sophie, es ist keiner gekommen, du hast sie sicher irrtüm- Und freundlich. Und nett. Also beherrsche ich mich und lich entsorgt! Kein Mensch kann mit einem fremden Gebiss betrachte diese schönen, schlanken Hände, die trotz ihres was anfangen. Würdest du ein fremdes Gebiss in deinem hohen Alters ohne viel Altersflecken und hervorquellende Mund wollen, das ist doch grauslich!“ Nein, würde sie nicht Adern jung geblieben sind. wollen. „Aber der Saubazi verkauft’s dann am Markt im Aus- „Hast du noch ein Semmerl?“ land. Und du glaubst ma wieda nix!“ „Nein, leider, dafür haben wir jetzt echt keine Zeit mehr!“ „Ich glaub’ dir schon was, aber nicht alles!“ Ungehalten blickt sie mich an: Ich freue mich, dass ich ihr einen kleinen Schmunzler ent- „Immer das Gehetze mit dir!“ locken kann. Das „Gehetze“ dauert jetzt schon eine Dreiviertelstunde für „Wo müss’ ma denn hin?“ eine Scheibe Brot, eine Semmel und eine Tasse Kaffee. Das nächste „endlose“ Gehetze, nämlich die Morgentoilette und Birgit Dottolo frauen.kom 2021/2 11
Wieviel Selbstlosigkeit brauchen wir? Für die junge Frau in der folgenden Erzählung wurde der Schock, das Leben eines Menschen abgekürzt zu haben, letztlich zu einem heilsamen. Er half ihr, ihre abhandengekommene Selbstwahrnehmung wiederzu beleben. Das wurde für sie ein erster kleiner Schritt, sich um die eigene, nicht gefühlte Mitte zu kümmern. Und, auch mit therapeutischer Hilfe, später eine warmherzige, gut geerdete „Nächstenliebende“ zu werden. R Rosalie ist knappe 17 Jahre alt, aus sogenanntem „guten Hause“. Finanziell verwöhnt, gefühlsmäßig von ihren Eltern aber vernachlässigt. Aufgrund einer Wette hat Brieföffner in den Bauch gestochen, um das sich quälend stauende Bauchwasser abzulassen. Weil man ihn so kurz hintereinander nicht schon wieder punktieren kann, das sie sich nach einem Rot-Kreuz-Kurs für einen Ferialjob im will er nicht akzeptieren. „Wir haben ihn ins Badezimmer Krankenhaus gemeldet, Sitzwache bei einem Schwerkranken. geschoben, er ist sehr unruhig und bekommt zweistündlich sein Morphium.“ „Das hältst du nie durch!“, unkt ihre Stiefmutter. „Grässlich, diese Kranken!“ Sie aber hat keine Angst, denn seit sie die Rosalie unterdrückt ein Glucksen. Wie grotesk das alles ist. Appetitzügler – täglich zwei rosa Muntermacher – zu sich Gedämpft hört sie ein Stöhnen aus einem der anderen Zim- nimmt, steht ihre Gefühlsskala endgültig gegen Null. Auch mer, hinter der offenen Badezimmertür ein klägliches „Wil- vorher war da viel Leere. Aber jetzt: Ekel vielleicht noch, Ab- ma!“, Herr v.K. ruft wieder nach seiner verstorbenen Frau. neigung und spöttische Distanz. Viel mehr geht nicht mehr. Sie will nur ihrem lästernden Vater etwas beweisen. Erstaunt stellt sie fest, dass alles Gehörte ganz isoliert in ih- rem Kopf bleibt, sie nicht erreicht. Als säße sie in einem Film Sie steht vor dem Spiegel der kleinen Umkleidekabine der mit einer 3-D-Brille vor den Augen. Alle Geräusche und Ein- Interne-Abteilung und sieht die dunklen Ringe unter ih- drücke sausen zwar auf sie zu, doch es bedarf nur einer klei- ren Augen – eigentlich braucht sie dringend Schlaf, das ist nen eleganten Drehung des Kopfes, um auszuweichen. ihr klar. Und etwas zu essen. Aber ihr Ziel – endlich ihr Wunschgewicht zu erreichen – ist noch nicht in Sicht. Ihr Die Badezimmertür am Ende des Ganges steht offen. Der ist übel. Schwindlig. Auch ihre Zeitwahrnehmung verliert an Stationsarzt beugt sich über Herrn v.K. und injiziert ein Kontur. Sie ist schon wieder zu spät. Schmerzmittel in dessen quittengelben Oberschenkel. Er wendet sich Rosalie zu: „Bei Bedarf jederzeit weitere 2 ml, Herr v.K., wird Rosalie bei Dienstübergabe von der Kranken- dann wird er heut wohl endlich erlöst werden.“ schwester lakonisch mitgeteilt, habe sich heute mit seinem 12 frauen.kom 2021/2
© pathdoc / Adobe Stock selbstverständlich doch für die anderen das eigene Unfass- bare ist“, denkt sie und etwas Unbekanntes drückt von hin- ten gegen ihre Augen. Dann plötzlich laute Schreie von Herrn v.K.: „Ich will nicht erlöst werden!“ Es ist kurz vor Mitternacht. „Das muss jetzt noch passieren, in einer Stunde wär ich erlöst gewesen“, denkt Rosalie ver- ärgert. Dem herbeigerufenen Arzt gelingt es, Herrn v.K. zu bändigen und andere aufgescheuchte Patienten zu beruhi- gen. Er öffnet den Suchtschrank. Da geht plötzlich der Notruf „Herzalarm!“ beim Doktor ein. „Ich muss auf die Intensiv- station, geht’s, Rosalie, mit der Spritze? Sonst auf Schwester Annelies warten!“ Und weg ist er mit flatterndem Arztkittel. Herr v.K. scheint wieder zu schlafen. Die durchsichtigen, silb- rig glänzenden Augenlider sind geschlossen. Rosalie streift erneut Handschuhe über und zieht die Decke weg. Wie sie es gelernt hat, misst sie mit gespreizten Fingern das Dreieck, in dessen Mitte sie die Nadel sticht. Ein leichtes Schaben an der Spitze machte sie darauf aufmerksam, dass sie den Knochen angestoßen hat. Während sie beginnt, die Flüssigkeit zu injizieren, sagt Herr v.K. plötzlich klar und deutlich, ohne sich zu bewegen, in die lähmende Stille hinein: „Jetzt ist’s also soweit.“ Und jetzt kommt Rosalie zu sich, der Schreck sitzt. Im Rosalie nimmt nur die Anwesenheit Bernis, eines jungen Zentrum. Mitten in der Bewegung zieht sie die Nadel zu- Zivildieners, wahr. „Hallo!“, strahlt sie ihn fröhlich an und rück, die restliche Flüssigkeit tropft auf den Oberschenkel ist erschrocken, wie abweisend er sie anschaut. Er setzt sich und zeichnet eine glänzende Spur. Das Röcheln setzt wieder auf den Bettrand und nimmt Herrn v.K.s Hand, tätschelt sie ein. Was war das? Und genervt über ihre eigene Aufregung und spricht leise auf ihn ein, bis sich dessen Unruhe legt und schließt sie unsanft die Tür hinter sich. Nichts mehr hören. er röchelnd wegdämmert. Bald heimgehen. Vor allem nichts spüren. Rosalie, trotz dieser späten Stunde hellwach, schiebt sich ei- Jetzt scheint ihr, als würde die Zeit schleppen, überempfind- nen bequemen Stuhl auf den Gang und legt die Beine hoch. lich nimmt sie jeden Sekundenschlag der Uhr wahr. Klack, Sie hört den rasselnden Atem aus der offenen Tür des Ba- klack, klack... Unruhig beginnt sie, den Gang auf und ab zu dezimmers, ab und zu schlurfende Schritte, wenn einer der gehen, immer schneller, mechanisch die Zimmernummern schlaftrunkenen anderen Patienten die Toilette aufsucht. abzählend. An der Badezimmertür verschärft sich ihre Die Ziffern der überdimensionalen elektronischen Uhr im Wahrnehmung: Von drinnen kein Laut. Dröhnend der Gang glitzern im Halbdunkel neonfarben. Das klackende Sekundenzeiger. 0 Uhr 33 Minuten. Eine abstrakte Zahl, Geräusch des Sekundenzeigers gibt einen Zeittakt vor, der denkt sie, und öffnet die Tür. Rosalie nichts bedeutet. Dann ein dezentes Dröhnen, der Alarmknopf über der Badezimmertür leuchtet auf. Herr v.K. Die Bettdecke ist zu Boden gefallen. Herr v.K. liegt seltsam gekrümmt seitlich in den Kissen. Unter den halbgeöffneten Er sitzt am Bettrand und versucht, aufzustehen. Fällt hinten- Lidern ein zeitloser Blick, dessen Leere Rosalies innere Starre über. Sie schiebt seine Beine unter die Decke, nicht ohne vor- durchdringt. her nach den Einmalhandschuhen aus dem Spender an der Wand zu greifen. Es ist vorbei. Für Herrn v.K. Als sie beim Verlassen des Raums im Vorbeigehen auf der Für Rosalie aber ist es ein Beginn. Sie streift die Einmalhand- Badezimmerkonsole das kleine Päckchen sieht, fliegt sie schuhe ab, staunt über die Wärme seiner kalten Hände in schon wieder ein nervöses Kichern an: vorsorglich bereit- den ihren. gelegte Utensilien zum Versegnen des Verstorbenen, mit ei- nem frischen Flügelhemd und dem Zettelchen für die große Und ist glücklich über die Tränen. Zehe. Von den geistlichen Schwestern, auf dem Weg zur Kapelle zum Avegebet hier abgelegt. Wie umsichtig. „Wie Elisabeth Ebner frauen.kom 2021/2 13
© Roksolana / Adobe Stock Frauen aus anderen Kulturen Island, Land mit Geschichte(n) 14 frauen.kom 2021/2
„Wenn jemand eine Reise tut, so hat er etwas zu erzählen.“ Keine Ahnung, ob der deutsche Dichter Matthias Claudius in Island war. Wenn, dann ist er sicherlich nicht nur mit einer Geschichte zurück- gekehrt, sondern mit einem ganzen Buch voller Eindrücke. Weite. Vulkane, die langsam aus ihrem Schlaf erwachen. Mächtige Gesteinsmassive, halb vom Nebel verschluckt. Vatnajökull, der riesige Gletscher, der über allem thront und vor dem man nur mit Bedacht und Respekt stehen kann. Seine kalbenden Ausläufer, schwarze Kirchen aus Holz mitten im Nirgendwo, verborgene Wasserfälle, die entdeckt, wer sich mutig über aus dem Fluss ragende Steine ins Innere der Höhlen wagt. D er Mensch ist in Island dicht-bewachsenen Birkenwald macht Band. Der eigene Tag scheint nur halb nur Gast – selbst auf der klar, warum sich viele Sagen um diesen so viele Stunden zu haben wie der der Ringstraße, dem Haupt- Ort ranken. anderen. Eigentlich weiß man: Das hilft verkehrsweg des Landes, mir selbst aber nicht. Es gibt einem kein begegnet man auf den über eintausend Doch wer nimmt sich Zeit, die Ge- gutes Gefühl, den eigenen Weg mit dreihundert Kilometern nur weni- schichten zu erzählen? In Island dem der anderen zu vergleichen. Im- gen Reisenden. Weicht man von der – v iele Menschen. Nirgends sonst merhin weiß man nie, welche Steine die Hauptroute ab, sind es oft nur Schafe, wo auf der Welt werden pro andere Person schon überwin- Islandpferde und Eissturmvögel, die Einwohner*in mehr Bücher ge- Keine den musste oder ob sich die ei- bezeugen, dass in dieser oft unwirtlich lesen oder veröffentlicht. Als Kon gene Straße hinter der nächsten scheinenden Landschaft überhaupt UNESCO-Literaturstadt bietet kurrenz, Kurve von Schotter in Asphalt Leben möglich ist. Wer Island aus- Reykjavík ein jährliches Litera- verwandelt. gesetzt ist, muss gut für die wechsel turfestival, das international be- sondern haften Bedingungen ausgerüstet sein. kannt ist. Generell haben Litera- ein Mit Die Isländer*innen scheinen „Du magst das Wetter nicht? Warte tur und Kunst einen Platz in dem einander kein Preisschild an die Kunst fünf Minuten.“ Das hört man oft, die nordischen Land eingenommen, zu heften und vielleicht kann Einwohner*innen kennen ihr Land der seinesgleichen sucht. Auf sie sich so breit machen, weil und dessen Unberechenbarkeit. Island der touristischen Hauptstra- sie nicht von Vergleichen ein- weiß, wie man Sonnen schein, Sturm ße, bekannt durch den Regen bogen geschränkt wird. Was klar wird? Dass und schwere Regenfälle in nur einen auf dem Asphalt, gibt es viele von diese Leben-und-Leben-lassen-Kultur Tag verpackt, manchmal schnürt es Künstler*innen geführte Geschäfte. förderlich ist. Für die eigene Kreativi- das Paket noch enger und der wunder- Töpfer*innen schließen sich zusam- tät, für Glück und Hingabe an das Tun, schönste Spätsommertag ver wandelt men, um gemeinsam einen Laden zu für den Output, für die Zusammen sich in graues, nasses Winterwetter und führen, in dem einmal die eine Person arbeit mit anderen. Wird Kunst des- wieder zurück. und dann die andere hinter der Kasse halb mehr geschätzt, sichtbarer? Oder sitzt, wo die Werke von Kunstschaffen- liegt es vielleicht an den Wintern, die Sicherlich ist nicht nur das Spiel des den auf die der anderen aufmerksam zwar nicht kälter als im Rest Europas Wetters daran beteiligt, dass Island machen. sind, aber länger und dunkler? Inspi- ein Land der Geschichten ist – riert die Landschaft und das ab Herbst Nebel und Regen hauchen der Nur Kunst passiert im Kollektiv. Es langsam schwindende Tageslicht die Natur (und der Kreativität der scheint, als würde das Schaf- Menschen dazu, kreativ zu werden? zu Menschen) neuen Geist ein. fen keine Konkurrenz ken- Was immer die Schöpferkraft befeuert: Unerklärliche Gesteinsforma- Gast nen, sondern ein Miteinander. Gut, dass die Künstler*innen Kunst tionen gelten als Trolle, die im Wertschätzen und Annehmen. machen, anstatt die Wintermonate vor anbrechenden Tageslicht verstei- A kzeptanz dessen, was man dem Laptop zu hängen, um Netflix zu nerten. Im Norden liegt Ásbyrgi, ein selbst und was die anderen kreieren, schauen. Dass sie Geschichten erzäh- Canyon, der wie ein Hufeisen (Odins nicht in Vergleich gesetzt zueinander. len, die die brachiale Schönheit Islands achtbeiniges Pferd soll dort versehent- Und das ist heilsam. ihnen in den Mund legt. lich die Erde berührt haben) geformt ist und in dem das gesellschaftliche und In Zeiten von Instagram wird uns oft Es stimmt: Wer eine Reise tut, der hat wirtschaftliche Zentrum der Elfen lie- ein Spiegel vorgehalten. Dieser Künst- etwas zu erzählen. Und Island? Island gen soll. Egal, ob man als Besucher*in ler hat gerade die Follower-Marke von sorgt dafür, dass das so bleibt. an die Existenz der Wesen glaubt – die zehntausend geknackt, diese A utorin Abwesenheit von Geräuschen in einem produziert Bestseller am laufenden Anna Lane frauen.kom 2021/2 15
Was sagt Mann dazu? Das Wunder © Ralf-Udo Thiele / Adobe Stock vom Parkplatz Nein, bitte nicht schon wieder ein Alarm bei Tante Renate. Das ist heute das dritte Mal. Was soll ich denn machen, ich kann nicht die ganze Zeit bei ihr sein, das ginge platztechnisch schon gar nicht, geschweige von meiner persönlichen Situation her. Es ist 20:15 Uhr, mein Fünfjähriger wird aus dem Bett gerissen. D as Pyjamakind wird in eine Decke gewickelt, unsanft ins Auto gesetzt und wir zwei rasen in Richtung Andrä- Unfall, am Einsatzort eintreffen. Am Andrä-Parkplatz beschwöre ich den Halbschlafenden in seiner Teletubbies- viertel zu Tante Renate. Von wegen Tan- Kuscheldecke, er solle sich nicht rühren te? Ich bin nicht mal mit ihr verwandt. und brav weiterschlafen. Egal, ich bin der letzte Mohikaner, der, der überblieb, aus einer Reihe von guten Ich stürme die Wohnung in Erwartung Bekannten und Freunden. einer Katastrophe und ernte ein ver- Wie armselig von mir, im Nachhin- Jener, der es sich anfangs Das wundertes „Was machst du denn hier?“ ein betrachtet. Ich habe mich richtig nicht eingestehen wollte, Pyjama- Ich suche das Notfall-Armband und reinlegen lassen, die De- dass seine Bezugsperson kind wird finde es um den Stiel der Klobürste ge- Die menz war längst so fort- und Mentorin, unaufhör- in die wickelt. Das dürfte ihr wohl vom Arm Demenz geschritten, dass Pflege- lich in die Demenz rutsch- gerutscht sein. Ich quittiere den Alarm war weit bedarf bestand. Aber was Decke te. Anfangs klang es wie und melde mich beim Roten Kreuz, dass hätte ich tun sollen, ich fortge- ein Täuschungsmanöver, gewickelt alles in bester Ordnung wäre. „Nichts war nur ein Bekannter immer wiederkehrende ist in bester Ordnung“, höre ich von ihr schritten von ihr, wie schon gesagt, Fragen nach dem Wetter, im Hintergrund, „wie soll denn alles in der, der überblieb von ei- ob ich denn heute noch Ordnung sein, wenn du mich dauernd ner Schar von Freunden arbeiten müsse usw. Besuch bekam sie im Stich lässt?“ Ich solle gefälligst blei- und Bekannten, aber die auch nicht mehr, obwohl sie mir von ben. Ich denke an meinen Buben, ein- waren alle nicht mehr greifbar. Zu- lustigen Kaffeerunden berichtete. Ir- gesperrt und hoffentlich schlafend im rückgezogen oder selber steinalt und gendwann ist mir klar geworden, zwei Auto. Habe ich das Auto abgesperrt? bedürftig, was macht das schon für aus dem lustigen Kaffeekränzchen wa- Ich bin leicht nervös. Ich predige wie einen Unterschied? Für mich war klar, ren schon seit Jahren tot. ein Geistlicher, das rote Licht am Mo- einer musste was tun, die Auswahl war nitor nicht auszuschalten, gering, also tat ich was. „Was man sich Ich fuhr wie ein Besessener, um ja denn sonst gäbe es wieder Ich stürme vertraut gemacht hat, für das ist man nicht zu spät zu kommen, egal was es Alarm, die Marmeladen- die Woh- auch verantwortlich“, danke, Saint- war. Leider hatte ich es mir zu Hause gläser in der Nacht nicht nung in Exupéry, ich hatte mir schon so was schon gemütlich gemacht, mein Bub auszulöffeln, das wäre zu Erwartung Ähnliches gedacht! schlief schon, und ich genoss meinen viel Zucker, und nicht im einer Kata- neuen Nussschnaps, der mit heutigem Nachthemd auf den Bal- Okay. Für die Nacht ist gesorgt. Frisch strophe. Tag seine Reifezeit beendet hatte. Und kon zu gehen, schon gar umgezogen, die Zähne geputzt, fünf- jetzt sollte ich möglichst schnell, ohne nicht ohne Hausschuhe. zehnmal am Klo und 150 Mal durch- 16 frauen.kom 2021/2
gekämmt und versichert, Für die reduzieren. Es kommt erneut ein Anruf führerscheinlos mit einem schlafen- dass die Frisur perfekt Nacht ist vom Roten Kreuz, Alarm bei meiner den Kind auf dem Arm durch die kalte sitzt. „Wann kommst du gesorgt! Tante. Sie hat schon wieder den roten Nacht irren. „Lieber Gott, warum ich, wieder?“ kann ich mit ei- Knopf gedrückt! Ich bin am Durchdre- warum tust du mir das nem ehrlichen „Bestimmt hen. Ich nehme die Verantwortung auf Das an? Das arme Kind, die sehr bald“ beantworten. mich und beschwöre sie, niemanden zu Wunder arme Tante, zwei kaputte schicken, ich wäre ja buchstäblich noch vom Autos und ein Führer- Aus dem Haus gelaufen, rüber zum in der Wohnung. Nein, eigentlich stand Parkplatz scheinloser, der eigentlich Parkplatz mit schlafendem Kind im Wa- ich zwischen zwei demolierten Autos gar nicht hier sein dürfte, gen, und eigentlich eine Wut im Bauch, die Polizei rufend. Mein Kleiner muss wenn es Verwandte und weil ich mich auch alleine gelassen und aufs Klo. Kein Problem, der Parkplatz Freunde gäbe.“ Innerlich hilflos fühle. Warum eigentlich ich? ist groß genug. Trinken möchte er auch bedaure ich den Verlust meines Füh- Habe ich nicht schon genug Sorgen in noch was, aber das muss ich ihm schul- rerscheines, während ich mich unge- meiner Beziehung? Muss das auch noch dig bleiben. schickt anstelle, um in das blöde Röhr- sein? Ich drehe den Schlüssel, starte den chen zu blasen. Wagen und setze rasant zurück, mitten Rasch wieder rein in die Kuscheldecke. in die Seitenfront einer wunderschönen Die beiden Polizistinnen sind jung und Urteilsverkündung: 0,0 Promille! Äh … BMW-Limousine. Durch den Krach hübsch und freundlich. Wortreich er- Okay, wenn es die Frau Polizistin sagt? wird das arme Kind munter. „Was ist kläre ich den Sachverhalt und den Stress Da schlägt die Turmuhr, 21:00 Uhr. das?“, kommt es schlaftrunken aus der mit meiner Tante. Alles kein Problem, Reflektorisch sage ich: „Ich danke Kuscheldecke. Nichts, außer ein kräftig bis zu der Sekunde, in der sich die eine dir.“ Und richte meinen Blick zu den beschädigter BMW und eine demolierte fast entschuldigend mit den Worten an Türmen der Andräkirche. Das Wun- Hinterseite an unserem Auto. mich wendet: „Routinemäßig müssen der vom Parkplatz, anders kann ich es wir leider einen Alkoholtest machen.“ nicht erklären, auch heute noch nicht! Ich suche verzweifelt nach einem Kau- Ich knicke ein! Das wird schlichtweg gummi, um meinen Alkohol-Atem zu eine Katastrophe. Ich sehe mich schon Elmar Prokopetz frauen.kom 2021/2 17
Glaube und Wissen Meine Bibel-Lieblingsstelle besprochen von Manuela Maier Was ich habe, geb’ ich dir © Артём Князь / Adobe Stock Petrus und Johannes gingen um die neunte Stunde zum Gebet in den Tempel hinauf. Da wurde ein Mann herbeigetragen, der von Geburt an gelähmt war. Man setzte ihn täglich an das Tor des Tempels, das man die Schöne Pforte nennt; dort sollte er bei denen, die in den Tempel gingen, um Almosen betteln. Als er nun Petrus und Johannes in den Tempel gehen sah, bat er sie um ein Almosen. Petrus und Johannes blickten ihn an und Petrus sagte: Sieh uns an! Da wandte er sich ihnen zu und erwartete, etwas von ihnen zu bekommen. Petrus aber sagte: Silber und Gold besitze ich nicht. >>> 18 frauen.kom 2021/2
Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher! Und er fasste ihn an der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich kam Kraft in seine Füße und Gelenke; er sprang auf, konnte gehen und ging umher. Dann ging er mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Sie erkannten ihn als den, der gewöhnlich an der Schönen Pforte des Tempels saß und bettelte. Und sie waren voll Verwunderung und Staunen über das, was mit ihm geschehen war. (Apostelgeschichte 3, 1-10) Z uerst möchte ich euch auf zwei Kleinigkeiten auf- Nicht Begegnungen. Ich sage nicht, dass jeder Mensch merksam machen: Zweimal wird in der Geschichte immer ein Apostel ist. Doch ich durfte immer wieder darauf hingewiesen, dass der Gelähmte an der „Schö- die Erfahrung machen, mit einer positiven und nen Pforte“ sitzt, wenn er um Almosen bittet. Außerdem leicht offenen Einstellung meinen Mitmenschen ge- wird betont, dass der Gelähmte – ohne Petrus und Johannes genüber besondere Menschen in meinem Leben als Jünger Jesus’ zu erkennen – erwartet, etwas von ihnen zu begrüßen zu dürfen, die mich aufrichteten und bekommen. Wir lesen also von einem bereits sein ganzes Le- mich nicht als von der Vergangenheit gelähmte ben lang gelähmten, bettelnden Mann, der an der „Schönen Frau wahrnahmen, sondern als eine von ihnen und als sol- Pforte“ sitzt und erwartet, Gutes von den Menschen zu be- che durfte bzw. darf ich ein Stück meines Weges mit ihnen kommen, die an ihm vorbeiströmen. Mein absolutes High- gehen. Ich hüpfe vor Freude und lobe Gott bei dem Gedan- light dieser Bibelstelle ist die Heilung des Gelähmten. P etrus ken an die vielen Wunder, die mir durch die Hand anderer spricht zu dem Gelähmten: „Silber und Gold besitze ich Menschen widerfahren sind. nicht. Doch was ich habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, geh umher!“ Mit seinen Worten al- Der Glaube an Apostel-Menschen hat mein Leben geret- lein ist das Wunder aber noch nicht vollbracht. Petrus nimmt tet. Durch die Trennung meiner Eltern wurde ich schon in den Gelähmten bei der Hand und richtet ihn auf. sehr jungen Jahren damit konfrontiert, was Menschen, die sich vermeintlich lieben, einander antun können und auch Ich liebe diese Geschichte, weil sie mein Lebensmotto wider ich musste lernen, wie es sich anfühlt, wenn sich Menschen spiegelt. Ich möchte, auch wenn ich mich durch gewisse Le- von einem abwenden, von denen man dachte, sie würden ein bensumstände oder Glaubenssätze gelähmt ganzes Leben lang zu einem stehen. Man ließ mich völlig fühle, immer versuchen, mich an die „Schöne Mein gelähmt zurück, aber damit wollte ich mich nicht abfinden. Pforte“ zu begeben und daran zu glauben, dass Lebens Vielleicht muss man einmal am Boden gewesen sein, um sich ich von den Menschen, die meinen Pfad kreu- bewusst dafür entscheiden zu können, ein positiver Mensch motto zen, Gutes erwarten kann. Von dieser Ein- zu sein. Was mir damals am schmerzlichsten bewusst wurde, stellung geleitet, habe ich oft auf unerwartete war, dass ich keine Freunde hatte, auf die ich mich in meiner Weise Menschen kennengelernt, die mir die Lähmung stützen konnte oder die mich zur Hand reichten und mich aufrichteten, die mir „Schönen Pforte“ tragen konnten. Und dann Ohne weder Silber noch Gold schenkten, sondern das unbezahl habe ich zum ersten Mal wirklich gebetet. Lähmung bare Geschenk einer bedingungslosen Freundschaft. Für Ich habe Gott darum gebeten, mir einen En- gibt es mich ist die Welt voller Apostel: Menschen, die mich inspi- gel zu schicken. 10 Jahre später ist S. immer rieren, sei es durch die unglaubliche Güte, die von ihnen aus- noch meine beste Freundin und mein Beweis kein geht, oder durch die positive Art und Weise, wie sie durchs für die unendliche Liebe Gottes. Sie hat mir Wunder Leben gehen oder ihre Berufswelt gestalten. die Hand gegeben und mich aufgerichtet, wie viele nach ihr. Mit dieser Einstellung durchs Leben zu gehen, fällt jedoch nicht immer leicht. Vielen von uns wurden von Menschen Manchmal habe ich das Gefühl, Gott hat nie aufgehört, die- Unrecht getan oder schlimme Dinge zugefügt: Ein gewalt- ses Gebet zu erhören. Ich habe vielleicht keine klassische tätiger Elternteil, ein schlimmer Betrug vom Ehepartner Familie, die hinter mir steht, aber ich habe Freundschaften, oder besten Freund, ein Überfall von einer gänzlich fremden die man weder mit Silber noch mit Gold aufwiegen kann Person haben vielen das Fürchten vor den Menschen gelehrt. und ich betrachte mich als unglaublich reichen und glück All dies sind Situationen, in denen wir uns komplett gelähmt lichen Menschen. Dies führe ich alles darauf zurück, dass ich und von Gott verlassen fühlen. Wir können es oft nicht glau- mich als gelähmter Bettler bewusst dafür entschieden habe, ben, zu welchen Taten Menschen fähig sind. Aber besonders Ausschau nach den Geschenken Gottes zu halten und wenn dann ist es wichtig, die „Schöne Pforte“ aufzusuchen und an ich zurückblicke, ist für mich die Lähmung das größte Ge- das Gute in den Menschen zu glauben. Denn tut man das schenk. Denn ohne Krankheit gibt es keine Heilung, ohne nicht, verpasst man so viel Schönes und so viele heilsame Lähmung kein Wunder. frauen.kom 2021/2 19
20 frauen.kom 2021/2 © Anton / Adobe Stock
Fräulein Hübsch, es geht nicht mehr besser! Jessika nervt seit einer geschlagenen Stunde. Meine lautstarke Bemerkung: „Fräulein Hübsch, es geht nicht mehr besser“, dringt nur bruchstückhaft durch die Badezimmertüre. I rgendwelche Worte, wie „keine Warum glaube ich immer, sie sei Ein- sam. Warum habe ich eigentlich solche Ahnung“, „keinen Schimmer“ flüssen ausgesetzt, die ihr à la longue Angst um sie? oder „völlig ‚out of time‘ “, be- nicht gut tun? „Das kann es aber jetzt komme ich zurück. Ja, ja, da wird sie nicht sein, sag einmal, schämst du dich Habe ich es versäumt, ihr die nötige wohl recht haben. Mir ist so viel nicht nicht? Das ist ja wohl das Letzte!“ Mit Portion Selbstvertrauen, christliche mehr verständlich. Jessy kommt aus diesen Worten traf mich das Strafge- Werte wie kritisches Denken, Mäßi- dem Bad, einem Popstar ähnlich ge- richt meiner Frau. In meiner Verzweif- gung und Nächstenliebe zu vermitteln? schminkt oder besser gesagt gestylt, lung habe ich mich neulich hinreißen Oder bin ich hysterisch und sehe hier aber sie ist nicht mehr sie, meine klei- lassen, Jessikas Handy zu kontrollie- einen Jugendtrend schon als Welt ne Jessika, sie hat fremde Züge ange- ren. Ich betrat eine Welt, die mir so anschauung etabliert? nommen. Sie dreht einige Pirouetten unverständlich und fremd war, wie ich und lächelt verliebt in den Spiegel. es kaum für möglich gehalten hatte. Denke ich an meine Jugend, dann höre Noch eine Haarsträhne hier, noch eine Unzählige Gesundheits- und Fitness- ich meinen Vater mit donnernder Stim- Lippenkontur da. Apps bedecken die Oberfläche. Sie wird me: „Man muss nicht bei jedem Blöd- „Wo gehst du heute hin?“ doch nicht krank sein und wir wüssten sinn mitmachen!“ oder „Man muss Die Frage bleibt unbeantwortet. nichts davon? Meine liebe Jessika, das nicht den größten Deppen hinterher- fröhliche Wesen, welches so heiter an laufen!“ Damit war alles gesagt! Eine Ich bringe es nicht übers Herz, es ihr unserem Tische sitzt und manchmal Diskussionsrunde war nicht vorge zu sagen. Aber für mich hat sie ein las noch so Kind sein kann, lebt in einer sehen. Wie einfach, wie klar! zives, beinahe schon ordinäres Aus- Welt, in der sie scheinbar ständig gefor- sehen angenommen, auf alle Fälle ein dert wird. Aussehen, Kleidung, Musik, Das Bad ist frei, ich sehe Schmink nicht zu ihrer Jugend passendes. Ich selbst der Humor scheint mir uniform utensilien, welche ich nicht zuordnen drücke ihr einen Fünfziger in die Hand vorgegeben zu sein. Empfindet man kann. Gottlob, sie hat ihre Smartwatch und nehme ihr das Versprechen ab, sich anders, ist man ein Loser oder ein Op- nicht mitgenommen, das ist ein Zei- nicht in Hassans aufgemotzter 500PS- fer. Orientieren kann man sich an dem, chen, dass sie an diesem Abend unge- „Schüssel“ nach Hause fahren zu lassen. was gerade trendy ist, was mega ange- stört bleiben möchte. Völliges Unverständnis fahre ich als sagt ist oder ein unbedingtes „Must- Ernte ein. Wieso eigentlich? Ich mache have“ darstellt. Und diese Unmengen Ich betrachte mich im Spiegel und phi- mir Sorgen! Das steht mir als Vater zu! an Selbstportraits, für wen sind die ge- losophiere. Jessika scheint mir nicht un- macht? Das ist ihre Welt, in der sie mir glücklich zu sein, trotz all dem Druck, Vor Kurzem konnte sie mich überzeu- aber nicht unglücklich erscheint, trotz der auf ihr lastet. Wirklich wissen tu gen, ihr teures Fitness-Center-Abo zu der permanenten Anforderungen, auch ich es aber nicht. „Was machst du im verlängern, weil ihr Hintern zu groß noch optisch top sein zu müssen. Bad? Ist was?“, kommt aus der Küche. geworden sei. Genauso, wie sie mir das „Nein, nicht wirklich!“, gebe ich mit Versprechen abgerungen hatte, wenigs- Jessy kehrt zurück, reißt die Türe auf, aufgesetzter Fröhlichkeit zurück. tens ein Tattoo zu erlauben. Inzwischen dreht sich kurz vorm Spiegel und ruft: sind es aktuell drei, ich habe sie gese- „Hab nur was vergessen, kommen nicht Wie sagte meine Oma immer? hen, obwohl sie trickreich versucht, sie vor Mitternacht!“ vor mir zu verbergen. Bei ihrer Mutter „Ist gut, mein Schatz, schönen Abend!“, Wer ständig über seinen Sorgen brütet, rennt sie offene Türen ein. „Lass sie in kommt aus der Küche. dem schlüpfen sie auch aus. Ruhe, sie ist ein junger Mensch!“, höre „Soll ich dich nicht lieber…?“, kommt ich dann von ihr. von mir, aber da war ich jetzt zu lang- Elmar Prokopetz frauen.kom 2021/2 21
Sie können auch lesen