Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin

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Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
pro     Christliches Medienmagazin
                                                         2 | 2020
                                                   pro-medienmagazin.de

       UN VERZAGT
                         Warum es Hoffnung in der Krise gibt

Peter Tauber             Evelyne Binsack        Julian Sengelmann
          erlebt in                beginnt                steht als
          Lebensgefahr             am Südpol              Medien-
          Gottes Nähe              wieder zu              macher auf
                                   beten                  der Kanzel
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
EDITORIAL

Liebe Leserin, lieber Leser,
die Krise, die wir erleben, ist beispiellos. Nur in Kriegszeiten
hat es so etwas gegeben: dass jeder Mensch, wirklich jeder, die
Gefährdung selbst oder zumindest die Auswirkungen persön-
lich zu spüren bekommt. Kollektive Verunsicherung. Existen-
zielle Ängste. Drohende Jobverluste. Verängstigte Kranke. Fa-
milien mit Kindern im Stresstest. Und einsame Singles oder
Ältere, die niemand besuchen darf. Das alles aus Sicherheits-
gründen. Die große Mehrheit der Deutschen hatte Ende März
                                                                                                                           28
Verständnis dafür. Vieles in diesen Wochen wirkt unwirklich.
Andererseits ist nicht zu übersehen: Überall sind Menschen ge-
                                          fordert, herausgefordert
                                          – und überfordert. Auch
                                          Mächtige sind letztlich
                                          ohnmächtig.

                                        Die Medien fokussie-
                                        ren nahezu alle Themen
                                        auf ein Oberthema –
sie berichten monothematisch. Doch wenn – selbst aus gutem
                                                                                                                           38
Grund – elementare Menschen- und Grundrechte wie die Ver-
sammlungs- und die Religionsfreiheit eingeschränkt werden,
dann sind wir Christen und auch Journalisten gefordert. Bei          Kurzmeldungen                                           4
allem Verständnis für entschlossenes Handeln müssen wir              Leserbriefe                                            23
die Politik daran erinnern: Es gibt Spielregeln. Wer sie ändert,
muss sehr verantwortungsbewusst vorgehen.
                                                                     G ESELLS CH AFT
Die Bibel zeichnet an vielen Stellen lebensnah, wie menschlich       Titel: Hoffnung gegen das Virus
es ist, überfordert zu sein. Auch Jesus, der Sohn Gottes, erlebt     Perspektive in schweren Zeiten                      6
existenzielle Angst und Niedergeschlagenheit. Aber er zeigt          Titel: „Angst ist nicht schändlich“
auch Wege, wie wir damit umgehen können. Stürme auf dem              Der Theologe Thorsten Dietz über Luthers Angst und
See Genezareth bringen die Jünger fast zur Verzweiflung. Jesus       den Trost des Glaubens                              8
zeigt sich als der, dem sogar Macht über Naturgewalten gege-         Corona-Nachrichten, die Hoffnung machen
ben ist. Aber nicht nur das: Jesus begegnet den Betroffenen          Eine Kolumne von Wolfram Weimer                    11
ganz nah, als empathischer Seelsorger. Er sagt die bekannten,        „Gott schuf Himmel und Berge“
liebevollen, göttlichen Ermutigungsworte, die den gefor-             Wie die Extremsportlerin Evelyne Binsack wieder zu
derten Menschen nicht aus der Eigenverantwortung entlassen:          beten anfing                                       12
„Fürchtet euch nicht.“ Außerdem wird klar: Jesus selbst ist mit      „Bonhoeffer war radikal für Christus“
im Boot (Markus 6,45 f.).                                            Heinrich Bedford-Strohm über Dietrich Bonhoeffer 16
                                                                     Der Gottesdienst als Baustelle
Hoffnung gibt es auch in der Krise. Viele werden kreativ. Im-        Modernes Gottesdienstformat geht erstmals live     18
pulse dazu finden Sie in den Beiträgen zum Titelthema, aber          Halt mal ... frommer Feminismus?!
auch in den Erfahrungen, die andere Menschen mit pro ge-             Frauen kämpfen für gleiche Rechte in der Gemeinde 20
teilt haben. Die Extremsportlerin Evelyne Binsack lief jahre-
lang vor ihrer Vergangenheit weg. Als sie an ihre körperlichen
Grenzen gelangte, entdeckte sie die Gebete aus ihrer Kindheit
wieder (Seite 12). Der CDU-Politiker Peter Tauber berichtet, wie
Gott ihm in einer lebensbedrohlichen Krankheit ein Halt war
(Seite 26).
                                                                     Bleiben Sie jede Woche auf dem Laufenden! Unser pdf-
Ich wünsche Ihnen, dass Sie solche guten Erfahrungen ma-             Magazin proKOMPAKT liefert Ihnen jeden Donnerstag die
chen. Bleiben Sie behütet!                                           Themen der Woche auf Ihren Bildschirm.
                                                                     Durch die ansprechend gestalteten Seiten erhalten Sie
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                                                                     seiten bieten Ihnen weitergehende Informationen.
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2 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                       2 | 2020
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
INHALT | IMPRESSUM

                                                                     20                                                                                 44

                                         Der Theologe Dietrich
                                         Bonhoeffer wurde am
                                16       9. April 1945 umgebracht
                                                                                                                                                        30

  POL ITIK                                                                   „Was würde Jesus posten?“
  Den Tod vor Augen: „Ich hatte eine heitere                                 Autor Chris Pahl über Sinn und Unsinn mit dem Smart-
  Gelassenheit“                                                              phone in der Hand                                 36
  CDU-Mann Peter Tauber erlebte Gottes Nähe im Leid 26
  Joe Bidens Glaube                                                          KU LT U R
  Donald Trumps Herausforderer ist katholisch       28                       Bibel lesen und Bahnen schwimmen
  „Wir können heilfroh sein, dass die CDU Ramelow nicht                      Filmkritik zu „Der wunderbare Mr. Rogers“                                  38
  blockiert hat“                                                             „Wir müssen lernen, loszulassen“
  Thüringens Ex-Ministerpräsidentin zur Lage                                 Martin Pepper über Krisen und das Lob Gottes                               40
  im Freistaat                                      30                       „Christen sollten die kreativste Musik auf dem
                                                                             Planeten machen“
  PÄDAGOGIK                                                                  So klingt „Die Musik meiner Kirche“                                        44
  Liebe Christen, ihr seid spitze! (...und stammt von                        Musik, Bücher und mehr
  Adam und Edelhelm ab)                                                      Neuerscheinungen kurz rezensiert                                           46
  Eine Kolumne von Bild-Chef Daniel Böcking

  MEDIE N
  Medienmacher auf der Kanzel
  Julian Sengelmann: Schauspieler, Moderator, Vikar 32
  Das große Löschen
  Warum und wie entfernt Facebook Beiträge?         34

  I MPR ESSUM
                                                                                         www.blauer-engel.de/uz195              Dieses Druckerzeugnis
                                                                                         · ressourcenschonend und               wurde mit dem Blauen
                                                                                                                                Engel gekennzeichnet.
                                                                                           umweltfreundlich hergestellt
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                                                                                         · überwiegend aus Altpapier      RG4

  Herausgeber Christliche Medieninitiative pro e.V.                        Lesertelefon (0 64 41) 5 66 77 77 | Adressverwaltung (0 64 41) 5 66 77 52
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  Vorsitzender Michael Voß | Geschäftsführer Christoph Irion               Satz/Layout Christliche Medieninitiative pro e.V.
  Redaktion Martina Blatt, Dr. Johannes Blöcher-Weil, Nicolai Franz,       Druck Bonifatius GmbH Druck - Buch - Verlag, Paderborn
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  Norbert Schäfer, Martin Schlorke, Jörn Schumacher, Jonathan Steinert     | IBAN DE73 5139 0000 0040 9832 01, BIC VBMHDE5F
  (Chef vom Dienst, Planer dieser Ausgabe), Swanhild Zacharias             Beilage Israelnetz Magazin (16 Seiten)
  E-Mail info@pro-medienmagazin.de | kompakt@pro-medienmagazin.de          Titelfoto Jakob Dalbjörn

2 | 2020                                                                                                           pro | Christliches Medienmagazin 3
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
MELDUNGEN

                                                                     Liedtexte für
                                                                     Livestream-Gottesdienste
                                                                     Wegen der Coronakrise und dem damit einhergehenden Versammlungsverbot
                                                                     bieten viele Gemeinden ihre Gottesdienste derzeit online per Videostream an.
                                                                     Wegen der Lizenzierung war es bisher schwierig, Texte von Lobpreismusik oder
                                                                     ähnlichem christlichen Liedgut in den Stream einzubinden. Christian Copy-
                                                                     right Licensing International (CCLI), größter Anbieter von Lizenzen für christ-
                                                                     liches Liedgut, bietet deshalb jetzt eine Streaming-Lizenz an. Damit kann die
                                      Foto: pro/Swanhild Zacharias

                                                                     gewohnte Musik während des Gottesdienstes auch online verwendet werden.
                                                                     Unter store.ccli.com können Kirchen und Gemeinden das Streaming-Angebot
                                                                     bestellen. CCLI möchte damit auch die christlichen Künstler unterstützen, die
                                                                     wegen der Krise gerade ohne Einkommen dastehen, weil Auftritte abgesagt
                                                                     wurden. Durch den Kauf der Lizenz könnten die Gemeinden die Liedtexte im
                                                                     Stream nicht nur legal verwenden, die Künstler erhielten auch eine angemes-
Die Lizenz dafür, auch Liedtexte im                                  sene Vergütung. Die CCLI-Streaming-Lizenz gelte auch für aufgezeichnete Got-
Stream zu zeigen, erleichtert den
Besuchern von Online-Gottesdiensten
                                                                     tesdienste, die auf YouTube zu Verfügung gestellt werden, erklärte das Unter-
das Mitsingen                                                        nehmen auf Anfrage. Darüberhinaus sei die Nutzung von YouTube als Plattform
                                                                     für das Streamen zu empfehlen, weil dann kein Gema-Lizenz notwendig werde,
                                                                     da YouTube und Verwertungsgesellschaft Gema direkt miteinander abrechne-
                                                                     ten. Dieses gelte aber nicht, wenn die Gemeinde einen eigenen Webserver oder
                                                                     einen sonstigen Streaming-Anbieter nutze. Weitere Informationen finden sich
                                                                     unter de.ccli.com/streaming. Für Rückfragen steht der Anbieter per E-Mail unter
                                                                     eu@ccli.com zur Verfügung. | swanhild zacharias

       73,9 prozent
                                  73,9 Prozent der Deutschen haben Vertrauen in Wirtschaft, Gesellschaft
                                  und Politik. Das geht aus einer Mitte März veröffentlichten Studie des
                                  Ins­tituts der deutschen Wirtschaft hervor. Damit belegt Deutschland auf
                                  der Vertrauensskala hinter Dänemark (90,7), Finnland (88,6), Schweden
                                  (85,9), Niederlande (82,3), Schweiz (79,5) und Irland (76,0) in Europa den
                                  siebten Platz. Nach Ansicht der Forscher stabilisiert das Vertrauen in die
                                  drei staatlichen Gewalten sowie die Medien den Zusammenhalt der Ge-
                                  sellschaft. Nach Angaben der Studie zeige der Index bei allen statisti-
                                  schen Schwierigkeiten auch, welche Länder die aktuelle Covid-19-Pande-
                                  mie besser managen könnten als andere. Denn gerade Vertrauen sehen
                                  die Forscher als eine Notwendigkeit zur Bewältigung der Krise an, etwa
                                  wenn es um die Beschränkung von Freiheiten wie durch die Quarantäne-
                                  Maßnahmen gehe. | norbert schäfer

4 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                                                     2 | 2020
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
MELDUNGEN

Drei Fragen an ...
... die Sängerin Katja Zimmermann. Sie ist Autorin des Buches „Zuerst geliebt. Wenn Gott
dir ein Solo schenkt“ (Neukirchener).
pro: Wie tief ist das Thema „Singles“ in christlichen Gemeinden verankert?
Katja Zimmermann: Ich denke, noch nicht so sehr. Viele Leiter und Pastoren sind selbst
verheiratet und haben Familie. Dadurch haben ihre Lebensbeispiele in Predigten oft wenig
mit dem Leben eines Singles zu tun.
Was sind für Sie die Vorteile am Single-Sein?
Die Freiheit und Spontaneität als Single empfinde ich als sehr positiv. Ich kann alleine ent-
scheiden, was ich wo und mit wem mache, ohne mich absprechen zu müssen. Auch beruf-
lich kann ich alles so planen und einteilen, wie ich es möchte. Das ist gerade als Sängerin

                                                                                                                         Foto: Yasmina Salm
sehr praktisch. Das mag auf den ersten Blick eher egoistisch klingen, aber es ist gut, sich
einfach mal bewusst zu machen, dass man diese Freiheit hat.
Wie kommen Singles zu der Gelassenheit, die Sie in Ihrem Buch empfehlen?
Es kann helfen, sich auf die positiven Dinge des Single-Seins zu fokussieren. Und dann
würde ich einfach mal Gott fragen, welche Berufung er für mich hat. Wenn wir lernen, uns                                                In ihrem zweiten Buch „Zuerst geliebt“
                                                                                                                                        ermutigt Katja Zimmermann Singles
von Gott unseren Wert geben zu lassen, kann das helfen, unseren Beziehungsstatus anders                                                 dazu, ihr Leben auch ohne Partner zu
anzunehmen. Das bedeutet ja nicht, dass man keinen Partner mehr haben möchte. Zufrie-                                                   genießen
den sein und die Hoffnung auf einen Partner schließen sich nicht aus. Der veränderte Fo-
kus kann schon helfen, gelassener zu werden.
Vielen Dank für das Gespräch! | johannes blöcher-weil

Lesen Sie mehr zum Thema und einer aktuellen Studie dazu bei pro online:
„Singles werden in Gemeinden zu wenig wahrgenommen“, bit.ly/singles-gemeinden

                                                                          In fünf Jahren 119 Angriffe auf
                                                                          Journalisten in Deutschland
                                                                          Seit 2015 sind in Deutschland 119 Journalisten gewaltsam angegriffen worden. Dies
                                                                          hat das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig do-
                                                                          kumentiert. Das Spektrum reicht von Flaschenwürfen und Einschüchterungen bis
                                                                          zu Handgreiflichkeiten. Laut der Fünfjahresbilanz „Feindbild Journalist“ waren 77
                                                                          Prozent der Angriffe dem politisch rechten Spektrum zuzuordnen. 55 der Vorfälle
                                                                          wurden in Sachsen registriert. Auf Platz zwei folgt Berlin mit 14 Vorkommnissen.
                                                                          Besonders viele Attacken ereigneten sich im Zusammenhang mit dem Flüchtlings-
                                             Foto: De Havilland, flickr

                                                                          zuzug im Herbst 2015. Einen weiteren Schwerpunkt gab es während der rechtsex-
                                                                          tremen Mobilisierungen infolge eines tödlichen Streits zwischen zwei Asylbewer-
                                                                          bern und einem Deutschen in Chemnitz im August 2018. 2020 seien drei der sechs
                                                                          bislang registrierten Fälle auf einer linken Demonstration gegen das Verbot der On-
                                                                          line-Plattform linksunten.indymedia.org in Leipzig gezählt worden. Das ECPMF be-
Die meisten der Angriffe auf Journalisten                                 obachtet im rechten Spektrum eine ideologisch verankerte Medienfeindschaft, wo-
registrierte das ECPMF im rechten Spektrum
                                                                          nach Journalisten als Eliten gegen das „Volk“ schreiben würden. Ein ähnliches Mu-
                                                                          ster gebe es im linken Spektrum nicht. Die Autoren wünschen sich, dass der Daten-
                                                                          schutz für Berichterstatter gestärkt wird. Zudem sollten sich die Medienhäuser aktiv
                                                                          für betroffene Mitarbeiter einsetzen. | johannes blöcher-weil

2 | 2020                                                                                                              pro | Christliches Medienmagazin 5
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
HOFFNUNG
GEGEN DAS
VIRUS

                                     „Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich
                                     heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Ob
                                     dieses Zitat wirklich von Martin Luther stammt,
                                     wie manchmal behauptet, ist zweifelhaft. Aber
                                     ohne Zweifel bringt es auf den Punkt, was
                                     Hoffnung heißt. Und: Es funktioniert auch mit
                                     anderen Bäumen.

6 pro | Christliches Medienmagazin                                                     2 | 2020
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
GESELLSCHAFT

                                                                        Das Coronavirus ist Ende Februar auch nach                            die seelische Gesundheit vieler Menschen andererseits. Psycho-
                                                                        Deutschland gekommen. Seitdem hat sich das                            logen fürchten, dass Ausgangsbeschränkungen zu mehr häus-
                                                                                                                                              licher Gewalt oder gar Suiziden führen können. Allerdings: 95
                                                                        Leben verändert, es wurde hinter verschlos-                           Prozent der Deutschen halten die Kontaktverbote laut ARD-
                                                                        sene Türen gedrängt. Die neue Situation macht                         Deutschland­trend vom 23. März für richtig. Drei von vier Bür-
                                                                        viele Menschen kreativ. Aber sie macht auch                           gern sagen, dass sie mit dem Krisenmanagement der Regierung
                                                                        Angst. Gut ist es, eine Hoffnung zu haben, die                        zufrieden sind, ebensoviele, dass sie dem Gesundheitssystem
                                                                                                                                              und Ärzten vertrauen. Es rollt eine überwältigende Welle der
                                                                        über die menschlichen Möglichkeiten hinaus-                           Kreativität, Anteilnahme und Solidarität durchs Land: Musi-
                                                                        geht. | von jonathan steinert                                         ker geben an der Haustür kleine Konzerte, Gesunde helfen beim
                                                                                                                                              Einkaufen für Menschen mit höherem Infektionsrisiko, es gibt
                                                                                                                                              Wohnzimmergottesdienste, Livestreams aller Art, humorvolle

                                                                        C
                                                                               orona-Ferien sind schön“, singen die Kinder von Sophie         Aufmunterungen, neue Formen von Gemeinschaft über digitale
                                                                               Gruner aus Erlbach-Kirchberg, einem Dorf im Erzgebirge.        Kanäle. Dass Not erfinderisch macht, lässt sich in der Corona-
                                                                               Seit Mitte März sollen sie wie Schüler in ganz Deutsch-        krise an zahlreichen Beispielen sehen.
                                                                        land nicht mehr zur Schule kommen, um die Ansteckungsge-
                                                                        fahr mit dem Coronavirus zu minimieren. Aber Ferien sind es           Trotziges Vertrauen
                                                                        nicht: Die Schüler bekommen Aufgaben von ihren Lehrern und
                                                                        sollen sie zu Hause lösen. Trotzdem sei es schöner, daheim zu         Aber die Krise macht auch Angst. Während diese Zeilen ge-
                                                                        sein, sagt die Viertklässlerin Livia, die Älteste. Für die Eltern     schrieben werden, berichten Medien, die Pandemie gewinne an
                                                                        sind „Corona-Ferien“ eher stressig. Da die 31-jährige Mutter          Tempo. Auf die Gesundheitskrise werde eine Finanz- und darauf
                                                                        und ihr Mann in Pflegeberufen tätig sind, sind sie „systemre-         eine Wirtschaftskrise folgen. Ganz abgesehen von den beunru-
                                                                        levant“ und können nicht einfach von zu Hause aus arbeiten.           higenden Berichten aus Ländern, deren Wirtschaftskraft, Infra-
                                                                        Ihre Schichten versuchen sie so zu legen, dass einer von beiden       struktur und Gesundheitswesen nicht mit dem deutschen ver-
                                                                        bei den drei Kindern ist. „Es ist ziemlich anstrengend“, berich-      gleichbar sind, aus Flüchtlingslagern und Kriegsgebieten. Das
                                                                        tet Gruner. Denn die Eltern müssen den beiden Schulkindern            Virus würde die ohnehin katastrophale Lage noch verschärfen.
                                                                        bei den Aufgaben helfen und neuen Stoff beibringen. Dann hat          Das lässt ein Gefühl von Ohnmacht, Unsicherheit und, ja, Angst
                                                                        der vierjährige Knirps aber niemanden zum Spielen und rennt           entstehen. Sophie Gruner erlebt das in ihrem Umfeld: Nicht je-
                                                                        durch die Wohnung. Dadurch haben die Großen keine Ruhe –
                                                                        und auch nicht immer Lust – für die Aufgaben. „Wir merken,
                                                                        dass wir schneller gereizt sind und uns auf die Nerven gehen.“
                                                                        Gruner sagt aber auch: „So viel Zeit, wie Eltern jetzt mit ihren
                                                                        Kindern haben, werden sie so schnell nicht wiederbekommen.“
                                                                        Immerhin: Gruners haben einen Garten, können auch rausge-
                                                                        hen. Aber Ausflüge oder selbst der Spielplatz sind tabu.
                                                                          Die Epidemie durch das Coronavirus hat in fast allen Län-
                                                                        dern der Welt Spuren hinterlassen und vor allem in westlich
                                                                        geprägten Ländern scheinbare Sebstverständlichkeiten außer
                                                                        Kraft gesetzt. Das Leben, wie es seinen gewohnten Gang ging,
                                                                        gab es mit einem Mal nicht mehr: Fußball, Konzerte, Gottes-
                                                                        dienste, Kneipen – abgesagt und geschlossen. Die Maßnahmen,
                                                                        um die Menschen vor dem Coronavirus zu schützen, haben die
                                                                        Straßen leergefegt, das wirtschaftliche Treiben lahmgelegt und
                                                                        das soziale Leben weitgehend hinter verschlossene Türen und
Fotos: Kasturi Laxmi Mohit; Screenshot pro; Bachfest Malaysia YouTube

                                                                                                                                              „Befiehl du deine Wege“: Rund um die Welt haben Musiker mitten in
                                                                        ins Internet verlagert. Auch der gewohnte Kreislauf von arbei-        der Coronakrise dieses alte Kirchenlied gesungen und sich zu einem
                                                                        ten, Geld verdienen, Geld ausgeben läuft stark gebremst. Der          virtuellen Chor vereinigt
                                                                        Autohändler Manfred Kirr aus Greifenstein im Westerwald zum
                                                                        Beispiel hat seit Wochen keine Anfragen von Kunden mehr: Kei-         der Kollege könne lachen, wenn ein anderer einen Corona-Witz
                                                                        ne Anrufe, keine Laufkundschaft, keine E-Mails. Auch in der           reißt. Im Seniorenheim, in dem sie arbeitet, herrscht Angst, weil
                                                                        Werkstatt herrscht Flaute. Es sei „totenstill“. Sonst hat er durch-   die Menschen hier zur Risikogruppe gehören. Dass sie keinen
                                                                        schnittlich pro Woche zehn Angebote zu erstellen, im Frühjahr         Besuch bekommen können, ist zusätzlich bitter. Sie standen be-
                                                                        meist noch mehr. „Um diese Zeit startet eigentlich die Saison“,       reits drei Wochen unter Quarantäne, weil Rotaviren die Runde
                                                                        sagt Kirr – nach dem schleppenden Wintergeschäft. Nicht so in         machten. Und nun Corona. Bewohner und Mitarbeiter sind am
                                                                        diesem Jahr. Wirtschaftlich ist die Lage für den Händler bereits      Rande ihrer nervlichen Kräfte. Gruner stellt aber auch fest: Ihre
                                                                        jetzt angespannt, denn seine Kosten laufen weiter.                    Kollegen und die ihres Mannes sind aufgeschlossener für Ge-
                                                                          Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurden Frei-         spräche über den Glauben. Das Ehepaar selbst ist relativ gelas-
                                                                        heitsrechte, die so elementar sind für unsere Gesellschaft –          sen. Aus der Bibel wissen die beiden: Jesus hat schwere Zeiten
                                                                        wenn auch mit Bedacht – schrittweise eingeschränkt. Mit unab-         angekündigt. Und er hat versprochen, bei ihnen zu sein. Auch
                                                                        sehbaren langfristigen Folgen für die Wirtschaft einerseits, für      Autohändler Kirr sagt: „In der Krise verlasse ich mich auf Gott.“

                                                                        2 | 2020                                                                                       pro | Christliches Medienmagazin 7
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
GESELLSCHAFT

Die Krise wird uns stärken
Unsere Gesellschaft wird nach der
Krise eine andere sein als zuvor, sagen
Experten. Aber wie wird sie sein? Eine
zuversichtliche Prognose

 Es wäre einfach, ein pessimistisches Szenario
 für die Zeit nach der Coronakrise zu zeichnen,                                                                                       Das Coronavirus
                                                                                                                                      lehrt die Men-
 an dessen Ende wirtschaftlicher und politischer
                                                                                                                                      schen Dankbar-
 Kollaps stehen. Doch hier sei eine hoffnungs-                                                                                        keit. Wie schön
 vollere Sicht gewagt, inspiriert von Prognosen                                                                                       wäre es, wenn
 des Zukunftsforschers Matthias Horx. Die Krise                                                                                       diese Haltung

                                                     Foto: pro/Jonathan Steinert
 wird den gesellschaftlichen Zusammenhalt stär-                                                                                       über die Krise
                                                                                                                                      hinaus erhalten
 ken. Die gemeinsame Erfahrung damit kann ver-
                                                                                                                                      bliebe.
 bindend wirken. Und gerade dadurch, dass Be-
 gegnungen mit anderen Menschen nur einge-
 schränkt möglich sind, werden wir eine Sehn-
 sucht danach entwickeln und feststellen, wie
 wertvoll Beziehungen und Begegnungen sind.
 Auch in unseren Kirchen und Gemeinden wer-                                           Der Psychiater und Psychotherapeut Martin Grabe, Chefarzt
 den wir den Wert der christlichen Gemeinschaft                                    der christlichen psychiatrischen Klinik Hohe Mark, erklärt im
 neu entdecken, weil wir in Zeiten begrenzter                                      Gespräch mit pro: „Die Frage, wie angstvoll ein Mensch rea-
 Kontakte eingeübt haben, aufeinander zu ach-                                      giert, hängt eng mit der Frage zusammen: Wie sicher bin ich
 ten. Weil wir in allen Gemeinden und rings um                                     gebunden?“ Bei kleinen Kindern spiele dabei vor allem die Be-
 den Globus unaufhörlich gebetet und konfessi-                                     ziehung zu den Eltern eine Rolle. Bei Erwachsenen seien Be-
 onelle Unterschiede dabei keine Rolle gespielt                                    ziehungen zu anderen Menschen entscheidend – zum Partner
 haben. Gleichzeitig werden digitale Medien ein                                    oder zu Freunden –, aber auch zu Gott. „Das wirkt sich auch auf
 ganz selbstverständlicher Weg geworden sein,                                      das Angstempfinden aus: Wie geborgen fühle ich mich, wie ge-
 um die Botschaft unseres Glaubens weiterzu-                                       wiss bin ich, dass ich in Gottes Hand stehe?“
 geben.                                                                              Um mit Krisen und Nöten umzugehen, kann es auch helfen,
 Das Vertrauen in die Regierung wird sich festi-                                   sich daran zu orientieren, wie andere Menschen mit schweren
 gen, weil die Bürger sehen, wie Politiker partei-                                 Situationen umgegangen sind. Der Reformator Martin Luther hat
 übergreifend konstruktive Lösungen erarbei-                                       in Wittenberg 1516/17 die Pest selbst erlebt (siehe Interview). Gut
 ten, statt sich auf Kosten des politischen Geg-                                   ein Jahrhundert später, während des Dreißigjährigen Krieges,
 ners zu profilieren – und weil sie verstanden                                     wurde die Stadt erneut von der Pest heimgesucht. Zu der Zeit stu-
 haben, die Bevölkerung mitzunehmen und ihre                                       dierte der Liederdichter Paul Gerhardt dort. Einen seiner Brüder
 Entscheidungen zu kommunizieren. Spaltende                                        hat er durch die Seuche verloren – und an andere Krankheiten
 Kräfte verlieren an Einfluss. Die Wirtschaft wird                                 seine Frau und vier von fünf Kindern. Luther und Gerhardt sind
 sich erholen, wie sie das schon nach früheren                                     die bedeutendsten Kirchenlieddichter. Ihre Texte sind ein Zeug-
 Krisen getan hat. Und viele Menschen werden                                       nis von überschwänglicher Glaubensfreude einerseits und von
 Journalismus neu schätzen lernen, weil er auch                                    geradezu trotzigem Gottvertrauen in schweren Zeiten anderer-
 bei Ausgangssperren sichergestellt hat, dass                                      seits. „Ein feste Burg ist unser Gott“, dichtete Luther. Gerhardt
 die Bürger gut informiert waren, dass Virologen                                   schrieb Zeilen wie diese: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles
 und Wirtschaftsexperten ihre Einschätzungen                                       wider mich.“ Oder: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze
 weitergeben konnten, weil er Politiker zum Han-                                   kränkt / der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. / Der
 deln bewegt, Daten überprüft und Hintergründe                                     Wolken Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird
 erklärt hat.                                                                      auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“
 Und vielleicht werden Menschen in unserem                                           Dieses Lied nahm Johann Sebastian Bach in seine Matthäus-
 Land neu nach Gott fragen. Weil sie in Quaran-                                    passion auf. Und mitten in der Coronakrise beweist der Choral,
 täne Zeit hatten, über sich und ihr Leben nach-                                   wie zeitlos tröstend und ermutigend diese Worte sind: Die Bach-
 zudenken; weil sie in der Not der Krise gemerkt                                   gesellschaft Malaysia hat innerhalb von zwei Tagen ein Video
 haben, was wirklich wichtig ist; weil sie erkannt                                 produziert, auf dem Musiker rund um die Welt dieses Lied sin-
 haben, wie verletztlich das eigene Dasein ist                                     gen und spielen – jeder für sich, aber im Video zu einem viel-
 und wie wenig wir selbst in der Hand haben.                                       stimmigen Chor vereint. Die Hoffnung, dass ein Größerer, Stär-
 Vielleicht auch, weil sie von der Hoffnung ei-                                    kerer die Welt in seinen Händen hat, Wege weiß und Bahnen
 niger Jesus-Leute angesteckt wurden.                                              lenkt, kann das Virus nicht auslöschen.

8 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                                          2 | 2020
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
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                                                                                                         ab
                                                                medieninitiative.pro/jobs              Sommer
„Angst ist nicht                                                                                        2020
schändlich“
Jeder Mensch hat Angst, besonders
in bedrohlichen Situationen. Sich                               FSJ / BFD /
                                                                Fachabitur-
dabei am Glauben und an Gott fest-
zuhalten, kann helfen, mit der Angst
umzugehen. Der Theologe Thorsten
Dietz erklärt im Interview, worin die
Kraft des Glaubens liegt, wie Jesus                             Praktikum
der Angst begegnet ist und was
Luther während der Pest geraten                                 BEWIRB DICH BEI UNS!
hat. | die fragen stellte jonathan
steinert

                                                                                 Aufgaben
pro: Warum ist es eine Hilfe, sich in Angstsitua-
tionen auf Gott zu besinnen?
                                                                                 Büro-Organisation,
Thorsten Dietz: Ich kann Gott gegenüber mei-                                     Postversand, Aufgaben
ne Angst zum Ausdruck bringen, und das ist viel
wert. Die schlimmste Angst ist ja die, die ich gar
                                                                                 im hauswirtschalichen
nicht wahrhaben will, die ich verdränge oder ver-                                und haustechnischen
leugne. Denn die beherrscht mich, ohne dass ich
mir dessen bewusst bin, ich kann gar nicht mit ihr
                                                                                 Bereich, Hospitation in
umgehen. Wenn ich mit den Klagepsalmen sagen                                     der Redaktion möglich
kann: „Herr, mir ist Angst!“ (Psalm 31,10), wird
es schon etwas leichter, allein dadurch, dass ich
darüber rede. Die erste große Hilfe des Glaubens                                 Anforderungen
ist also, einen Raum zu haben, wo ich zu meiner
Angst stehen kann. Das nimmt einen gewissen
                                                                                 PC-/Office-/Internet-
Druck raus. Das andere ist: Ich vertraue mich Gott                               Kenntnisse, Führerschein
an und damit einer Macht, die stärker und größer
und ewiger ist als jede Krankheit, als jede Krise,
                                                                                 Klasse B, Verbundenheit
als dieses Leben selbst. Gott vertrauen heißt, al-                               mit dem christlichen
les relativieren zu können, was in diesem Leben ir-
gendwie schrecklich oder furchtbar oder bedroh-
                                                                                 Glauben
lich ist.
Gibt es noch andere Dinge im Glauben, die hilf-
reich sind im Umgang mit der Angst?
                                                                Das Praktikum wird vergütet und eine kostenlose
Der Glaube verbindet. Gemeinschaft, mit anderen
                                                                Unterkun kann gestellt werden. Die Tätigkeit ist
Menschen Verbundenheit zu erfahren, in irgendei-
ner Weise in Berührung zu kommen, ist etwas sehr
                                                                auf ein Jahr befristet.
Angstbändigendes. Dass wir jetzt mehr allein sein,
uns nicht mehr umarmen und streicheln sollen,                   Infos und Bewerbung
steigert das Angstniveau der Gesellschaft. Glaube               Christliche Medieninitiative pro e.V.
heißt, sich mit anderen verbinden und darin auch                Charlo‹e-Bamberg-Straße 2 | 35578 Wetzlar
getragen zu sein. Theologisch betrachtet: Kirche                Tel 06441 5 66 77 00 | office@medieninitiative.pro
ist Leib Christi. Gott begegnet uns gerade auch in
                                                                medieninitiative.pro/jobs
der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen. Das ist
ein ganz wesentlicher Faktor.
  Ein weiterer Punkt, wie Glaube helfen kann, ist,
klassisch lutherisch das Wort Gottes als Verhei-
ßung zu hören und für sich in Anspruch zu neh-

2 | 2020                                                                   pro | Christliches Medienmagazin 9
Pro 2 | 2020 VERZAGT UN - pro Medienmagazin
GESELLSCHAFT

men, sich daran auszurichten. Gottes-        er nimmt sie an; und geht ängstlichen,        dringt, die Angst mindert. Angst versetzt
worte wie „Fürchte dich nicht, ich habe      aber gleichzeitig getrosten Blickes in das    uns in Anspannung. Aber um halbwegs
dich erlöst“ (Jesaja 43,1) oder das Wort     Leid hinein. Er nimmt es an. Der Glaube       singen zu können, muss man eine ge-
Jesu „Niemand wird sie aus meiner Hand       kann darin stärken und dazu ausrüsten,        wisse körperliche Entspannung haben.
reißen“ (Johannes 10,28). Solche Verhei-     zu sagen: „Ich will tun, was getan werden     Wenn das mit heilsamen Inhalten ver-
ßungen der Bibel sind heilsame Unter-        muss, egal, welch große Angst ich habe.       bunden ist, umso besser. Insofern ist Sin-
brechungen innerer Angstspiralen, wo         Denn Gott ist stärker, was immer kom-         gen eines der besten Medikamente, die
man in Sorgen und Grübeleien verfällt.       men mag.“                                     man sich gegen Angst vorstellen kann.
Viele von uns haben gerade ernsthaften       Jesus hat vorher noch zu seinen Jün-          Luther hat in Wittenberg auch die Pest
Grund, sich zu sorgen. Da sind solche        gern gesagt: „In der Welt habt ihr            erlebt. Wie ist er damit umgegangen?
heilsamen Unterbrechungen überaus            Angst, aber seid getrost: Ich habe die        Luther warnt während der Pest vor zwei
hilfreich.                                   Welt überwunden.“ Was meinte er da-           Gefahren. Die eine Gefahr ist die, dass
Es ist eine menschliche Reaktion, zu         mit?                                          die Angst größer wird als die Liebe. Und
sagen: Die Ursache der Angst, also die       Das ist sehr wichtig: In der Welt haben       da verpflichtet er sehr stark dazu: Hilf
Not, die Krise, das Leid, das hat Gott       wir Angst! Der Glaube schützt nicht da-       deinem Nächsten, diene den anderen,
zu­gelassen. Wie schafft man es, nicht       vor. Jesus sagt nicht: „Wenn ihr glaubt,      kümmere dich um deine Familie, lauf
in diese Argumentation zu kommen?            habt ihr keine Angst mehr.“ Das zweite        nicht weg – es ist deine Pflicht, und der
Das ist eine große Schwierigkeit. Auf der    ist die große Relativierung von all dem,      Glaube kann dir Kraft geben, dich dieser
einen Seite wollen wir nicht einfach sa-     was ist. Mein Ansehen hängt nicht daran,      Pflicht zu stellen. Luther warnt aber auch
gen: Gott hat das gemacht, um uns zu         was irgendjemand sagt. Mein Ansehen           vor Vermessenheit, man würde Gott ver-
strafen oder dass wir etwas daraus ler-      ist in Christus begründet. Meine Zukunft      suchen, wenn man sagt: Gott wird mich
nen. Denn damit würden wir Gott be-          wird mir nicht das Robert-Koch-Institut       schon schützen. Ich muss nicht auf mich
handeln wie irgendeine Person, die wir       mitteilen, auch nicht die Bundeskanzle-       aufpassen, ich habe keine Angst. Das ist
in den Kausalzusammenhang einordnen          rin. Sondern was Christus sagt, das zählt     für Luther überaus töricht. Er sagt: Gott
und berechnen können. Auf der anderen        für meine Zukunft. Diese Welt-Relativie-      hat die Arznei geschaffen. Er hat uns Ver-
Seite will man natürlich auch nicht sa-      rung ist ein Raum des Aufatmens.              nunft gegeben, damit wir auf unsere Ge-
gen: Auch Gott ist überrascht von diesem     Der Reformator Martin Luther hatte            sundheit achten, wie auch auf unsere
Virus, er hat das gar nicht mitgekriegt.     auch mit Ängsten zu kämpfen. War              Mitmenschen. Wer das nicht tut, führt in
Der Ausdruck „Gott hat etwas zugelas-        er als Persönlichkeit ein ängstlicher         den Augen Luthers andere in Gefahr und
sen“ ist der theologische Kompromiss,        Mensch?                                       ist selbst schuld am Tod anderer Leute.
so von der Allmacht Gottes zu sprechen,      Er war ein extrem gefühlsintensiver           Vielen Dank für das Gespräch!

„Gott vertrauen heißt, alles relativieren zu können,
was in diesem Leben schrecklich oder bedrohlich ist.“
dass wir uns dabei nicht zu viel Wissen      Mensch. Er konnte furchtbar wütend
anmaßen. Die geistliche Kunst besteht        werden, aber sich auch wahnsinnig freu-
meines Erachtens darin, zu akzeptieren,      en. Insofern war er auch sehr empfäng-
dass wir vieles in der Welt nicht erklären   lich für Angst. Er hatte regelrechte Panik­
und nicht sofort mit Sinn versehen kön-      attacken in seiner Frühzeit, aber auch
nen; sondern es Gott im Vertrauen ein-       in späteren Krisenerfahrungen. Und er
fach hinzuhalten. Das hat auch mit Gott-     hat in dieser Panik gelernt, dass man
vertrauen zu tun.                            Angst nicht durch irgendwelche ideolo-
Jesus hatte Angst im Garten Gethse-          gischen oder sonstigen Anstrengungen
                                                                                                   Foto: privat

mane, bevor er verhaftet wurde. Was          aus dem Leben hinausbekommt, sondern
können wir von seinem Umgang damit           es braucht etwas, das stärker ist als jede
lernen?                                      Gefahr. Das hat er in Christus, im Evange-
Wir können bei ihm lernen: Angst ist         lium gefunden – das Wort, an das er sich
überhaupt nicht schändlich. Angst anzu-      geklammert hat, auch in größter Angst,          Dr. Thorsten Dietz, Jahrgang 1971,
erkennen und anzunehmen ist ganz we-         und an dem er sich immer wieder neu             ist Professor für Systematische
sentlich. Das zweite ist: Die Angst darf     aufgerichtet hat.                               Theo­logie an der Evangelischen
uns nicht treiben. Wenn wir uns die Pas-     Er hat das ja zum Teil auch in Liedern          Hochschule Tabor in Marburg. Er
sionsgeschichte anschauen, haben da          verarbeitet. Wie können Lieder und              hat unter anderem zum Begriff der
alle Angst: Pilatus, Petrus, Jesus. Aber     Musik Angst bändigen?                           Furcht bei Luther und dem Verhält-
anders als die anderen beiden lässt Jesus    Bei der Musik ist ja das Schöne, dass           nis von Angst und Glaube geforscht.
sich nicht von der Angst treiben, sondern    sie uns körperlich in einer Weise durch-

10 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                         2 | 2020
GESELLSCHAFT

                  Corona-Nachrichten,
                  die Hoffnung machen
                  Inmitten der Katastrophenstimmung werden gute Nachrichten gerne über-
                  sehen. Dabei zeigen einige überraschende Fakten an, dass es ziemlich bald
                  Licht am Ende des Tunnels geben könnte. | von wolfram weimer

                  W
                            er bei der Corona-Pandemie        klein gehalten werden. Wie Singapur und
                            wissen will, was auf Deutsch-     Hongkong haben auch Taiwan und Süd-
                            land zukommt und wie lan-         korea unter den tödlicheren Coronavirus-
                  ge alles dauern kann, muss nach Asien       Epidemien Sars im Jahr 2003 und Mers
                  schauen. China ist etwa drei Monate vor     im Jahr 2015 gelitten. Daraus haben die
                  der Entwicklung hierzulande. Seit An-       Länder Südostasiens gelernt. Auch diese
                  fang März geht die Zahl der Neuinfekti-     Nachrichtenlage bedeutet für Europa ein
                  onen rapide zurück. Inzwischen erkran-      Zeichen der Hoffnung. Denn die Entwick-
                  ken nur noch Einzelne. Nach und nach        lung zeigt hier ebenfalls, dass man nach                                   Wenn die Coronakrise
                  normalisiert sich das Alltagsleben, Qua-    drei, vier Monaten das Schlimmste über-                                    hierzulande zeitlich
                  rantänen werden aufgehoben, in Läden        standen hat. Taiwans Präsidentin Tsai                                      in etwa wie in China
                                                                                                                                         verläuft, dürften sich
                  und Restaurants kehrt neues Leben ein,      Ing-wen ruft der Weltöffentlichkeit da-
                                                                                                                                         die Cafés im Sommer
                  Starbucks und Apple öffnen ihre Ketten      rum auch zu: „Habt keine exzessive Pa-                                     wieder füllen
                  wieder, die Industrieproduktion wird        nik!“
                  hochgefahren.
                    Damit keimt die Hoffnung, dass die        Bisher glimpflich verlaufen
                  Epidemie zwar grausam verläuft, aber
                  ein Ende jedenfalls absehbar erscheint.     Das dritte Hoffnungszeichen kommt aus
                  Für Deutschland würde das bei ähnlicher     Deutschland selber. Offensichtlich ge-
                  Entwicklung bedeuten, dass im Juni das      lingt es der Bundesrepublik bislang, die
                  Schlimmste überwunden sein könnte           allermeisten Erkrankten zu kurieren. Mit-
                  und sich Leben wie Wirtschaft im Som-       te März sind hierzulande 8.000 Infekti-
                  mer wieder normalisieren.                   onen offiziell gemeldet, doch keine 20
                    Da man der propagandistischen Infor-      Todesfälle hat es bis jetzt gegeben. Das
                  mationspolitik Chinas nur bedingt glau-     Durchschnittsalter dieser Toten liegt bei
                  ben kann, hilft zur Beurteilung der opti-   80 Jahren. Deutschland erreicht also bis-
                  mistischen Perspektive ein zweiter Blick    her eine Letalität von nur 0,2 Prozent.
                  in die meinungsfreien Nachbarstaaten        Damit liegt die Sterberate im Bereich von
                  Südkorea und Taiwan. Auch hier entwi-       saisonalen Grippewellen – und weit un-
                  ckelt sich die Pandemie-Lage viel bes-      ter den 3,9 Prozent, die derzeit für die glo-
                  ser als befürchtet. Die beiden demokra-     balen Zahlen gelten.
                  tischen Staaten zeigen, dass auch freie       Deutschland profitiert offenbar von sei-
                  Länder das neuartige Coronavirus sehr       nem außergewöhnlich guten Gesund-
                                                                                                                    Foto: Markus Hurek

                  erfolgreich eindämmen können. Beide         heitssystem, insbesondere bei Intensiv-
                  Länder kommen Mitte März zusammen           stationen. Diese sind für die Behandlung
                  auf gut 8.300 Infizierte, aber nur auf 82   der Corona-Kranken besonders wichtig.
                  Todesfälle, obwohl die Krankheit dort       So verfügt die Bundesrepublik über 29
                  früh im Jahr ausgebrochen war. Beide        Intensivstations-Betten pro 100.000 Ein-
                  Länder haben sehr schnell und entschie-     wohnern – und will diese Zahl noch ver-          Dr. Wolfram Weimer, geboren 1964,
                  den reagiert. Mit massenhaften Fieber-      doppeln, heißt es bei Redaktionsschluss.         ist Verleger, mehrfach ausgezeich-
                  messungen und weiträumigen Tests wur-       Italien hat pro 100.000 Einwohner dage-          neter Publizist und einer der wich-
                  de das Virus minutiös verfolgt, mit einer   gen nur 12,5 Betten zur intensivmedizi-          tigsten Kommentatoren des Zeitge-
                  konsequenten und zielgenauen Abschot-       nischen Versorgung, Frankreich 11,6 und          schehens. In seinem Verlag Weimer
Foto: NICO BHLR

                  tung wurde die Ausbreitung gehemmt          Portugal zählt bloß 4,2 lebensrettende           Media Group erscheinen zahlreiche
                  und mit einer modernen medizinischen        Betten. Deutschland ist also vergleichs-         Wirtschaftsmedien.
                  Versorgung konnten die Todesfallzahlen      weise gut gerüstet.

                  2 | 2020                                                                                    pro | Christliches Medienmagazin 11
Die Schweizer Extremsportlerin Evelyne Binsack war an allen drei
                                      geografischen Polen des Planeten: dem Nord-, dem Südpol und
                                      dem Mount Everest. Heute weiß sie: Lange Zeit ist sie vor sich
                                      selbst davongelaufen. Auf ihren Expeditionen hat sie Schätze aus
                                      ihrer katholischen Kindheit wiederentdeckt und neu angefangen
                                      zu beten. | von norbert schäfer und jonathan steinert

12 pro | Christliches Medienmagazin                                                             2 | 2020
Evelyne Binsack, 52 Jahre,
                                                                  war bei ihren Expediti-
                                                                  onen dem Tod nahe

                         S
                                ie stand als erste Schweizerin auf     lichkeit. Und der allerstärkste Charakter,   diese Grenzlinie zwischen Leben und
                                dem Mount Everest, ist mit dem         das ist der Mount Everest.“                  Tod. Deshalb hat sich der Berg zum Tou-
                                Fahrrad und zu Fuß bis zum Süd-          Ihre klaren kristallblauen Augen blit-     ristenziel entwickelt. Hunderte starben
                         pol gereist und über die zugefrorene Ark-     zen hellwach und freundlich, als sie am      bereits am Everest an Erschöpfung, der
                         tis zum Nordpol gewandert. Begonnen           Rande eines christlichen Kongresses da-      Höhenkrankheit – oder stürzten in den
                         hat die Extremsportlerin mit Leichtath-       von erzählt. Sie trägt dezenten Silber-      Tod. „Wer nur vom Ego getrieben wird –
                         letik. Dann kam das Bergsteigen. „Das         schmuck. Mit Steinchen besetzte Ohr-         dem Wunsch nach Ruhm und Anerken-
                         hat wahnsinnig viel Spaß gemacht ei-          ringe, ein kleines Kreuz und ein Ginko-      nung –, kann am Berg leicht umkom-
                         nerseits, andererseits war es sauanstren-     Blatt an einem Kettchen. „Ich bin immer      men“, sagt die Alpinistin. Selbstkontrolle
                         gend. Das gefiel mir.“ Die „komischen         ein bisschen von mir selbst weggerannt“,     sei zum Überleben am Berg unerlässlich.

                                                                                                                                                                  Foto: J. Rohn/Evelyne Binsack
                         Knickerbocker mit roten Socken“ der           sagt Binsack. Das weiß sie aber erst heu-    Präsent sein in der Situation, nicht in der
                         Kindheit tauschte sie gegen Jeans, T-Shirt    te.                                          Angst, ebenso.
                         und Laufschuhe. Die Strecken, die sie                                                        Nach 52 Tagen Gewöhnung an die Höhe
                         zuvor mit den Eltern abgewandert war,         Im Grenzgebiet zwischen                      erreichte Binsack 2001 von tibetischer
                         konnte sie bald joggen.                       Leben und Tod                                Seite aus bei Sonnenaufgang den Gipfel
                           Im Alter von 22 Jahren durchstieg sie die                                                auf 8.848 Metern über dem Meeresspie-
                         Eigernordwand im Winter. Die rund 1.800       Den mächtigen Everest und seine Prä-         gel. Die letzte Etappe legte sie allein zu-
                         Meter hohe Steilwand des Berges gilt un-      senz habe sie förmlich spüren können,        rück. Auf dem Gipfel war die Alpinistin
                         ter Bergsteigern als eine der schwie-         sagt sie. Höhenbergsteigen ist Bergstei-     erfüllt von Staunen, Glück und Erleich-
                         rigsten Routen überhaupt. 1991 erhielt        gen gegen die Zeit und hat ein Ziel: Über-   terung. Nach wenigen Minuten hätte sie
                         Binsack ihr Diplom als Bergführerin. Da       leben. Die Gipfelregion verlangt von den     wieder absteigen müssen, damit der Sau-
                         war die Schweizerin aus dem Kanton Nid-       Alpinisten wegen der tückischen Glet-        erstoff für den Rückweg von zehn Stun-
                         walden gerade 24 Jahre alt und eine von       scherspalten, todbringenden Lawinen          den bis zum Basislager reichte. Trotzdem
                         lediglich fünf Bergführerinnen in Euro-       und Steinschläge und fast senkrechten        blieb sie über eine Stunde oben, so sehr
                         pa. 1998 machte sie zudem eine Ausbil-        Felswänden physische und psychische          hat sie dort die Zeit vergessen. Beim Ab-
                         dung zur Helikopterpilotin. Aber die Ber-     Höchstleistungen. „Der Körper beginnt        stieg passierte sie drei tote Bergsteiger,
                         ge blieben ihre Leidenschaft. Sie empfin-     ab 7.000 Meter langsam zu sterben“, er-      eingefroren und als mahnende Wegmar-
                         det, dass Berge ein bestimmtes Naturell       klärt Binsack. Denn wegen der Höhe –         ken konserviert. Die Silhouette eines To-
                         haben. Beim Anblick des Fitz Roy in Pata-     auf 8.000 Meter fliegen Passagierflug-       ten, des „Waving Man“, hat sich in ihre
                         gonien hatte sie das Gefühl, dass sich der    zeuge – und des geringen Luftdrucks,         Erinnerung eingebrannt. Der hockte in
                         Berg wie eine Barriere vor ihr auftürmt,      kann die Lunge das Blut nicht mehr aus-      etwa 8.700 Meter Höhe zu Eis erstarrt auf
Fotos: Evelyne Binsack

                         „wie ein Macho, der sagt: ‚Schaue mich        reichend mit Sauerstoff versorgen. Der       den Knien. „Eine Hand in der Luft, als
                         an. Ich bin der Größte und lasse mich         Körper baut ständig ab, ein dauerhafter      würde er winken“, erinnert sich Binsack
                         nicht besteigen.‘“ Berge könnten aber         Aufenthalt ist unmöglich. Bergsteiger        nachdenklich. „Es sah aus wie ein Hil-
                         auch „lieblich“ oder „recht weiblich“ er-     nennen den Bereich deshalb „Todeszo-         feruf. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke,
                         scheinen. „Jeder Berg hat seine Persön-       ne“. Heute suchen viele Menschen genau       spüre ich das am Solar Plexus.“

                         2 | 2020                                                                                   pro | Christliches Medienmagazin 13
GESELLSCHAFT

                                                Mit Fahrrad, zu Fuß, auf
                                                Skiern und mit Schlitten
Scharten in der Seele                           erreichte die Extremsport-
                                                lerin sowohl den Südpol
                                                als auch den Nordpol
Ihre eigene Widerstandsfähigkeit und
der Drang nach Freiheit und Bewegung
liegen in ihrer Kindheit begründet. Bin-
sack ist aufgewachsen in einer Familie
mit einem „gefühlskalten Vater und ei-
ner liebenden Mutter“, erzählt sie. Die
Mutter war katholisch, der Vater Atheist.
Beide sind mittlweile tot. Der Vater er-
zog die Kinder mit „Angst und Aggressi-
vität“, brüllte sie an. „Erst hat er geschla-
gen, später musste er nur noch mit dem
Schlagen drohen“, berichtet Binsack in
einem Referat auf dem Willow-Creek-
Leitungskongress in Karlsruhe. Er sei
kein böser Mensch gewesen, wertet sie
rückblickend, er habe es nicht anders ge-       vor dem „Explodieren“ und hatte das Be-       kämpfen. Sie hat auch gelernt, sich und
lernt. Ein guter Freund der Familie brach-      dürfnis, „losrennen“ zu müssen, formu-        anderen zu vergeben. Sie könne nicht an-
te dem Mädchen bei Besuchen dann und            liert sie es. Sie folgte dem Drang nach Be-   deren vorangehen, aber das eigene Leben
wann kleine Geschenke mit. Der Mann             wegung und begann, exzessiv Sport zu          nicht im Griff haben. „Als Bergführerin
wurde mit der Zeit zum Ersatzvater. „Ir-        treiben. Mit dieser „Energie der Ameisen“     muss ich mich zuerst selbst führen kön-
gendwann hat er sich an meinem Körper           wurde sie am Berg sehr schnell sehr gut       nen, wenn ich Gäste über einen schwie-
bedient“, berichtet die Powerfrau erst-         und konnte Kraftreserven gerade dann          rigen Grat oder Berg führen möchte. Erst
mals öffentlich und unter Tränen. Mit           freilegen, wenn sie eigentlich schon am       dann kann ich Verantwortung für mei-
den sexuellen Übergriffen war die junge         Ende war. In Extremsituationen habe sie       nen Gast übernehmen.“
Frau damals „völlig überfordert“, erzählt       einen „Turbolader“. Binsack konnte die
sie. Sie hatte nie gelernt, „Nein“ zu sagen     schlechten Erfahrungen der Kindheit           Mit Gebeten durch die
und sich zu wehren.                             umwandeln in eine psychische Wider-           Eiswüste
  „Nein zu sagen bedeutete, dass ich            standsfähigkeit, mit der sie heute Krisen
emotional im Stich gelassen wurde. Dass         bewältigen kann.                              Am 1. September 2006 brach sie mit dem
ich unsichtbar war, dass ich schlecht war,        Der Missbrauch hat Scharten in ihrer        Fahrrad zum Südpol auf. 25.000 Kilome-
dass ich eine Missgeburt war.“ Sie konn-        Seele hinterlassen. Das ist der bedäch-       ter. Sie erreichte ihn mithilfe von Rad,
te nicht entfliehen und war vor Furcht          tigen und nachdenklichen Frau bewusst.        Skiern, Schlitten und zu Fuß am 28. De-
und Angst förmlich erstarrt in der Situa-       „Die Fragmente der Zerstörung hole ich        zember 2007. Kurz vor dem Ziel, also bei
tion. „Das war keine gute Strategie“, re-       über die Expeditionen zurück“, sagt sie.      200 verbliebenen Kilometern, brach sie
sümiert sie. Mit 17 Jahren verließ sie das      In der Natur, im Abenteuer, am Berg           vor Erschöpfung zusammen. Sie spürte,
Elternhaus. Es blieb eine „innere Aggres-       kann sie sich spüren. Sie kann sich heu-      der Tod war ihr ganz nah. Bei ihren Stra-
sion“, eine Energie. „Es fühlte sich an,        te wieder selbst akzeptieren und auch         pazen und dem eintönigen, stundenlan-
als würden tausend rote Ameisen durch           damit umgehen, dass sie sich als jun-         gen Laufen durch die Eiswüste erinnerte
meinen Körper krabbeln.“ Die junge Frau         ge Frau selbst nicht schützen konnte vor      sie sich an Gebete, die sie als katholisch
fühlte sich „kribbelig und nervös“, stand       den Übergriffen. Damit hatte sie lange zu     erzogenes Kind gelernt hatte: das Vater-

14 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                            2 | 2020
Die Natur ist für
                                                                    Evelyne Binsack eine
                                                                  „Vermittlungsstelle“ zu
                                                                         ihrem Schöpfer

                                                                                                                       auch ihre Mutter sie im Glauben getra-
                                                                                                                       gen hat. Nachdem diese gestorben war,
                                                                                                                       entdeckte Binsack im Bücherregal ihrer
                                                                                                                       Eltern das erste Buch, das sie geschrie-
                                                                                                                       ben hatte – von der Expedition auf den
                                                                                                                       Mount Everest. Darin lag ein kleiner Zet-
                                                                                                                       tel mit einem Bibelvers, Josua 1, Vers 9:
                                                                                                                       „Sei mutig und entschlossen! Hab keine
                                                                                                                       Angst und lass dich durch nichts erschre-
                                                                                                                       cken; denn ich, der Herr, dein Gott, bin
                                                                                                                       bei dir, wohin du auch gehst!“ Ihre Mut-
                                                                                                                       ter habe einen starken Glauben ge­habt.
                                                                                                                       „Damit konnte sie viel von ihrer Angst
                                                                                                                       neutralisieren“, sagt Binsack – ihre eige-
                                                                                                                       nen Ängste, aber auch die um ihre Toch-
                                                                                                                       ter.
                                                                                                                         Binsack pflegt ihre eigene Art der Spi-
                                                                                              Fotos: Evelyne Binsack

                                                                                                                       ritualität. „Es ist nicht so, dass ich mei-
                                                                                                                       nen Glauben praktiziere in dem Sinn,
                                                                                                                       dass ich in die Kirche gehe oder mich an
                                                                                                                       die Sakramenten halte.“ Glauben emp-
                                                                                                                       findet die Sportlerin als persönlichen
                                                                                                                       Austausch mit ihrem Schöpfer, ohne die
                                                                                                                       Vermittlungsstelle der Kirche. „Vielleicht
unser, das Rosenkranz-Gebet und ande-              terview. Sie begann, diese Gebete immer                             ist die Vermittlungsstelle die Natur für
re. „Als ich nicht mehr wusste, was ich            wieder vor sich herzusagen. Das gab ihr                             mich.“ In ihrem WhatsApp-Profil bringt
denken sollte, habe ich angefangen, re-            Kraft, ließ sie die Schmerzen und auch                              sie das auf diese Formel: „Gott schuf
gelmäßig zu beten“, sagt sie in einem In-          die Zeit vergessen. Und sie erfuhr, dass                            Himmel und Berge.“

                                                                                                                                                               Anzeige

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                                                                                                                                            Dan
                                                                                                                                                       W   ill ibald
                                                                                                                                            & Vogel

2 | 2020                                                                                                               pro | Christliches Medienmagazin 15
GESELLSCHAFT

„Bonhoeffer war

                                                                                                                                     Foto: Gütersloher Verlagshaus in der Verlagsgruppe Random House GmbH
kompromisslos für
Christus“
Am 9. April 1945 wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer von den Nazis
ermordet. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen
Kirche in Deutschland, erklärt, was ihn persönlich mit Bonhoeffer ver-
bindet und wie dieser die Evangelische Kirche geprägt hat. | die fragen
stellte uwe birnstein

pro: Es gibt keinen anderen deutschen Theologen, der so oft           Was finden Sie theologisch so bedeutend an Bonhoeffer?
weltweit gelesen worden ist wie Dietrich Bonhoeffer. Worin            Er hat eine klare theologische Grundlegung mit einem deut-
liegt seine Popularität und seine herausragende Bedeutung             lichen politischen Engagement verbunden. Die Versöhnungs-
begründet?                                                            lehre aus dem Zweiten Korintherbrief, 2. Korinther 5, 19 – „Gott
Heinrich Bedford-Strohm: Zum einen ist es natürlich sein Leben        versöhnte in Christus die Welt mit sich“ – spielt für die Theo-
und auch sein Sterben. Er hat mit seinem Einsatz des Lebens           logie Dietrich Bonhoeffers eine zentrale Rolle. Wirklichkeitge-
selbst bezeugt, was er gesagt hat. Das berührt viele Menschen         mäßheit, sagt Bonhoeffer in seiner Ethik, heißt, dass wir die-
bis heute. Gleichzeitig ist er von tiefer Frömmigkeit geprägt, die    se Tatsache der bereits geschehenen Versöhnung wirklich ernst
er mit einer ganz starken Weltzugewandtheit verbunden hat.            nehmen. Deswegen sagt er, können wir nur dann Gottes Wirk-
Wer fromm ist, muss auch politisch sein. Dietrich Bonhoeffer ist      lichkeit erfahren, wenn wir uns ganz auf die Weltwirklichkeit
für mich ein klares Beispiel, wie Frömmigkeit zum Engagement          einlassen. Und die Weltwirklichkeit finden wir immer schon
für die Welt führt.                                                   versöhnt in Jesus Christus vor. Das ist für mich ein zentraler
Hat Bonhoeffer Ihre eigene Biografie beeinflusst?                     Satz. Gott führt mich in die Welt hinein, aber er lässt mich die
Ja, seit sehr langer Zeit. In meiner Familie hat er eine große Rol-   Welt mit den Augen der Versöhnung sehen.
le gespielt. Meine Eltern haben ihren ersten Sohn, meinen älte-       Bonhoeffer war radikal, was seine Glaubensansichten betrifft.
sten Bruder Dietrich, nach Bonhoeffer benannt. Die Geschich-          „Kompromisslos“ nannte er das selbst, kompromisslos einste-
te dahinter: Mein Vater war als 16-Jähriger kurz vor dem Ein-         hen für Christus. Diesen Cantus firmus seines Lebens und sei-
satz im Krieg im Volkssturm und war damals als Jugendlicher           ner Theologie hat Dietrich Bonhoeffer immer wieder neu formu-
natürlich auch von den Ideen der Nationalsozialisten beein-           liert. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Christus nennt er es in
flusst. Gleichzeitig war er sehr stark gegründet in einer Familie,    einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich. Das enthält natür-
die auch durch die Bekennende Kirche geprägt war. Nach dem            lich Anklänge an berühmte Passagen in der Bibel, unter ande-
Krieg hat mein Vater sich zum Theologiestudium entschlossen,          rem die Rede vom Weltgericht in Matthäus 25: „Was ihr dem Ge-
nicht zuletzt deswegen, weil das Erschrecken so groß war über         ringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt
das, was da passiert war und über das Leid, das im deutschen          Ihr mir getan“; „Ich bin hungrig gewesen, ihr habt mir zu essen
Namen angerichtet worden ist. Bonhoeffer war für ihn ein sehr         gegeben“; „Ich bin durstig gewesen, ihr habt mir zu trinken ge-
wichtiger Theologe, als es darum ging, nach dem Krieg wieder          geben.“ Hier geht es um das Ergehen der Menschen, die Not der
eine Zukunftsperspektive zu gewinnen.                                 Menschen in der Welt, und Christus identifiziert sich mit diesen
Auch in meiner theologischen Biografie spielt Bonhoeffer eine         Menschen. Das ist für meinen persönlichen Glauben, aber auch
große Rolle. Während meines Studiums habe ich mich intensiv           für mein öffentliches Wirken von ganz zentraler Bedeutung.
mit Bonhoeffer beschäftigt. Mein Bruder Christoph, jetzt Profes-      Bonhoeffers Ethik gilt ebenfalls als wegweisend.
sor für Kirchengeschichte in Heidelberg, hat über Bonhoeffer          Ja, seine Gedanken zum stellvertretenden Leiden, zur stellvertre-
promoviert. Gleichzeitig bin ich immer enger zusammengekom-           tenden Schuldübernahme sind von ganz besonderer Bedeutung.
men mit Wolfgang Huber, dem Hauptherausgeber der großen               Also: Wir können uns nicht aus der Verantwortung dadurch he-
Bonhoeffer-Ausgabe, deren Entstehen ich sehr intensiv verfolgt        rausziehen, dass wir auf der einen Seite ein Ideal postulieren,
habe.                                                                 was wir nicht wirklich mit der Lebenswirklichkeit ins Gespräch

16 pro | Christliches Medienmagazin                                                                                           2 | 2020
Foto: epd/mck

„Wer fromm ist, muss auch politisch sein.“ – Diese Haltung Dietrich Bonhoeffers ist auch für Heinrich Bedford-Strohm bedeutsam.

bringen – und auf der anderen Seite einen Realismus behaup-                        seiner eigenen Klassenherkunft mit Menschen Kontakt aufzu-
ten, der letztlich völlig absieht von der Versöhntheit der Welt in                 nehmen. Das hatte prägende Wirkung für die sozialethischen
Jesus Christus. Zwischen diesen Polen bewegt sich Bonhoeffers                      Konsequenzen seiner Theologie.
Theologie und sein Verständnis von Verantwortung. Das heißt,                       Wie prägt Bonhoeffer die heutige evangelische Kirche?
dass ich in Situationen, in denen ich zwischen zwei Übeln wäh-                     Ein ganz wichtiger Gedanke ist das berühmte Wort Bonhoef-
len muss, das Wagnis der Verantwortung eingehe und dann eben                       fers: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Wir sa-
vielleicht auch Schuld auf mich lade. Wohlwissend, dass es viel-                   gen heute: Wenn sie Kirche mit anderen ist. Jenseits aller mög-
leicht noch mehr Schuld bedeuten würde, wenn ich überhaupt                         lichen paternalistischen Missverständnisse dieses Satzes muss
nichts täte. Das war für Bonhoeffer ein maßgeblicher Hinter-                       man sagen: Die Kirche muss mit den Menschen sein, die viel-
grund für den Entschluss, am Widerstand gegen die Nazis mitzu-                     leicht nicht zum Kern der Kirche zu gehören scheinen. Das
arbeiten, dessen Ziel ja darin bestand, Adolf Hitler zu töten und                  ist ein Satz, der besonders für die Christen in Ostdeutschland
damit vielleicht Millionen von Menschenleben zu retten.                            wichtig geworden ist, auch schon in der Zeit der DDR. Und er
Woher stammte denn Bonhoeffers große Zugewandtheit zu                              ist heute ganz hoch relevant für uns. Denn dass Gottesliebe und
den Notleidenden?                                                                  Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden sind, muss
Bonhoeffer hat sich immer wieder berühren lassen von Men-                          für uns heißen, dass die Beziehung zu Gott – das Beten – immer
schen, die in ganz anderen sozialen Milieus aufwuchsen, ins-                       verbunden ist mit dem Einsatz für andere, für die Überwindung
besondere jenen, die Ungerechtigkeit zu erleiden hatten oder in                    der Not der anderen. Das bedeutet auch, für die Beseitigung der
Situationen lebten, wo Armut und Unterdrückung die Lebensre-                       politischen Ursachen von Not. Deswegen ist der Einsatz für Ge-
alität prägten. Sehr wichtig für ihn war der Aufenthalt am Uni-                    rechtigkeit und für die Überwindung von Gewalt mit dem christ-
on Theological Seminary in New York. 1995 durfte ich als Bon-                      lichen Glauben eng verbunden.
hoeffer-Austauschprofessor erleben, was ihn dort geprägt hat:                      Die Kirche bewahrt Bonhoeffers Erbe auch durch die Verbrei-
der Kontakt zu den Menschen in Harlem, also dem großen Vier-                       tung von Vertonungen seines Gedichtes „Von guten Mäch-
tel der schwarzen Bevölkerung von New York, wo er in der Abys-                     ten wunderbar geborgen“.
sinian Baptist Church regelmäßig Gottesdienste gefeiert und so-                    Es gibt Worte Bonhoeffers, die vielen Menschen – man muss sa-
gar auch einmal gepredigt hat. Dort hat er Menschen kennen-                        gen weltweit – wirklich ins Herz gegangen sind. Das berühmte
gelernt, Schwarze, denen die Bürgerrechte verweigert wurden.                       Gedicht von den guten Mächten gehört dazu. Es hat viele, viele
Und er hat Freunde gewonnen, die sein Denken und Leben sehr                        Menschen in schweren Situationen getröstet. Junge wie alte
stark geprägt haben – zum Beispiel den Pazifisten Jean Lassere.                    Menschen haben diese Worte gesprochen und in ihnen Trost
Dann dürfte seine Rückkehr nach Berlin eine Art Kultur-                            und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit in Gottes Hand gespürt.
schock ausgelöst haben.                                                            Einige kritisieren, das sei religiöser Kitsch.
Als Vikar unterrichtete Bonhoeffer ab 1931 Konfirmanden, die                       Sie haben deshalb nicht Recht, weil das Gedicht in der Gefäng-
aus Arbeiterhaushalten kamen. Auch richtete er einen Treff-                        niszelle aufgeschrieben wurde, in der ganz unmittelbaren Er-
punkt für arbeitslose Jugendliche ein. Er hat sich, so wird be-                    fahrung der Abgründe von Schmerz und Verlorenheit, denen
richtet, in eindrucksvoller Weise auf diese jungen Leute einge-                    wir Menschen immer wieder ausgesetzt sind.
lassen. Sie haben ihn geliebt, weil er es verstanden hat, jenseits                 Vielen Dank für das Gespräch!

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