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pro Christliches Medienmagazin 2 | 2020 pro-medienmagazin.de UN VERZAGT Warum es Hoffnung in der Krise gibt Peter Tauber Evelyne Binsack Julian Sengelmann erlebt in beginnt steht als Lebensgefahr am Südpol Medien- Gottes Nähe wieder zu macher auf beten der Kanzel
EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, die Krise, die wir erleben, ist beispiellos. Nur in Kriegszeiten hat es so etwas gegeben: dass jeder Mensch, wirklich jeder, die Gefährdung selbst oder zumindest die Auswirkungen persön- lich zu spüren bekommt. Kollektive Verunsicherung. Existen- zielle Ängste. Drohende Jobverluste. Verängstigte Kranke. Fa- milien mit Kindern im Stresstest. Und einsame Singles oder Ältere, die niemand besuchen darf. Das alles aus Sicherheits- gründen. Die große Mehrheit der Deutschen hatte Ende März 28 Verständnis dafür. Vieles in diesen Wochen wirkt unwirklich. Andererseits ist nicht zu übersehen: Überall sind Menschen ge- fordert, herausgefordert – und überfordert. Auch Mächtige sind letztlich ohnmächtig. Die Medien fokussie- ren nahezu alle Themen auf ein Oberthema – sie berichten monothematisch. Doch wenn – selbst aus gutem 38 Grund – elementare Menschen- und Grundrechte wie die Ver- sammlungs- und die Religionsfreiheit eingeschränkt werden, dann sind wir Christen und auch Journalisten gefordert. Bei Kurzmeldungen 4 allem Verständnis für entschlossenes Handeln müssen wir Leserbriefe 23 die Politik daran erinnern: Es gibt Spielregeln. Wer sie ändert, muss sehr verantwortungsbewusst vorgehen. G ESELLS CH AFT Die Bibel zeichnet an vielen Stellen lebensnah, wie menschlich Titel: Hoffnung gegen das Virus es ist, überfordert zu sein. Auch Jesus, der Sohn Gottes, erlebt Perspektive in schweren Zeiten 6 existenzielle Angst und Niedergeschlagenheit. Aber er zeigt Titel: „Angst ist nicht schändlich“ auch Wege, wie wir damit umgehen können. Stürme auf dem Der Theologe Thorsten Dietz über Luthers Angst und See Genezareth bringen die Jünger fast zur Verzweiflung. Jesus den Trost des Glaubens 8 zeigt sich als der, dem sogar Macht über Naturgewalten gege- Corona-Nachrichten, die Hoffnung machen ben ist. Aber nicht nur das: Jesus begegnet den Betroffenen Eine Kolumne von Wolfram Weimer 11 ganz nah, als empathischer Seelsorger. Er sagt die bekannten, „Gott schuf Himmel und Berge“ liebevollen, göttlichen Ermutigungsworte, die den gefor- Wie die Extremsportlerin Evelyne Binsack wieder zu derten Menschen nicht aus der Eigenverantwortung entlassen: beten anfing 12 „Fürchtet euch nicht.“ Außerdem wird klar: Jesus selbst ist mit „Bonhoeffer war radikal für Christus“ im Boot (Markus 6,45 f.). Heinrich Bedford-Strohm über Dietrich Bonhoeffer 16 Der Gottesdienst als Baustelle Hoffnung gibt es auch in der Krise. Viele werden kreativ. Im- Modernes Gottesdienstformat geht erstmals live 18 pulse dazu finden Sie in den Beiträgen zum Titelthema, aber Halt mal ... frommer Feminismus?! auch in den Erfahrungen, die andere Menschen mit pro ge- Frauen kämpfen für gleiche Rechte in der Gemeinde 20 teilt haben. Die Extremsportlerin Evelyne Binsack lief jahre- lang vor ihrer Vergangenheit weg. Als sie an ihre körperlichen Grenzen gelangte, entdeckte sie die Gebete aus ihrer Kindheit wieder (Seite 12). Der CDU-Politiker Peter Tauber berichtet, wie Gott ihm in einer lebensbedrohlichen Krankheit ein Halt war (Seite 26). Bleiben Sie jede Woche auf dem Laufenden! Unser pdf- Ich wünsche Ihnen, dass Sie solche guten Erfahrungen ma- Magazin proKOMPAKT liefert Ihnen jeden Donnerstag die chen. Bleiben Sie behütet! Themen der Woche auf Ihren Bildschirm. Durch die ansprechend gestalteten Seiten erhalten Sie schnell einen Überblick. Links zu verschiedenen Internet- seiten bieten Ihnen weitergehende Informationen. Ihr Christoph Irion Bestellen Sie proKOMPAKT kostenlos! www.proKOMPAKT.de | Telefon (06441) 5 66 77 00 2 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
INHALT | IMPRESSUM 20 44 Der Theologe Dietrich Bonhoeffer wurde am 16 9. April 1945 umgebracht 30 POL ITIK „Was würde Jesus posten?“ Den Tod vor Augen: „Ich hatte eine heitere Autor Chris Pahl über Sinn und Unsinn mit dem Smart- Gelassenheit“ phone in der Hand 36 CDU-Mann Peter Tauber erlebte Gottes Nähe im Leid 26 Joe Bidens Glaube KU LT U R Donald Trumps Herausforderer ist katholisch 28 Bibel lesen und Bahnen schwimmen „Wir können heilfroh sein, dass die CDU Ramelow nicht Filmkritik zu „Der wunderbare Mr. Rogers“ 38 blockiert hat“ „Wir müssen lernen, loszulassen“ Thüringens Ex-Ministerpräsidentin zur Lage Martin Pepper über Krisen und das Lob Gottes 40 im Freistaat 30 „Christen sollten die kreativste Musik auf dem Planeten machen“ PÄDAGOGIK So klingt „Die Musik meiner Kirche“ 44 Liebe Christen, ihr seid spitze! (...und stammt von Musik, Bücher und mehr Adam und Edelhelm ab) Neuerscheinungen kurz rezensiert 46 Eine Kolumne von Bild-Chef Daniel Böcking MEDIE N Medienmacher auf der Kanzel Julian Sengelmann: Schauspieler, Moderator, Vikar 32 Das große Löschen Warum und wie entfernt Facebook Beiträge? 34 I MPR ESSUM www.blauer-engel.de/uz195 Dieses Druckerzeugnis · ressourcenschonend und wurde mit dem Blauen Engel gekennzeichnet. umweltfreundlich hergestellt · emissionsarm gedruckt · überwiegend aus Altpapier RG4 Herausgeber Christliche Medieninitiative pro e.V. Lesertelefon (0 64 41) 5 66 77 77 | Adressverwaltung (0 64 41) 5 66 77 52 Charlotte-Bamberg-Straße 2 | 35578 Wetzlar Anzeigen Telefon (0 64 41) 5 66 77 67 | anzeigen@pro-medienmagazin.de Telefon (0 64 41) 5 66 77 00 | Telefax (0 64 41) 5 66 77 33 Internet www.pro-medienmagazin.de Vorsitzender Michael Voß | Geschäftsführer Christoph Irion Satz/Layout Christliche Medieninitiative pro e.V. Redaktion Martina Blatt, Dr. Johannes Blöcher-Weil, Nicolai Franz, Druck Bonifatius GmbH Druck - Buch - Verlag, Paderborn Elisabeth Hausen, Anna Lutz, Stefanie Ramsperger (Redaktionsleiterin), Bankverbindung Volksbank Mittelhessen eG | Kto.-Nr. 40983201, BLZ 513 900 00 Norbert Schäfer, Martin Schlorke, Jörn Schumacher, Jonathan Steinert | IBAN DE73 5139 0000 0040 9832 01, BIC VBMHDE5F (Chef vom Dienst, Planer dieser Ausgabe), Swanhild Zacharias Beilage Israelnetz Magazin (16 Seiten) E-Mail info@pro-medienmagazin.de | kompakt@pro-medienmagazin.de Titelfoto Jakob Dalbjörn 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 3
MELDUNGEN Liedtexte für Livestream-Gottesdienste Wegen der Coronakrise und dem damit einhergehenden Versammlungsverbot bieten viele Gemeinden ihre Gottesdienste derzeit online per Videostream an. Wegen der Lizenzierung war es bisher schwierig, Texte von Lobpreismusik oder ähnlichem christlichen Liedgut in den Stream einzubinden. Christian Copy- right Licensing International (CCLI), größter Anbieter von Lizenzen für christ- liches Liedgut, bietet deshalb jetzt eine Streaming-Lizenz an. Damit kann die Foto: pro/Swanhild Zacharias gewohnte Musik während des Gottesdienstes auch online verwendet werden. Unter store.ccli.com können Kirchen und Gemeinden das Streaming-Angebot bestellen. CCLI möchte damit auch die christlichen Künstler unterstützen, die wegen der Krise gerade ohne Einkommen dastehen, weil Auftritte abgesagt wurden. Durch den Kauf der Lizenz könnten die Gemeinden die Liedtexte im Stream nicht nur legal verwenden, die Künstler erhielten auch eine angemes- Die Lizenz dafür, auch Liedtexte im sene Vergütung. Die CCLI-Streaming-Lizenz gelte auch für aufgezeichnete Got- Stream zu zeigen, erleichtert den Besuchern von Online-Gottesdiensten tesdienste, die auf YouTube zu Verfügung gestellt werden, erklärte das Unter- das Mitsingen nehmen auf Anfrage. Darüberhinaus sei die Nutzung von YouTube als Plattform für das Streamen zu empfehlen, weil dann kein Gema-Lizenz notwendig werde, da YouTube und Verwertungsgesellschaft Gema direkt miteinander abrechne- ten. Dieses gelte aber nicht, wenn die Gemeinde einen eigenen Webserver oder einen sonstigen Streaming-Anbieter nutze. Weitere Informationen finden sich unter de.ccli.com/streaming. Für Rückfragen steht der Anbieter per E-Mail unter eu@ccli.com zur Verfügung. | swanhild zacharias 73,9 prozent 73,9 Prozent der Deutschen haben Vertrauen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Das geht aus einer Mitte März veröffentlichten Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft hervor. Damit belegt Deutschland auf der Vertrauensskala hinter Dänemark (90,7), Finnland (88,6), Schweden (85,9), Niederlande (82,3), Schweiz (79,5) und Irland (76,0) in Europa den siebten Platz. Nach Ansicht der Forscher stabilisiert das Vertrauen in die drei staatlichen Gewalten sowie die Medien den Zusammenhalt der Ge- sellschaft. Nach Angaben der Studie zeige der Index bei allen statisti- schen Schwierigkeiten auch, welche Länder die aktuelle Covid-19-Pande- mie besser managen könnten als andere. Denn gerade Vertrauen sehen die Forscher als eine Notwendigkeit zur Bewältigung der Krise an, etwa wenn es um die Beschränkung von Freiheiten wie durch die Quarantäne- Maßnahmen gehe. | norbert schäfer 4 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
MELDUNGEN Drei Fragen an ... ... die Sängerin Katja Zimmermann. Sie ist Autorin des Buches „Zuerst geliebt. Wenn Gott dir ein Solo schenkt“ (Neukirchener). pro: Wie tief ist das Thema „Singles“ in christlichen Gemeinden verankert? Katja Zimmermann: Ich denke, noch nicht so sehr. Viele Leiter und Pastoren sind selbst verheiratet und haben Familie. Dadurch haben ihre Lebensbeispiele in Predigten oft wenig mit dem Leben eines Singles zu tun. Was sind für Sie die Vorteile am Single-Sein? Die Freiheit und Spontaneität als Single empfinde ich als sehr positiv. Ich kann alleine ent- scheiden, was ich wo und mit wem mache, ohne mich absprechen zu müssen. Auch beruf- lich kann ich alles so planen und einteilen, wie ich es möchte. Das ist gerade als Sängerin Foto: Yasmina Salm sehr praktisch. Das mag auf den ersten Blick eher egoistisch klingen, aber es ist gut, sich einfach mal bewusst zu machen, dass man diese Freiheit hat. Wie kommen Singles zu der Gelassenheit, die Sie in Ihrem Buch empfehlen? Es kann helfen, sich auf die positiven Dinge des Single-Seins zu fokussieren. Und dann würde ich einfach mal Gott fragen, welche Berufung er für mich hat. Wenn wir lernen, uns In ihrem zweiten Buch „Zuerst geliebt“ ermutigt Katja Zimmermann Singles von Gott unseren Wert geben zu lassen, kann das helfen, unseren Beziehungsstatus anders dazu, ihr Leben auch ohne Partner zu anzunehmen. Das bedeutet ja nicht, dass man keinen Partner mehr haben möchte. Zufrie- genießen den sein und die Hoffnung auf einen Partner schließen sich nicht aus. Der veränderte Fo- kus kann schon helfen, gelassener zu werden. Vielen Dank für das Gespräch! | johannes blöcher-weil Lesen Sie mehr zum Thema und einer aktuellen Studie dazu bei pro online: „Singles werden in Gemeinden zu wenig wahrgenommen“, bit.ly/singles-gemeinden In fünf Jahren 119 Angriffe auf Journalisten in Deutschland Seit 2015 sind in Deutschland 119 Journalisten gewaltsam angegriffen worden. Dies hat das Europäische Zentrum für Presse- und Medienfreiheit (ECPMF) in Leipzig do- kumentiert. Das Spektrum reicht von Flaschenwürfen und Einschüchterungen bis zu Handgreiflichkeiten. Laut der Fünfjahresbilanz „Feindbild Journalist“ waren 77 Prozent der Angriffe dem politisch rechten Spektrum zuzuordnen. 55 der Vorfälle wurden in Sachsen registriert. Auf Platz zwei folgt Berlin mit 14 Vorkommnissen. Besonders viele Attacken ereigneten sich im Zusammenhang mit dem Flüchtlings- Foto: De Havilland, flickr zuzug im Herbst 2015. Einen weiteren Schwerpunkt gab es während der rechtsex- tremen Mobilisierungen infolge eines tödlichen Streits zwischen zwei Asylbewer- bern und einem Deutschen in Chemnitz im August 2018. 2020 seien drei der sechs bislang registrierten Fälle auf einer linken Demonstration gegen das Verbot der On- line-Plattform linksunten.indymedia.org in Leipzig gezählt worden. Das ECPMF be- Die meisten der Angriffe auf Journalisten obachtet im rechten Spektrum eine ideologisch verankerte Medienfeindschaft, wo- registrierte das ECPMF im rechten Spektrum nach Journalisten als Eliten gegen das „Volk“ schreiben würden. Ein ähnliches Mu- ster gebe es im linken Spektrum nicht. Die Autoren wünschen sich, dass der Daten- schutz für Berichterstatter gestärkt wird. Zudem sollten sich die Medienhäuser aktiv für betroffene Mitarbeiter einsetzen. | johannes blöcher-weil 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 5
HOFFNUNG GEGEN DAS VIRUS „Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Ob dieses Zitat wirklich von Martin Luther stammt, wie manchmal behauptet, ist zweifelhaft. Aber ohne Zweifel bringt es auf den Punkt, was Hoffnung heißt. Und: Es funktioniert auch mit anderen Bäumen. 6 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
GESELLSCHAFT Das Coronavirus ist Ende Februar auch nach die seelische Gesundheit vieler Menschen andererseits. Psycho- Deutschland gekommen. Seitdem hat sich das logen fürchten, dass Ausgangsbeschränkungen zu mehr häus- licher Gewalt oder gar Suiziden führen können. Allerdings: 95 Leben verändert, es wurde hinter verschlos- Prozent der Deutschen halten die Kontaktverbote laut ARD- sene Türen gedrängt. Die neue Situation macht Deutschlandtrend vom 23. März für richtig. Drei von vier Bür- viele Menschen kreativ. Aber sie macht auch gern sagen, dass sie mit dem Krisenmanagement der Regierung Angst. Gut ist es, eine Hoffnung zu haben, die zufrieden sind, ebensoviele, dass sie dem Gesundheitssystem und Ärzten vertrauen. Es rollt eine überwältigende Welle der über die menschlichen Möglichkeiten hinaus- Kreativität, Anteilnahme und Solidarität durchs Land: Musi- geht. | von jonathan steinert ker geben an der Haustür kleine Konzerte, Gesunde helfen beim Einkaufen für Menschen mit höherem Infektionsrisiko, es gibt Wohnzimmergottesdienste, Livestreams aller Art, humorvolle C orona-Ferien sind schön“, singen die Kinder von Sophie Aufmunterungen, neue Formen von Gemeinschaft über digitale Gruner aus Erlbach-Kirchberg, einem Dorf im Erzgebirge. Kanäle. Dass Not erfinderisch macht, lässt sich in der Corona- Seit Mitte März sollen sie wie Schüler in ganz Deutsch- krise an zahlreichen Beispielen sehen. land nicht mehr zur Schule kommen, um die Ansteckungsge- fahr mit dem Coronavirus zu minimieren. Aber Ferien sind es Trotziges Vertrauen nicht: Die Schüler bekommen Aufgaben von ihren Lehrern und sollen sie zu Hause lösen. Trotzdem sei es schöner, daheim zu Aber die Krise macht auch Angst. Während diese Zeilen ge- sein, sagt die Viertklässlerin Livia, die Älteste. Für die Eltern schrieben werden, berichten Medien, die Pandemie gewinne an sind „Corona-Ferien“ eher stressig. Da die 31-jährige Mutter Tempo. Auf die Gesundheitskrise werde eine Finanz- und darauf und ihr Mann in Pflegeberufen tätig sind, sind sie „systemre- eine Wirtschaftskrise folgen. Ganz abgesehen von den beunru- levant“ und können nicht einfach von zu Hause aus arbeiten. higenden Berichten aus Ländern, deren Wirtschaftskraft, Infra- Ihre Schichten versuchen sie so zu legen, dass einer von beiden struktur und Gesundheitswesen nicht mit dem deutschen ver- bei den drei Kindern ist. „Es ist ziemlich anstrengend“, berich- gleichbar sind, aus Flüchtlingslagern und Kriegsgebieten. Das tet Gruner. Denn die Eltern müssen den beiden Schulkindern Virus würde die ohnehin katastrophale Lage noch verschärfen. bei den Aufgaben helfen und neuen Stoff beibringen. Dann hat Das lässt ein Gefühl von Ohnmacht, Unsicherheit und, ja, Angst der vierjährige Knirps aber niemanden zum Spielen und rennt entstehen. Sophie Gruner erlebt das in ihrem Umfeld: Nicht je- durch die Wohnung. Dadurch haben die Großen keine Ruhe – und auch nicht immer Lust – für die Aufgaben. „Wir merken, dass wir schneller gereizt sind und uns auf die Nerven gehen.“ Gruner sagt aber auch: „So viel Zeit, wie Eltern jetzt mit ihren Kindern haben, werden sie so schnell nicht wiederbekommen.“ Immerhin: Gruners haben einen Garten, können auch rausge- hen. Aber Ausflüge oder selbst der Spielplatz sind tabu. Die Epidemie durch das Coronavirus hat in fast allen Län- dern der Welt Spuren hinterlassen und vor allem in westlich geprägten Ländern scheinbare Sebstverständlichkeiten außer Kraft gesetzt. Das Leben, wie es seinen gewohnten Gang ging, gab es mit einem Mal nicht mehr: Fußball, Konzerte, Gottes- dienste, Kneipen – abgesagt und geschlossen. Die Maßnahmen, um die Menschen vor dem Coronavirus zu schützen, haben die Straßen leergefegt, das wirtschaftliche Treiben lahmgelegt und das soziale Leben weitgehend hinter verschlossene Türen und Fotos: Kasturi Laxmi Mohit; Screenshot pro; Bachfest Malaysia YouTube „Befiehl du deine Wege“: Rund um die Welt haben Musiker mitten in ins Internet verlagert. Auch der gewohnte Kreislauf von arbei- der Coronakrise dieses alte Kirchenlied gesungen und sich zu einem ten, Geld verdienen, Geld ausgeben läuft stark gebremst. Der virtuellen Chor vereinigt Autohändler Manfred Kirr aus Greifenstein im Westerwald zum Beispiel hat seit Wochen keine Anfragen von Kunden mehr: Kei- der Kollege könne lachen, wenn ein anderer einen Corona-Witz ne Anrufe, keine Laufkundschaft, keine E-Mails. Auch in der reißt. Im Seniorenheim, in dem sie arbeitet, herrscht Angst, weil Werkstatt herrscht Flaute. Es sei „totenstill“. Sonst hat er durch- die Menschen hier zur Risikogruppe gehören. Dass sie keinen schnittlich pro Woche zehn Angebote zu erstellen, im Frühjahr Besuch bekommen können, ist zusätzlich bitter. Sie standen be- meist noch mehr. „Um diese Zeit startet eigentlich die Saison“, reits drei Wochen unter Quarantäne, weil Rotaviren die Runde sagt Kirr – nach dem schleppenden Wintergeschäft. Nicht so in machten. Und nun Corona. Bewohner und Mitarbeiter sind am diesem Jahr. Wirtschaftlich ist die Lage für den Händler bereits Rande ihrer nervlichen Kräfte. Gruner stellt aber auch fest: Ihre jetzt angespannt, denn seine Kosten laufen weiter. Kollegen und die ihres Mannes sind aufgeschlossener für Ge- Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik wurden Frei- spräche über den Glauben. Das Ehepaar selbst ist relativ gelas- heitsrechte, die so elementar sind für unsere Gesellschaft – sen. Aus der Bibel wissen die beiden: Jesus hat schwere Zeiten wenn auch mit Bedacht – schrittweise eingeschränkt. Mit unab- angekündigt. Und er hat versprochen, bei ihnen zu sein. Auch sehbaren langfristigen Folgen für die Wirtschaft einerseits, für Autohändler Kirr sagt: „In der Krise verlasse ich mich auf Gott.“ 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 7
GESELLSCHAFT Die Krise wird uns stärken Unsere Gesellschaft wird nach der Krise eine andere sein als zuvor, sagen Experten. Aber wie wird sie sein? Eine zuversichtliche Prognose Es wäre einfach, ein pessimistisches Szenario für die Zeit nach der Coronakrise zu zeichnen, Das Coronavirus lehrt die Men- an dessen Ende wirtschaftlicher und politischer schen Dankbar- Kollaps stehen. Doch hier sei eine hoffnungs- keit. Wie schön vollere Sicht gewagt, inspiriert von Prognosen wäre es, wenn des Zukunftsforschers Matthias Horx. Die Krise diese Haltung Foto: pro/Jonathan Steinert wird den gesellschaftlichen Zusammenhalt stär- über die Krise hinaus erhalten ken. Die gemeinsame Erfahrung damit kann ver- bliebe. bindend wirken. Und gerade dadurch, dass Be- gegnungen mit anderen Menschen nur einge- schränkt möglich sind, werden wir eine Sehn- sucht danach entwickeln und feststellen, wie wertvoll Beziehungen und Begegnungen sind. Auch in unseren Kirchen und Gemeinden wer- Der Psychiater und Psychotherapeut Martin Grabe, Chefarzt den wir den Wert der christlichen Gemeinschaft der christlichen psychiatrischen Klinik Hohe Mark, erklärt im neu entdecken, weil wir in Zeiten begrenzter Gespräch mit pro: „Die Frage, wie angstvoll ein Mensch rea- Kontakte eingeübt haben, aufeinander zu ach- giert, hängt eng mit der Frage zusammen: Wie sicher bin ich ten. Weil wir in allen Gemeinden und rings um gebunden?“ Bei kleinen Kindern spiele dabei vor allem die Be- den Globus unaufhörlich gebetet und konfessi- ziehung zu den Eltern eine Rolle. Bei Erwachsenen seien Be- onelle Unterschiede dabei keine Rolle gespielt ziehungen zu anderen Menschen entscheidend – zum Partner haben. Gleichzeitig werden digitale Medien ein oder zu Freunden –, aber auch zu Gott. „Das wirkt sich auch auf ganz selbstverständlicher Weg geworden sein, das Angstempfinden aus: Wie geborgen fühle ich mich, wie ge- um die Botschaft unseres Glaubens weiterzu- wiss bin ich, dass ich in Gottes Hand stehe?“ geben. Um mit Krisen und Nöten umzugehen, kann es auch helfen, Das Vertrauen in die Regierung wird sich festi- sich daran zu orientieren, wie andere Menschen mit schweren gen, weil die Bürger sehen, wie Politiker partei- Situationen umgegangen sind. Der Reformator Martin Luther hat übergreifend konstruktive Lösungen erarbei- in Wittenberg 1516/17 die Pest selbst erlebt (siehe Interview). Gut ten, statt sich auf Kosten des politischen Geg- ein Jahrhundert später, während des Dreißigjährigen Krieges, ners zu profilieren – und weil sie verstanden wurde die Stadt erneut von der Pest heimgesucht. Zu der Zeit stu- haben, die Bevölkerung mitzunehmen und ihre dierte der Liederdichter Paul Gerhardt dort. Einen seiner Brüder Entscheidungen zu kommunizieren. Spaltende hat er durch die Seuche verloren – und an andere Krankheiten Kräfte verlieren an Einfluss. Die Wirtschaft wird seine Frau und vier von fünf Kindern. Luther und Gerhardt sind sich erholen, wie sie das schon nach früheren die bedeutendsten Kirchenlieddichter. Ihre Texte sind ein Zeug- Krisen getan hat. Und viele Menschen werden nis von überschwänglicher Glaubensfreude einerseits und von Journalismus neu schätzen lernen, weil er auch geradezu trotzigem Gottvertrauen in schweren Zeiten anderer- bei Ausgangssperren sichergestellt hat, dass seits. „Ein feste Burg ist unser Gott“, dichtete Luther. Gerhardt die Bürger gut informiert waren, dass Virologen schrieb Zeilen wie diese: „Ist Gott für mich, so trete gleich alles und Wirtschaftsexperten ihre Einschätzungen wider mich.“ Oder: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze weitergeben konnten, weil er Politiker zum Han- kränkt / der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. / Der deln bewegt, Daten überprüft und Hintergründe Wolken Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, / der wird erklärt hat. auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.“ Und vielleicht werden Menschen in unserem Dieses Lied nahm Johann Sebastian Bach in seine Matthäus- Land neu nach Gott fragen. Weil sie in Quaran- passion auf. Und mitten in der Coronakrise beweist der Choral, täne Zeit hatten, über sich und ihr Leben nach- wie zeitlos tröstend und ermutigend diese Worte sind: Die Bach- zudenken; weil sie in der Not der Krise gemerkt gesellschaft Malaysia hat innerhalb von zwei Tagen ein Video haben, was wirklich wichtig ist; weil sie erkannt produziert, auf dem Musiker rund um die Welt dieses Lied sin- haben, wie verletztlich das eigene Dasein ist gen und spielen – jeder für sich, aber im Video zu einem viel- und wie wenig wir selbst in der Hand haben. stimmigen Chor vereint. Die Hoffnung, dass ein Größerer, Stär- Vielleicht auch, weil sie von der Hoffnung ei- kerer die Welt in seinen Händen hat, Wege weiß und Bahnen niger Jesus-Leute angesteckt wurden. lenkt, kann das Virus nicht auslöschen. 8 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
Anzeige ab medieninitiative.pro/jobs Sommer „Angst ist nicht 2020 schändlich“ Jeder Mensch hat Angst, besonders in bedrohlichen Situationen. Sich FSJ / BFD / Fachabitur- dabei am Glauben und an Gott fest- zuhalten, kann helfen, mit der Angst umzugehen. Der Theologe Thorsten Dietz erklärt im Interview, worin die Kraft des Glaubens liegt, wie Jesus Praktikum der Angst begegnet ist und was Luther während der Pest geraten BEWIRB DICH BEI UNS! hat. | die fragen stellte jonathan steinert Aufgaben pro: Warum ist es eine Hilfe, sich in Angstsitua- tionen auf Gott zu besinnen? Büro-Organisation, Thorsten Dietz: Ich kann Gott gegenüber mei- Postversand, Aufgaben ne Angst zum Ausdruck bringen, und das ist viel wert. Die schlimmste Angst ist ja die, die ich gar im hauswirtschalichen nicht wahrhaben will, die ich verdränge oder ver- und haustechnischen leugne. Denn die beherrscht mich, ohne dass ich mir dessen bewusst bin, ich kann gar nicht mit ihr Bereich, Hospitation in umgehen. Wenn ich mit den Klagepsalmen sagen der Redaktion möglich kann: „Herr, mir ist Angst!“ (Psalm 31,10), wird es schon etwas leichter, allein dadurch, dass ich darüber rede. Die erste große Hilfe des Glaubens Anforderungen ist also, einen Raum zu haben, wo ich zu meiner Angst stehen kann. Das nimmt einen gewissen PC-/Office-/Internet- Druck raus. Das andere ist: Ich vertraue mich Gott Kenntnisse, Führerschein an und damit einer Macht, die stärker und größer und ewiger ist als jede Krankheit, als jede Krise, Klasse B, Verbundenheit als dieses Leben selbst. Gott vertrauen heißt, al- mit dem christlichen les relativieren zu können, was in diesem Leben ir- gendwie schrecklich oder furchtbar oder bedroh- Glauben lich ist. Gibt es noch andere Dinge im Glauben, die hilf- reich sind im Umgang mit der Angst? Das Praktikum wird vergütet und eine kostenlose Der Glaube verbindet. Gemeinschaft, mit anderen Unterkun kann gestellt werden. Die Tätigkeit ist Menschen Verbundenheit zu erfahren, in irgendei- ner Weise in Berührung zu kommen, ist etwas sehr auf ein Jahr befristet. Angstbändigendes. Dass wir jetzt mehr allein sein, uns nicht mehr umarmen und streicheln sollen, Infos und Bewerbung steigert das Angstniveau der Gesellschaft. Glaube Christliche Medieninitiative pro e.V. heißt, sich mit anderen verbinden und darin auch Charloe-Bamberg-Straße 2 | 35578 Wetzlar getragen zu sein. Theologisch betrachtet: Kirche Tel 06441 5 66 77 00 | office@medieninitiative.pro ist Leib Christi. Gott begegnet uns gerade auch in medieninitiative.pro/jobs der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen. Das ist ein ganz wesentlicher Faktor. Ein weiterer Punkt, wie Glaube helfen kann, ist, klassisch lutherisch das Wort Gottes als Verhei- ßung zu hören und für sich in Anspruch zu neh- 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 9
GESELLSCHAFT men, sich daran auszurichten. Gottes- er nimmt sie an; und geht ängstlichen, dringt, die Angst mindert. Angst versetzt worte wie „Fürchte dich nicht, ich habe aber gleichzeitig getrosten Blickes in das uns in Anspannung. Aber um halbwegs dich erlöst“ (Jesaja 43,1) oder das Wort Leid hinein. Er nimmt es an. Der Glaube singen zu können, muss man eine ge- Jesu „Niemand wird sie aus meiner Hand kann darin stärken und dazu ausrüsten, wisse körperliche Entspannung haben. reißen“ (Johannes 10,28). Solche Verhei- zu sagen: „Ich will tun, was getan werden Wenn das mit heilsamen Inhalten ver- ßungen der Bibel sind heilsame Unter- muss, egal, welch große Angst ich habe. bunden ist, umso besser. Insofern ist Sin- brechungen innerer Angstspiralen, wo Denn Gott ist stärker, was immer kom- gen eines der besten Medikamente, die man in Sorgen und Grübeleien verfällt. men mag.“ man sich gegen Angst vorstellen kann. Viele von uns haben gerade ernsthaften Jesus hat vorher noch zu seinen Jün- Luther hat in Wittenberg auch die Pest Grund, sich zu sorgen. Da sind solche gern gesagt: „In der Welt habt ihr erlebt. Wie ist er damit umgegangen? heilsamen Unterbrechungen überaus Angst, aber seid getrost: Ich habe die Luther warnt während der Pest vor zwei hilfreich. Welt überwunden.“ Was meinte er da- Gefahren. Die eine Gefahr ist die, dass Es ist eine menschliche Reaktion, zu mit? die Angst größer wird als die Liebe. Und sagen: Die Ursache der Angst, also die Das ist sehr wichtig: In der Welt haben da verpflichtet er sehr stark dazu: Hilf Not, die Krise, das Leid, das hat Gott wir Angst! Der Glaube schützt nicht da- deinem Nächsten, diene den anderen, zugelassen. Wie schafft man es, nicht vor. Jesus sagt nicht: „Wenn ihr glaubt, kümmere dich um deine Familie, lauf in diese Argumentation zu kommen? habt ihr keine Angst mehr.“ Das zweite nicht weg – es ist deine Pflicht, und der Das ist eine große Schwierigkeit. Auf der ist die große Relativierung von all dem, Glaube kann dir Kraft geben, dich dieser einen Seite wollen wir nicht einfach sa- was ist. Mein Ansehen hängt nicht daran, Pflicht zu stellen. Luther warnt aber auch gen: Gott hat das gemacht, um uns zu was irgendjemand sagt. Mein Ansehen vor Vermessenheit, man würde Gott ver- strafen oder dass wir etwas daraus ler- ist in Christus begründet. Meine Zukunft suchen, wenn man sagt: Gott wird mich nen. Denn damit würden wir Gott be- wird mir nicht das Robert-Koch-Institut schon schützen. Ich muss nicht auf mich handeln wie irgendeine Person, die wir mitteilen, auch nicht die Bundeskanzle- aufpassen, ich habe keine Angst. Das ist in den Kausalzusammenhang einordnen rin. Sondern was Christus sagt, das zählt für Luther überaus töricht. Er sagt: Gott und berechnen können. Auf der anderen für meine Zukunft. Diese Welt-Relativie- hat die Arznei geschaffen. Er hat uns Ver- Seite will man natürlich auch nicht sa- rung ist ein Raum des Aufatmens. nunft gegeben, damit wir auf unsere Ge- gen: Auch Gott ist überrascht von diesem Der Reformator Martin Luther hatte sundheit achten, wie auch auf unsere Virus, er hat das gar nicht mitgekriegt. auch mit Ängsten zu kämpfen. War Mitmenschen. Wer das nicht tut, führt in Der Ausdruck „Gott hat etwas zugelas- er als Persönlichkeit ein ängstlicher den Augen Luthers andere in Gefahr und sen“ ist der theologische Kompromiss, Mensch? ist selbst schuld am Tod anderer Leute. so von der Allmacht Gottes zu sprechen, Er war ein extrem gefühlsintensiver Vielen Dank für das Gespräch! „Gott vertrauen heißt, alles relativieren zu können, was in diesem Leben schrecklich oder bedrohlich ist.“ dass wir uns dabei nicht zu viel Wissen Mensch. Er konnte furchtbar wütend anmaßen. Die geistliche Kunst besteht werden, aber sich auch wahnsinnig freu- meines Erachtens darin, zu akzeptieren, en. Insofern war er auch sehr empfäng- dass wir vieles in der Welt nicht erklären lich für Angst. Er hatte regelrechte Panik und nicht sofort mit Sinn versehen kön- attacken in seiner Frühzeit, aber auch nen; sondern es Gott im Vertrauen ein- in späteren Krisenerfahrungen. Und er fach hinzuhalten. Das hat auch mit Gott- hat in dieser Panik gelernt, dass man vertrauen zu tun. Angst nicht durch irgendwelche ideolo- Jesus hatte Angst im Garten Gethse- gischen oder sonstigen Anstrengungen Foto: privat mane, bevor er verhaftet wurde. Was aus dem Leben hinausbekommt, sondern können wir von seinem Umgang damit es braucht etwas, das stärker ist als jede lernen? Gefahr. Das hat er in Christus, im Evange- Wir können bei ihm lernen: Angst ist lium gefunden – das Wort, an das er sich überhaupt nicht schändlich. Angst anzu- geklammert hat, auch in größter Angst, Dr. Thorsten Dietz, Jahrgang 1971, erkennen und anzunehmen ist ganz we- und an dem er sich immer wieder neu ist Professor für Systematische sentlich. Das zweite ist: Die Angst darf aufgerichtet hat. Theologie an der Evangelischen uns nicht treiben. Wenn wir uns die Pas- Er hat das ja zum Teil auch in Liedern Hochschule Tabor in Marburg. Er sionsgeschichte anschauen, haben da verarbeitet. Wie können Lieder und hat unter anderem zum Begriff der alle Angst: Pilatus, Petrus, Jesus. Aber Musik Angst bändigen? Furcht bei Luther und dem Verhält- anders als die anderen beiden lässt Jesus Bei der Musik ist ja das Schöne, dass nis von Angst und Glaube geforscht. sich nicht von der Angst treiben, sondern sie uns körperlich in einer Weise durch- 10 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
GESELLSCHAFT Corona-Nachrichten, die Hoffnung machen Inmitten der Katastrophenstimmung werden gute Nachrichten gerne über- sehen. Dabei zeigen einige überraschende Fakten an, dass es ziemlich bald Licht am Ende des Tunnels geben könnte. | von wolfram weimer W er bei der Corona-Pandemie klein gehalten werden. Wie Singapur und wissen will, was auf Deutsch- Hongkong haben auch Taiwan und Süd- land zukommt und wie lan- korea unter den tödlicheren Coronavirus- ge alles dauern kann, muss nach Asien Epidemien Sars im Jahr 2003 und Mers schauen. China ist etwa drei Monate vor im Jahr 2015 gelitten. Daraus haben die der Entwicklung hierzulande. Seit An- Länder Südostasiens gelernt. Auch diese fang März geht die Zahl der Neuinfekti- Nachrichtenlage bedeutet für Europa ein onen rapide zurück. Inzwischen erkran- Zeichen der Hoffnung. Denn die Entwick- ken nur noch Einzelne. Nach und nach lung zeigt hier ebenfalls, dass man nach Wenn die Coronakrise normalisiert sich das Alltagsleben, Qua- drei, vier Monaten das Schlimmste über- hierzulande zeitlich rantänen werden aufgehoben, in Läden standen hat. Taiwans Präsidentin Tsai in etwa wie in China verläuft, dürften sich und Restaurants kehrt neues Leben ein, Ing-wen ruft der Weltöffentlichkeit da- die Cafés im Sommer Starbucks und Apple öffnen ihre Ketten rum auch zu: „Habt keine exzessive Pa- wieder füllen wieder, die Industrieproduktion wird nik!“ hochgefahren. Damit keimt die Hoffnung, dass die Bisher glimpflich verlaufen Epidemie zwar grausam verläuft, aber ein Ende jedenfalls absehbar erscheint. Das dritte Hoffnungszeichen kommt aus Für Deutschland würde das bei ähnlicher Deutschland selber. Offensichtlich ge- Entwicklung bedeuten, dass im Juni das lingt es der Bundesrepublik bislang, die Schlimmste überwunden sein könnte allermeisten Erkrankten zu kurieren. Mit- und sich Leben wie Wirtschaft im Som- te März sind hierzulande 8.000 Infekti- mer wieder normalisieren. onen offiziell gemeldet, doch keine 20 Da man der propagandistischen Infor- Todesfälle hat es bis jetzt gegeben. Das mationspolitik Chinas nur bedingt glau- Durchschnittsalter dieser Toten liegt bei ben kann, hilft zur Beurteilung der opti- 80 Jahren. Deutschland erreicht also bis- mistischen Perspektive ein zweiter Blick her eine Letalität von nur 0,2 Prozent. in die meinungsfreien Nachbarstaaten Damit liegt die Sterberate im Bereich von Südkorea und Taiwan. Auch hier entwi- saisonalen Grippewellen – und weit un- ckelt sich die Pandemie-Lage viel bes- ter den 3,9 Prozent, die derzeit für die glo- ser als befürchtet. Die beiden demokra- balen Zahlen gelten. tischen Staaten zeigen, dass auch freie Deutschland profitiert offenbar von sei- Länder das neuartige Coronavirus sehr nem außergewöhnlich guten Gesund- Foto: Markus Hurek erfolgreich eindämmen können. Beide heitssystem, insbesondere bei Intensiv- Länder kommen Mitte März zusammen stationen. Diese sind für die Behandlung auf gut 8.300 Infizierte, aber nur auf 82 der Corona-Kranken besonders wichtig. Todesfälle, obwohl die Krankheit dort So verfügt die Bundesrepublik über 29 früh im Jahr ausgebrochen war. Beide Intensivstations-Betten pro 100.000 Ein- Länder haben sehr schnell und entschie- wohnern – und will diese Zahl noch ver- Dr. Wolfram Weimer, geboren 1964, den reagiert. Mit massenhaften Fieber- doppeln, heißt es bei Redaktionsschluss. ist Verleger, mehrfach ausgezeich- messungen und weiträumigen Tests wur- Italien hat pro 100.000 Einwohner dage- neter Publizist und einer der wich- de das Virus minutiös verfolgt, mit einer gen nur 12,5 Betten zur intensivmedizi- tigsten Kommentatoren des Zeitge- konsequenten und zielgenauen Abschot- nischen Versorgung, Frankreich 11,6 und schehens. In seinem Verlag Weimer Foto: NICO BHLR tung wurde die Ausbreitung gehemmt Portugal zählt bloß 4,2 lebensrettende Media Group erscheinen zahlreiche und mit einer modernen medizinischen Betten. Deutschland ist also vergleichs- Wirtschaftsmedien. Versorgung konnten die Todesfallzahlen weise gut gerüstet. 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 11
Die Schweizer Extremsportlerin Evelyne Binsack war an allen drei geografischen Polen des Planeten: dem Nord-, dem Südpol und dem Mount Everest. Heute weiß sie: Lange Zeit ist sie vor sich selbst davongelaufen. Auf ihren Expeditionen hat sie Schätze aus ihrer katholischen Kindheit wiederentdeckt und neu angefangen zu beten. | von norbert schäfer und jonathan steinert 12 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
Evelyne Binsack, 52 Jahre, war bei ihren Expediti- onen dem Tod nahe S ie stand als erste Schweizerin auf lichkeit. Und der allerstärkste Charakter, diese Grenzlinie zwischen Leben und dem Mount Everest, ist mit dem das ist der Mount Everest.“ Tod. Deshalb hat sich der Berg zum Tou- Fahrrad und zu Fuß bis zum Süd- Ihre klaren kristallblauen Augen blit- ristenziel entwickelt. Hunderte starben pol gereist und über die zugefrorene Ark- zen hellwach und freundlich, als sie am bereits am Everest an Erschöpfung, der tis zum Nordpol gewandert. Begonnen Rande eines christlichen Kongresses da- Höhenkrankheit – oder stürzten in den hat die Extremsportlerin mit Leichtath- von erzählt. Sie trägt dezenten Silber- Tod. „Wer nur vom Ego getrieben wird – letik. Dann kam das Bergsteigen. „Das schmuck. Mit Steinchen besetzte Ohr- dem Wunsch nach Ruhm und Anerken- hat wahnsinnig viel Spaß gemacht ei- ringe, ein kleines Kreuz und ein Ginko- nung –, kann am Berg leicht umkom- nerseits, andererseits war es sauanstren- Blatt an einem Kettchen. „Ich bin immer men“, sagt die Alpinistin. Selbstkontrolle gend. Das gefiel mir.“ Die „komischen ein bisschen von mir selbst weggerannt“, sei zum Überleben am Berg unerlässlich. Foto: J. Rohn/Evelyne Binsack Knickerbocker mit roten Socken“ der sagt Binsack. Das weiß sie aber erst heu- Präsent sein in der Situation, nicht in der Kindheit tauschte sie gegen Jeans, T-Shirt te. Angst, ebenso. und Laufschuhe. Die Strecken, die sie Nach 52 Tagen Gewöhnung an die Höhe zuvor mit den Eltern abgewandert war, Im Grenzgebiet zwischen erreichte Binsack 2001 von tibetischer konnte sie bald joggen. Leben und Tod Seite aus bei Sonnenaufgang den Gipfel Im Alter von 22 Jahren durchstieg sie die auf 8.848 Metern über dem Meeresspie- Eigernordwand im Winter. Die rund 1.800 Den mächtigen Everest und seine Prä- gel. Die letzte Etappe legte sie allein zu- Meter hohe Steilwand des Berges gilt un- senz habe sie förmlich spüren können, rück. Auf dem Gipfel war die Alpinistin ter Bergsteigern als eine der schwie- sagt sie. Höhenbergsteigen ist Bergstei- erfüllt von Staunen, Glück und Erleich- rigsten Routen überhaupt. 1991 erhielt gen gegen die Zeit und hat ein Ziel: Über- terung. Nach wenigen Minuten hätte sie Binsack ihr Diplom als Bergführerin. Da leben. Die Gipfelregion verlangt von den wieder absteigen müssen, damit der Sau- war die Schweizerin aus dem Kanton Nid- Alpinisten wegen der tückischen Glet- erstoff für den Rückweg von zehn Stun- walden gerade 24 Jahre alt und eine von scherspalten, todbringenden Lawinen den bis zum Basislager reichte. Trotzdem lediglich fünf Bergführerinnen in Euro- und Steinschläge und fast senkrechten blieb sie über eine Stunde oben, so sehr pa. 1998 machte sie zudem eine Ausbil- Felswänden physische und psychische hat sie dort die Zeit vergessen. Beim Ab- dung zur Helikopterpilotin. Aber die Ber- Höchstleistungen. „Der Körper beginnt stieg passierte sie drei tote Bergsteiger, ge blieben ihre Leidenschaft. Sie empfin- ab 7.000 Meter langsam zu sterben“, er- eingefroren und als mahnende Wegmar- det, dass Berge ein bestimmtes Naturell klärt Binsack. Denn wegen der Höhe – ken konserviert. Die Silhouette eines To- haben. Beim Anblick des Fitz Roy in Pata- auf 8.000 Meter fliegen Passagierflug- ten, des „Waving Man“, hat sich in ihre gonien hatte sie das Gefühl, dass sich der zeuge – und des geringen Luftdrucks, Erinnerung eingebrannt. Der hockte in Berg wie eine Barriere vor ihr auftürmt, kann die Lunge das Blut nicht mehr aus- etwa 8.700 Meter Höhe zu Eis erstarrt auf Fotos: Evelyne Binsack „wie ein Macho, der sagt: ‚Schaue mich reichend mit Sauerstoff versorgen. Der den Knien. „Eine Hand in der Luft, als an. Ich bin der Größte und lasse mich Körper baut ständig ab, ein dauerhafter würde er winken“, erinnert sich Binsack nicht besteigen.‘“ Berge könnten aber Aufenthalt ist unmöglich. Bergsteiger nachdenklich. „Es sah aus wie ein Hil- auch „lieblich“ oder „recht weiblich“ er- nennen den Bereich deshalb „Todeszo- feruf. Jedes Mal, wenn ich an ihn denke, scheinen. „Jeder Berg hat seine Persön- ne“. Heute suchen viele Menschen genau spüre ich das am Solar Plexus.“ 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 13
GESELLSCHAFT Mit Fahrrad, zu Fuß, auf Skiern und mit Schlitten Scharten in der Seele erreichte die Extremsport- lerin sowohl den Südpol als auch den Nordpol Ihre eigene Widerstandsfähigkeit und der Drang nach Freiheit und Bewegung liegen in ihrer Kindheit begründet. Bin- sack ist aufgewachsen in einer Familie mit einem „gefühlskalten Vater und ei- ner liebenden Mutter“, erzählt sie. Die Mutter war katholisch, der Vater Atheist. Beide sind mittlweile tot. Der Vater er- zog die Kinder mit „Angst und Aggressi- vität“, brüllte sie an. „Erst hat er geschla- gen, später musste er nur noch mit dem Schlagen drohen“, berichtet Binsack in einem Referat auf dem Willow-Creek- Leitungskongress in Karlsruhe. Er sei kein böser Mensch gewesen, wertet sie rückblickend, er habe es nicht anders ge- vor dem „Explodieren“ und hatte das Be- kämpfen. Sie hat auch gelernt, sich und lernt. Ein guter Freund der Familie brach- dürfnis, „losrennen“ zu müssen, formu- anderen zu vergeben. Sie könne nicht an- te dem Mädchen bei Besuchen dann und liert sie es. Sie folgte dem Drang nach Be- deren vorangehen, aber das eigene Leben wann kleine Geschenke mit. Der Mann wegung und begann, exzessiv Sport zu nicht im Griff haben. „Als Bergführerin wurde mit der Zeit zum Ersatzvater. „Ir- treiben. Mit dieser „Energie der Ameisen“ muss ich mich zuerst selbst führen kön- gendwann hat er sich an meinem Körper wurde sie am Berg sehr schnell sehr gut nen, wenn ich Gäste über einen schwie- bedient“, berichtet die Powerfrau erst- und konnte Kraftreserven gerade dann rigen Grat oder Berg führen möchte. Erst mals öffentlich und unter Tränen. Mit freilegen, wenn sie eigentlich schon am dann kann ich Verantwortung für mei- den sexuellen Übergriffen war die junge Ende war. In Extremsituationen habe sie nen Gast übernehmen.“ Frau damals „völlig überfordert“, erzählt einen „Turbolader“. Binsack konnte die sie. Sie hatte nie gelernt, „Nein“ zu sagen schlechten Erfahrungen der Kindheit Mit Gebeten durch die und sich zu wehren. umwandeln in eine psychische Wider- Eiswüste „Nein zu sagen bedeutete, dass ich standsfähigkeit, mit der sie heute Krisen emotional im Stich gelassen wurde. Dass bewältigen kann. Am 1. September 2006 brach sie mit dem ich unsichtbar war, dass ich schlecht war, Der Missbrauch hat Scharten in ihrer Fahrrad zum Südpol auf. 25.000 Kilome- dass ich eine Missgeburt war.“ Sie konn- Seele hinterlassen. Das ist der bedäch- ter. Sie erreichte ihn mithilfe von Rad, te nicht entfliehen und war vor Furcht tigen und nachdenklichen Frau bewusst. Skiern, Schlitten und zu Fuß am 28. De- und Angst förmlich erstarrt in der Situa- „Die Fragmente der Zerstörung hole ich zember 2007. Kurz vor dem Ziel, also bei tion. „Das war keine gute Strategie“, re- über die Expeditionen zurück“, sagt sie. 200 verbliebenen Kilometern, brach sie sümiert sie. Mit 17 Jahren verließ sie das In der Natur, im Abenteuer, am Berg vor Erschöpfung zusammen. Sie spürte, Elternhaus. Es blieb eine „innere Aggres- kann sie sich spüren. Sie kann sich heu- der Tod war ihr ganz nah. Bei ihren Stra- sion“, eine Energie. „Es fühlte sich an, te wieder selbst akzeptieren und auch pazen und dem eintönigen, stundenlan- als würden tausend rote Ameisen durch damit umgehen, dass sie sich als jun- gen Laufen durch die Eiswüste erinnerte meinen Körper krabbeln.“ Die junge Frau ge Frau selbst nicht schützen konnte vor sie sich an Gebete, die sie als katholisch fühlte sich „kribbelig und nervös“, stand den Übergriffen. Damit hatte sie lange zu erzogenes Kind gelernt hatte: das Vater- 14 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
Die Natur ist für Evelyne Binsack eine „Vermittlungsstelle“ zu ihrem Schöpfer auch ihre Mutter sie im Glauben getra- gen hat. Nachdem diese gestorben war, entdeckte Binsack im Bücherregal ihrer Eltern das erste Buch, das sie geschrie- ben hatte – von der Expedition auf den Mount Everest. Darin lag ein kleiner Zet- tel mit einem Bibelvers, Josua 1, Vers 9: „Sei mutig und entschlossen! Hab keine Angst und lass dich durch nichts erschre- cken; denn ich, der Herr, dein Gott, bin bei dir, wohin du auch gehst!“ Ihre Mut- ter habe einen starken Glauben gehabt. „Damit konnte sie viel von ihrer Angst neutralisieren“, sagt Binsack – ihre eige- nen Ängste, aber auch die um ihre Toch- ter. Binsack pflegt ihre eigene Art der Spi- Fotos: Evelyne Binsack ritualität. „Es ist nicht so, dass ich mei- nen Glauben praktiziere in dem Sinn, dass ich in die Kirche gehe oder mich an die Sakramenten halte.“ Glauben emp- findet die Sportlerin als persönlichen Austausch mit ihrem Schöpfer, ohne die Vermittlungsstelle der Kirche. „Vielleicht unser, das Rosenkranz-Gebet und ande- terview. Sie begann, diese Gebete immer ist die Vermittlungsstelle die Natur für re. „Als ich nicht mehr wusste, was ich wieder vor sich herzusagen. Das gab ihr mich.“ In ihrem WhatsApp-Profil bringt denken sollte, habe ich angefangen, re- Kraft, ließ sie die Schmerzen und auch sie das auf diese Formel: „Gott schuf gelmäßig zu beten“, sagt sie in einem In- die Zeit vergessen. Und sie erfuhr, dass Himmel und Berge.“ Anzeige schul start Kreative Gottesdienstentwürfe für Gemeinden zum Schulstart. oP! ist t Gratis GestaltunGsideen, VideoclipS, gottes e chul Predigtentwürfe, werbematerial uvm. op, S hip h www.schulstartgottesdienst.de dienst siv mit 2020 exklu ie l K al la uch Dan W ill ibald & Vogel 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 15
GESELLSCHAFT „Bonhoeffer war Foto: Gütersloher Verlagshaus in der Verlagsgruppe Random House GmbH kompromisslos für Christus“ Am 9. April 1945 wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer von den Nazis ermordet. Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, erklärt, was ihn persönlich mit Bonhoeffer ver- bindet und wie dieser die Evangelische Kirche geprägt hat. | die fragen stellte uwe birnstein pro: Es gibt keinen anderen deutschen Theologen, der so oft Was finden Sie theologisch so bedeutend an Bonhoeffer? weltweit gelesen worden ist wie Dietrich Bonhoeffer. Worin Er hat eine klare theologische Grundlegung mit einem deut- liegt seine Popularität und seine herausragende Bedeutung lichen politischen Engagement verbunden. Die Versöhnungs- begründet? lehre aus dem Zweiten Korintherbrief, 2. Korinther 5, 19 – „Gott Heinrich Bedford-Strohm: Zum einen ist es natürlich sein Leben versöhnte in Christus die Welt mit sich“ – spielt für die Theo- und auch sein Sterben. Er hat mit seinem Einsatz des Lebens logie Dietrich Bonhoeffers eine zentrale Rolle. Wirklichkeitge- selbst bezeugt, was er gesagt hat. Das berührt viele Menschen mäßheit, sagt Bonhoeffer in seiner Ethik, heißt, dass wir die- bis heute. Gleichzeitig ist er von tiefer Frömmigkeit geprägt, die se Tatsache der bereits geschehenen Versöhnung wirklich ernst er mit einer ganz starken Weltzugewandtheit verbunden hat. nehmen. Deswegen sagt er, können wir nur dann Gottes Wirk- Wer fromm ist, muss auch politisch sein. Dietrich Bonhoeffer ist lichkeit erfahren, wenn wir uns ganz auf die Weltwirklichkeit für mich ein klares Beispiel, wie Frömmigkeit zum Engagement einlassen. Und die Weltwirklichkeit finden wir immer schon für die Welt führt. versöhnt in Jesus Christus vor. Das ist für mich ein zentraler Hat Bonhoeffer Ihre eigene Biografie beeinflusst? Satz. Gott führt mich in die Welt hinein, aber er lässt mich die Ja, seit sehr langer Zeit. In meiner Familie hat er eine große Rol- Welt mit den Augen der Versöhnung sehen. le gespielt. Meine Eltern haben ihren ersten Sohn, meinen älte- Bonhoeffer war radikal, was seine Glaubensansichten betrifft. sten Bruder Dietrich, nach Bonhoeffer benannt. Die Geschich- „Kompromisslos“ nannte er das selbst, kompromisslos einste- te dahinter: Mein Vater war als 16-Jähriger kurz vor dem Ein- hen für Christus. Diesen Cantus firmus seines Lebens und sei- satz im Krieg im Volkssturm und war damals als Jugendlicher ner Theologie hat Dietrich Bonhoeffer immer wieder neu formu- natürlich auch von den Ideen der Nationalsozialisten beein- liert. Frieden, soziale Gerechtigkeit und Christus nennt er es in flusst. Gleichzeitig war er sehr stark gegründet in einer Familie, einem Brief an seinen Bruder Karl-Friedrich. Das enthält natür- die auch durch die Bekennende Kirche geprägt war. Nach dem lich Anklänge an berühmte Passagen in der Bibel, unter ande- Krieg hat mein Vater sich zum Theologiestudium entschlossen, rem die Rede vom Weltgericht in Matthäus 25: „Was ihr dem Ge- nicht zuletzt deswegen, weil das Erschrecken so groß war über ringsten meiner Brüder und Schwestern getan habt, das habt das, was da passiert war und über das Leid, das im deutschen Ihr mir getan“; „Ich bin hungrig gewesen, ihr habt mir zu essen Namen angerichtet worden ist. Bonhoeffer war für ihn ein sehr gegeben“; „Ich bin durstig gewesen, ihr habt mir zu trinken ge- wichtiger Theologe, als es darum ging, nach dem Krieg wieder geben.“ Hier geht es um das Ergehen der Menschen, die Not der eine Zukunftsperspektive zu gewinnen. Menschen in der Welt, und Christus identifiziert sich mit diesen Auch in meiner theologischen Biografie spielt Bonhoeffer eine Menschen. Das ist für meinen persönlichen Glauben, aber auch große Rolle. Während meines Studiums habe ich mich intensiv für mein öffentliches Wirken von ganz zentraler Bedeutung. mit Bonhoeffer beschäftigt. Mein Bruder Christoph, jetzt Profes- Bonhoeffers Ethik gilt ebenfalls als wegweisend. sor für Kirchengeschichte in Heidelberg, hat über Bonhoeffer Ja, seine Gedanken zum stellvertretenden Leiden, zur stellvertre- promoviert. Gleichzeitig bin ich immer enger zusammengekom- tenden Schuldübernahme sind von ganz besonderer Bedeutung. men mit Wolfgang Huber, dem Hauptherausgeber der großen Also: Wir können uns nicht aus der Verantwortung dadurch he- Bonhoeffer-Ausgabe, deren Entstehen ich sehr intensiv verfolgt rausziehen, dass wir auf der einen Seite ein Ideal postulieren, habe. was wir nicht wirklich mit der Lebenswirklichkeit ins Gespräch 16 pro | Christliches Medienmagazin 2 | 2020
Foto: epd/mck „Wer fromm ist, muss auch politisch sein.“ – Diese Haltung Dietrich Bonhoeffers ist auch für Heinrich Bedford-Strohm bedeutsam. bringen – und auf der anderen Seite einen Realismus behaup- seiner eigenen Klassenherkunft mit Menschen Kontakt aufzu- ten, der letztlich völlig absieht von der Versöhntheit der Welt in nehmen. Das hatte prägende Wirkung für die sozialethischen Jesus Christus. Zwischen diesen Polen bewegt sich Bonhoeffers Konsequenzen seiner Theologie. Theologie und sein Verständnis von Verantwortung. Das heißt, Wie prägt Bonhoeffer die heutige evangelische Kirche? dass ich in Situationen, in denen ich zwischen zwei Übeln wäh- Ein ganz wichtiger Gedanke ist das berühmte Wort Bonhoef- len muss, das Wagnis der Verantwortung eingehe und dann eben fers: „Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Wir sa- vielleicht auch Schuld auf mich lade. Wohlwissend, dass es viel- gen heute: Wenn sie Kirche mit anderen ist. Jenseits aller mög- leicht noch mehr Schuld bedeuten würde, wenn ich überhaupt lichen paternalistischen Missverständnisse dieses Satzes muss nichts täte. Das war für Bonhoeffer ein maßgeblicher Hinter- man sagen: Die Kirche muss mit den Menschen sein, die viel- grund für den Entschluss, am Widerstand gegen die Nazis mitzu- leicht nicht zum Kern der Kirche zu gehören scheinen. Das arbeiten, dessen Ziel ja darin bestand, Adolf Hitler zu töten und ist ein Satz, der besonders für die Christen in Ostdeutschland damit vielleicht Millionen von Menschenleben zu retten. wichtig geworden ist, auch schon in der Zeit der DDR. Und er Woher stammte denn Bonhoeffers große Zugewandtheit zu ist heute ganz hoch relevant für uns. Denn dass Gottesliebe und den Notleidenden? Nächstenliebe untrennbar miteinander verbunden sind, muss Bonhoeffer hat sich immer wieder berühren lassen von Men- für uns heißen, dass die Beziehung zu Gott – das Beten – immer schen, die in ganz anderen sozialen Milieus aufwuchsen, ins- verbunden ist mit dem Einsatz für andere, für die Überwindung besondere jenen, die Ungerechtigkeit zu erleiden hatten oder in der Not der anderen. Das bedeutet auch, für die Beseitigung der Situationen lebten, wo Armut und Unterdrückung die Lebensre- politischen Ursachen von Not. Deswegen ist der Einsatz für Ge- alität prägten. Sehr wichtig für ihn war der Aufenthalt am Uni- rechtigkeit und für die Überwindung von Gewalt mit dem christ- on Theological Seminary in New York. 1995 durfte ich als Bon- lichen Glauben eng verbunden. hoeffer-Austauschprofessor erleben, was ihn dort geprägt hat: Die Kirche bewahrt Bonhoeffers Erbe auch durch die Verbrei- der Kontakt zu den Menschen in Harlem, also dem großen Vier- tung von Vertonungen seines Gedichtes „Von guten Mäch- tel der schwarzen Bevölkerung von New York, wo er in der Abys- ten wunderbar geborgen“. sinian Baptist Church regelmäßig Gottesdienste gefeiert und so- Es gibt Worte Bonhoeffers, die vielen Menschen – man muss sa- gar auch einmal gepredigt hat. Dort hat er Menschen kennen- gen weltweit – wirklich ins Herz gegangen sind. Das berühmte gelernt, Schwarze, denen die Bürgerrechte verweigert wurden. Gedicht von den guten Mächten gehört dazu. Es hat viele, viele Und er hat Freunde gewonnen, die sein Denken und Leben sehr Menschen in schweren Situationen getröstet. Junge wie alte stark geprägt haben – zum Beispiel den Pazifisten Jean Lassere. Menschen haben diese Worte gesprochen und in ihnen Trost Dann dürfte seine Rückkehr nach Berlin eine Art Kultur- und ein tiefes Gefühl der Geborgenheit in Gottes Hand gespürt. schock ausgelöst haben. Einige kritisieren, das sei religiöser Kitsch. Als Vikar unterrichtete Bonhoeffer ab 1931 Konfirmanden, die Sie haben deshalb nicht Recht, weil das Gedicht in der Gefäng- aus Arbeiterhaushalten kamen. Auch richtete er einen Treff- niszelle aufgeschrieben wurde, in der ganz unmittelbaren Er- punkt für arbeitslose Jugendliche ein. Er hat sich, so wird be- fahrung der Abgründe von Schmerz und Verlorenheit, denen richtet, in eindrucksvoller Weise auf diese jungen Leute einge- wir Menschen immer wieder ausgesetzt sind. lassen. Sie haben ihn geliebt, weil er es verstanden hat, jenseits Vielen Dank für das Gespräch! 2 | 2020 pro | Christliches Medienmagazin 17
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