Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM

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Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Ergonomie                                     AKTUELL

Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie   Ausgabe 019 | Sommer 2018 | ISSN 1616-7627
Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Impressum

IMPRESSUM:

Ergonomie Aktuell

Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie erscheint im Selbstverlag einmal pro Jahr.
Auflage 300

Herausgeber:
Lehrstuhl für Ergonomie
Technische Universität München
Boltzmannstraße 15
85748 Garching
Tel: 089/ 289 15388
www.ergonomie.tum.de
http://www.lfe.mw.tum.de/downloads/

ISSN: 1616-7627

Verantw. i.S.d.P.:
Prof. Dr. phil. Klaus Bengler
Prof. Dr.-Ing. Veit Senner

Redaktion:
Prof. Dr. phil. Klaus Bengler
Prof. Dr.-Ing. Veit Senner
Dr.-Ing. Verena Knott
Julia Fridgen

Layout:
Julia Fridgen/TUM

Druck:
Printy, Digitaldruck & Kopierservice
80333 München

© Lehrstuhl für Ergonomie, TUM
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur in Abstimmung mit der Redaktion.

Zum Sprachgebrauch:
Nach Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Alle Personen- und Funktionsbezeich-
nungen beziehen sich gleicher Weise auf Frauen und Männer.

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Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Editorial

Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Freunde und Förderer der Ergonomie,

die diesjährige Ausgabe der Ergonomie aktuell steht
im Licht besonderer Ereignisse, die das Jahr 2018
prägen. Zunächst möchte ich Ihre Aufmerksamkeit
auf das Wissenschaftsjahr 2018 – „Arbeitswelten der
Zukunft“ lenken, das für unsere Disziplin und den
Lehrstuhl eine außerordentliche Möglichkeit bietet,
unsere Arbeitsweisen und Ergebnisse einer breiten
Öffentlichkeit zu präsentieren. Schon die Auftakt-
veranstaltung mit Bundesministerin Wanka, an der
ich aktiv teilnehmen durfte, hat die Bedeutung der
arbeitswissenschaftlichen Forschung an innovativen
Technologien und am Menschen orientierten Ar-             Viele neue Projekte vor allem im Bereich der autono-
beitsformen mehrmals betont.                              men Fahrzeugführung wurden gestartet und tragen
                                                          eine ganz besondere Herausforderung in sich.
Zudem feiert die Technische Universität München ihr
150-jähriges Bestehen und seit 1962 ist der Lehr-         Das LfE-Team und das SPGM-Team wünschen Ih-
stuhl für Ergonomie ein fester Bestandteil im wissen-     nen viel Freude bei der Lektüre. Lassen Sie sich zum
schaftlichen Kanon unserer Universität. Ich danke an      Forschen anstiften.
dieser Stelle meinen Vorgängern und allen Wissen-
schaftlern, die in diesem Zeitraum dazu beigetragen
haben, den Blick auf die Münchner Ergonomie zu
lenken.                                                   Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre.

Vor allen Dingen gratulieren wir mit dieser Ausgabe
und dem diesjährigen Sommerfest meinem Vorgän-
ger Professor Heiner Bubb ganz herzlich zu seinem         Ihr
75. Geburtstag.

Die Beiträge in dieser Ausgabe zeigen, dass wir
uns im Zusammenhang mit neuen Formen der
Mensch-Technik-Interaktion mit virtuellen Erpro-          Klaus Bengler
bungsmethoden und Wizard of Oz-Methodiken be-
schäftigen. Vor allen Dingen liegt eine Herausfor-
derung darin, Technologien, die das Automobil, die
Robotik und auch die Ausbildung außerordentlich
schnell verändern, am Menschen orientiert zu prä-
gen.

Ausgehend von einem Impuls des zurückliegenden
Doktorandenworkshops haben wir unsere Disziplin
mal auf uns selbst angewendet und höhenverstell-
bare Schreibtische beschafft. Lassen Sie sich ins-
pirieren – vielleicht lässt sich auch an Ihrem Arbeits-
platz etwas ändern.

                                                                                                            3
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Inhalt

Impressum                                                                                                02

Editorial                                                                                                03

Ein Streifzug durch die Ergonomie an der TUM
Heiner Bubb                                                                                              06

Der Gesichtssinn – Funktion, Ausfallerscheinungen und aktuelle Forschung am Lehrstuhl für Ergonomie
Christian Lehsing                                                                                        24

Bildung für ein Arbeiten in Industrie 4.0
Alexander Eichler, Caroline Adam                                                                         28

Ergonomische Büroarbeitsplätze – Empfehlungen und Umsetzung am Lehrstuhl für Ergonomie
Annika Ulherr                                                                                            32

Is this real life? Evolution des Fußgängersimulators
André Dietrich, Philipp Maruhn                                                                           35

Rapid Prototyping & Co-Creation für die Bewegungsgestaltung mobiler Roboter – Telepräsenzroboter
Beam+
Jonas Schmidtler, Jakob Reinhardt                                                                        37

Wissenschaftsjahr 2018 – Arbeitswelten der Zukunft
Caroline Adam, Klaus Bengler                                                                             39

Neue Projekte                                                                                            40

Exkursionen                                                                                              47

Auszeichnungen und Ehrungen                                                                              48

Veröffentlichungen von Sommer 2017 bis Sommer 2018                                                       49

Dissertationen                                                                                           53

Abgeschlossene Diplom- und Masterarbeiten                                                                56

Neue Mitarbeiter                                                                                         58

Abschied                                                                                                 61

Rückblick                                                                                                62

                                                                                                           5
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Ein Streifzug durch die Ergonomie an der TUM
Prof. i.R. Dr. rer. nat. Heiner Bubb

Angeregt durch das enorme Anwachsen der Er-             ge dieser Arbeiten wurde in Deutschland 1924 der
kenntnisse auf naturwissenschaftlichen Gebiet und       Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA)
deren Auswirkungen für wirtschaftlichen Gewinn          gegründet (1936 umbenannt in Reichsausschuss für
und Fortschritt kam es nach dem Vorbild der École       Arbeitsstudien und 1948 in Verband für Arbeitsstu-
Polytechnique in Paris, die bereits seit Ende des 18.   dien REFA e.V.). Gemeinsames Merkmal all dieser
Jahrhunderts existierte, Mitte des 19. Jahrhunderts     Vorgehensweisen war zunächst die Verbesserung
in vielen deutschsprachigen Ländern zur Gründung        der Effizienz menschlicher Arbeit, weniger die Be-
naturwissenschaftlich-technischer       Hochschulen.    rücksichtigung deren Wirkung auf den Menschen.
Man versuchte damit dem Trend der Zeit auch in der      Das 1912 gegründete Kaiser Wilhelm Institut für Ar-
Hochschulpolitik gerecht zu werden. Bayern gehör-       beitsphysiologie in Berlin (1929 Umzug nach Dort-
te mit der Gründung der Polytechnischen Schule zu       mund) hatte demgegenüber nach Aussage seines
München (ab dem Studienjahr 1877/78 umbenannt           Gründungsdirektors Atzler das Ziel „nicht auf dem
in Technische Hochschule München THM, seit 1970         kürzesten, sondern auf dem bequemsten Weg Ma-
Technische Universität München TUM) am 12. Ap-          ximalleistungen zu erreichen“.
ril 1868 neben Wien, Zürich, Prag und Karlsruhe zu
den Vorreitern auf diesem Gebiet. Ihr selbst gesetz-
ter Auftrag war „der industriellen Welt den Funken      Während des Zweiten Weltkriegs fanden sowohl
der Wissenschaft zu bringen“ (Bauernfeind, 1868).       auf alliierter als auch auf deutscher Seite Forschun-
Die TUM feiert in diesem Jahr also ihr 150-jähriges     gen statt, die das Ziel hatten, die Treffsicherheit der
Bestehen.                                               Schützen zu verbessern. Folgenreich waren die Ar-
                                                        beiten von Tustin, der 1944 die Zielverfolgung des
                                                        Menschen mittels eines regelungstechnischen Mo-
Der Erfolg des Verständnisses der Welt durch den        dells beschrieb. Später wurde dieses Modell für die
naturwissenschaftlichen Ansatz ließ 1857 den pol-       dynamischen Eigenschaften von Flugzeugen verwen-
nischen Wissenschaftler Woijciech Jastrzebows-          det und ist unter dem Namen „paper pilot“ bekannt.
ki in der Zeitschrift „Natur und Industrie (deutsche    Schon kurz nach der Beendigung des unseligen Krie-
Übersetzung)“ vorschlagen, „sich (auch) mit dem         ges entschloss man sich in UK, die vielfältigen Er-
wissenschaftlichen Ansatz zum Problem der Arbeit        kenntnisse, die man bezüglich der Optimierung der
zu beschäftigen und sogar zu ihrer Erklärung eine       Interaktion von Mensch und Technik gewonnen hatte,
gesonderte Lehre zu betreiben“. Er nannte dieses        auch zivilen Zwecken zugänglich zu machen. So wur-
Wissenschaftsgebiet „Ergonomie“ - ein Kunstwort,        de bereits 1946 die „Ergonomic Research Society“
zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern            (später umbenannt in „Ergonomics Society“) gegrün-
ἒργον = Arbeit und νόμος = Gesetzmäßigkeit/Wis-         det. Treibende Kraft war der englische Wissenschaft-
senschaft. Nachdem sein Vorschlag aber in einer         ler Murrell, der ohne das Wissen über Jastrzebow-
speziellen polnischen Wissenschaftssprache veröf-       ski den Namen für den neuen Wissenschaftszweig
fentlicht war, wurde sein Vorschlag für die Benen-      vorschlug und auch schon bald in dem Buch „Er-
nung dieses Gebietes in der wissenschaftlichen Welt     gonomics“ dessen Inhalte zusammentrug (in deut-
kaum wahrgenommen. Gleichwohl erfolgten zumin-          scher Übersetzung: Ergonomie, 1969/1971). In der
dest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitswis-    Zeit zwischen 1950 und 1960 kam es zur Gründung
senschaftliche Forschungen in verschiedenen euro-       vieler nationaler Gesellschaften mit dem Ziel, Wis-
päischen Ländern. Den größten praktischen Einfluss      senschaftlern, die sich mit der menschlichen Arbeit
dieses Wissenschaftszweig hatten aber sicherlich        beschäftigen, einen Austausch ihrer Erkenntnisse zu
die Arbeiten von F. Taylor und seinem Mitarbeiter       ermöglichen. Zu nennen sind u.a.: „Societé d´Ergono-
F. B. Gilbreth zu den Zeit- und Bewegungsstudien        mie de Langue Francaise“, „Nederlandse Vereniging
und deren Anwendung durch H. Ford für die Fließ-        voor Ergonomie“, „Societa Italiana die Ergonomia“,
bandfertigung von Automobilen. Auf der Grundla-         „Nordic Ergonomics Society“, „Japan Ergonomics

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Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Research Society“ und in den USA „Human Factor          kultät integriert. Mit der Umwandlung der WiSo-Fa-
Society“ (1954), die später in „Human Factor and        kultät in die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät
Ergonomic Society“ umbenannt wurde und somit            wurde das AWA-Studium eingestellt. Die Einrich-
auch das Wort Ergonomie im Titel führt. Speziell in     tung der Bachelor/Masterstudiengänge in der Zeit
Deutschland wurde 1953 die Gesellschaft für Arbeits-    zwischen 2000 und 2008 ermöglichte es, diverse
wissenschaft (GfA) gegründet. 1959/61 fanden sich       Module mit ergonomischen Inhalten zu entwickeln.
die inzwischen zahlreichen nationalen Gesellschaften    Dadurch ist es möglich, dass sich Studenten im
unter dem internationalen Dachverbandes Internatio-     Masterstudiengang vertieft mit ergonomischen In-
nal Ergonomics Association (IEA) zusammen, die seit     halten auseinandersetzen können. Zudem wurde
den siebziger Jahren alle 3 Jahre einen internationa-   ein eigener Master-Studiengang „Human Factors
len Kongress organisiert.                               Engineering–Ergonomie“ etabliert, der interessierten
                                                        Studenten mit Bachelor-Abschluss angeboten wird
                                                        und ihnen den Eintritt in die industrielle Welt erleich-
In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wur-        tern soll.
den an den meisten deutschsprachigen Univer-
sitäten Lehrstühle bzw. Institute mit arbeitswis-
senschaftlicher Ausrichtung eingerichtet. Die           Wie im Folgenden gezeigt wird, hat Professor
Bezeichnungen dieser Lehrstühle waren „Arbeits-         Schmidtke eine ausgesprochen technische Orien-
wissenschaft“, meist in Verbindung mit Betriebsor-      tierung seines Faches etabliert, die als „Münchner
ganisation, Fertigungsplanung, Betriebspädagogik,       Ergonomie“ bekannt geworden ist. Wie es dazu ge-
und Industriebetriebslehre, „Arbeits- und Organi-       kommen ist, möchte ich im Folgenden aus einer sehr
sationspsychologie“, manchmal in Verbindung mit         persönlichen Sicht auf die Entwicklung des Lehrstuhls
„Sozialpsychologie“ und „Arbeitsphysiologie“, häu-      und speziell der Ergonomie an der THM/TUM berich-
fig mit dem Zusatz „Arbeitsmedizin und Sozialme-        ten. Die Ausgabe 010, Sommer 2009 der Lehrstuhl-
dizin“. An der damaligen THM wurde 1962 an der          zeitschrift „Ergonomie aktuell“ enthält in dem Beitrag
Fakultät für Maschinenwesen (MW) das Institut für       „Münchner Ergonomie“ einen ausführlichen Bericht
Arbeitsphysiologie (bis zu seiner Emeritierung gelei-   über den Werdegang des Lehrstuhls, auf den ver-
tet von Professor Dr. Müller-Limmroth) und an der       wiesen wird, wenn es darum geht, mehr im Detail zu
Fakultät für Wirtschaft und Sozialwissenschaften        erfahren, welche Forschungsrichtungen der Lehrstuhl
(WiSo) das Institut für Arbeitspsychologie und -pä-     im Einzelnen verfolgte und welche Dissertationen in
dagogik eingerichtet. Letzteres wurde mit Professor     der Zeit bis 2008 vorgelegt werden konnten.
Dr. H. Schmidtke besetzt. Den Trend der Zeit erken-
nend beantragte er zwischen 1962 und 1968 (das
genaue Datum ist nicht bekannt) die Umbenennung
in „Institut für Ergonomie“. In der Lehre war das In-
stitut vor allem in das damals neu eingerichtete ar-
beitswissenschaftlich/wirtschaftswissenschaftliche
Aufbaustudium (AWA) integriert, das Studenten, die
bereits einen technischen Abschluss an der THM
absolviert hatten, den zusätzlichen Abschluss eines
Dipl.-Wirtsch.-Ing. ermöglichte. In den 90er Jahren
kam es dann zu einem weiteren grundlegenden Or-
ganisationswandel an der TUM: das Institut für Er-
gonomie (IfE) wurde mit dem ehemaligen Institut für
Arbeitsphysiologie zusammengelegt, in Lehrstuhl         Abb. 1: Sitz des Instituts für Ergonomie in der Barbarastraße 16
für Ergonomie (LfE) umbenannt und in die MW-Fa-         bis zum Umzug nach Garching

                                                                                                                      7
Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Als ich am 1. August 1968 in der Barbarastraße 16         damaligen Mitstreitern. In heftig ausgetragenen Dis-
am Institut für Ergonomie (Abbildung 1) anheuerte,        kussionen mussten wir uns so erst einmal ein Bild
war ich stolz, den Namen und die Bedeutung der Be-        erarbeiten, in welchem Fach wir hier tätig sind. Ein
zeichnung „Ergonomie“ zu kennen, der damals nicht         damals intensiv diskutiertes Thema war das Belas-
im Großen Brockhaus stand. Tatsächlich war die Er-        tung-Beanspruchungs-Konzept; denn es war uns da-
gonomie zum damaligen Zeitpunkt – man kann sich           mals keineswegs klar, wie die Belastung genau von
das heute kaum mehr vorstellen – ein „Orchideen-          der Beanspruchung zu unterscheiden ist und insbe-
fach“ und wurde gerade von Technikern nach dem            sondere, mit welchen Messmethoden man beides,
Motto „Ergonomie kann jeder“ belächelt. Immerhin          aber insbesondere die Beanspruchung objektivieren
war „Ergonomie“ damals ein der Allgemeinheit zwar         könne. Das war hinsichtlich der Belastung bei den
unbekannter, aber für die Werbung gut nutzbarer Be-       sog. Umweltfaktoren (Beleuchtung, Klima, mechani-
griff und so konnte man zu Beginn der 70er Jahre          sche Schwingungen und Schall) noch einigermaßen
beobachten, wie die Firma Bosch mit einer grün ge-        klar. Am Beispiel der Schallbelastung soll der Kern
färbten Hand den „ergonomischen“ Griff ihrer Bohr-        dieser Diskussion kurz veranschaulicht werden: die
maschinen bewarb. Insbesondere die Hersteller von         in Ohrnähe gemessenen Schallschwingungen stel-
Bürostühlen okkupierten bald diesen Begriff für ihre      len hinsichtlich Amplitude und Frequenz ganz klar die
Werbung.                                                  Belastung dar. Damals wie heute war es üblich, die-
                                                          se Größen in Dezibel anzugeben und Bewertungsfil-
                                                          ter zu verwenden (damals A-, B-, C-Filter, heute nur
Ich hatte technische Physik mit dem Abschluss             noch A-Filter), welche die Abhängigkeit der mensch-
Dipl.-Ing. studiert. Als ich mich mit der Zielrichtung    lichen Empfindung von Frequenz und Lautstärkepe-
der Ergonomie konfrontiert sah, war ich überzeugt         gel wiedergeben sollen. Charakterisieren die durch
davon, dass es lohnend sein müsse, die Interaktion        diese Bewertung erhaltenen Zahlenwerte noch die
zwischen Mensch und Maschine mit wissenschaftli-          „Belastung“ oder charakterisiert dies bereits die „Be-
chen Methoden zu untersuchen und zu optimieren,           anspruchung“? Ein von vielen Mitarbeitern des Lehr-
da doch Technik nicht für sich selber steht, sondern in   stuhls und auch von mir vertretene Auffassung war,
jedem Fall von Menschen für Menschen gemacht ist.         dass man hier sinnvoll von „bewerteter Belastung“
Dass ich mit dieser Vorstellung nicht ganz falsch lag,    sprechen solle, wobei diese Auffassung keineswegs
zeigt sich unter anderem darin, dass heute alle Her-      von allen mitgetragen wurde. Wie schwierig diese
steller bzw. Entwickler von Automobilen, Flugzeugen       Unterscheidung ist, wird auch an folgendem Beispiel
und viele andere Industriezweige eine entsprechende       sichtbar: ist die Arbeitshöhe an einer Werkbank eine
Abteilung – meist sogar mit diesem Namen – betrei-        objektiv gegebene, messbare Belastungshöhe oder
ben. In Testberichten von Automobilzeitschriften kann     in Abhängigkeit von der individuellen Anthropomet-
man heute in der Beschreibung eines speziellen Fahr-      rie eine Beanspruchungsgröße? Noch schwieriger ist
zeugs lesen, dass die „Ergonomie stimmt“ oder dass        diese Frage für mentale Belastungen zu beantworten,
das Fahrzeug über eine „gute Ergonomie“ verfüge,          da doch die Schwierigkeit (quasi die Beanspruchung)
was auch immer der Schreiber einer solchen Satzes         einer gegebenen Aufgabe erheblich vom Ausbil-
damit verbindet.                                          dungsstand, Kenntnisstand, Erfahrung und Übungs-
                                                          niveau des Ausführenden abhängt. Die Arbeitsaufga-
                                                          be ist dabei ohne Zweifel die Belastung, doch wie ist
Trotz des guten Vorsatzes, eine am Menschen ori-          diese im Hinblick auf die große Variabilität individueller
entierte Technik mit zu gestalten, war es für einen       Fähigkeiten zu bewerten? Es ist dies eine Frage, die
vornehmlich im technischen Bereich Ausgebildeten          im Zusammenhang mit der zunehmend Bedeutung
durchaus eine Herausforderung, herauszufinden, wie        gewinnenden Informationsarbeit immer drängender
eine solche Gestaltung im Detail geschehen soll. So       wird und bis heute keine eindeutige Lösung gefunden
ging es nicht nur mir, sondern natürlich auch meinen      hat. Der heute immer wieder auftauchende Begriff der

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Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Ein Streifzug durch die Ergonomie

„Selbsterklärungsfähigkeit“ gehört in diesen Bereich,    macht ein Dilemma deutlich, dem alle ergonomischen
denn keine Interaktion ist im Prinzip selbsterklärend.   Untersuchungen ausgesetzt sind: in Versuchssituati-
Wenn allerdings bei einer neuen Interaktionsanfor-       onen können durchaus signifikante Zusammenhänge
derung auf vorhandene Erfahrung (innere Modelle)         zwischen meist mit akribischen Methoden definier-
zurückgegriffen werden kann, so ist die Bedienung        ten Belastungszuständen und mittels subjektiver und
dieser neuen Funktion leichter zu verstehen und ihre     der oben erwähnten objektiven Methoden erfassten
Anwendung auch besser zu merken, was häufig mit          Beanspruchung gefunden werden. Insbesondere
„Selbsterklärung“ bezeichnet wird.                       die physiologischen Parameter müssen dabei aber
                                                         immer auf die individuelle Versuchsperson und die
                                                         spezielle Verzugssituation unter der Bedingung „kei-
Die Messung der Beanspruchung erfolgt im Allge-          ne Belastung“ kalibriert werden. Es ist dies ein Phä-
meinen durch Befragung des Belasteten. Für einen         nomen, das jeder kennt, der mittels EMG-Methoden
technisch Ausgebildeten, der es gewohnt ist, sich        muskuläre Belastung untersuchen will. Ähnliches gilt
auf objektive Messungen zu verlassen, ist dies eine      auch für beobachtete Reaktionen von Probanden auf
wenig zufriedenstellende Methode, da zweifellos          psychische Belastungen. Damit scheiden diese phy-
in das Ergebnis jeder Befragung sowohl subjekti-         siologischen Methoden als objektive Messung für
ve Unsicherheiten bezüglich der Artikulierung des        psychische Zustände im Alltag praktisch aus. Leider
aktuellen Gefühls als auch in Abhängigkeit von der       haben sich diese Erkenntnisse aus dem Bereich der
Situation absichtliche Verfälschungen eingehen kön-      Ergonomie aber noch keineswegs in alle Bereiche in-
nen. Es liegt deshalb nahe, dafür die Messung phy-       dustrieller Anwendung herumgesprochen. Es sei in
siologischer Parameter heranzuziehen, von denen          diesem Zusammenhang der Müdigkeitserkenner er-
man annimmt, dass sie vom Probanden nicht aktiv          wähnt, der heute in vielen Neufahrzeugen eingebaut
beeinflusst werden können. Insbesondere kann man         ist. Er basiert mit mehr oder weniger großen Abwand-
schon an sich selbst beobachten, dass Pulsfrequenz       lungen bei den unterschiedlichen Fahrzeugmodellen
und Schweißausschüttung (messbar als elektrischer        im Wesentlichen auf der Messung der Fahrzeit und
Hautwiderstand) sich nicht nur bei körperlicher Belas-   der Beobachtung zu geringer bzw. abrupter Lenk-
tung verändern, sondern auch bei psychischer Belas-      radbewegungen. Wegen zu großer Messprobleme
tung ansprechen. Im Gegensatz zu den Erfahrungen         hat die Erfassung der Pulsfrequenz hier zum Glück
bei körperlicher Belastung konnte bei allen Versuchen    noch nicht Eingang gefunden, obwohl sie immer wie-
für psychische Belastungen (z.B. simuliert durch kom-    der diskutiert wird und mittels der heute verfügbaren
plexe Kopfrechenaufgaben) zwar immer eine entspre-       Smart-Watches in den Bereich einfacher Anwendbar-
chende Reaktion dieser Parameter beobachtet wer-         keit kommt. Eine einigermaßen sichere Methode wäre
den, allerdings bedauerlicherweise keine Maßzahl,        hierbei sicherlich die Beobachtung der Augen, wo die
die eindeutig mit der Beanspruchung korreliert. In-      Lidschlussfrequenz zwar ein Indikator für Ermüdung
sofern erscheint es konsequent, sozusagen näher an       sein kann, aber eben auch nur auf der Basis einer in-
das Gehirn heranzugehen und mittels EEG-Untersu-         dividuellen Normierung.
chungen zu versuchen, diese Fragestellung zu klären.
Insgesamt vier Dissertationen (Böttge, 1972; Holoch,
1972; Hecker, 1978; Wegener, 1978), die alle mit gro-    Die Messung der Augenbewegung ist jedoch durch-
ßem technischen Aufwand verbunden waren, sind in         aus – zumindest in Versuchssituationen – eine Mög-
diesem Rahmen am Lehrstuhl gelaufen. Das Ergebnis        lichkeit, der aktuellen Aufmerksamkeit näher zu kom-
war ernüchternd: zwar konnte in all den Dissertatio-     men, denn die Blickbewegung geschieht zum großen
nen mithilfe der statistischen Auswertung der Para-      Teil unwillkürlich. Im Rahmen der vielen Versuche, die
meter eindeutig verschiedene psychische Zustände         der Lehrstuhl zur Head-Up-Display-Technik durchge-
voneinander getrennt werden, jedoch waren dies von       führt hat, wurde deshalb ein Blickerfassungssystem
Tag zu Tag andere Parameter. Diese Beobachtung           entwickelt, das zunächst den Namen JANUS trug.

                                                                                                                 9
Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Mitarbeiter (Lange, Wohlfarter, Spies), die dieses    auf Potentiometer übertragen und somit elektrisch
System wesentlich weiter verbesserten, haben sich     messbar. Dieser Stift ist in der Handhabung seitens
später selbstständig gemacht und vertreiben nun das   des Menschen ein Vorläufer des heutigen Touch-
Blickerfassungssystem unter dem Namen Dikablis        screens. Übrigens kam der Stift bei den Untersu-
(Abbildung 2).                                        chungen gar nicht so gut weg, wie man das theore-
                                                      tisch erwarten könnte. In späteren Untersuchungen
                                                      am Lehrstuhl (Spies, 2012; Blattner, 2014) konnte
Die Vorstellung von einer ergonomisch gestalteten     auch klar herausgearbeitet werden, warum das so
Technik wurde für uns junge Mitarbeiter natürlich     ist: für die Bedienung eines Touchscreens spielt
auch durch die vielen Beispiele, die Gegenstand ex-   nicht die dominierende Rolle, ob haptisch erfahren
perimenteller Untersuchungen waren, geprägt. Ich      wird, dass ein virtueller Button betätigt worden ist,
erinnere mich hier speziell an die von Schmucker      wofür übrigens ein akustisches Feedback durchaus
(1969) und Pretsch (1969) am Institut durchgeführ-    ausreichend ist, sondern vor der Bedienung, wo sich
ten Untersuchungen zu der Frage, welche Interakti-    der Button befindet.
onsmittel für die Ortung von Objekten auf dem Ra-
darschirm am besten geeignet sei: Der Rollball, das
Joystick, das damals noch gar nicht so hieß und das   Ein Besuch des damals von Professor Bernotat
in den Publikationen als „Steuerknüppel“ erschien,    geleiteten Instituts für Anthropotechnik in Mecken-
und eine ganz neuartige Einrichtung, nämlich ein      heim/Bonn hat meine Vorstellung von einer tech-
Stift, mit dem man unmittelbar am Bildschirm auf      nisch orientierten Ergonomie erheblich beeinflusst.
die zu ortenden Objekte deutete. Die Position des     Hier wurden ebenfalls Bedieninteraktionen unter-
Stiftes wurde über ein kompliziertes Seilzugsystem    sucht, die es damals auf dem Markt überhaupt noch

10
Ein Streifzug durch die Ergonomie

nicht gab und die deshalb in entsprechend gro-         war dafür der Wunsch von Professor Schmidtke ent-
ben Aufbauten für Versuche erst realisiert werden      scheidend, für die Ausbildung der Studenten ein er-
mussten. Auch dort wurde ein Vorläufer des Touch-      gonomisches Praktikum zu entwickeln. Wesentliche
screens untersucht, der in Form von matrixartig an-    Elemente dieses Praktikums sind heute noch Gegen-
geordneten Laserstrahl/Fotoelementen den Ort des       stand der Ausbildung am Lehrstuhl. Die „Krönung“
bedienenden Fingers zu detektieren erlaubt. Ganz       dieser Praktikumsversuche sollte ein Fahrsimulator
neuartig war die um 180° gedrehte Verwendung des       sein. De facto hat dessen Aufbau sehr viel Zeit und
Rollballs, der praktisch ein Vorläufer der heute von   Ingenieursgeist erfordert. Wegen der beschränkten
der Computerbedienung nicht mehr wegzudenken-          Möglichkeiten der damaligen Rechnertechnologie
den Maus war. Es war dort auch ein Fahrsimulator       war er auf mechanisch/optischer Basis aufgebaut.
aufgebaut - übrigens mit elektronischer, allerdings    Das Bild wurde über einem Fernsehprojektor – al-
sehr rudimentärer Bilderzeugung. Unter der Leitung     lerdings noch schwarz-weiß – darstellt (Abbildung
von E. Donges wurde die in der Schifffahrt und Flug-   4 links). Seine Dynamik steuerte ein Analogrechner
zeugführung – hier durch speziell dafür zuständi-      (Abbildung 3). Dieser Fahrsimulator begründete die
ge Offiziere – übliche Einteilung der hierarchischen   Tradition, am Lehrstuhl für Ergonomie grundlegen-
Ordnung bezüglich der Erfüllung einer Fahraufgabe      de Untersuchungen zur Interaktion zwischen Fah-
in Navigation, Führung und Stabilisierung auf den      rer und Fahrzeug durchzuführen und natürlich auch
Bereich des Kraftfahrzeugs übertragen. Der Besuch      die Erfahrung, wie dafür solche Simulatoren Gewinn
war für mich so prägend, dass ich gemeinsam mit        bringend eingesetzt werden können (weitere Ent-
meinen damaligen Mitstreitern P. Rühmann, W. Ilg-      wicklung Abbildung 4 Mitte und rechts).
mann und meinem Bruder Peter versuchte, in Mün-
chen etwas Ähnliches aufzubauen. Neben anderem

                                                                                                            11
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Abb. 5: Links: Anwendung des Helm-Mounted-Displays in einem variablen Fahrerstand (Riedl, 2012) - Rechts: Gegenwärtiger Fußgän-
gersimluator am Lehrstuhl (Quelle: Sebastian Mast)
Als ich nach meiner „Auszeit“ in Eichstätt 1993 an                2008; Riedl, 2012) diese Idee realisiert werden und
den Lehrstuhl berufen worden bin, hatte ich die Vor-              heute stellt sie eine am Lehrstuhl vielfältig eingesetz-
stellung, den Fahrsimulator nicht über Projektions-               te Technologie dar (Abbildung 5).
technik, sondern mittels kleiner direkt vor dem Auge
befindlicher Konvergenzgläser und Displays (damals
noch Röhrentechnik!) zu realisieren. Der Vorteil ei-              Bei der Entwicklung des ergonomischen Praktikums
ner solchen Versuchseinrichtung wäre gewesen,                     wurden besonders die Umweltfaktoren Beleuchtung,
dass man nicht nur Verkehrssituationen darstellen                 Schall und Klima berücksichtigt, unter anderem
könnte, sondern auch beliebige andere Arbeitssitu-                auch weil hierfür „handhabbare“ Messinstrumente
ationen aus dem Bereich der Produktion. Aufgrund                  zur Verfügung stehen. In dem 2013 vorgestellten Er-
der damals verfügbaren Technik hätte eine solche                  gonomiemesskoffer werden diese Umweltfaktoren
Helm-Mounted-Display-Variante ein extrem hohes                    unter besonderer Berücksichtigung didaktischer
Gewicht gehabt. Deshalb wurden im Rahmen eini-                    Anforderungen heute sogar für Schüler bereitge-
ger Semester- und Diplomarbeiten Einrichtungen                    stellt (Abbildung 6 links). Der Einfluss mechanischer
konstruiert, die das Gewicht dieses schweren Geräts               Schwingungen ist demgegenüber weitaus schwieri-
auffangen sollten. Das Projekt war jedoch bei den                 ger zu demonstrieren, weil dazu aufwändige Simu-
damals verfügbaren technischen Mitteln zu ehrgei-                 lationseinrichtungen (z.B.: Schwingsitz) notwendig
zig. Immerhin konnte aber später in Dissertations-                sind. Als 1969 P. Rühmann als Mitarbeiter zum Lehr-
vorhaben im Rahmen von INI.TUM-Projekten (Voss,                   stuhl stieß, erkannte Professor Schmidtke dessen

12
Ein Streifzug durch die Ergonomie

konstruktionstechnische Begabung und beauftragte                  Schmidtkes Publikation „Ergonomische Bewertung
ihn mit der Entwicklung eines Simulators für Rota-                von Arbeitssystemen“ entstanden. Diese war die
tionsschwingungen. Der Simulator wurde ca. 1975                   Grundlage dafür, dass er gemeinsam mit Frau Dr.
fertig gestellt und war Grundlage für verschiedene                Fraczek ein rechnerbasiertes Bewertungssystem
Dissertations- und Forschungsvorhaben (Abbildung                  entwickelte, das er 1982 vorstellte und das damals
6 rechts). Beim Umzug nach Garching konnte leider                 natürlich auf MS-DOS basierte. Später wurde das
seine ursprüngliche Leistungsfähigkeit nicht wieder               System auf die sehr viel anschaulichere Windows-
erreicht werden und so wurde er schließlich ver-                  oberfläche übertragen und ab dem Jahr 2000 un-
schrottet.                                                        ter dem Namen EKIDES (Ergonomics Knowledge
                                                                  and Intelligent Design System) zur Verfügung ge-
                                                                  stellt. Noch in seiner letzten Lebensphase hat Prof.
In der Zeit, in der wir alle noch junge Doktoranden               Schmidtke die Ergebnisse dieses Systems ge-
waren, erhielt Professor Schmidtke den Auftrag, für               meinsam mit Dr. Fraczek als Buch herausgebracht
das „Schiff der Zukunft“ ergonomische Forderungen                 (Schmidtke & Jastrzebska-Fraczek, 2013). Über-
zu formulieren. Er erkannte, dass verbale Formu-                  haupt hat Schmidtke über die ganze Phase seiner
lierungen hier wenig Effekt haben werden, sondern                 Forschungstätigkeit fleißig publiziert. Herausragend
dass für Konstrukteure nur belastbare technische                  ist das Buch „Ergonomie“ (Schmidkte, 1993) sowie
Angaben Wert haben. In großer Fleißarbeit durch-                  das „Handbuch der Ergonomie“ (Schmidtke, 2010),
forstete er dafür alles, was in Literatur und Standards           das aus mehreren Bänden besteht, die - angelegt
verfügbar war und ordnete es nach Möglichkeit nach                als Ringbuchausgabe – unter seiner Regie ständig
einem einheitlichen Schema: auf der Abszisse wird                 aktualisiert wurden. Nicht zuletzt diese Publikatio-
die – technisch messbare – Dauer des Einflusses,                  nen haben wohl wesentlich den Ruf des Lehrstuhls
dem der Mensch während der Ausübung seiner Tä-                    in der Praxis gefestigt.
tigkeit ausgesetzt ist, aufgetragen und auf der Ordi-
nate die – ebenfalls technisch messbare – Intensität
des Einflusses. Es zeigte sich, dass sich die unter-              Wie am Beispiel der Schalleinwirkungen bereits dar-
schiedlichen Belastungsgrade durch Geraden dar-                   gestellt, ist die Wirkung der Belastungsintensität
stellen lassen, wenn man die jeweiligen Einflüsse im              zusätzlich nach menschlichen Maßstäben zu bewer-
logarithmischen Maßstab aufträgt. Letztlich ist also              ten. Menschen sind aber durch eine hohe interindi-
die vom Menschen absorbierte Energie ein Maß für                  viduelle (heute oft auch mit „between“ bezeichnete)
die Belastung. Auf der Basis dieser Arbeiten ist 1976             Variabilität gekennzeichnet. Am deutlichsten sicht-

Abb. 7: Versuchseinrichtungen für die Messung von Körperkräften mit dem Ziel der Perzentilierung (Rühmann & Schmidke,1991)

                                                                                                                             13
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Abb. 8: Links: Erster Entwurf eines dreidimensionalen Menschmodells zur Erfassung beliebiger Körperhaltungen (1985) - Rechts: Das
Menschmodell RAMSIS

bar ist dies bei der Körpergröße und so ist es eine                triebetrieben an über 3000 Probanden statt. So war
alte ergonomische/arbeitswissenschaftliche Diszi-                  es erstmals möglich, auch für Körperkräfte perzenti-
plin, diese in sog. Perzentiltabellen anzugeben. Für               lierte Angaben zu machen (Rühmann & Schmidtke,
die Fähigkeit, Kräfte auszuüben, fehlten aber bislang              1991).
derartige Angaben. Prof. Schmidtke beantragte des-
halb gemeinsam mit seinem Kollegen Rohmert von
der TH Darmstadt ein Verbundprojekt beim Bundes-                   Gerade die Bereiche, in denen die Variabilität des
minister für Forschung und Technologie im Rahmen                   Menschen für die Gestaltung eine so große Rol-
des Gesamtprojekts „Humanisierung des Arbeits-                     le spielt, sind in Tabellen angelegte Daten und ins-
lebens“, um diese Datenlücke zu füllen. Es wurden                  besondere Empfehlungen für die Auslegung oft-
dafür eigene transportable Apparaturen gebaut, mit                 mals unzureichend. Andererseits sind aber für die
denen die unterschiedlichsten Kraftaufbringungen                   technische Auslegung klare Zielvorgaben, so wie
gemessen werden konnten (Abbildung 7). Die Mes-                    sie Schmidtke in seinem Ergonomischen Daten-
sungen fanden dann – gestützt durch ein aufwendi-                  banksystem zusammengestellt hat, umgänglich. Die
ges logistisches Konzept – in verschiedenen Indus-                 in den 70er Jahren unter der Leitung von Prof. H.

Abb. 9: Links: Fahrerstand (aufgebaut von der AUDI AG), mit dem ein wesentlicher Teil der Versuche für RAMSIS durchgeführt worden
ist. Rechts: Modularer Ergonomieprüfstand (MEPS), eine Spende der Daimler AG.

14
Ein Streifzug durch die Ergonomie

W. Jürgens entwickelte „Körperumrissschablone für      die anderen Passagiere des Fahrzeugs – mit fahr-
Sitzarbeitsplätze nach DIN E 33 408“, die sog. „Kie-   fremden Aufgaben beschäftigen kann, ist dies eine
ler Puppe“ war für mich hierfür geradezu ein Schlüs-   neue Herausforderung.
selerlebnis zur Lösung dieses Dilemmas. Mit der nun
aufkommenden Möglichkeiten der Rechnertech-
nologie lag es damals nahe, die zweidimensionale       Krist (1994) hat bei den ursprünglichen Haltungsver-
Körperumrißschablone durch dreidimensionale Mo-        suchen die von den Versuchspersonen geäußerten
delle des Menschen zu ersetzen. Ein erster Ansatz      Aussagen zu einem Diskomfort-Modell verarbeitet,
hierfür wurde im Rahmen der Diplomarbeit von Weiß      das ebenfalls in dem Softwaretool RAMSIS enthalten
(1985) versucht, für die M. Schwabe, der damals für    ist. Die Objektivierung des Komforts hat sich mittler-
den Digitalrechner des Lehrstuhls zuständig war, ein   weile weltweit zu einem neuen Forschungsgebiet der
einfaches, im Rechner existierendes Menschmodell       Ergonomie entwickelt. Wie in vielen Versuchen gezeigt
programmierte, das den stereogrammmetrisch auf-        werden konnte, ist dabei offensichtlich zu unterschei-
genommenen Fotos der zu untersuchenden Person          den zwischen dem sog. Diskomfort und dem Kom-
überlagert werden konnte (Abbildung 8 links). Mit      fort, welche nach den Untersuchungen von Helander
diesem Ansatz gewannen wir die Aufmerksamkeit          & Zang (1997) orthogonal zueinander stehen. Ersterer
in dem FAT-Projekt „Softdummy“, was letztlich zum      beschreibt die unangenehmen Empfindungen bei der
Anteil des LfE an der 1986 begonnenen Entwicklung      Interaktion zwischen Mensch und Maschine, bedingt
des digitalen Menschmodells RAMSIS (Rechnerge-         durch Reize, die im Allgemeinen messtechnisch er-
stütztes Anthropologisch-Mathematisches System         fasst werden können. Er kann prinzipiell nur so weit
zur InsassenSimulation) führte (Abbildung 8 rechts).   wie möglich minimiert werden. Die Methoden der Psy-
                                                       chophysik und die oben erwähnte Bewertungsproble-
                                                       matik spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Komfort
Auf der Grundlage der Daten von H. Greil und ei-       kennzeichnet im Wesentlichen den Aspekt des Ge-
genen mit dem Superpositionsverfahren gewonne-         fallens. Er entzieht sich damit weitgehend naturwis-
nen Werten wurde für diesen Dummy eine bisher          senschaftlichen Experimenten und hat sehr viel mit
einzigartige Modellierung der anthropometrischen       Industrial Design zu tun. Da ich in der Zeit zwischen
Eigenschaften realisiert (Geuß, 1994). Seidl (1993)    1975 und 1986 an der FH-München (heute: Univer-
entwickelte in einer Vielzahl von dafür entworfenen    sity of Applied Science Munich) im Studiengang In-
Versuchen (u.a. Abbildung 8 rechts) ein Haltungs-      dustrial-Design als Lehrbeauftragter Vorlesungen
modell, das aus der beobachteten Verteilung der        hielt und Abschlussarbeiten betreute, habe ich die
Gelenkwinkelwerte in Abhängigkeit von äußeren Be-      Herausforderung unmittelbar erleben können, dass
dingungen die wahrscheinlichste Körperhaltung zu       der Designer sowohl Aspekte des richtigen Materials,
berechnen erlaubt. Abbildung 9 links zeigt den dafür   der statischen Haltbarkeit und eben auch der durch
verwendeten Fahrerstand. Inzwischen verfügt der        die Ergonomie geforderten Gebrauchstauglichkeit
Lehrstuhl über einen weitaus flexibleren Prüfstand     in Einklang bringen muss. Das alles geschieht dabei
(Modularer Ergonomieprüfstand, MEPS; Abbildung 9       jenseits von mathematischen Formeln, Statistik und
rechts), der unter anderem für die Weiterentwicklung   Signifikanzniveau. Aus versuchstechnischer Sicht ist
von Menschmodellen herangezogen werden soll. Dr.       problematisch, dass Probanden und natürlich auch
Seidl ist jetzt der Geschäftsführer der Human-So-      der normale Nutzer in seiner Beurteilung nicht genau
lutions GmbH, die die Vermarktung und Weiterent-       zwischen diesen beiden orthogonalen Polen „Kom-
wicklung des RAMSIS betreibt. In Zusammenarbeit        fort“ und „Diskomfort“ unterscheiden kann (Knoll,
mit dem Lehrstuhl werden von der Human-Solutions       2006). Neben ungünstigen Einflüssen aus der Umwelt
GmbH auch für andere Anwendungsgebiete Hal-            (z.B. Geruch, ungünstige Beleuchtung, mechanische
tungswahrscheinlichkeitsmodelle entwickelt, die es     Schwingungen, Lärm, Klima) wird der Diskomfort
erlauben, das Menschmodell noch vielfältiger ein-      gerade bei Arbeitshaltungen, die wenig Variabilität
zusetzen. Gerade unter dem Aspekt der autonomen        zulassen (insbesondere beim Sitzen in Fahrzeugkabi-
Fahrzeugführung, wo sich der Fahrer – ähnlich wie      nen), durch ungünstige Gelenksstellungen und durch

                                                                                                              15
Ein Streifzug durch die Ergonomie

die Druckverhältnisse in der Berührfläche zwischen      Zu der Zeit, als ich zum Lehrstuhl kam, waren die
Mensch und Sitz beeinflusst.                            meisten Arbeiten im weiteren Umfeld der mentalen
                                                        Belastung angesiedelt. Ich erinnere mich besonders
                                                        an das Ergebnis der Dissertation von Behr (1971),
Das alte Ergonomiethema Sitzgestaltung ist damit        der untersuchte, wie mentale Leistung (dargestellt
wieder in den Fokus der Forschung gerückt. Um           als Reaktion auf Signaltöne aus räumlich verteilten
dafür Grundlagenuntersuchungen durchführen zu           Lautsprechern) durch körperliche Belastung (darge-
können, wurde am Lehrstuhl ein spezieller Sitzsi-       stellt durch ein Fahrradergometer) beeinflusst wird.
mulator entwickelt, der es erlaubte, rechnergesteu-     Es zeigte sich, dass bei einer leichten körperlichen
ert unterschiedliche Sitzprofile und Federcharakte-     Belastung die mentale Leistung sogar steigt, ver-
ristiken zu simulieren (Abbildung 10 links; Balzulat,   mutlich wegen der dadurch bewirkten verbesser-
2000)). Mithilfe dieses Simulators und weiteren zu-     ten Durchblutung des Gehirns. Vor kurzem habe ich
sätzlichen Versuchen ist es gelungen, eine ideale       mich bei einer Präsentation auf der E-C-N-Tagung
Sitzdruckverteilung zu finden, die zumindest für den    daran erinnert, als von Herrn Glöckl (aeris GmbH)
Anwendungsbereich im Fahrzeug Gültigkeit hat (Ab-       demonstriert wurde, wie durch die simultane Dar-
bildung 10 rechts). Interessanterweise ist die glei-    stellung der gleichen Information an einem Sitz- und
che Sitzdruckverteilung sowohl für kleine wie auch      einem Steharbeitsplatz ein ständiger aktiver Wech-
große Personen korrekt. Das ist ein Problem für den     sel zwischen diesen Arbeitsplätzen angeregt wird
Praktiker, denn demnach kann es keinen idealen          und damit nicht nur die mentale Leistungsfähigkeit
Sitz geben, sondern nur eine ideale Kombination         erhöht werden kann, sondern auch unangenehmen
zwischen Sitz und individuellem Nutzer (NB: Es gibt     Rückenschmerzen vorgebeugt wird.
auch keinen idealen Schuh, sondern nur einen, der
individuell passt). In mehreren Arbeiten hat sich der
Lehrstuhl u.a. damit befasst, für dieses Problem Lö-    Eine Frage, die damals weltweit von unterschiedli-
sungsvorschläge zu entwickeln (Zenk, 2008; Lorenz,      chen Autoren bearbeitet worden ist, war die Inter-
2011).                                                  aktion des Menschen mit dynamischen Systemen.
                                                        Auch die Dissertationen von Rühmann (1978) und
                                                        meinem Bruder (Bubb, 1978) waren damit befasst.

16
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Ein Ergebnis davon war, dass die Idee des sog. ak-     Natürlich lag es nahe, mit dem aktiven Bedienele-
tiven Bedienelements, das ursprünglich übrigens im     ment auch die Dynamik von Fahrzeugen besser in die
Institut für Anthropotechnik für die Steuerung der     Hand des Fahrzeugführers zu legen. Zu dieser Fra-
Dynamik von U-Booten vorgeschlagen worden war,         ge wurden verschiedene Simulatoruntersuchungen
generell eine Lösung für die intuitive Handhabung      durchgeführt, deren Ergebnisse schließlich dazu führ-
von dynamischen Systemen darstellen kann, weil         ten, dass von der Forschungsabteilung der Daimler
man dadurch quasi die Dynamik der Maschine in der      AG im Rahmen einer Dissertation Versuchsfahrzeu-
Hand hat. Am Lehrstuhl wurde diese Idee in verschie-   ge mit einer solchen Steuerung aufgebaut wurden
denen Arbeiten weiterverfolgt und führte unter ande-   und evaluiert wurden (Eckstein, 2000; Abbildung 11
rem zur Konstruktion der sog. „Spinne“, mit welcher    rechts). Die Idee der Sticksteuerung mittels aktivem
ein Roboter sechsdimensional mit Force-Feedback        Bedienelement wurde von verschiedenen Fahrzeug-
gesteuert werden konnte (Gillet, 1999; Abbildung 11    firmen für Forschungsfahrzeuge aufgegriffen und von
links). Die damit verbundenen grundlegenden Arbei-     Daimler auch für die Interaktion zwischen Fahrer und
ten waren der Anlass, dass sich der Lehrstuhl auch     Lkw verifiziert (Abbildung 12 links). Professor Dr. Eck-
weiterhin mit der Interaktion Mensch-Roboter be-       stein hat am Institut für Fahrzeugtechnik der RWTH
fasste, wobei heute unter dem Aspekt zunehmende        Aachen ein elektrisch getriebenes Versuchsfahrzeug
Automatisierung speziell die Kooperation zwischen      aufgebaut, in dem diese Sticksteuerung erneut reali-
diesen beiden im Fokus des Interesses steht.           siert ist (Abbildung 12 rechts).

                                                                                                               17
Ein Streifzug durch die Ergonomie

Während sich das aktive Bedienelement zur Steue-       wird. Im Rahmen eines DFG-Forschungsprogramms
rung vor allem von dynamischen Systemen eignet,        wurde ein solches kHUD in dem uns verfügbaren
deren Reaktionsbereich zwischen 100 ms und 500         Versuchsfahrzeug BMW 2000 aufgebaut (Abbildung
ms liegt, wurde zur damaligen Zeit für trägere Sys-    13, links). Die mit diesem Fahrzeug durchgeführten
teme (z.B. Schiffe) – ebenfalls von dem Institut in    Versuche legten nahe, dass eine Akzeptanz seitens
Meckenheim – die sog. Voranzeige vorgeschlagen,        der Fahrer nur zu erwarten ist, wenn lediglich der
bei der aus den augenblicklichen Bewegungspara-        Sicherheitsabstand, also die Strecke, die das Fahr-
metern der Kurs berechnet wird, den das Schiff in      zeug innerhalb von 1,5 Sekunden zurückgelegt, an-
den nächsten Minuten einnehmen wird. Dies war für      gezeigt wird (Assmann, 1984). Die Idee wurde dann
Professor Schmidtke der Anlass, mich als damals        im Rahmen von verschiedenen INI.TUM-Projekten
jungen Mitarbeiter für die Entwicklung einer „Brems-   von AUDI aufgenommen und in Form von Proto-
wegvoranzeige“ für das Kraftfahrzeug zu gewinnen.      typen realisiert (u.a. Schneid, 2008; Abbildung 13
Das Ergebnis war, dass der ebenfalls aus augenblick-   rechts). Gerade in Verbindung mit der immer mehr
lichen Bewegungsparametern (Geschwindigkeit und        Bedeutung gewinnenden Augmented Reality (AR)
Reibbeiwert, dessen Messung ich mir übrigens da-       wird an dieser Idee an vielen Stellen (z.B. Continen-
mals zur Hauptaufgabe gemacht habe) berechnete         tal AR) in unterschiedlicher Form weiter entwickelt.
Bremsweg unter dem Aspekt eines ergonomisch
optimierten Informationsflusses von der Aufgabe
zum Ergebnis am besten in Form eines sog. kon-         Die geschilderten Aktivitäten geschahen alle vor
taktanalogen Head-Up-Displays (kHUD) dargestellt       einem theoretischen Hintergrund, der damals aber

18
Ein Streifzug durch die Ergonomie

erst geschaffen werden musste. Der grundsätzliche        sondern dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
Gedanke dabei war, dass eine optimale Interaktion        (mindestens 10-3) davon ausgegangen werden muss,
zwischen Mensch und Maschine nicht primär durch          dass die Reaktion entweder ausfällt oder nicht ad-
die Empfehlung von bestimmten Anzeigen bzw. Be-          äquat ist. Eine Betrachtung aller Katastrophenfälle
dienelementen erreicht werden kann, sondern nur          der letzten Jahrzehnte und insbesondere die vielen
auf der Grundlage des Zusammenwirkens der Syste-         Unfälle in allen Bereichen des Verkehrswesens wei-
melemente Mensch und Maschine als Ganzem, d.h.           sen auf den dominanten Einfluss des Menschen auf
indem man primär den Informationsfluss zwischen          einen unerwünschten Verlauf hin. Wegen der enor-
Aufgabe, Mensch, Maschine und Ergebnis betrach-          men Fortschritte auf dem Gebiet der technischen In-
tet. Mit dieser Auffassung wurde dem damals in der       formationsverarbeitung wird deshalb immer wieder
Literatur herumgeisterndem Begriff „Systemergono-        die Forderung erhoben, durch eine Automatisierung
mie“ eine konkrete Basis gegeben, die nun auf der        der Abläufe den unerwünschten Einfluss des Men-
Grundlage von Literaturergebnissen und den vielen        schen zu eliminieren.
eigenen Erfahrungen, die in der Zwischenzeit ge-
sammelt worden sind, zu konkreten Aussagen ver-
dichtet wurden (Bubb, 1977).                             Es ist hier nicht der Rahmen, auf dieses komplexe
                                                         Gebiet auch nur schlaglichtartig korrekt einzugehen.
                                                         Zumindest die Ansicht aber, dass die Verkehrssi-
Mitte der 70er Jahre kamen die ersten Zweifel auf,       cherheit durch autonome Fahrzeuge signifikant ver-
ob die Kernkrafttechnik ethisch vertretbar sei. Nicht    bessert werden könne, ist aus meiner Sicht mit einer
nur deshalb wurde seitens des VDI damals das             gewissen Skepsis zu belegen. Auch bei einem Sys-
Handbuch für technische Sicherheit geschaffen.           tem, das alle Möglichkeiten des sog. „deep learning“
Aufgrund der oben genannten Aktivitäten zur Syste-       nutzt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass nicht
mergonomie wurde ich gemeinsam mit G. Reichart,          doch einmal eine Konfiguration auftritt, in der das
der damals in der Gesellschaft für Reaktorsicherheit     technische System fehlerhaft reagiert. Das jüngste
(GRS) tätig war, aufgefordert, dafür einen Beitrag zur   Beispiel des verunfallten Uber-Fahrzeugs mag dafür
menschlichen Zuverlässigkeit zu schreiben (Bubb &        ein Indikator sein. Es ist aus meiner Sicht schade,
Reichart, 1983). Dadurch war die Aufmerksamkeit auf      dass sich die Automobilindustrie heute weltweit nur
dieses spannende Gebiet gelenkt und die „Mensch-         auf die Idee des automatisierten/autonomen Fah-
liche Zuverlässigkeit“ wurde zu einem weiteren           rens fokussiert. Bereits bei dem TUMMIC-Projekt
Forschungsgebiet des Lehrstuhls. Im Gegensatz            ist das sichtbar geworden. Das Projekt wurde unter
zu der in der Technik üblichen und normalerweise         Führung des LfE zusammen mit den Lehrstühlen für
natürlich auch zum Erfolg führenden „deterministi-       Mensch-Maschine-Interaktion (Prof. Rigoll), Fahr-
schen Denkweise“, die eine konkrete Vorhersage           zeugtechnik (Prof. Heißing), Phonetik (Prof. Tillman),
erlaubt, was geschieht, wenn eine bestimmte Ein-         Informatik (Prof. Broy), Psychologie (Prof. Zimmer)
gangsinformation auf ein Systemelement wirkt, ist        und der Professur für Informatik (Prof. Klinker) durch-
für die Betrachtung der Systemzuverlässigkeit die        geführt. Die Idee war u.a., die Information des ACC
„probabilistische Denkweise“ Grundlage. Es ist hier      (Abstandstempomat) zu nutzen, um über das aktive
von einer gewissen Ausfallwahrscheinlichkeit des         Gaspedal eine erhöhte Rückstellkraft zu induzieren,
jeweiligen Systemelements auszugehen, die natür-         wenn die geforderte Geschwindigkeit überschritten
lich experimentell erfasst werden muss (ein eigenes      werden möchte bzw. der Abstand zum vorausfahren-
Forschungsgebiet!) und in der Einbindung solcher         den Fahrzeug zu eng gewählt werden würde. Durch
Systemelemente zu einem komplexen Ganzem zu              einen erhöhten Druck hätte der Fahrer jedoch jeder-
berechnen, welche Auswirkungen dies auf den ge-          zeit die technisch festgelegte Grenze überschreiten
wünschten Systemausgang/Ergebnis hat. Es ist ek-         können. Der Vorteil dieser Anordnung wäre gewesen,
latant, dass das „Systemelement Mensch“ nicht mit        dass der Fahrer sich wie im Fall ohne Unterstützung
Sicherheit im Sinne der deterministischen Denkwei-       verhalten kann, ihm aber die Grenzen zur Sicherheit
se auf eine Eingangsinformation/Aufgabe reagiert,        situationsspezifisch bewusst gemacht worden wä-

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Ein Streifzug durch die Ergonomie

ren. Zusätzlich hätte der Fahrer jederzeit auf die heu-   •   Normalerweise unterstütztes Fahren, wie dar-
te übliche Automatikfunktion des ACC umschalten               gestellt; aus Gründen der Gewährleistung einer
können. Leider wurde das damals fertig entwickelte            erhöhten Sicherheit sollte dieses System ähnlich
System vom Marketing nicht akzeptiert, weil die da-           wie ABS und ESP durch den Fahrer nicht ab-
mit verbundene „Bevormundung“ einem BMW-Fah-                  schaltbar sein.
rer nicht zuzumuten wäre. Immerhin habe ich bei die-
sem Projekt meinen späteren Nachfolger Dr. Bengler
kennen gelernt, der dieses Projekt seitens BMW zu         •   Wenn die entsprechenden Bedingungen gege-
einem unbestreitbaren Erfolg führte, bis eben – wie           ben sind (z.B. freigegebene Strecke), kann auf
gesagt – das Marketing eingriff.                              automatisiertes Fahren umgeschaltet werden;
                                                              unter solchen Bedingungen läge im Falle eines
                                                              Unfalls meines Erachtens allerdings die Verant-
Im Zusammenhang mit der heute so heftig diskutier-            wortung beim Fahrzeughersteller;
ten Einführung des autonomen Fahrens ist der im
Rahmen des TUMMIC-Projektes entwickelte Gedan-
ke meines Erachtens immer noch virulent, denn ein         •   Wenn die Bedingungen das unterstützte nicht
probates Mittel, die Fehlerwahrscheinlichkeit eines           Fahren erlauben (z.B. technisch nicht hinrei-
Systems signifikant zu reduzieren, ist die Redundanz,         chend detektierbarer Fahrbahnrand), so wird
d.h. dass das System von zwei unabhängig arbeiten-            dennoch das gewünschte korrekte Verhalten
den parallelgeschalteten Reglern kontrolliert wird. Die       über die kHUD-Information situationsadäquat
beiden Systeme müssen dabei allerdings nach unter-            vermittelt.
schiedlichen Prinzipien arbeiten, da sonst die Gefahr
auftritt, dass eine bestimmte kritische Eingangsin-
formation zum gleichen Fehler bei beiden Systemen         Der Lehrstuhl befasst sich heute mit der Proble-
führt. Die geforderte Parallelschaltung unterschied-      matik der Automatisierung breit angelegt auf den
lich arbeitender Systeme ist gegeben, wenn Fahrer         unterschiedlichsten Gebieten, wie automatisiertes
und technischer Regler jederzeit simultan die Situa-      Fahren, autonom arbeitenden Robotern auch unter
tion erfassen und darauf reagieren. Dies lässt sich in    Berücksichtigung der menschlichen Zuverlässigkeit
der Form realisieren, dass durch das technische Sys-      und entwirft auf der Grundlage der experimentellen
tem – wie oben für das ACC-System dargestellt – ein       Erfahrungen für diese Bereiche Regeln und Grenzen
Rahmen geschaffen wird, innerhalb dessen sich der         ganz im Sinne der ursprünglichen Vorstellungen des
Fahrer so verhalten kann, wie er es gewohnt ist. Das      ergonomischen Datenbanksystems von Schmidtke.
Erreichen der Grenzen des technisch gesetzten Rah-        Es wäre wünschenswert, auch kognitive Modelle in
mens muss ihm haptisch vermittelt werden (beispiels-      anthropometrische Modelle zu integrieren, denn in
weise durch ein richtungskompatibles vibrierendes         der Realität ist der Mensch nicht nur Geist, sondern
Rückstellmoment am Lenkrad und am Gaspedal). Es           auch Körper. Immer wieder wurden in diesem Zu-
ist offensichtlich, dass eine solche Informationsüber-    sammenhang Versuche unternommen, die kognitiven
tragung über zweidimensionale Bedienelemente, wie         Aspekte menschlichen Verhaltens in Menschmodelle
die oben erwähnte Sticksteuerung einfacher vermit-        zu integrieren, um so auf breiter Basis – in ähnlicher
telt werden kann. Aus ergonomischer Sicht wäre es         Weise wie es für den Bereich anthropometrischer Ar-
sinnvoll, die Annäherung an die Grenzen in adäquater      beitsplatzgestaltung geschehen ist – bereits in einer
Weise im kontaktanalogen Head-Up-Display anzuzei-         frühen Entwicklungsphase eines Systems durch Ex-
gen, so dass der Fahrer jederzeit versteht, warum er      perimente am Rechner bzw. CAD mit dem virtuellen
eine entsprechende haptische Rückmeldung erhält.          Menschen optimierte Voraussetzungen für die Inter-
Der Vorteil einer solchen Auslegung wäre, dass es         aktion von Mensch und Maschine zu schaffen.
praktisch drei Systemzuständen gibt:

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Ein Streifzug durch die Ergonomie

In den 50 Jahren, die ich nun aus eigenem Erleben         wie diese Bedürfnisse mit einem möglichst geringen
überblicken kann, hat die Ergonomie nicht nur in der      Energieeinsatz befriedigt werden können. Bei all der
technischen Welt einen festen Platz errungen, son-        sich abzeichnenden technischen Entwicklung wird
dern es zeigte sich auch ein langsamer Wandel von         von den Einen die Zukunft einer Welt ohne Arbeit be-
der ursprünglichen Forschung für den Produktions-         fürchtet, während Andere gerade darin einen erstre-
bereich (insbesondere schwere körperliche Arbeit          benswerten Zustand sehen, da nun technische Skla-
unter ungünstigen Umweltbedingungen in der Land-          ven unangenehme und belastende Arbeit erledigen.
wirtschaft, dem Bergbau, der Schwerindustrie sowie        Doch ist diese Prognose wirklich realistisch? Auch
taktgebundene Fließbandarbeitet im Produktionsbe-         darauf wird seitens der Ergonomie bzw. Arbeitswis-
reich) hin zur ergonomischen Gestaltung von Produk-       senschaft eine Antwort erwartet.
ten. Zwischen der Anwendung von Ergonomie in der
Gestaltung des Arbeitsplatzes in der Produktion und
in der Produktgestaltung, ist zwar aus wissenschaftli-    In jüngster Zeit ist es augenfällig, wie in vielen tech-
cher Sicht kein großer Unterschied zu machen, denn        nischen Disziplinen bei Vorträgen und Veröffentli-
des einen Produkt ist des anderen Arbeitsmittel, aber     chungen die Notwendigkeit argumentiert wird, den
Produktgestaltung und Produktion werden in der In-        Menschen mit seinen Eigenschaften und Fähigkei-
dustrie unterschiedlich organisiert und darauf ist auch   ten in der Entwicklung zu berücksichtigen und mit
seitens der Forschung Rücksicht zu nehmen. Unter          einzubinden. Diese Notwendigkeit ergibt sich allein
dem Aspekt technischer Informationsverarbeitung hat       schon aus der Tatsache, dass man heute in vielen
die Ergonomie neu an Bedeutung gewonnen hat. Ge-          technischen Bereichen weitgehend unbeschränkt
rade daraus ergeben sich für die Zukunft herausfor-       machen kann „was man will“. Daraus ergibt sich
dernde Forschungsaufgaben: Wie soll ein menschen-         naturgemäß die Frage, „was man machen soll“. Der
gerechter Umgang mit „intelligenten“ Maschinen            Ergonom/Arbeitswissenschaftler hat sich in seinem
bzw. Werkzeugen aussehen? Wird durch die weiter-          Selbstverständnis immer als multidisziplinär ver-
reichende technische Informationsverarbeitung die         standen, der in der Lage sein soll, medizinisches,
Zuverlässigkeit und damit die Sicherheit von Anlagen      psychologisches, pädagogisches, technisches und
und Systemen wirklich effektiv erhöht und wie ist der     ökologisches Wissen zu integrieren und daraus am
Mensch dabei einzubinden, der dann nur in einer ex-       Menschen ausgerichtete Vorschläge zu entwickeln.
tremen Notsituationen helfend eingreifen soll? Wenn       Um diese multidisziplinäre Integration wirkmäch-
durch immer intelligentere und effizientere Roboter       tig zu erreichen, wird es wie in der Vergangenheit
weitgehend körperlich belastende Arbeit substituiert      auch zukünftig wichtig sein, die in wissenschaftli-
wird, bleiben dann womöglich noch „Restberufe“, bei       cher Genauigkeit gewonnenen Informationen und
denen eine solche Substitution nicht möglich ist und      Kenntnisse so aufzubereiten, dass sie in der Praxis
welche Hilfen sind für das dort eingesetzte Personal      Anwendung finden können. Die darin begründete In-
aus ergonomischer Sicht denkbar? Häufig wird argu-        terdisziplinarität nimmt die seitens der Universitäts-
mentiert, dass durch den Einsatz intelligenter Tech-      leitung forcierten, zukunftsorientierten Forschungs-
nik Routinearbeit vollkommen ersetzt wird und dem         leitlinien auf. Die Ergonomie ist damit in der TUM zu
Menschen nur noch kreative Tätigkeiten überlassen         einer essenziellen Disziplin geworden.
bleiben, die seiner eigentlichen Bestimmung entge-
genkämen. Doch ist das wirklich so? Würde dieser
Zwang zur „Dauerkreativität“ nicht eine neue Art der      Ich bin mir sicher, dass die spannende Aufgaben, die
Belastung darstellen? Gerade unter dem Aspekt des         sich aus alledem ergeben, von meinem Nachfolger
zunehmenden Energieverbrauchs und der damit ein-          Prof. Dr. Klaus Bengler, der den Lehrstuhl nun schon
hergehenden Klimaveränderung ist aus ergonomi-            über 10 Jahre mit großem Erfolg und Resonanz lei-
scher Sicht die Erforschung des Wesens mensch-            tet, auch in der Zukunft erfolgreich weiter getragen
licher Bedürfnisse notwendig, um herauszufinden,          werden.

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