Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie - TUM
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Ergonomie AKTUELL Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie Ausgabe 019 | Sommer 2018 | ISSN 1616-7627
Impressum IMPRESSUM: Ergonomie Aktuell Die Fachzeitschrift des Lehrstuhls für Ergonomie erscheint im Selbstverlag einmal pro Jahr. Auflage 300 Herausgeber: Lehrstuhl für Ergonomie Technische Universität München Boltzmannstraße 15 85748 Garching Tel: 089/ 289 15388 www.ergonomie.tum.de http://www.lfe.mw.tum.de/downloads/ ISSN: 1616-7627 Verantw. i.S.d.P.: Prof. Dr. phil. Klaus Bengler Prof. Dr.-Ing. Veit Senner Redaktion: Prof. Dr. phil. Klaus Bengler Prof. Dr.-Ing. Veit Senner Dr.-Ing. Verena Knott Julia Fridgen Layout: Julia Fridgen/TUM Druck: Printy, Digitaldruck & Kopierservice 80333 München © Lehrstuhl für Ergonomie, TUM Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur in Abstimmung mit der Redaktion. Zum Sprachgebrauch: Nach Artikel 3 Abs. 2 des Grundgesetzes sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Alle Personen- und Funktionsbezeich- nungen beziehen sich gleicher Weise auf Frauen und Männer. 2
Editorial Sehr geehrte Leserinnen und Leser, Freunde und Förderer der Ergonomie, die diesjährige Ausgabe der Ergonomie aktuell steht im Licht besonderer Ereignisse, die das Jahr 2018 prägen. Zunächst möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf das Wissenschaftsjahr 2018 – „Arbeitswelten der Zukunft“ lenken, das für unsere Disziplin und den Lehrstuhl eine außerordentliche Möglichkeit bietet, unsere Arbeitsweisen und Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Schon die Auftakt- veranstaltung mit Bundesministerin Wanka, an der ich aktiv teilnehmen durfte, hat die Bedeutung der arbeitswissenschaftlichen Forschung an innovativen Technologien und am Menschen orientierten Ar- Viele neue Projekte vor allem im Bereich der autono- beitsformen mehrmals betont. men Fahrzeugführung wurden gestartet und tragen eine ganz besondere Herausforderung in sich. Zudem feiert die Technische Universität München ihr 150-jähriges Bestehen und seit 1962 ist der Lehr- Das LfE-Team und das SPGM-Team wünschen Ih- stuhl für Ergonomie ein fester Bestandteil im wissen- nen viel Freude bei der Lektüre. Lassen Sie sich zum schaftlichen Kanon unserer Universität. Ich danke an Forschen anstiften. dieser Stelle meinen Vorgängern und allen Wissen- schaftlern, die in diesem Zeitraum dazu beigetragen haben, den Blick auf die Münchner Ergonomie zu lenken. Wir wünschen Ihnen viel Freude bei der Lektüre. Vor allen Dingen gratulieren wir mit dieser Ausgabe und dem diesjährigen Sommerfest meinem Vorgän- ger Professor Heiner Bubb ganz herzlich zu seinem Ihr 75. Geburtstag. Die Beiträge in dieser Ausgabe zeigen, dass wir uns im Zusammenhang mit neuen Formen der Mensch-Technik-Interaktion mit virtuellen Erpro- Klaus Bengler bungsmethoden und Wizard of Oz-Methodiken be- schäftigen. Vor allen Dingen liegt eine Herausfor- derung darin, Technologien, die das Automobil, die Robotik und auch die Ausbildung außerordentlich schnell verändern, am Menschen orientiert zu prä- gen. Ausgehend von einem Impuls des zurückliegenden Doktorandenworkshops haben wir unsere Disziplin mal auf uns selbst angewendet und höhenverstell- bare Schreibtische beschafft. Lassen Sie sich ins- pirieren – vielleicht lässt sich auch an Ihrem Arbeits- platz etwas ändern. 3
Inhalt Impressum 02 Editorial 03 Ein Streifzug durch die Ergonomie an der TUM Heiner Bubb 06 Der Gesichtssinn – Funktion, Ausfallerscheinungen und aktuelle Forschung am Lehrstuhl für Ergonomie Christian Lehsing 24 Bildung für ein Arbeiten in Industrie 4.0 Alexander Eichler, Caroline Adam 28 Ergonomische Büroarbeitsplätze – Empfehlungen und Umsetzung am Lehrstuhl für Ergonomie Annika Ulherr 32 Is this real life? Evolution des Fußgängersimulators André Dietrich, Philipp Maruhn 35 Rapid Prototyping & Co-Creation für die Bewegungsgestaltung mobiler Roboter – Telepräsenzroboter Beam+ Jonas Schmidtler, Jakob Reinhardt 37 Wissenschaftsjahr 2018 – Arbeitswelten der Zukunft Caroline Adam, Klaus Bengler 39 Neue Projekte 40 Exkursionen 47 Auszeichnungen und Ehrungen 48 Veröffentlichungen von Sommer 2017 bis Sommer 2018 49 Dissertationen 53 Abgeschlossene Diplom- und Masterarbeiten 56 Neue Mitarbeiter 58 Abschied 61 Rückblick 62 5
Ein Streifzug durch die Ergonomie an der TUM Prof. i.R. Dr. rer. nat. Heiner Bubb Angeregt durch das enorme Anwachsen der Er- ge dieser Arbeiten wurde in Deutschland 1924 der kenntnisse auf naturwissenschaftlichen Gebiet und Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (REFA) deren Auswirkungen für wirtschaftlichen Gewinn gegründet (1936 umbenannt in Reichsausschuss für und Fortschritt kam es nach dem Vorbild der École Arbeitsstudien und 1948 in Verband für Arbeitsstu- Polytechnique in Paris, die bereits seit Ende des 18. dien REFA e.V.). Gemeinsames Merkmal all dieser Jahrhunderts existierte, Mitte des 19. Jahrhunderts Vorgehensweisen war zunächst die Verbesserung in vielen deutschsprachigen Ländern zur Gründung der Effizienz menschlicher Arbeit, weniger die Be- naturwissenschaftlich-technischer Hochschulen. rücksichtigung deren Wirkung auf den Menschen. Man versuchte damit dem Trend der Zeit auch in der Das 1912 gegründete Kaiser Wilhelm Institut für Ar- Hochschulpolitik gerecht zu werden. Bayern gehör- beitsphysiologie in Berlin (1929 Umzug nach Dort- te mit der Gründung der Polytechnischen Schule zu mund) hatte demgegenüber nach Aussage seines München (ab dem Studienjahr 1877/78 umbenannt Gründungsdirektors Atzler das Ziel „nicht auf dem in Technische Hochschule München THM, seit 1970 kürzesten, sondern auf dem bequemsten Weg Ma- Technische Universität München TUM) am 12. Ap- ximalleistungen zu erreichen“. ril 1868 neben Wien, Zürich, Prag und Karlsruhe zu den Vorreitern auf diesem Gebiet. Ihr selbst gesetz- ter Auftrag war „der industriellen Welt den Funken Während des Zweiten Weltkriegs fanden sowohl der Wissenschaft zu bringen“ (Bauernfeind, 1868). auf alliierter als auch auf deutscher Seite Forschun- Die TUM feiert in diesem Jahr also ihr 150-jähriges gen statt, die das Ziel hatten, die Treffsicherheit der Bestehen. Schützen zu verbessern. Folgenreich waren die Ar- beiten von Tustin, der 1944 die Zielverfolgung des Menschen mittels eines regelungstechnischen Mo- Der Erfolg des Verständnisses der Welt durch den dells beschrieb. Später wurde dieses Modell für die naturwissenschaftlichen Ansatz ließ 1857 den pol- dynamischen Eigenschaften von Flugzeugen verwen- nischen Wissenschaftler Woijciech Jastrzebows- det und ist unter dem Namen „paper pilot“ bekannt. ki in der Zeitschrift „Natur und Industrie (deutsche Schon kurz nach der Beendigung des unseligen Krie- Übersetzung)“ vorschlagen, „sich (auch) mit dem ges entschloss man sich in UK, die vielfältigen Er- wissenschaftlichen Ansatz zum Problem der Arbeit kenntnisse, die man bezüglich der Optimierung der zu beschäftigen und sogar zu ihrer Erklärung eine Interaktion von Mensch und Technik gewonnen hatte, gesonderte Lehre zu betreiben“. Er nannte dieses auch zivilen Zwecken zugänglich zu machen. So wur- Wissenschaftsgebiet „Ergonomie“ - ein Kunstwort, de bereits 1946 die „Ergonomic Research Society“ zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern (später umbenannt in „Ergonomics Society“) gegrün- ἒργον = Arbeit und νόμος = Gesetzmäßigkeit/Wis- det. Treibende Kraft war der englische Wissenschaft- senschaft. Nachdem sein Vorschlag aber in einer ler Murrell, der ohne das Wissen über Jastrzebow- speziellen polnischen Wissenschaftssprache veröf- ski den Namen für den neuen Wissenschaftszweig fentlicht war, wurde sein Vorschlag für die Benen- vorschlug und auch schon bald in dem Buch „Er- nung dieses Gebietes in der wissenschaftlichen Welt gonomics“ dessen Inhalte zusammentrug (in deut- kaum wahrgenommen. Gleichwohl erfolgten zumin- scher Übersetzung: Ergonomie, 1969/1971). In der dest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitswis- Zeit zwischen 1950 und 1960 kam es zur Gründung senschaftliche Forschungen in verschiedenen euro- vieler nationaler Gesellschaften mit dem Ziel, Wis- päischen Ländern. Den größten praktischen Einfluss senschaftlern, die sich mit der menschlichen Arbeit dieses Wissenschaftszweig hatten aber sicherlich beschäftigen, einen Austausch ihrer Erkenntnisse zu die Arbeiten von F. Taylor und seinem Mitarbeiter ermöglichen. Zu nennen sind u.a.: „Societé d´Ergono- F. B. Gilbreth zu den Zeit- und Bewegungsstudien mie de Langue Francaise“, „Nederlandse Vereniging und deren Anwendung durch H. Ford für die Fließ- voor Ergonomie“, „Societa Italiana die Ergonomia“, bandfertigung von Automobilen. Auf der Grundla- „Nordic Ergonomics Society“, „Japan Ergonomics 6
Ein Streifzug durch die Ergonomie Research Society“ und in den USA „Human Factor kultät integriert. Mit der Umwandlung der WiSo-Fa- Society“ (1954), die später in „Human Factor and kultät in die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Ergonomic Society“ umbenannt wurde und somit wurde das AWA-Studium eingestellt. Die Einrich- auch das Wort Ergonomie im Titel führt. Speziell in tung der Bachelor/Masterstudiengänge in der Zeit Deutschland wurde 1953 die Gesellschaft für Arbeits- zwischen 2000 und 2008 ermöglichte es, diverse wissenschaft (GfA) gegründet. 1959/61 fanden sich Module mit ergonomischen Inhalten zu entwickeln. die inzwischen zahlreichen nationalen Gesellschaften Dadurch ist es möglich, dass sich Studenten im unter dem internationalen Dachverbandes Internatio- Masterstudiengang vertieft mit ergonomischen In- nal Ergonomics Association (IEA) zusammen, die seit halten auseinandersetzen können. Zudem wurde den siebziger Jahren alle 3 Jahre einen internationa- ein eigener Master-Studiengang „Human Factors len Kongress organisiert. Engineering–Ergonomie“ etabliert, der interessierten Studenten mit Bachelor-Abschluss angeboten wird und ihnen den Eintritt in die industrielle Welt erleich- In den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts wur- tern soll. den an den meisten deutschsprachigen Univer- sitäten Lehrstühle bzw. Institute mit arbeitswis- senschaftlicher Ausrichtung eingerichtet. Die Wie im Folgenden gezeigt wird, hat Professor Bezeichnungen dieser Lehrstühle waren „Arbeits- Schmidtke eine ausgesprochen technische Orien- wissenschaft“, meist in Verbindung mit Betriebsor- tierung seines Faches etabliert, die als „Münchner ganisation, Fertigungsplanung, Betriebspädagogik, Ergonomie“ bekannt geworden ist. Wie es dazu ge- und Industriebetriebslehre, „Arbeits- und Organi- kommen ist, möchte ich im Folgenden aus einer sehr sationspsychologie“, manchmal in Verbindung mit persönlichen Sicht auf die Entwicklung des Lehrstuhls „Sozialpsychologie“ und „Arbeitsphysiologie“, häu- und speziell der Ergonomie an der THM/TUM berich- fig mit dem Zusatz „Arbeitsmedizin und Sozialme- ten. Die Ausgabe 010, Sommer 2009 der Lehrstuhl- dizin“. An der damaligen THM wurde 1962 an der zeitschrift „Ergonomie aktuell“ enthält in dem Beitrag Fakultät für Maschinenwesen (MW) das Institut für „Münchner Ergonomie“ einen ausführlichen Bericht Arbeitsphysiologie (bis zu seiner Emeritierung gelei- über den Werdegang des Lehrstuhls, auf den ver- tet von Professor Dr. Müller-Limmroth) und an der wiesen wird, wenn es darum geht, mehr im Detail zu Fakultät für Wirtschaft und Sozialwissenschaften erfahren, welche Forschungsrichtungen der Lehrstuhl (WiSo) das Institut für Arbeitspsychologie und -pä- im Einzelnen verfolgte und welche Dissertationen in dagogik eingerichtet. Letzteres wurde mit Professor der Zeit bis 2008 vorgelegt werden konnten. Dr. H. Schmidtke besetzt. Den Trend der Zeit erken- nend beantragte er zwischen 1962 und 1968 (das genaue Datum ist nicht bekannt) die Umbenennung in „Institut für Ergonomie“. In der Lehre war das In- stitut vor allem in das damals neu eingerichtete ar- beitswissenschaftlich/wirtschaftswissenschaftliche Aufbaustudium (AWA) integriert, das Studenten, die bereits einen technischen Abschluss an der THM absolviert hatten, den zusätzlichen Abschluss eines Dipl.-Wirtsch.-Ing. ermöglichte. In den 90er Jahren kam es dann zu einem weiteren grundlegenden Or- ganisationswandel an der TUM: das Institut für Er- gonomie (IfE) wurde mit dem ehemaligen Institut für Arbeitsphysiologie zusammengelegt, in Lehrstuhl Abb. 1: Sitz des Instituts für Ergonomie in der Barbarastraße 16 für Ergonomie (LfE) umbenannt und in die MW-Fa- bis zum Umzug nach Garching 7
Ein Streifzug durch die Ergonomie Als ich am 1. August 1968 in der Barbarastraße 16 damaligen Mitstreitern. In heftig ausgetragenen Dis- am Institut für Ergonomie (Abbildung 1) anheuerte, kussionen mussten wir uns so erst einmal ein Bild war ich stolz, den Namen und die Bedeutung der Be- erarbeiten, in welchem Fach wir hier tätig sind. Ein zeichnung „Ergonomie“ zu kennen, der damals nicht damals intensiv diskutiertes Thema war das Belas- im Großen Brockhaus stand. Tatsächlich war die Er- tung-Beanspruchungs-Konzept; denn es war uns da- gonomie zum damaligen Zeitpunkt – man kann sich mals keineswegs klar, wie die Belastung genau von das heute kaum mehr vorstellen – ein „Orchideen- der Beanspruchung zu unterscheiden ist und insbe- fach“ und wurde gerade von Technikern nach dem sondere, mit welchen Messmethoden man beides, Motto „Ergonomie kann jeder“ belächelt. Immerhin aber insbesondere die Beanspruchung objektivieren war „Ergonomie“ damals ein der Allgemeinheit zwar könne. Das war hinsichtlich der Belastung bei den unbekannter, aber für die Werbung gut nutzbarer Be- sog. Umweltfaktoren (Beleuchtung, Klima, mechani- griff und so konnte man zu Beginn der 70er Jahre sche Schwingungen und Schall) noch einigermaßen beobachten, wie die Firma Bosch mit einer grün ge- klar. Am Beispiel der Schallbelastung soll der Kern färbten Hand den „ergonomischen“ Griff ihrer Bohr- dieser Diskussion kurz veranschaulicht werden: die maschinen bewarb. Insbesondere die Hersteller von in Ohrnähe gemessenen Schallschwingungen stel- Bürostühlen okkupierten bald diesen Begriff für ihre len hinsichtlich Amplitude und Frequenz ganz klar die Werbung. Belastung dar. Damals wie heute war es üblich, die- se Größen in Dezibel anzugeben und Bewertungsfil- ter zu verwenden (damals A-, B-, C-Filter, heute nur Ich hatte technische Physik mit dem Abschluss noch A-Filter), welche die Abhängigkeit der mensch- Dipl.-Ing. studiert. Als ich mich mit der Zielrichtung lichen Empfindung von Frequenz und Lautstärkepe- der Ergonomie konfrontiert sah, war ich überzeugt gel wiedergeben sollen. Charakterisieren die durch davon, dass es lohnend sein müsse, die Interaktion diese Bewertung erhaltenen Zahlenwerte noch die zwischen Mensch und Maschine mit wissenschaftli- „Belastung“ oder charakterisiert dies bereits die „Be- chen Methoden zu untersuchen und zu optimieren, anspruchung“? Ein von vielen Mitarbeitern des Lehr- da doch Technik nicht für sich selber steht, sondern in stuhls und auch von mir vertretene Auffassung war, jedem Fall von Menschen für Menschen gemacht ist. dass man hier sinnvoll von „bewerteter Belastung“ Dass ich mit dieser Vorstellung nicht ganz falsch lag, sprechen solle, wobei diese Auffassung keineswegs zeigt sich unter anderem darin, dass heute alle Her- von allen mitgetragen wurde. Wie schwierig diese steller bzw. Entwickler von Automobilen, Flugzeugen Unterscheidung ist, wird auch an folgendem Beispiel und viele andere Industriezweige eine entsprechende sichtbar: ist die Arbeitshöhe an einer Werkbank eine Abteilung – meist sogar mit diesem Namen – betrei- objektiv gegebene, messbare Belastungshöhe oder ben. In Testberichten von Automobilzeitschriften kann in Abhängigkeit von der individuellen Anthropomet- man heute in der Beschreibung eines speziellen Fahr- rie eine Beanspruchungsgröße? Noch schwieriger ist zeugs lesen, dass die „Ergonomie stimmt“ oder dass diese Frage für mentale Belastungen zu beantworten, das Fahrzeug über eine „gute Ergonomie“ verfüge, da doch die Schwierigkeit (quasi die Beanspruchung) was auch immer der Schreiber einer solchen Satzes einer gegebenen Aufgabe erheblich vom Ausbil- damit verbindet. dungsstand, Kenntnisstand, Erfahrung und Übungs- niveau des Ausführenden abhängt. Die Arbeitsaufga- be ist dabei ohne Zweifel die Belastung, doch wie ist Trotz des guten Vorsatzes, eine am Menschen ori- diese im Hinblick auf die große Variabilität individueller entierte Technik mit zu gestalten, war es für einen Fähigkeiten zu bewerten? Es ist dies eine Frage, die vornehmlich im technischen Bereich Ausgebildeten im Zusammenhang mit der zunehmend Bedeutung durchaus eine Herausforderung, herauszufinden, wie gewinnenden Informationsarbeit immer drängender eine solche Gestaltung im Detail geschehen soll. So wird und bis heute keine eindeutige Lösung gefunden ging es nicht nur mir, sondern natürlich auch meinen hat. Der heute immer wieder auftauchende Begriff der 8
Ein Streifzug durch die Ergonomie „Selbsterklärungsfähigkeit“ gehört in diesen Bereich, macht ein Dilemma deutlich, dem alle ergonomischen denn keine Interaktion ist im Prinzip selbsterklärend. Untersuchungen ausgesetzt sind: in Versuchssituati- Wenn allerdings bei einer neuen Interaktionsanfor- onen können durchaus signifikante Zusammenhänge derung auf vorhandene Erfahrung (innere Modelle) zwischen meist mit akribischen Methoden definier- zurückgegriffen werden kann, so ist die Bedienung ten Belastungszuständen und mittels subjektiver und dieser neuen Funktion leichter zu verstehen und ihre der oben erwähnten objektiven Methoden erfassten Anwendung auch besser zu merken, was häufig mit Beanspruchung gefunden werden. Insbesondere „Selbsterklärung“ bezeichnet wird. die physiologischen Parameter müssen dabei aber immer auf die individuelle Versuchsperson und die spezielle Verzugssituation unter der Bedingung „kei- Die Messung der Beanspruchung erfolgt im Allge- ne Belastung“ kalibriert werden. Es ist dies ein Phä- meinen durch Befragung des Belasteten. Für einen nomen, das jeder kennt, der mittels EMG-Methoden technisch Ausgebildeten, der es gewohnt ist, sich muskuläre Belastung untersuchen will. Ähnliches gilt auf objektive Messungen zu verlassen, ist dies eine auch für beobachtete Reaktionen von Probanden auf wenig zufriedenstellende Methode, da zweifellos psychische Belastungen. Damit scheiden diese phy- in das Ergebnis jeder Befragung sowohl subjekti- siologischen Methoden als objektive Messung für ve Unsicherheiten bezüglich der Artikulierung des psychische Zustände im Alltag praktisch aus. Leider aktuellen Gefühls als auch in Abhängigkeit von der haben sich diese Erkenntnisse aus dem Bereich der Situation absichtliche Verfälschungen eingehen kön- Ergonomie aber noch keineswegs in alle Bereiche in- nen. Es liegt deshalb nahe, dafür die Messung phy- dustrieller Anwendung herumgesprochen. Es sei in siologischer Parameter heranzuziehen, von denen diesem Zusammenhang der Müdigkeitserkenner er- man annimmt, dass sie vom Probanden nicht aktiv wähnt, der heute in vielen Neufahrzeugen eingebaut beeinflusst werden können. Insbesondere kann man ist. Er basiert mit mehr oder weniger großen Abwand- schon an sich selbst beobachten, dass Pulsfrequenz lungen bei den unterschiedlichen Fahrzeugmodellen und Schweißausschüttung (messbar als elektrischer im Wesentlichen auf der Messung der Fahrzeit und Hautwiderstand) sich nicht nur bei körperlicher Belas- der Beobachtung zu geringer bzw. abrupter Lenk- tung verändern, sondern auch bei psychischer Belas- radbewegungen. Wegen zu großer Messprobleme tung ansprechen. Im Gegensatz zu den Erfahrungen hat die Erfassung der Pulsfrequenz hier zum Glück bei körperlicher Belastung konnte bei allen Versuchen noch nicht Eingang gefunden, obwohl sie immer wie- für psychische Belastungen (z.B. simuliert durch kom- der diskutiert wird und mittels der heute verfügbaren plexe Kopfrechenaufgaben) zwar immer eine entspre- Smart-Watches in den Bereich einfacher Anwendbar- chende Reaktion dieser Parameter beobachtet wer- keit kommt. Eine einigermaßen sichere Methode wäre den, allerdings bedauerlicherweise keine Maßzahl, hierbei sicherlich die Beobachtung der Augen, wo die die eindeutig mit der Beanspruchung korreliert. In- Lidschlussfrequenz zwar ein Indikator für Ermüdung sofern erscheint es konsequent, sozusagen näher an sein kann, aber eben auch nur auf der Basis einer in- das Gehirn heranzugehen und mittels EEG-Untersu- dividuellen Normierung. chungen zu versuchen, diese Fragestellung zu klären. Insgesamt vier Dissertationen (Böttge, 1972; Holoch, 1972; Hecker, 1978; Wegener, 1978), die alle mit gro- Die Messung der Augenbewegung ist jedoch durch- ßem technischen Aufwand verbunden waren, sind in aus – zumindest in Versuchssituationen – eine Mög- diesem Rahmen am Lehrstuhl gelaufen. Das Ergebnis lichkeit, der aktuellen Aufmerksamkeit näher zu kom- war ernüchternd: zwar konnte in all den Dissertatio- men, denn die Blickbewegung geschieht zum großen nen mithilfe der statistischen Auswertung der Para- Teil unwillkürlich. Im Rahmen der vielen Versuche, die meter eindeutig verschiedene psychische Zustände der Lehrstuhl zur Head-Up-Display-Technik durchge- voneinander getrennt werden, jedoch waren dies von führt hat, wurde deshalb ein Blickerfassungssystem Tag zu Tag andere Parameter. Diese Beobachtung entwickelt, das zunächst den Namen JANUS trug. 9
Ein Streifzug durch die Ergonomie Mitarbeiter (Lange, Wohlfarter, Spies), die dieses auf Potentiometer übertragen und somit elektrisch System wesentlich weiter verbesserten, haben sich messbar. Dieser Stift ist in der Handhabung seitens später selbstständig gemacht und vertreiben nun das des Menschen ein Vorläufer des heutigen Touch- Blickerfassungssystem unter dem Namen Dikablis screens. Übrigens kam der Stift bei den Untersu- (Abbildung 2). chungen gar nicht so gut weg, wie man das theore- tisch erwarten könnte. In späteren Untersuchungen am Lehrstuhl (Spies, 2012; Blattner, 2014) konnte Die Vorstellung von einer ergonomisch gestalteten auch klar herausgearbeitet werden, warum das so Technik wurde für uns junge Mitarbeiter natürlich ist: für die Bedienung eines Touchscreens spielt auch durch die vielen Beispiele, die Gegenstand ex- nicht die dominierende Rolle, ob haptisch erfahren perimenteller Untersuchungen waren, geprägt. Ich wird, dass ein virtueller Button betätigt worden ist, erinnere mich hier speziell an die von Schmucker wofür übrigens ein akustisches Feedback durchaus (1969) und Pretsch (1969) am Institut durchgeführ- ausreichend ist, sondern vor der Bedienung, wo sich ten Untersuchungen zu der Frage, welche Interakti- der Button befindet. onsmittel für die Ortung von Objekten auf dem Ra- darschirm am besten geeignet sei: Der Rollball, das Joystick, das damals noch gar nicht so hieß und das Ein Besuch des damals von Professor Bernotat in den Publikationen als „Steuerknüppel“ erschien, geleiteten Instituts für Anthropotechnik in Mecken- und eine ganz neuartige Einrichtung, nämlich ein heim/Bonn hat meine Vorstellung von einer tech- Stift, mit dem man unmittelbar am Bildschirm auf nisch orientierten Ergonomie erheblich beeinflusst. die zu ortenden Objekte deutete. Die Position des Hier wurden ebenfalls Bedieninteraktionen unter- Stiftes wurde über ein kompliziertes Seilzugsystem sucht, die es damals auf dem Markt überhaupt noch 10
Ein Streifzug durch die Ergonomie nicht gab und die deshalb in entsprechend gro- war dafür der Wunsch von Professor Schmidtke ent- ben Aufbauten für Versuche erst realisiert werden scheidend, für die Ausbildung der Studenten ein er- mussten. Auch dort wurde ein Vorläufer des Touch- gonomisches Praktikum zu entwickeln. Wesentliche screens untersucht, der in Form von matrixartig an- Elemente dieses Praktikums sind heute noch Gegen- geordneten Laserstrahl/Fotoelementen den Ort des stand der Ausbildung am Lehrstuhl. Die „Krönung“ bedienenden Fingers zu detektieren erlaubt. Ganz dieser Praktikumsversuche sollte ein Fahrsimulator neuartig war die um 180° gedrehte Verwendung des sein. De facto hat dessen Aufbau sehr viel Zeit und Rollballs, der praktisch ein Vorläufer der heute von Ingenieursgeist erfordert. Wegen der beschränkten der Computerbedienung nicht mehr wegzudenken- Möglichkeiten der damaligen Rechnertechnologie den Maus war. Es war dort auch ein Fahrsimulator war er auf mechanisch/optischer Basis aufgebaut. aufgebaut - übrigens mit elektronischer, allerdings Das Bild wurde über einem Fernsehprojektor – al- sehr rudimentärer Bilderzeugung. Unter der Leitung lerdings noch schwarz-weiß – darstellt (Abbildung von E. Donges wurde die in der Schifffahrt und Flug- 4 links). Seine Dynamik steuerte ein Analogrechner zeugführung – hier durch speziell dafür zuständi- (Abbildung 3). Dieser Fahrsimulator begründete die ge Offiziere – übliche Einteilung der hierarchischen Tradition, am Lehrstuhl für Ergonomie grundlegen- Ordnung bezüglich der Erfüllung einer Fahraufgabe de Untersuchungen zur Interaktion zwischen Fah- in Navigation, Führung und Stabilisierung auf den rer und Fahrzeug durchzuführen und natürlich auch Bereich des Kraftfahrzeugs übertragen. Der Besuch die Erfahrung, wie dafür solche Simulatoren Gewinn war für mich so prägend, dass ich gemeinsam mit bringend eingesetzt werden können (weitere Ent- meinen damaligen Mitstreitern P. Rühmann, W. Ilg- wicklung Abbildung 4 Mitte und rechts). mann und meinem Bruder Peter versuchte, in Mün- chen etwas Ähnliches aufzubauen. Neben anderem 11
Ein Streifzug durch die Ergonomie Abb. 5: Links: Anwendung des Helm-Mounted-Displays in einem variablen Fahrerstand (Riedl, 2012) - Rechts: Gegenwärtiger Fußgän- gersimluator am Lehrstuhl (Quelle: Sebastian Mast) Als ich nach meiner „Auszeit“ in Eichstätt 1993 an 2008; Riedl, 2012) diese Idee realisiert werden und den Lehrstuhl berufen worden bin, hatte ich die Vor- heute stellt sie eine am Lehrstuhl vielfältig eingesetz- stellung, den Fahrsimulator nicht über Projektions- te Technologie dar (Abbildung 5). technik, sondern mittels kleiner direkt vor dem Auge befindlicher Konvergenzgläser und Displays (damals noch Röhrentechnik!) zu realisieren. Der Vorteil ei- Bei der Entwicklung des ergonomischen Praktikums ner solchen Versuchseinrichtung wäre gewesen, wurden besonders die Umweltfaktoren Beleuchtung, dass man nicht nur Verkehrssituationen darstellen Schall und Klima berücksichtigt, unter anderem könnte, sondern auch beliebige andere Arbeitssitu- auch weil hierfür „handhabbare“ Messinstrumente ationen aus dem Bereich der Produktion. Aufgrund zur Verfügung stehen. In dem 2013 vorgestellten Er- der damals verfügbaren Technik hätte eine solche gonomiemesskoffer werden diese Umweltfaktoren Helm-Mounted-Display-Variante ein extrem hohes unter besonderer Berücksichtigung didaktischer Gewicht gehabt. Deshalb wurden im Rahmen eini- Anforderungen heute sogar für Schüler bereitge- ger Semester- und Diplomarbeiten Einrichtungen stellt (Abbildung 6 links). Der Einfluss mechanischer konstruiert, die das Gewicht dieses schweren Geräts Schwingungen ist demgegenüber weitaus schwieri- auffangen sollten. Das Projekt war jedoch bei den ger zu demonstrieren, weil dazu aufwändige Simu- damals verfügbaren technischen Mitteln zu ehrgei- lationseinrichtungen (z.B.: Schwingsitz) notwendig zig. Immerhin konnte aber später in Dissertations- sind. Als 1969 P. Rühmann als Mitarbeiter zum Lehr- vorhaben im Rahmen von INI.TUM-Projekten (Voss, stuhl stieß, erkannte Professor Schmidtke dessen 12
Ein Streifzug durch die Ergonomie konstruktionstechnische Begabung und beauftragte Schmidtkes Publikation „Ergonomische Bewertung ihn mit der Entwicklung eines Simulators für Rota- von Arbeitssystemen“ entstanden. Diese war die tionsschwingungen. Der Simulator wurde ca. 1975 Grundlage dafür, dass er gemeinsam mit Frau Dr. fertig gestellt und war Grundlage für verschiedene Fraczek ein rechnerbasiertes Bewertungssystem Dissertations- und Forschungsvorhaben (Abbildung entwickelte, das er 1982 vorstellte und das damals 6 rechts). Beim Umzug nach Garching konnte leider natürlich auf MS-DOS basierte. Später wurde das seine ursprüngliche Leistungsfähigkeit nicht wieder System auf die sehr viel anschaulichere Windows- erreicht werden und so wurde er schließlich ver- oberfläche übertragen und ab dem Jahr 2000 un- schrottet. ter dem Namen EKIDES (Ergonomics Knowledge and Intelligent Design System) zur Verfügung ge- stellt. Noch in seiner letzten Lebensphase hat Prof. In der Zeit, in der wir alle noch junge Doktoranden Schmidtke die Ergebnisse dieses Systems ge- waren, erhielt Professor Schmidtke den Auftrag, für meinsam mit Dr. Fraczek als Buch herausgebracht das „Schiff der Zukunft“ ergonomische Forderungen (Schmidtke & Jastrzebska-Fraczek, 2013). Über- zu formulieren. Er erkannte, dass verbale Formu- haupt hat Schmidtke über die ganze Phase seiner lierungen hier wenig Effekt haben werden, sondern Forschungstätigkeit fleißig publiziert. Herausragend dass für Konstrukteure nur belastbare technische ist das Buch „Ergonomie“ (Schmidkte, 1993) sowie Angaben Wert haben. In großer Fleißarbeit durch- das „Handbuch der Ergonomie“ (Schmidtke, 2010), forstete er dafür alles, was in Literatur und Standards das aus mehreren Bänden besteht, die - angelegt verfügbar war und ordnete es nach Möglichkeit nach als Ringbuchausgabe – unter seiner Regie ständig einem einheitlichen Schema: auf der Abszisse wird aktualisiert wurden. Nicht zuletzt diese Publikatio- die – technisch messbare – Dauer des Einflusses, nen haben wohl wesentlich den Ruf des Lehrstuhls dem der Mensch während der Ausübung seiner Tä- in der Praxis gefestigt. tigkeit ausgesetzt ist, aufgetragen und auf der Ordi- nate die – ebenfalls technisch messbare – Intensität des Einflusses. Es zeigte sich, dass sich die unter- Wie am Beispiel der Schalleinwirkungen bereits dar- schiedlichen Belastungsgrade durch Geraden dar- gestellt, ist die Wirkung der Belastungsintensität stellen lassen, wenn man die jeweiligen Einflüsse im zusätzlich nach menschlichen Maßstäben zu bewer- logarithmischen Maßstab aufträgt. Letztlich ist also ten. Menschen sind aber durch eine hohe interindi- die vom Menschen absorbierte Energie ein Maß für viduelle (heute oft auch mit „between“ bezeichnete) die Belastung. Auf der Basis dieser Arbeiten ist 1976 Variabilität gekennzeichnet. Am deutlichsten sicht- Abb. 7: Versuchseinrichtungen für die Messung von Körperkräften mit dem Ziel der Perzentilierung (Rühmann & Schmidke,1991) 13
Ein Streifzug durch die Ergonomie Abb. 8: Links: Erster Entwurf eines dreidimensionalen Menschmodells zur Erfassung beliebiger Körperhaltungen (1985) - Rechts: Das Menschmodell RAMSIS bar ist dies bei der Körpergröße und so ist es eine triebetrieben an über 3000 Probanden statt. So war alte ergonomische/arbeitswissenschaftliche Diszi- es erstmals möglich, auch für Körperkräfte perzenti- plin, diese in sog. Perzentiltabellen anzugeben. Für lierte Angaben zu machen (Rühmann & Schmidtke, die Fähigkeit, Kräfte auszuüben, fehlten aber bislang 1991). derartige Angaben. Prof. Schmidtke beantragte des- halb gemeinsam mit seinem Kollegen Rohmert von der TH Darmstadt ein Verbundprojekt beim Bundes- Gerade die Bereiche, in denen die Variabilität des minister für Forschung und Technologie im Rahmen Menschen für die Gestaltung eine so große Rol- des Gesamtprojekts „Humanisierung des Arbeits- le spielt, sind in Tabellen angelegte Daten und ins- lebens“, um diese Datenlücke zu füllen. Es wurden besondere Empfehlungen für die Auslegung oft- dafür eigene transportable Apparaturen gebaut, mit mals unzureichend. Andererseits sind aber für die denen die unterschiedlichsten Kraftaufbringungen technische Auslegung klare Zielvorgaben, so wie gemessen werden konnten (Abbildung 7). Die Mes- sie Schmidtke in seinem Ergonomischen Daten- sungen fanden dann – gestützt durch ein aufwendi- banksystem zusammengestellt hat, umgänglich. Die ges logistisches Konzept – in verschiedenen Indus- in den 70er Jahren unter der Leitung von Prof. H. Abb. 9: Links: Fahrerstand (aufgebaut von der AUDI AG), mit dem ein wesentlicher Teil der Versuche für RAMSIS durchgeführt worden ist. Rechts: Modularer Ergonomieprüfstand (MEPS), eine Spende der Daimler AG. 14
Ein Streifzug durch die Ergonomie W. Jürgens entwickelte „Körperumrissschablone für die anderen Passagiere des Fahrzeugs – mit fahr- Sitzarbeitsplätze nach DIN E 33 408“, die sog. „Kie- fremden Aufgaben beschäftigen kann, ist dies eine ler Puppe“ war für mich hierfür geradezu ein Schlüs- neue Herausforderung. selerlebnis zur Lösung dieses Dilemmas. Mit der nun aufkommenden Möglichkeiten der Rechnertech- nologie lag es damals nahe, die zweidimensionale Krist (1994) hat bei den ursprünglichen Haltungsver- Körperumrißschablone durch dreidimensionale Mo- suchen die von den Versuchspersonen geäußerten delle des Menschen zu ersetzen. Ein erster Ansatz Aussagen zu einem Diskomfort-Modell verarbeitet, hierfür wurde im Rahmen der Diplomarbeit von Weiß das ebenfalls in dem Softwaretool RAMSIS enthalten (1985) versucht, für die M. Schwabe, der damals für ist. Die Objektivierung des Komforts hat sich mittler- den Digitalrechner des Lehrstuhls zuständig war, ein weile weltweit zu einem neuen Forschungsgebiet der einfaches, im Rechner existierendes Menschmodell Ergonomie entwickelt. Wie in vielen Versuchen gezeigt programmierte, das den stereogrammmetrisch auf- werden konnte, ist dabei offensichtlich zu unterschei- genommenen Fotos der zu untersuchenden Person den zwischen dem sog. Diskomfort und dem Kom- überlagert werden konnte (Abbildung 8 links). Mit fort, welche nach den Untersuchungen von Helander diesem Ansatz gewannen wir die Aufmerksamkeit & Zang (1997) orthogonal zueinander stehen. Ersterer in dem FAT-Projekt „Softdummy“, was letztlich zum beschreibt die unangenehmen Empfindungen bei der Anteil des LfE an der 1986 begonnenen Entwicklung Interaktion zwischen Mensch und Maschine, bedingt des digitalen Menschmodells RAMSIS (Rechnerge- durch Reize, die im Allgemeinen messtechnisch er- stütztes Anthropologisch-Mathematisches System fasst werden können. Er kann prinzipiell nur so weit zur InsassenSimulation) führte (Abbildung 8 rechts). wie möglich minimiert werden. Die Methoden der Psy- chophysik und die oben erwähnte Bewertungsproble- matik spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Komfort Auf der Grundlage der Daten von H. Greil und ei- kennzeichnet im Wesentlichen den Aspekt des Ge- genen mit dem Superpositionsverfahren gewonne- fallens. Er entzieht sich damit weitgehend naturwis- nen Werten wurde für diesen Dummy eine bisher senschaftlichen Experimenten und hat sehr viel mit einzigartige Modellierung der anthropometrischen Industrial Design zu tun. Da ich in der Zeit zwischen Eigenschaften realisiert (Geuß, 1994). Seidl (1993) 1975 und 1986 an der FH-München (heute: Univer- entwickelte in einer Vielzahl von dafür entworfenen sity of Applied Science Munich) im Studiengang In- Versuchen (u.a. Abbildung 8 rechts) ein Haltungs- dustrial-Design als Lehrbeauftragter Vorlesungen modell, das aus der beobachteten Verteilung der hielt und Abschlussarbeiten betreute, habe ich die Gelenkwinkelwerte in Abhängigkeit von äußeren Be- Herausforderung unmittelbar erleben können, dass dingungen die wahrscheinlichste Körperhaltung zu der Designer sowohl Aspekte des richtigen Materials, berechnen erlaubt. Abbildung 9 links zeigt den dafür der statischen Haltbarkeit und eben auch der durch verwendeten Fahrerstand. Inzwischen verfügt der die Ergonomie geforderten Gebrauchstauglichkeit Lehrstuhl über einen weitaus flexibleren Prüfstand in Einklang bringen muss. Das alles geschieht dabei (Modularer Ergonomieprüfstand, MEPS; Abbildung 9 jenseits von mathematischen Formeln, Statistik und rechts), der unter anderem für die Weiterentwicklung Signifikanzniveau. Aus versuchstechnischer Sicht ist von Menschmodellen herangezogen werden soll. Dr. problematisch, dass Probanden und natürlich auch Seidl ist jetzt der Geschäftsführer der Human-So- der normale Nutzer in seiner Beurteilung nicht genau lutions GmbH, die die Vermarktung und Weiterent- zwischen diesen beiden orthogonalen Polen „Kom- wicklung des RAMSIS betreibt. In Zusammenarbeit fort“ und „Diskomfort“ unterscheiden kann (Knoll, mit dem Lehrstuhl werden von der Human-Solutions 2006). Neben ungünstigen Einflüssen aus der Umwelt GmbH auch für andere Anwendungsgebiete Hal- (z.B. Geruch, ungünstige Beleuchtung, mechanische tungswahrscheinlichkeitsmodelle entwickelt, die es Schwingungen, Lärm, Klima) wird der Diskomfort erlauben, das Menschmodell noch vielfältiger ein- gerade bei Arbeitshaltungen, die wenig Variabilität zusetzen. Gerade unter dem Aspekt der autonomen zulassen (insbesondere beim Sitzen in Fahrzeugkabi- Fahrzeugführung, wo sich der Fahrer – ähnlich wie nen), durch ungünstige Gelenksstellungen und durch 15
Ein Streifzug durch die Ergonomie die Druckverhältnisse in der Berührfläche zwischen Zu der Zeit, als ich zum Lehrstuhl kam, waren die Mensch und Sitz beeinflusst. meisten Arbeiten im weiteren Umfeld der mentalen Belastung angesiedelt. Ich erinnere mich besonders an das Ergebnis der Dissertation von Behr (1971), Das alte Ergonomiethema Sitzgestaltung ist damit der untersuchte, wie mentale Leistung (dargestellt wieder in den Fokus der Forschung gerückt. Um als Reaktion auf Signaltöne aus räumlich verteilten dafür Grundlagenuntersuchungen durchführen zu Lautsprechern) durch körperliche Belastung (darge- können, wurde am Lehrstuhl ein spezieller Sitzsi- stellt durch ein Fahrradergometer) beeinflusst wird. mulator entwickelt, der es erlaubte, rechnergesteu- Es zeigte sich, dass bei einer leichten körperlichen ert unterschiedliche Sitzprofile und Federcharakte- Belastung die mentale Leistung sogar steigt, ver- ristiken zu simulieren (Abbildung 10 links; Balzulat, mutlich wegen der dadurch bewirkten verbesser- 2000)). Mithilfe dieses Simulators und weiteren zu- ten Durchblutung des Gehirns. Vor kurzem habe ich sätzlichen Versuchen ist es gelungen, eine ideale mich bei einer Präsentation auf der E-C-N-Tagung Sitzdruckverteilung zu finden, die zumindest für den daran erinnert, als von Herrn Glöckl (aeris GmbH) Anwendungsbereich im Fahrzeug Gültigkeit hat (Ab- demonstriert wurde, wie durch die simultane Dar- bildung 10 rechts). Interessanterweise ist die glei- stellung der gleichen Information an einem Sitz- und che Sitzdruckverteilung sowohl für kleine wie auch einem Steharbeitsplatz ein ständiger aktiver Wech- große Personen korrekt. Das ist ein Problem für den sel zwischen diesen Arbeitsplätzen angeregt wird Praktiker, denn demnach kann es keinen idealen und damit nicht nur die mentale Leistungsfähigkeit Sitz geben, sondern nur eine ideale Kombination erhöht werden kann, sondern auch unangenehmen zwischen Sitz und individuellem Nutzer (NB: Es gibt Rückenschmerzen vorgebeugt wird. auch keinen idealen Schuh, sondern nur einen, der individuell passt). In mehreren Arbeiten hat sich der Lehrstuhl u.a. damit befasst, für dieses Problem Lö- Eine Frage, die damals weltweit von unterschiedli- sungsvorschläge zu entwickeln (Zenk, 2008; Lorenz, chen Autoren bearbeitet worden ist, war die Inter- 2011). aktion des Menschen mit dynamischen Systemen. Auch die Dissertationen von Rühmann (1978) und meinem Bruder (Bubb, 1978) waren damit befasst. 16
Ein Streifzug durch die Ergonomie Ein Ergebnis davon war, dass die Idee des sog. ak- Natürlich lag es nahe, mit dem aktiven Bedienele- tiven Bedienelements, das ursprünglich übrigens im ment auch die Dynamik von Fahrzeugen besser in die Institut für Anthropotechnik für die Steuerung der Hand des Fahrzeugführers zu legen. Zu dieser Fra- Dynamik von U-Booten vorgeschlagen worden war, ge wurden verschiedene Simulatoruntersuchungen generell eine Lösung für die intuitive Handhabung durchgeführt, deren Ergebnisse schließlich dazu führ- von dynamischen Systemen darstellen kann, weil ten, dass von der Forschungsabteilung der Daimler man dadurch quasi die Dynamik der Maschine in der AG im Rahmen einer Dissertation Versuchsfahrzeu- Hand hat. Am Lehrstuhl wurde diese Idee in verschie- ge mit einer solchen Steuerung aufgebaut wurden denen Arbeiten weiterverfolgt und führte unter ande- und evaluiert wurden (Eckstein, 2000; Abbildung 11 rem zur Konstruktion der sog. „Spinne“, mit welcher rechts). Die Idee der Sticksteuerung mittels aktivem ein Roboter sechsdimensional mit Force-Feedback Bedienelement wurde von verschiedenen Fahrzeug- gesteuert werden konnte (Gillet, 1999; Abbildung 11 firmen für Forschungsfahrzeuge aufgegriffen und von links). Die damit verbundenen grundlegenden Arbei- Daimler auch für die Interaktion zwischen Fahrer und ten waren der Anlass, dass sich der Lehrstuhl auch Lkw verifiziert (Abbildung 12 links). Professor Dr. Eck- weiterhin mit der Interaktion Mensch-Roboter be- stein hat am Institut für Fahrzeugtechnik der RWTH fasste, wobei heute unter dem Aspekt zunehmende Aachen ein elektrisch getriebenes Versuchsfahrzeug Automatisierung speziell die Kooperation zwischen aufgebaut, in dem diese Sticksteuerung erneut reali- diesen beiden im Fokus des Interesses steht. siert ist (Abbildung 12 rechts). 17
Ein Streifzug durch die Ergonomie Während sich das aktive Bedienelement zur Steue- wird. Im Rahmen eines DFG-Forschungsprogramms rung vor allem von dynamischen Systemen eignet, wurde ein solches kHUD in dem uns verfügbaren deren Reaktionsbereich zwischen 100 ms und 500 Versuchsfahrzeug BMW 2000 aufgebaut (Abbildung ms liegt, wurde zur damaligen Zeit für trägere Sys- 13, links). Die mit diesem Fahrzeug durchgeführten teme (z.B. Schiffe) – ebenfalls von dem Institut in Versuche legten nahe, dass eine Akzeptanz seitens Meckenheim – die sog. Voranzeige vorgeschlagen, der Fahrer nur zu erwarten ist, wenn lediglich der bei der aus den augenblicklichen Bewegungspara- Sicherheitsabstand, also die Strecke, die das Fahr- metern der Kurs berechnet wird, den das Schiff in zeug innerhalb von 1,5 Sekunden zurückgelegt, an- den nächsten Minuten einnehmen wird. Dies war für gezeigt wird (Assmann, 1984). Die Idee wurde dann Professor Schmidtke der Anlass, mich als damals im Rahmen von verschiedenen INI.TUM-Projekten jungen Mitarbeiter für die Entwicklung einer „Brems- von AUDI aufgenommen und in Form von Proto- wegvoranzeige“ für das Kraftfahrzeug zu gewinnen. typen realisiert (u.a. Schneid, 2008; Abbildung 13 Das Ergebnis war, dass der ebenfalls aus augenblick- rechts). Gerade in Verbindung mit der immer mehr lichen Bewegungsparametern (Geschwindigkeit und Bedeutung gewinnenden Augmented Reality (AR) Reibbeiwert, dessen Messung ich mir übrigens da- wird an dieser Idee an vielen Stellen (z.B. Continen- mals zur Hauptaufgabe gemacht habe) berechnete tal AR) in unterschiedlicher Form weiter entwickelt. Bremsweg unter dem Aspekt eines ergonomisch optimierten Informationsflusses von der Aufgabe zum Ergebnis am besten in Form eines sog. kon- Die geschilderten Aktivitäten geschahen alle vor taktanalogen Head-Up-Displays (kHUD) dargestellt einem theoretischen Hintergrund, der damals aber 18
Ein Streifzug durch die Ergonomie erst geschaffen werden musste. Der grundsätzliche sondern dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Gedanke dabei war, dass eine optimale Interaktion (mindestens 10-3) davon ausgegangen werden muss, zwischen Mensch und Maschine nicht primär durch dass die Reaktion entweder ausfällt oder nicht ad- die Empfehlung von bestimmten Anzeigen bzw. Be- äquat ist. Eine Betrachtung aller Katastrophenfälle dienelementen erreicht werden kann, sondern nur der letzten Jahrzehnte und insbesondere die vielen auf der Grundlage des Zusammenwirkens der Syste- Unfälle in allen Bereichen des Verkehrswesens wei- melemente Mensch und Maschine als Ganzem, d.h. sen auf den dominanten Einfluss des Menschen auf indem man primär den Informationsfluss zwischen einen unerwünschten Verlauf hin. Wegen der enor- Aufgabe, Mensch, Maschine und Ergebnis betrach- men Fortschritte auf dem Gebiet der technischen In- tet. Mit dieser Auffassung wurde dem damals in der formationsverarbeitung wird deshalb immer wieder Literatur herumgeisterndem Begriff „Systemergono- die Forderung erhoben, durch eine Automatisierung mie“ eine konkrete Basis gegeben, die nun auf der der Abläufe den unerwünschten Einfluss des Men- Grundlage von Literaturergebnissen und den vielen schen zu eliminieren. eigenen Erfahrungen, die in der Zwischenzeit ge- sammelt worden sind, zu konkreten Aussagen ver- dichtet wurden (Bubb, 1977). Es ist hier nicht der Rahmen, auf dieses komplexe Gebiet auch nur schlaglichtartig korrekt einzugehen. Zumindest die Ansicht aber, dass die Verkehrssi- Mitte der 70er Jahre kamen die ersten Zweifel auf, cherheit durch autonome Fahrzeuge signifikant ver- ob die Kernkrafttechnik ethisch vertretbar sei. Nicht bessert werden könne, ist aus meiner Sicht mit einer nur deshalb wurde seitens des VDI damals das gewissen Skepsis zu belegen. Auch bei einem Sys- Handbuch für technische Sicherheit geschaffen. tem, das alle Möglichkeiten des sog. „deep learning“ Aufgrund der oben genannten Aktivitäten zur Syste- nutzt, kann nicht ausgeschlossen werden, dass nicht mergonomie wurde ich gemeinsam mit G. Reichart, doch einmal eine Konfiguration auftritt, in der das der damals in der Gesellschaft für Reaktorsicherheit technische System fehlerhaft reagiert. Das jüngste (GRS) tätig war, aufgefordert, dafür einen Beitrag zur Beispiel des verunfallten Uber-Fahrzeugs mag dafür menschlichen Zuverlässigkeit zu schreiben (Bubb & ein Indikator sein. Es ist aus meiner Sicht schade, Reichart, 1983). Dadurch war die Aufmerksamkeit auf dass sich die Automobilindustrie heute weltweit nur dieses spannende Gebiet gelenkt und die „Mensch- auf die Idee des automatisierten/autonomen Fah- liche Zuverlässigkeit“ wurde zu einem weiteren rens fokussiert. Bereits bei dem TUMMIC-Projekt Forschungsgebiet des Lehrstuhls. Im Gegensatz ist das sichtbar geworden. Das Projekt wurde unter zu der in der Technik üblichen und normalerweise Führung des LfE zusammen mit den Lehrstühlen für natürlich auch zum Erfolg führenden „deterministi- Mensch-Maschine-Interaktion (Prof. Rigoll), Fahr- schen Denkweise“, die eine konkrete Vorhersage zeugtechnik (Prof. Heißing), Phonetik (Prof. Tillman), erlaubt, was geschieht, wenn eine bestimmte Ein- Informatik (Prof. Broy), Psychologie (Prof. Zimmer) gangsinformation auf ein Systemelement wirkt, ist und der Professur für Informatik (Prof. Klinker) durch- für die Betrachtung der Systemzuverlässigkeit die geführt. Die Idee war u.a., die Information des ACC „probabilistische Denkweise“ Grundlage. Es ist hier (Abstandstempomat) zu nutzen, um über das aktive von einer gewissen Ausfallwahrscheinlichkeit des Gaspedal eine erhöhte Rückstellkraft zu induzieren, jeweiligen Systemelements auszugehen, die natür- wenn die geforderte Geschwindigkeit überschritten lich experimentell erfasst werden muss (ein eigenes werden möchte bzw. der Abstand zum vorausfahren- Forschungsgebiet!) und in der Einbindung solcher den Fahrzeug zu eng gewählt werden würde. Durch Systemelemente zu einem komplexen Ganzem zu einen erhöhten Druck hätte der Fahrer jedoch jeder- berechnen, welche Auswirkungen dies auf den ge- zeit die technisch festgelegte Grenze überschreiten wünschten Systemausgang/Ergebnis hat. Es ist ek- können. Der Vorteil dieser Anordnung wäre gewesen, latant, dass das „Systemelement Mensch“ nicht mit dass der Fahrer sich wie im Fall ohne Unterstützung Sicherheit im Sinne der deterministischen Denkwei- verhalten kann, ihm aber die Grenzen zur Sicherheit se auf eine Eingangsinformation/Aufgabe reagiert, situationsspezifisch bewusst gemacht worden wä- 19
Ein Streifzug durch die Ergonomie ren. Zusätzlich hätte der Fahrer jederzeit auf die heu- • Normalerweise unterstütztes Fahren, wie dar- te übliche Automatikfunktion des ACC umschalten gestellt; aus Gründen der Gewährleistung einer können. Leider wurde das damals fertig entwickelte erhöhten Sicherheit sollte dieses System ähnlich System vom Marketing nicht akzeptiert, weil die da- wie ABS und ESP durch den Fahrer nicht ab- mit verbundene „Bevormundung“ einem BMW-Fah- schaltbar sein. rer nicht zuzumuten wäre. Immerhin habe ich bei die- sem Projekt meinen späteren Nachfolger Dr. Bengler kennen gelernt, der dieses Projekt seitens BMW zu • Wenn die entsprechenden Bedingungen gege- einem unbestreitbaren Erfolg führte, bis eben – wie ben sind (z.B. freigegebene Strecke), kann auf gesagt – das Marketing eingriff. automatisiertes Fahren umgeschaltet werden; unter solchen Bedingungen läge im Falle eines Unfalls meines Erachtens allerdings die Verant- Im Zusammenhang mit der heute so heftig diskutier- wortung beim Fahrzeughersteller; ten Einführung des autonomen Fahrens ist der im Rahmen des TUMMIC-Projektes entwickelte Gedan- ke meines Erachtens immer noch virulent, denn ein • Wenn die Bedingungen das unterstützte nicht probates Mittel, die Fehlerwahrscheinlichkeit eines Fahren erlauben (z.B. technisch nicht hinrei- Systems signifikant zu reduzieren, ist die Redundanz, chend detektierbarer Fahrbahnrand), so wird d.h. dass das System von zwei unabhängig arbeiten- dennoch das gewünschte korrekte Verhalten den parallelgeschalteten Reglern kontrolliert wird. Die über die kHUD-Information situationsadäquat beiden Systeme müssen dabei allerdings nach unter- vermittelt. schiedlichen Prinzipien arbeiten, da sonst die Gefahr auftritt, dass eine bestimmte kritische Eingangsin- formation zum gleichen Fehler bei beiden Systemen Der Lehrstuhl befasst sich heute mit der Proble- führt. Die geforderte Parallelschaltung unterschied- matik der Automatisierung breit angelegt auf den lich arbeitender Systeme ist gegeben, wenn Fahrer unterschiedlichsten Gebieten, wie automatisiertes und technischer Regler jederzeit simultan die Situa- Fahren, autonom arbeitenden Robotern auch unter tion erfassen und darauf reagieren. Dies lässt sich in Berücksichtigung der menschlichen Zuverlässigkeit der Form realisieren, dass durch das technische Sys- und entwirft auf der Grundlage der experimentellen tem – wie oben für das ACC-System dargestellt – ein Erfahrungen für diese Bereiche Regeln und Grenzen Rahmen geschaffen wird, innerhalb dessen sich der ganz im Sinne der ursprünglichen Vorstellungen des Fahrer so verhalten kann, wie er es gewohnt ist. Das ergonomischen Datenbanksystems von Schmidtke. Erreichen der Grenzen des technisch gesetzten Rah- Es wäre wünschenswert, auch kognitive Modelle in mens muss ihm haptisch vermittelt werden (beispiels- anthropometrische Modelle zu integrieren, denn in weise durch ein richtungskompatibles vibrierendes der Realität ist der Mensch nicht nur Geist, sondern Rückstellmoment am Lenkrad und am Gaspedal). Es auch Körper. Immer wieder wurden in diesem Zu- ist offensichtlich, dass eine solche Informationsüber- sammenhang Versuche unternommen, die kognitiven tragung über zweidimensionale Bedienelemente, wie Aspekte menschlichen Verhaltens in Menschmodelle die oben erwähnte Sticksteuerung einfacher vermit- zu integrieren, um so auf breiter Basis – in ähnlicher telt werden kann. Aus ergonomischer Sicht wäre es Weise wie es für den Bereich anthropometrischer Ar- sinnvoll, die Annäherung an die Grenzen in adäquater beitsplatzgestaltung geschehen ist – bereits in einer Weise im kontaktanalogen Head-Up-Display anzuzei- frühen Entwicklungsphase eines Systems durch Ex- gen, so dass der Fahrer jederzeit versteht, warum er perimente am Rechner bzw. CAD mit dem virtuellen eine entsprechende haptische Rückmeldung erhält. Menschen optimierte Voraussetzungen für die Inter- Der Vorteil einer solchen Auslegung wäre, dass es aktion von Mensch und Maschine zu schaffen. praktisch drei Systemzuständen gibt: 20
Ein Streifzug durch die Ergonomie In den 50 Jahren, die ich nun aus eigenem Erleben wie diese Bedürfnisse mit einem möglichst geringen überblicken kann, hat die Ergonomie nicht nur in der Energieeinsatz befriedigt werden können. Bei all der technischen Welt einen festen Platz errungen, son- sich abzeichnenden technischen Entwicklung wird dern es zeigte sich auch ein langsamer Wandel von von den Einen die Zukunft einer Welt ohne Arbeit be- der ursprünglichen Forschung für den Produktions- fürchtet, während Andere gerade darin einen erstre- bereich (insbesondere schwere körperliche Arbeit benswerten Zustand sehen, da nun technische Skla- unter ungünstigen Umweltbedingungen in der Land- ven unangenehme und belastende Arbeit erledigen. wirtschaft, dem Bergbau, der Schwerindustrie sowie Doch ist diese Prognose wirklich realistisch? Auch taktgebundene Fließbandarbeitet im Produktionsbe- darauf wird seitens der Ergonomie bzw. Arbeitswis- reich) hin zur ergonomischen Gestaltung von Produk- senschaft eine Antwort erwartet. ten. Zwischen der Anwendung von Ergonomie in der Gestaltung des Arbeitsplatzes in der Produktion und in der Produktgestaltung, ist zwar aus wissenschaftli- In jüngster Zeit ist es augenfällig, wie in vielen tech- cher Sicht kein großer Unterschied zu machen, denn nischen Disziplinen bei Vorträgen und Veröffentli- des einen Produkt ist des anderen Arbeitsmittel, aber chungen die Notwendigkeit argumentiert wird, den Produktgestaltung und Produktion werden in der In- Menschen mit seinen Eigenschaften und Fähigkei- dustrie unterschiedlich organisiert und darauf ist auch ten in der Entwicklung zu berücksichtigen und mit seitens der Forschung Rücksicht zu nehmen. Unter einzubinden. Diese Notwendigkeit ergibt sich allein dem Aspekt technischer Informationsverarbeitung hat schon aus der Tatsache, dass man heute in vielen die Ergonomie neu an Bedeutung gewonnen hat. Ge- technischen Bereichen weitgehend unbeschränkt rade daraus ergeben sich für die Zukunft herausfor- machen kann „was man will“. Daraus ergibt sich dernde Forschungsaufgaben: Wie soll ein menschen- naturgemäß die Frage, „was man machen soll“. Der gerechter Umgang mit „intelligenten“ Maschinen Ergonom/Arbeitswissenschaftler hat sich in seinem bzw. Werkzeugen aussehen? Wird durch die weiter- Selbstverständnis immer als multidisziplinär ver- reichende technische Informationsverarbeitung die standen, der in der Lage sein soll, medizinisches, Zuverlässigkeit und damit die Sicherheit von Anlagen psychologisches, pädagogisches, technisches und und Systemen wirklich effektiv erhöht und wie ist der ökologisches Wissen zu integrieren und daraus am Mensch dabei einzubinden, der dann nur in einer ex- Menschen ausgerichtete Vorschläge zu entwickeln. tremen Notsituationen helfend eingreifen soll? Wenn Um diese multidisziplinäre Integration wirkmäch- durch immer intelligentere und effizientere Roboter tig zu erreichen, wird es wie in der Vergangenheit weitgehend körperlich belastende Arbeit substituiert auch zukünftig wichtig sein, die in wissenschaftli- wird, bleiben dann womöglich noch „Restberufe“, bei cher Genauigkeit gewonnenen Informationen und denen eine solche Substitution nicht möglich ist und Kenntnisse so aufzubereiten, dass sie in der Praxis welche Hilfen sind für das dort eingesetzte Personal Anwendung finden können. Die darin begründete In- aus ergonomischer Sicht denkbar? Häufig wird argu- terdisziplinarität nimmt die seitens der Universitäts- mentiert, dass durch den Einsatz intelligenter Tech- leitung forcierten, zukunftsorientierten Forschungs- nik Routinearbeit vollkommen ersetzt wird und dem leitlinien auf. Die Ergonomie ist damit in der TUM zu Menschen nur noch kreative Tätigkeiten überlassen einer essenziellen Disziplin geworden. bleiben, die seiner eigentlichen Bestimmung entge- genkämen. Doch ist das wirklich so? Würde dieser Zwang zur „Dauerkreativität“ nicht eine neue Art der Ich bin mir sicher, dass die spannende Aufgaben, die Belastung darstellen? Gerade unter dem Aspekt des sich aus alledem ergeben, von meinem Nachfolger zunehmenden Energieverbrauchs und der damit ein- Prof. Dr. Klaus Bengler, der den Lehrstuhl nun schon hergehenden Klimaveränderung ist aus ergonomi- über 10 Jahre mit großem Erfolg und Resonanz lei- scher Sicht die Erforschung des Wesens mensch- tet, auch in der Zukunft erfolgreich weiter getragen licher Bedürfnisse notwendig, um herauszufinden, werden. 21
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