Gender & Islam in Deutschland - Sanem Kleff Eberhard Seidel Ahmet Toprak - Bausteine - Schule ohne Rassismus

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Gender & Islam in Deutschland - Sanem Kleff Eberhard Seidel Ahmet Toprak - Bausteine - Schule ohne Rassismus
Gender & Islam
        in Deutschland
Sanem Kleff   Eberhard Seidel   Ahmet Toprak

                 Bausteine
Gender & Islam
in Deutschland

    Baustein 2
Inhalt

Sanem Kleff, geb. 1955 in Ankara, ist Leiterin von Schule ohne Rassismus - Schule    1.   Geschlechterrollen und Migration (s. kleff, e. seidel)                                                                                                                                                                                    .. . . . . . . . . . . . . .   1
mit Courage. Sie arbeitete 25 Jahre lang als Lehrerin und Fortbildnerin in Berlin.

Eberhard Seidel, geb. 1955 nahe Würzburg, ist Geschäftsführer von Schule ohne        2.   Leben in patriarchalen Inselgesellschaften (s. kleff)                                                                                                                                                                                 .................                  6
Rassismus – Schule mit Courage. Er publiziert zu Rechtsextremismus, Islamismus
und Migration.
                                                                                     3.   Geschlechterrollen und Sexualerziehung (a. toprak)                                                                                                                                                                                       ............                16
Prof. Dr. Ahmet Toprak, geb. 1970 in Kayseri, ist Professor für Erziehungswis-
senschaften an der Fachhochschule Dortmund mit den Schwerpunkten Gender                   3.1   Erziehung und Geschlechterrollen in
und interkulturelles Konfliktmanagement.
                                                                                                konservativ-autoritären Familien                                                                                                             .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    22
                                                                                         3.2   Sozialisation und Erziehung in
                                                                                                religiösen muslimischen Familien                                                                                                           .........................................................                                                           31
In der Publikationsreihe Bausteine werden von WissenschaftlerInnen, Päda-
gogInnen und Publizisten pädagogische und gesellschaftspolitische Aspekte der
                                                                                          3.3   Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis                                                                                                                                                                               .. . . . . . . . . . . . . . .    42
Frage diskutiert, wie eine dem Schutz der Würde aller Menschen verpflichtete              3.4   Literatur    ........................................................................................................................                                                                                                                          48
Schule verwirklicht werden kann.

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Impressum

© Aktion Courage e. V.
  Berlin, 2016

Erste Auflage 2016

Herausgegeben durch die Bundeskoordination
Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage,
in der Trägerschaft des Aktion Courage e. V.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung von Aktion Courage e. V. unzulässig.
Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen,
Übersetzungen und die Einspeicherung in elektronische Systeme.

ISBN 978-3-933247-66-7
Sanem Kleff und Eberhard Seidel

1.
Geschlechterrollen
und Migration

 Noch vor hundert Jahren war die Frau in Deutschland weit-
 gehend dem Mann unterworfen. Heute sind Frauen nicht nur
 besser gebildet als Männer, sie ergreifen auch zunehmend die
 Macht – als Chefin, Professorin, Moderatorin oder als Bun-
 deskanzlerin. Kein Wunder, dass viele davon überzeugt sind:
 Deutschland ist ein modernes Land, eine Geschlechterdemo-
 kratie. Wenn die Gleichberechtigung der Frau hierzulande
 überhaupt noch in Frage gestellt wird, dann – so behaupten
 manche – durch MigrantInnen, die andere Geschlechterrollen
 als die Mehrheit leben und sich der Integration in ein eman-
 zipiertes Deutschland verweigern. Variantenreich werden die
 immer selben Fragen gestellt: „Warum sind Frauen aus der
 Türkei so rückständig?“ „Warum sind muslimische Männer
 so machohaft?“ Und immer wieder lautet die Forderung: „In-
 tegriert euch!“ „Werdet endlich wie wir!“ Diese Forderung ist
 problematisch; sie konstruiert ein trennendes Ihr und Wir. Die
 offene Ablehnung und Abgrenzung gegenüber „den Anderen“,
„den Fremden“ wird heute nicht mehr mit offen rassistischen
 Argumenten begründet, sondern mit Verweis auf die angebli-
 che Rückständigkeit der Zugewanderten im Geschlechterver-
 hältnis. Die Integrationsdebatte wird sexualisiert.

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Die so Angesprochenen verstehen sehr gut: Sie sollen nicht               Schwangerschaftsabbruch, die Straffreiheit von Homosexua-
„ehrenmorden“, ihre Frauen gut behandeln und ihre Töchter                 lität, die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Part-
 nicht mit Zwang verheiraten. Viele können mit diesen Ap-                 nerschaften, sexuelle Selbstbestimmung oder die Strafbarkeit
 pellen allerdings nicht viel anfangen. Die meisten Migran-               von Vergewaltigung in der Ehe in der ehemaligen Bundesre-
 tenfamilien standen solchen archaischen Traditionen bereits              publik sowie im vereinigten Deutschland. Abgeschlossen ist
 in ihren Herkunftsländern verständnislos gegenüber. Und                  die Diskussion eigentlich nie.
 nicht wenige MigrantInnen aus den rückständigsten Regionen                  Und „Nein!“ heißt in strafrechtlicher Hinsicht erst seit 2016
 Anatoliens, Siziliens, Russlands, des Balkans und Andalusiens           „Nein!“ Die Vergewaltigung in der Ehe ist erst seit 1998 strafbar
 haben genau aus diesen Gründen ihre Heimatdörfer verlassen.              und das Züchtigungsrecht der Eltern wurde ebenfalls erst 1998
   Vielen Migranten und ihren Kindern wird zudem nicht so                 im Zuge der Reform des Kindschaftsrechts für unzulässig er-
 recht klar, was die Mehrheit wünscht. Denn schnell stellt sich           klärt. Auch die Kontroversen um den neuen Bildungsplan 2015
 heraus, dass der verheiratete Bäcker aus Brandenburg, der                im damals grün-rot regierten Baden-Württemberg zeigten,
 schwule, konfessionslose Banker aus Düsseldorf, der ledige,              dass vor allem konservative christliche Verbände und Politiker
 katholische Landwirt aus Niederbayern, die in zweiter Ehe                in der fächerübergreifenden Behandlung der Akzeptanz homo-
 lebende protestantische Rentnerin aus Leipzig und die allein-            und transsexueller Vielfalt und verschiedener Lebensmodelle
 erziehende Mutter aus Berlin ganz Unterschiedliches meinen,              neben der klassischen Ehe eine Verletzung ihrer christlichen
 wenn sie fordern: „Integriert euch!“                                     Werte sehen. Sie protestierten laut; Hunderttausende unter-
   In heterogenen Gesellschaften prallen Ungleichzeitigkeiten             zeichneten die entsprechende Petition.
 und unterschiedliche moralische Standards und Sozialmili-                   Auch die Enthüllungen von jahrelangen Misshandlungen,
 eus aufeinander. Stadt / Land, Nord / Süd, Ost / West, religi-           sexuellem Missbrauch sowie Vergewaltigungen von Kindern
 ös / nichtreligiös, jung / alt, arm / reich, gebildet / ungebildet et    und Jugendlichen in katholischen Internaten, evangelischen
 cetera. Das ist nicht erst seit Beginn der Arbeitsmigration und          Heimen, sozialistischen Erziehungsanstalten der DDR oder
 der aktuellen Zuwanderung von Geflüchteten so. In mühsa-                 reformpädagogischen Institutionen wie der Odenwaldschule
 men Prozessen musste und muss stets aufs Neue ausgehandelt               wiesen eindrücklich darauf hin: Die Mehrheitsgesellschaft tut
 werden, welche die gemeinsamen Umgangsformen, Rechts-                    gut daran, Probleme der Geschlechterbeziehungen und der se-
 normen und Lebensstile sind.                                             xuellen Selbstbestimmung nicht nur auf „die Anderen“ zu pro-
                                                                          jizieren und am Beispiel muslimischer Familien zu diskutieren.
Aushandlung moralischer Standards                                            Die Rechte auf sexuelle Selbstbestimmung und körperliche
                                                                          Unversehrtheit können in allen Schichten und Milieus unab-
Dass diese Klärungsprozesse sich über Jahrzehnte hinziehen                hängig von Herkunft, Religion und Einkommen mit Füßen ge-
können, zeigen nicht zuletzt die Debatten über das Recht auf              treten werden. Niemanden sollte deshalb verwundern, wenn

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kulturelle Traditionen, individuelle Verhaltensweisen und mo-     beschäftigen und die Grundlagen dafür entwickeln, dies er-
ralische Werte der NeubürgerInnen sich nicht immer nahtlos        folgreich meistern zu können.
in die gewünschten Standards, auf die sich die Mehrheit der         Obgleich wir also wohl wissen, dass konservative, ja reaktio-
Gesellschaft irgendwann geeinigt hat, einfügen. Akkulturation,    näre Auffassungen von Geschlechterrollen und Sexualität auch
das Hineinwachsen in ein neues kulturelles Umfeld und ein         in breiten Teilen der Mehrheitsgesellschaft vorhanden sind,
neues Rechtssystem, ist ein spannender, mitunter schmerz-         konzentrieren wir uns in diesem Baustein auf die Haltungen
hafter Prozess, der Menschen vieles abverlangt. Akkulturation     konservativer und religiöser muslimischer Familien. Der Alltag
verändert Identitäten – das braucht Zeit und Geduld bei allen     an vielen Schulen zeigt, dass es bei vielen PädagogInnen und
Beteiligten. Aber auch die Bereitschaft, erreichte Standards in   SchulsozialarbeiterInnen große Unsicherheiten im Umgang
den Geschlechterbeziehungen und der Emanzipation gegen            mit Kindern und Jugendlichen aus muslimischen Familien
Angriffe zu verteidigen.                                          gibt. Ziel dieses Bausteins ist es deshalb, einen kleinen Beitrag
                                                                  dazu zu leisten, die PädagogInnen in ihrer interkulturellen
Patriarchale Milieus fordern heraus                               Kompetenz zu stärken, damit sie auch gegenüber Kindern
                                                                  und Jugendlichen aus konservativ-autoritären und religiös-
Seit den späten 1990er-Jahren hat sich die Zahl der binationa-    muslimischen Familien ihrem Bildungsauftrag im Sinne des
len Ehen in Deutschland mehr als verdoppelt; selbiges dürfte      Kindeswohls nachkommen können.
für Liebschaften auf dem Schulhof gelten. Das ist erfreulich,       Zu einer erfolgreichen Präventionsstrategie gegen ein pat-
und ein Beleg für Integration, den Abbau von Fremdheitsge-        riarchales Gesellschaftsbild gehört die intensive und nachhal-
fühlen und das Entstehen von etwas Neuem. Konflikte, die          tige Auseinandersetzung mit unterschiedlich beschriebenen
daraus erwachsen können, sind lös- und verhandelbar, auch         Geschlechterrollen und den Machtverhältnissen zwischen den
und gerade wenn es um Gleichberechtigung von Mann und             Geschlechtern in verschiedenen Lebensbereichen.
Frau und sexuelle Selbstbestimmung geht.
  Insbesondere jene muslimischen Einwandererfamilien, die
ihre patriarchalen Werte und Handlungsmuster streng an der
Bewahrung von Familienehre und Jungfräulichkeit ausrichten,
fordern in dieser Hinsicht weiterhin heraus. Deren rigide
Normen und Verhaltensmuster haben zwar nicht primär mit
dem Islam zu tun, werden aber von ihnen bei Bedarf religiös
begründet. Dies ist eine Herausforderung, der sich auch die
kommende Generation zu stellen hat. Umso wichtiger ist,
dass Jugendliche sich schon in der Schule mit diesen Fragen

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Sanem Kleff                                                      die seit Generationen in den Herkunftsgesellschaften oder in
                                                                 Deutschland gemacht wurden.
                                                                    Die meisten MigrantInnen in Deutschland stammen ur-
                                                                 sprünglich aus ländlichen Regionen in der Türkei, Polen,
2.                                                               Russland, dem ehemaligen Jugoslawien, Marokko oder Ita-
                                                                 lien. Auch viele syrische und palästinensische Flüchtlinge
Leben in patriarchalen                                           entstammen einer ursprünglich bäuerlichen Gesellschaft. Die-
Inselgesellschaften                                              sen, in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlichen Ländern, ist
                                                                 eins gemeinsam: die Spuren von Normen, die in ehemaligen
                                                                 Stammesgesellschaften entstanden, sind weiterhin sichtbar
Palästinensische Jungs machen auf offener Straße Mädchen an,     und prägen heute noch den Umgang mit den Geschlechtern.
junge Russen pöbeln in der Öffentlichkeit. Türkische Schüler        Die Studie „Muslimische Familien in Deutschland – Alltags-
respektieren die Lehrerinnen nicht. Migranten, besonders die     erfahrungen, Konflikte, Ressourcen“ des Deutschen Jugendin-
aus dem Mittelmeerraum eingewanderten, muslimisch sozi-          stituts dji in München betont dazu bereits 2008:
alisierten Männer, sind allesamt Machos. So lauten typische
Klagen der Mehrheitsgesellschaft über die meisten Alltags-          „Hintergrund ist, dass sowohl in islamischen als auch in länd-
konflikte zwischen Menschen mit und ohne Migrationshin-              lichen Kulturen, ebenso wie in unteren sozialen Milieus, tra-
tergrund. Das ist auch bei der Beschreibung von Problemen            ditionelle Werthaltungen dominieren. Sie sind besonders ver-
im Schulalltag der Fall.                                             festigt, wenn sich untere soziale Milieus und muslimischer
  Viele dieser Situationen haben einen Bezugspunkt zum               Migrationshintergrund überschneiden. Hier wird Familie als
Thema Sexualität. Konfliktauslöser sind Vorstellungen von            Großfamilie gelebt, in der haushaltsübergreifend alltägliche
Geschlechterrollen, die auf patriarchalen Werten beruhen             Fürsorgebeziehungen organisiert werden. Häufig funktioniert
und von den Vorstellungen der Mehrheitsgesellschaft abwei-           die Fürsorge länder- oder kontinentübergreifend. Die Orga-
chen oder gar inkompatibel mit ihr sind. Im Kern geht es um          nisation der großfamiliären Gemeinschaft beruht auf eindeu-
Fragen wie: „Wann ist ein Mann ein richtiger Mann?“, „Wie            tigen und arbeitsteiligen Mustern, insbesondere hinsichtlich
verhält sich eine gute Frau?“ und „Wer sorgt dafür, dass sich        Geschlecht und Alter. Im Vordergrund steht die Einpassung in
alle rollenkonform verhalten?“                                       die familiäre Gemeinschaft.“
  Die divergierenden Antworten der Mitglieder der Mehr-
heitsgesellschaft und der Minderheiten auf diese Fragen leiten
sich aus ihren jeweiligen Wertvorstellungen ab. Diese haben
ihre Ursprünge in den unterschiedlichen Alltagserfahrungen,

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Das selbstbestimmte Individuum                                     Die fiktive Stammesgesellschaft

Das heutige Deutschland bietet Lebensbedingungen, die das          Welche Normen führen im Einzelnen zu Konflikten, und wa-
Individuum unabhängig von der Solidarität der Familie oder         rum genau tun sie dies? Der folgende Blick auf eine fiktive,
des Stammes leben lässt. Zum einen handelt es sich nicht nur       idealtypische Stammesgesellschaft kann helfen, Antworten
um eine hoch entwickelte, wohlhabende Industriegesellschaft,       zu finden. Dabei erhebt er nicht den Anspruch, wissenschaft-
in der die existenziellen Bedürfnisse des Einzelnen durch ge-      lichen Analysen standhalten zu können. Er bietet aber ein
sellschaftliche Institutionen befriedigt werden. Deutschland       mögliches Erklärungsmuster, das sich zum Verständnis der
ist auch – und das ist entscheidend – ein verlässlicher Rechts-    Hintergründe alltäglicher Konflikte mit MigrantInnen, ganz
und ein fürsorglicher Sozialstaat, in dem das Gewaltmonopol        besonders mit muslimisch sozialisierten Akteuren, im Rahmen
des Staates grundsätzlich gesichert ist. In den Herkunftslän-      von Qualifizierungsseminaren bewährt hat.
dern vieler Menschen mit Migrationshintergrund sind diese             Unsere fiktive, idealtypische Stammesgesellschaft führt eine
zentralen Errungenschaften wiederum nicht oder erst seit           Art Inselleben. Der Nachbarstamm ist weit weg, für den Einzel-
wenigen Jahren vorhanden und damit nicht gefestigt. Dies           nen kaum erreichbar und nicht unbedingt friedlich gesonnen.
hat zur Folge, dass Einwanderinnen und Einwanderer aus             Ein schulterzuckendes „Na, wenn mir hier etwas nicht passt,
ihren Gesellschaften resultierende abweichende Haltungen           dann gehe ich eben weg“ ist für ihre Mitglieder deshalb keine
und Wertvorstellungen nach Deutschland mitgebracht haben.          reale Handlungsoption. Innerhalb der Gemeinschaft ist die
  In der deutschen Aufnahmegesellschaft wirken diese Wert-         Abhängigkeit des Einzelnen von der Gruppe und der Schwa-
haltungen wie Fremdkörper. Je weiter die Lebensbedingungen         chen von den Starken existenziell: Die Kinder hängen von
und damit die Traditionen des Herkunftslandes von jenen            den Erwachsenen ab, die Alten von den Jungen, die Kranken
in Deutschland abweichen, umso größer ist die kulturelle           von den Gesunden, die Armen von den Wohlhabenden und
Kluft, die das Individuum überbrücken muss. Die meisten            so weiter. Vor allem kann in der Gesellschaft der Schutz des
MigrantInnen meistern diese Akkulturationsleistung unauf-          Einzelnen vor physischer Gewalt nur durch die Starken und die
fällig und erfolgreich. Mit der Zeit passen sie ihre moralischen   Gruppe gewährleistet werden. Kurz: Alleine ist der Einzelne
Wertmaßstäbe und ihr Verständnis von Geschlechterrollen            nicht überlebensfähig. Die zuverlässigsten Beschützer sind
den gesellschaftlichen Lebensbedingungen in Deutschland            dabei die Blutsverwandten aus der eigenen Großfamilie. Das
an und teilen am Ende viele Einstellungen der Mehrheitsge-         Verstoßenwerden aus der Gruppe oder Familie kommt einem
sellschaft. Andere lehnen diese bewusst ab. Wie auch immer         Todesurteil gleich.
sie sich entscheiden: Bereits in der Kindheit verinnerlichte          Unter diesen Umständen können die Durchsetzungsfähi-
Wertvorstellungen und Normen können nicht einfach wie ein          gen bestimmen, nach welchen Regeln sich die Schwachen zu
Mantel abgelegt werden. Das geht nur in kleinen Schritten.         verhalten haben, damit sie ihnen ihre Solidarität dauerhaft

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gewähren. Der Zusammenhalt von Gruppe und Familie steht           Familienkrisen und sogenannte Ehrenmorde
deshalb in der kollektiven Wertehierarchie weit vor der freien,
individuellen Persönlichkeitsentfaltung.                          Wirkt der Druck, der auf diesen kollektiven Ehrvorstellungen
  In ihrer Rolle als „Ernährer und Beschützer“ von Frau und       lastet, auf viele Menschen mit wie ohne Migrationshinter-
Kindern stellen die Männer klare Anforderungen. Sie wollen        grund fremd, so gilt dies umso mehr für das Phänomen des
zum Beispiel sicher sein können, dass sie bei der langjährigen    sogenannten Ehrenmordes. In den meisten Herkunftsländern
und aufwendigen Aufzucht der Nachkommen auch tatsächlich          gab und gibt es keine soziale Legitimation und kein Verständ-
ihre leiblichen Kinder versorgen. Diese Sicherheit können sie     nis für Ehrenmorde. Dies gilt auch in der Türkei.
mangels Gentests nur erhalten, wenn sie als künftige Mutter         Das gewalttätige und rational kaum nachvollziehbare Phä-
ihrer Kinder eine von anderen Männern unberührte Jungfrau         nomen ist auf wenige soziale Gruppen beschränkt, die seit
zur Ehefrau nehmen.                                               Jahrhunderten stark isoliert lebten. Nur vor dem Hintergrund
  Vor diesem Hintergrund wird der Schutz der Jungfernschaft       derartiger gesellschaftlicher Lebensbedingungen kann ein
ihrer Töchter bis zur Eheschließung zu einer übergeordneten       Erklärungsmuster – kein Legitimationsmuster – beschrieben
Aufgabe der ganzen Familie. Ihr gesamtes soziales Ansehen         werden, wie eine Ausnahmesituation entstehen kann, in der
und ihre kollektive Ehre werden an dem Gelingen oder Schei-       die Eltern und Brüder ihre eigene Tochter oder Schwester
tern dieser Schutzpflicht gemessen. Klar definierte, tradierte    töten.
Rollenbilder beschreiben ein arbeitsteiliges Vorgehen und           Entscheidend ist: Das normverletzende Verhalten des Mäd-
geben allen Mitgliedern der Gruppe Orientierung.                  chens kann nicht einfach als Ausdruck ihrer individuellen
  Den existenziellen Schutz eines Mädchens vor körperli-          Entscheidung und Verantwortung betrachtet werden, um
chen, besonders sexuellen Übergriffen, haben in erster Linie      das sich andere Familienmitglieder nicht zu kümmern hätten.
ihre nächsten männlichen Verwandten zu gewährleisten. Zu          Stattdessen hat das Verhalten des zu beschützenden Mädchens
diesen gehören der Vater, die Brüder, Onkel väterlicher- und      direkte Auswirkungen auf das Leben der Männer. Bei der
mütterlicherseits sowie die beiden Großväter. Bei diesen bluts-   öffentlichen Bewertung ihres Verhaltens geht es unmittelbar
verwandten Männern wird davon ausgegangen, dass sie die           auch um die persönliche Ehre der Männer.
Jungfräulichkeit ihrer Tochter, Nichte, Enkelin, Schwester          Wie sehr sie dieses Vergehen missbilligen demonstrieren
nicht antasten werden, da sie so ihre eigene Ehre aufs Spiel      sie, indem sie auf das Fehlverhalten der in ihren Augen unge-
setzen würden. Die enge Verbindung des persönlichen Anse-         horsamen Schutzbefohlenen mit der höchstmöglichen Strafe,
hens der Beschützer mit dem Schicksal der Schutzbefohlenen        dem Todesurteil, reagieren.
schützt das Mädchen vor sexuellen Übergriffen und motiviert         Das seltene Phänomen Ehrenmord taucht sowohl in den
die Beschützer, unter Umständen mit allen Kräften gegen           Medien als auch in Alltagsgesprächen über das Zusammenle-
Angreifer vorzugehen.                                             ben in unserer Einwanderungsgesellschaft regelmäßig auf. Oft

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wird es in eine unmittelbare Verbindung zum Islam gebracht       Als Mutter findet Lale in ihren Söhnen neue, junge, aktive,
und mit passenden Zitaten aus dem Koran untermauert. Tat-        starke und vor allem blutsverwandte Männer, deren soziales
sächlich ist der Ehrenmord aber auf die beschriebenen Nor-       Schicksal ebenfalls mit ihrem eng verknüpft ist. Zur Sicher-
men von Stammesgesellschaften zurückzuführen.                    stellung der Reproduktion der Normen erzieht sie ihre Söhne
                                                                 nach bewährter Tradition. In ihren Kinderjahren werden die
Die Hochzeit mischt die Karten neu                               kleinen Söhne umsorgt und verwöhnt. Sie entwickeln eine,
                                                                 spätestens in der Grundschule deutlich sichtbare, „Prinzen-
Nehmen wir als Beispiel das Mädchen Lale. Die neu geborene       rolle“ – und sind daran gewöhnt, sich rundum bedienen zu
Lale ist nicht einfach Lale, sondern sie nimmt bereits ab der    lassen: zuweilen können sie nicht einmal ihre Schuhe binden,
Geburt als „Tochter“, „Schwester“, „Nichte“ oder „Enkelin“       wollen nicht putzen oder gar den Tisch abdecken.
geschlechtsspezifisch definierte, mit den Lebensphasen wech-       Diese Rolle wird ihnen bis zur Pubertät zugestanden. Die
selnde, soziale Rollen ein.                                      Verwöhnzeit soll sie für den Rest ihres Lebens dafür entschä-
  Erst mit ihrer Eheschließung können die Männer aus Lales       digen, dass sie nach deren Ende als „richtige Männer“ in ihre
Herkunftsfamilie ihre bisherige Beschützerrolle ablegen und      neue Rolle als Beschützer wechseln müssen. Diese verspricht
in ihrem Alltag in den Hintergrund treten. Sie haben erfolg-     ihnen nicht nur Annehmlichkeiten, sondern verlangt ihnen
reich die Braut bis zur Eheschließung als Jungfrau begleitet.    auch dauerhaft viel Kraft ab.
In der Logik der Stammesgesellschaft übernimmt nun der
Ehemann die Hauptrolle als Beschützer seiner Ehefrau und         Auch Frauen profitieren
künftigen Mutter seiner Kinder. Die Herkunftsfamilie tritt ab
jetzt nur noch dann als ihr Beschützer auf, wenn der Ehemann     Das weit verbreitete Bild des bedauernswerten Mädchens, das
seiner Rolle nicht gerecht werden sollte.                        von seiner muslimisch-konservativen Familie unterdrückt
  Mit der Eheschließung bekommt Lale neben ihrem Ehe-            wird, vor der Ehe keinen Sex haben darf und deren Ehemann
mann als Beschützer auch dessen nächste Verwandte, seinen        von der Familie bestimmt wird, entspricht sicher der Lebens-
Vater, seine Brüder, seinen Onkel dazu. Zu diesen Männern        wirklichkeit eines Teils der Frauen in patriarchalen Gesell-
hält sie allerdings in jeglicher Hinsicht den gebührenden        schaften. Dennoch können auch in diesen Gesellschaften die
Abstand, da diese mit ihr nicht blutsverwandt sind. Deren        Frauen nicht pauschal als Opfer gemeinschaftlicher Wertesys-
Motivation, Lale zu beschützen, entstammt ihrem Familien-        teme betrachtet werden. Frauen übernehmen beim Aufbau
interesse. Es gilt, die Ehre des Ehemanns – der zugleich Sohn,   und der Stabilisierung vorhandener Gesellschaftsstrukturen
Bruder oder Neffe ist – zu erhalten. Ein Schutzinteresse in      eine aktive Rolle. Oft sind sie sogar die Hauptverantwortli-
Bezug auf die eingeheiratete Braut ist zwar nur mittelbar aber   chen für die generationenübergreifende Reproduktion des
dennoch stark vorhanden.                                         Gesellschaftsmodells.

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Das patriarchale System bedient weitgehend die Interessen       Bedingungen hinzukommen, auch zu Andockstellen für Ideo-
von Männern. Warum aber verteidigen Frauen die vorgegebe-       logien der Ungleichwertigkeit, wie zum Beispiel dem Wunsch
ne Ordnung, warum wirken sie an der Konsolidierung sogar        nach einer islamistisch-patriarchalen Gesellschaftsordnung,
aktiv mit, oder nehmen die Zustände zumindest schweigend        werden.
hin? Die einfache Antwort: Sie profitieren ebenfalls. Solange     Ein den realen Anforderungen des Alltags angemessenes,
Frauen in einer Gesellschaft leben, in der ihre körperliche     adäquates Verhalten zu entwickeln, ist für SchülerInnen, die
Unversehrtheit nicht durch staatliche Institutionen wie den     derartig widersprüchliche Konflikte leben, nicht einfach. Hier
Polizeiapparat gewährleistet werden kann, in der sie keinen     ist von LehrerInnen an der Schule oder PädagogInnen in der
staatlich organisierten Schutzraum wie Frauenhäuser und kei-    außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit hohe professi-
ne Fürsorge durch gesellschaftliche Schutzsysteme bei Krank-    onelle und persönliche Kompetenz gefordert, um geeignete
heit und im Alter, wie Versicherungen, in Anspruch nehmen       Wege der pädagogischen Auseinandersetzung zu entwickeln.
können, sind sie auf den Schutz durch Starke angewiesen.        Der erste Schritt dazu ist, in der Schule geeignete Formen zu
Bleiben abhängig von ihnen.                                     finden, eine offene Auseinandersetzung mit allen Fragen zu
                                                                diversen Geschlechterrollen zu führen. Und dies nicht erst,
Hin zu einer gemeinsamen Haltung                                wenn ein akuter Konflikt vorliegt. Anliegen rund um Sexu-
                                                                alität, Partnerschaft und der eigenen Identität sollten als ein
Einmal verinnerlichte moralische Normen können in Ge-           existenziell bedeutsames Querschnittsthema die alltägliche
sellschaften über Generationen hinweg eine starke Wirkung       pädagogische Arbeit begleiten.
entfalten und das Alltagshandeln der Individuen bestimmen.
In Deutschland geborene Kinder und Enkel – die zweite und
dritte Generation der Eingewanderten – kennen die ursprüng-
lichen Lebensumstände der Herkunftsfamilien kaum. Den-
noch setzen sich in unterschiedlichem Ausmaß auch bei ihnen
derartige Haltungen durch.
   Unter bestimmten Umständen, zum Beispiel, wenn sie
sich deutlich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wol-
len, werden diese von ihnen sogar bewusst reaktiviert, etwa
nach dem Motto: „Na, dann bin ich eben ein Macho, und ganz
klar soll meine Schwester jungfräulich in die Ehe gehen, und
wenn sie sich nicht fügt, dann…“ Solche trotzig-wuterfüllten
Abgrenzungsbestrebungen können mitunter, wenn weitere

14                                                                                                                          15
Ahmet Toprak                                                    Glaubensrichtungen, regionaler und sozialer Herkunft sowie
                                                                nach weltanschaulicher Verankerung. Neben konservativ-au-
                                                                toritären gibt es mehr oder weniger streng religiöse Familien
                                                                ebenso wie säkulare und moderne, für die Religionszugehö-
3.                                                              rigkeit nicht mehr als ein kulturelles Erbe ist. Entsprechend
                                                                unterschiedlich sind die Sozialisationsbedingungen der Kinder
Geschlechterrollen                                              und Jugendlichen. Darin unterscheiden sich muslimische
und Sexualerziehung                                             Familien nicht von christlichen oder jüdischen Familien; dort
                                                                ist die Bandbreite zwischen ultra-orthodoxen und libertären
                                                                Familien ähnlich groß. Infolgedessen gilt: Bei der Betrachtung
Trotz der intensiven und emotionalisierten öffentlichen De-     der Geschlechterrollen und der Sexualerziehung in musli-
batten rund um das Thema Islam in den zurückliegenden           mischen Familien ist ein differenzierter Zugang unerlässlich.
zehn Jahren ist das Wissen über muslimische Familien und          Im Folgenden wird zunächst kurz der methodische Zugang
deren Strukturen in Deutschland gering und häufig von ste-      der Studie „Unsere Ehre ist uns heilig. Muslimische Familien
reotypen kulturalistischen Vorurteilen geprägt. Das ist umso    in Deutschland“ aus dem Jahr 2012 erläutert, die diesem Auf-
erstaunlicher, da muslimische Familien und damit der Islam      satz zugrunde liegt. Anschließend werden wir das Konzept der
seit über 50 Jahren, zumindest im Westen, fester Bestandteil    Ehre vorstellen, das in konservativ-autoritären Familie nund
der bundesdeutschen Gesellschaft sind.                          religiösen Familien relevant ist. Im Anschluss betrachten wir in
   Inzwischen leben rund vier Millionen Menschen in Deutsch-    beiden Familientypen den Umgang mit Sexualität. Basierend
land, die dem islamischen Glauben zugerechnet werden. Mit       auf diesen Erkenntnissen werden Schlussfolgerungen für die
2,5 Millionen ist die Gruppe am größten, deren Migrationsge-    pädagogische Praxis formuliert.
schichte mit der Türkei verbunden ist. Die zweitgrößte Gruppe
sind 400.000 Menschen, die ursprünglich aus dem Nahen           Der methodische Zugang
Osten, beispielsweise aus Syrien, Irak und dem Libanon kom-
men. Die Hunderttausende muslimischen Flüchtlinge, die in       Die zugrundeliegenden Daten und Informationen wurden
2015 und 2016 aus dieser Region geflüchtet sind, sind in der    auf zwei Wegen zusammengetragen. Zum einen haben wir
Zahl nicht enthalten. Etwa 75 Prozent der MuslimInnen in        Untersuchungen über muslimische Familien aus Deutschland
Deutschland sind sunnitisch, 12,7 Prozent alevitisch und 7,1    und anderen Ländern (vor allem aus der Türkei) berücksich-
Prozent schiitisch.                                             tigt. Zum anderen ließen wir Menschen mit muslimischem
   Die muslimische Bevölkerung in Deutschland ist also alles    Glauben selbst zu Wort kommen. Letzeres sollte vor allem eine
andere als eine homogene Gruppe. Sie unterscheidet sich nach    Binnenansicht von in Deutschland lebenden Menschen mit

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muslimischem Glauben auf ihr Familienleben ermöglichen.           religiösen Familien. In beiden Familientypen betrachten wir
Befragt wurden 61 Menschen im Alter von 14 bis 69 Jahren, die     Aspekte der Sexualerziehung. Die Konzentration auf diese
22 Familien angehören. Insgesamt 28 Interviews fanden statt.      Familientypen basiert auf der Annahme, dass diese aufgrund
In den Gesprächen stellte sich heraus, dass die Befragten sehr    ihrer konservativen Haltung hinsichtlich Erziehung und Ge-
unterschiedliche Wertvorstellungen, Erziehungsmuster sowie        schlechterrollen für die pädagogische Praxis besonders re-
politische und religiöse Werte vertreten. Daher bot es sich an,   levante Gruppierungen darstellen. Das bedeutet aber auch:
Familien mit ähnlichen Mustern und Strukturen in Gruppen          Mit der gewählten Fokussierung werden keine repräsentati-
zusammenzufassen. Dabei war zu beachten, dass diese Fa-           ven Aussagen zu den muslimischen Familien in Deutschland
milientypen nicht statisch sind und viele Überschneidungen        getroffen.
existieren. Es gibt auch Familien, die keinem der Typen zu-
geordnet werden können. Letztlich haben sich folgende vier        Der Begriff der Ehre
Familientypen rekonstruieren lassen:
                                                                  Einige wichtige Begrifflichkeiten, die das familiäre Zusam-
                                                                  menleben, die Geschlechterrollen, Erziehung und Sexualmo-
     konservativ-autoritäre Familien                              ral, vor allem in konservativen und religiösen Familien, auf
     religiöse Familien                                           unterschiedliche Art und Weise prägen und in der Praxis von
     leistungsorientierte Familien                                zentraler Bedeutung sind, werden hier erläutert. Ehre bein-
     moderne Familien                                             haltet vier voneinander untrennbare Werte:

Die leistungsorientierten sowie die modernen Familien, die            şeref Ansehen
einen relativ großen Anteil an den muslimischen Familien in           namus Ehre
Deutschland ausmachen, werden im Folgenden außer Acht                 saygı Respekt, Achtung
gelassen. Hintergrund ist, dass sich ihre Vorstellungen von           onur  Würde
Geschlechterrollen und Sexualerziehung nicht sehr von den
Vorstellungen der bundesrepublikanischen Mehrheitsgesell-
schaft unterscheiden. Folglich geraten sie mit deren Normen       şeref   Ansehen
auch nicht in größere Konflikte.
  Wir konzentrieren uns auf Erziehungsmuster, Erziehungsstil      Anders als namus (Ehre) ist şeref ein Wert, der variabel ist. Er
und Geschlechterrollen in konservativ-autoritären Familien        wird als ein Rang für Dienste an der Gesellschaft verwendet.
sowie auf Aspekte religiöser Erziehung und Sozialisation in       Um in der Gesellschaft eine anerkannte Stellung zu erhalten,

18                                                                                                                             19
muss man Reife, Erfolge und gute Taten vorweisen können.           eines Mannes hängt vor allem vom Verhalten seiner Frau ab:
Positive Verhaltensweisen in der Gesellschaft – wie Hilfsbe-       Männer müssen die Sexualität ihrer Frauen (Ehefrauen, Töch-
reitschaft, Integrität oder Ehrlichkeit – erhöhen das Ansehen      ter und Schwestern) kontrollieren und besitzen Ehre, wenn
eines Individuums, während negative Eigenschaften, wie Lü-         ihre Kontrolle sozial anerkannt ist.
gen oder Stehlen das Ansehen mindern. Şeref muss mühsam
durch gute Taten und eine positive Lebensweise erarbeitet
werden. Ob Männer und Frauen gleichermaßen şeref besitzen,         saygı   Respekt, Achtung
ist umstritten. Eine Sichtweise ist: Ausschließlich Männern
gebühre şeref, da dieser Wert nur in den öffentlichen und          Ein anderer wichtiger Begriff ist saygı. In der Familienhierar-
politischen Beziehungen, welche vorrangig die Männer un-           chie werden ältere Brüder mit abi (großer Bruder) und ältere
terhalten, eine Rolle spiele. In einer anderen Auslegung wird      Schwestern mit abla (große Schwester) angesprochen. Ver-
şeref als ein positiver und universeller Wertebegriff für beide    wandte dürfen nicht einfach beim Vornamen genannt werden,
Geschlechter definiert.                                            sondern mit dem Zusatz Onkel, Tante oder großer Bruder et
                                                                   cetera. Diese Anreden werden in der Regel auch für ältere
                                                                   fremde, nicht der Familie angehörende Personen verwendet.
namus     Ehre

Während şeref erst im Erwachsenenalter erreicht werden kann,       onur    Würde
ist namus ein Wert, den alle Menschen besitzen und der auch
nicht durch Eigeninitiative vermindert oder gesteigert werden      Im Vergleich zu den ersten drei Begriffen ist onur abstrakter
kann. Namus kann man jedoch durch Angriffe von außen ver-          und auch schwer messbar. Onur ist eine innere Haltung des
lieren. Wenn beispielsweise ein Außenstehender einen Ange-         Individuums, die nicht nach außen, sondern nach innen ge-
hörigen der Familie, in den meisten Fällen eine Frau, belästigt    richtet ist. Lale YalcIn-Heckmann beschreibt diesen Begriff wie
oder angreift. Ein Mann gilt als ehrlos, wenn er dann nicht        folgt: „Spricht man von Würde (onur) einer Person, so versteht
bedingungslos und entschieden seine Angehörigen verteidigt.        man darunter den inneren Respekt und Werte, zu denen sich
   Der zweite und zentrale Teil von namus betrifft die Sexu-       ein Individuum anders als im Fall des Ehrbegriffes şeref selbst
alität. Namus regelt nicht nur die Beziehung von innen und         bekennt und mit denen es sich in Notfall gegen eine Verur-
außen, sondern bestimmt auch das Verhältnis zwischen Mann          teilung durch die Gesellschaft oder gegen Interventionen des
und Frau. Namus bedeutet für Mann und Frau Unterschied-            Staates verteidigen kann.“
liches: für die Frau, dass sie bis zur Ehe ihre Jungfräulichkeit
bewahrt und auch während der Ehe treu bleibt. Die namus

20                                                                                                                             21
die er aber erfolgreich abschließt. Da sich seine Eltern gegen
                                                                     eine Lehre aussprechen, entscheidet sich Fadi dazu, eine An-
                                                                     stellung bei einer Baufirma anzunehmen, in der er bis heute
                                                                     als Dachdecker arbeitet.
3.1                                                                    Ulima und Fadi haben drei gemeinsame Kinder. Das älteste
                                                                     Kind, der Sohn Khalid, kommt 1988 zur Welt. Er besucht nach
Erziehung und Geschlechterrollen                                     der Grundschule eine Realschule, in der er überfordert ist.
in konservativ-autoritären Familien                                  Daraufhin wird er in die Hauptschule zurückgestuft, been-
                                                                     det sie erfolgreich und macht eine Ausbildung zum Maurer.
                                                                     1992 kommt das zweite Kind zur Welt: Donia, die nach der
In diesem Abschnitt werden Muster geschlechtsspezifischer            Grundschule eine Realschule besucht und auch erfolgreich
Erziehung sowie der Aufteilung in Geschlechterrollen inner-          abschließt. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Donia
halb konservativ-autoritärer Familien nachgezeichnet. Um             im dritten Ausbildungsjahr zur Zahnarzthelferin. Das jüngste
den Erziehungsstil und die geschlechtsspezifische Rollenauf-         Kind, ebenfalls ein Mädchen, Hira, wird 1999 geboren und
teilung in diesen Familien darzustellen, wird exemplarisch           besucht zum Zeitpunkt des Interviews die fünfte Klasse einer
eine Familie vorgestellt.                                            Schule in Berlin-Wedding.
                                                                       Im Verlauf des Interviews mit der Familie fällt auf, dass
Familie Bin Al-Saud im Profil                                        bestimmte Grenzüberschreitungen, die von den Kindern be-
                                                                     gangen werden, mit Strafen, Härte und gegebenenfalls mit
Die Familie stammt ursprünglich aus dem Landkreis einer              Gewalt – beispielsweise Ohrfeigen oder Schlägen – geahndet
der größten Städte Syriens: Aleppo. Die Mutter der Familie           werden. Da Respekt, Gehorsam und Unterordnung gegenüber
Ulima kommt im Rahmen der Familienzusammenführung                    den Eltern von Familien des konservativ-autoritären Typus im
als Zwölfjährige 1975 nach Deutschland; ihre Eltern leben seit       Mittelpunkt der Erziehung stehen, wird eine solche Bestrafung
1968 hier. Unmittelbar nach der Einreise besucht Ulima eine          durch die Eltern von den Kindern akzeptiert.
Hauptschule in Berlin, beendet diese jedoch nicht. Sie verfügt         Dies spiegelt sich in einem ausführlichen Auszug aus dem
über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ulima arbeitet           Interview mit Ulima:
in einem arabischen Supermarkt in Berlin als Aushilfe und
verdient 400 Euro im Monat. Als sie 19 Jahre alt ist, heiratet sie      „Also, ich denke, dass eine anständige Erziehung der Kinder
1982 den Nachbarssohn Fadi, der aus derselben Gegend Syriens             sehr, sehr wichtig ist. Die Kinder müssen viele Dinge lernen,
stammt wie sie. Fadi ist 1960 geboren und kommt 1973 mit                 die ich für wichtig halte. Sie müssen sich zum Beispiel anstän-
seinen Eltern nach Berlin. Auch er besucht eine Hauptschule,             dig verhalten, wenn Eltern da sind. Sie müssen vor Eltern und

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anderen älteren Verwandten Respekt haben. Sie sollen nicht      Eltern noch gegenüber anderen Autoritätspersonen wie Lehr-
     laut sein, wenn der Vater spricht. Die Mädchen müssen sich      kräften toleriert. Das Kind hat gehorsam zu sein und die von
     draußen anständig verhalten, nicht auffallen und pünktlich zu   den Eltern übertragenen Aufgaben sorgfältig zu erfüllen, ohne
     Hause sein. (…) Ich denke schon, dass Jungen und Mädchen        große Erläuterungen und Gegenfragen. Die Eltern haben hier
     anders sind. Gott hat uns ja so geschaffen. Wir müssen sehen,   Anspruch auf Achtung, welche die Beziehungen zwischen
     dass die Mädchen und Jungen anders sind, die haben von der      den Personen nach Alter und Geschlecht regelt. Wenn die
     Natur unterschiedliche Aufgaben bekommen. Deshalb müssen        Älteren – in unserem Kontext die Eltern – keine Achtung von
     wir auch Mädchen und Jungen anders erziehen und behandeln       den Kindern erfahren, haben die Jüngeren – die Kinder – kein
     und bestrafen, damit sie ihre Aufgaben machen können. Wie       Recht auf Liebe. Diese beiden Begriffe sind in diesem Typus
     die Mädchen und Jungen werden, liegt in der Erziehung der       nicht voneinander zu trennen. Wichtige Entscheidungen in
     Eltern. Wenn die Eltern nicht anständig sind, dann werden       Bezug auf die Kinder werden von den Eltern getroffen, da an-
     die Kinder auch nicht anständig. (…) Wenn bestimmte Sachen      genommen wird, dass die Kinder dazu nicht in der Lage sind.
     nicht klappen, wenn die Kinder nicht auf die Mutter oder auf    Das gilt auch im höheren Alter, wenn es beispielsweise um die
     den Vater nicht hören, dann finde ich es nicht schlimm, wenn    Eheschließung geht. Die Eltern haben, soweit sie Kenntnisse
     du dem Kind eine Ohrfeige gibst. Ich habe ab und zu mal eine    darüber haben, Einfluss auf die Schul- und Berufsausbildung.
     Ohrfeige bekommen, das hat mir auch nicht geschadet. (…)        Ein anderes Indiz für die Dominanz der Eltern ist, dass sie
     Wenn Eltern ihre Kinder bestrafen, wollen sie doch was Gutes.   an Entscheidungen festhalten, auch wenn sie innerlich nicht
     Wenn ich meine Kinder nicht bestrafe, dann denken sie, es ist   hundertprozentig davon überzeugt sind. Wenn sie von einer
     mir alles egal, es ist mir aber nicht egal.“                    getroffenen Entscheidung abrücken würden, würde dies – zu-
                                                                     mindest von ihnen selbst – als Schwäche gewertet. Häufig geht
Erziehungsstil                                                       dieser Erziehungsstil mit einem geringen Bildungsniveau der
                                                                     Eltern einher.
Wie eingangs betont, migrierten viele ZuwandererInnen aus
der Türkei und den arabischen Ländern aus wirtschaftlich             Erziehungsziele
schwachen Regionen ihrer Herkunftsländer oder aus Krisenre-
gionen. Massenarbeitslosigkeit, Armut, Analphabetismus und           Die Erziehung zu Respekt, Gehorsam, Höflichkeit, Ordnung
eine wenig entwickelte Infrastruktur bestimmen das Leben             und gutem Benehmen hat für die in Deutschland lebenden
dort auch heute noch.                                                Menschen mit muslimischem Glauben, die den konserva-
  Die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern ist in derarti-          tiv-autoritären Familien zugeordnet werden, immer noch
gen Milieus häufig geprägt durch Aspekte wie Autorität und           einen hohen Stellenwert. Die Kinder werden von klein auf
Respekt. Offene Zornesäußerungen werden weder gegenüber              nach diesen traditionellen Wertvorstellungen erzogen und zu

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einer entsprechenden Haltung gegenüber ihren Eltern, älteren    wie in den Herkunftsländern und der Schutz der einzelnen
Geschwistern und anderen Verwandten ebenso wie gegenüber        Familienmitglieder das oberste Prinzip ist, gewinnt dieses
pädagogisch Tätigen und religiösen Geistlichen außerhalb        Erziehungsziel noch an Bedeutung.
der Familie angehalten. Dazu gehört, dass Kinder ihre Eltern,     Auch ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit wird von
ältere Geschwister, Onkel und Tanten nicht mit dem Vorna-       Eltern an Kinder vermittelt. Wie schon bei der Ehrenhaftig-
men ansprechen dürfen. Sie sollen zudem in Gegenwart der        keit deutlich wurde, ist das Zusammenhalten der Familie in
Eltern schweigsam sein, den Höherstehenden – vor allem in       der Migration von zentraler Bedeutung, weil die in den Her-
der Öffentlichkeit – nicht widersprechen. Auch erwachsene       kunftsländern üblichen sozialen Netzwerke in Deutschland
Söhne und Töchter dürfen in Anwesenheit der Eltern nicht        fehlen. Somit ist dieses Erziehungsziel im Zuge der Migration
rauchen und keinen Alkohol konsumieren. Respekt bedeutet        entstanden, weil Eltern dadurch die innerfamiliäre Bindung,
in diesem Kontext, sich gegenüber den Autoritäten loyal, ge-    die sie in der Migration gefährdet sehen, festigen wollen.
horsam und unterordnend zu verhalten. Ziel dieser Erziehung       Die in der deutschen akademisch orientierten Mittelschicht
ist, die familiären Bindungen zu festigen und einen auf das     verbreiteten Erziehungsziele (Selbstständigkeit, Selbstbe-
Funktionieren der Familie gerichteten Orientierungssinn für     wusstsein, Kritikfähigkeit, Toleranz, Selbstbestimmung etc.),
das gesellschaftliche Leben zu entwickeln, der sich vor allem   die auch bei leistungsorientierten und modernen Familien
aus der Tradition ergibt und nicht religiös begründet ist.      zentral sind, spielen hier kaum eine Rolle.
  Das Erziehungsziel Ehrenhaftigkeit spielt im Erziehungs-
alltag der konservativ-autoritären Familien neben der Erzie-    Geschlechtsspezifische Erziehung
hung zu „Respekt vor Autoritäten“ eine zentrale Rolle. Ver-
einfacht dargestellt, geht es hierbei um die zwei folgenden     In konservativ-autoritären Familien beginnt die Sozialisation
Punkte: die Beachtung der Grenze zwischen Innen- und Au-        in die Geschlechterrollen bereits vor der Geburt. Für die Ge-
ßenwelt und die geschlechtsspezifische Ausrichtung der Ehre.    schlechter gelten jeweils unterschiedliche Werte und Erwar-
Traditionell gibt es eine klare Grenze zwischen dem Bereich     tungen. Ulima beschreibt diese Vorphase:
der Familie (Innenwelt) und der Außenwelt. Auch in Deutsch-
land wird von konservativ-autoritären Familien sehr darauf         „Wir haben ja sechs Jahre auf unser erstes Kind gewartet. Der
geachtet, diese Grenze nicht zu überschreiten. Vor allem den        Arzt konnte nicht genau sagen, aber er meinte, es wird ein
männlichen Kindern wird sehr früh vermittelt, auf etwaige           Junge. Wir haben uns sehr gefreut. (…) Mein Mann hat sich
Grenzüberschreitungen sofort und entschieden zu reagieren,          mehr gefreut. Er wollte unbedingt einen Sohn haben. Wir
beispielsweise ihre (jüngeren) Geschwister zu verteidigen, um       haben dann für ihn alles gekauft: Autos, Bagger, Hosen und
nach außen ein geschlossenes Bild abzugeben. Da in Deutsch-         so weiter. Dann hat mein Mann gesagt, er wird unsere Familie
land das vertraute soziale Umfeld nicht in dem Maße existiert       und den Familiennamen weiterführen. Es war alles geplant.“

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Das Kind wird in einen Kontext vorgeformter Werte und                  Im Grundschulalter verfestigt sich Khalids geschlechtsspezi-
geschlechtsspezifischer Erwartungen hineingeboren. Es un-              fische Erziehung und weitere Differenzierungen der Rollen-
terliegt schon bald einem teils unterschwelligen, teils offen-         muster werden erlernt.
sichtlichen Druck, sich in seine durch die Gesellschaft und
die Eltern definierte geschlechtsspezifische Rolle zu fügen.              „Also, ich meine, irgendwann muss sich der Junge endlich von
Die Eltern konservativ-autoritärer Familien gewähren ihren                 Frauen lösen. Er muss sich Sachen bei seinem Vater und an-
Söhnen mehr Freiheit und erlauben ihnen mehr Aggressivität,                deren Männern angucken. Irgendwann ist ein Junge mit zwölf
während sie von den Töchtern Abhängigkeit und Ergebenheit                  oder dreizehn in Frauengruppe nicht mehr akzeptiert. (…)
erwarten.                                                                  Natürlich bin ich für meinen Sohn da. Aber draußen ist mein
                                                                           Mann für ihn zuständig, drinnen aber ich. Ich koche, mache
Der Sohn Khalid und seine Erziehung                                        Wäsche und schaue, ob er sauber ist.“ (Ulima)

Da sich Khalid zunächst (von der Geburt bis zum Grundschul-            Die Tochter Donia und ihre Erziehung
alter) in der häuslichen Umgebung aufhält, sind seine wichtigs-
ten Bezugspersonen die Mutter und die Großmutter. Bereits              In der Vorschulphase hält sich Donia genau wie ihr Bruder
mit dem fünften beziehungsweise sechsten Lebensjahr ist                in der unmittelbaren Nähe der Mutter und der Großmutter
sein Verhältnis zur Mutter sowie zur Großmutter zwiespältig:           auf – und im Gegensatz zu ihrem Bruder bleiben diese auch
                                                                       danach die Hauptbezugspersonen des Mädchens. Der Auf-
     „Am Anfang hatte ich ihn viel bei mir. Oder die Oma hatte ihn.    enthaltsort von Donia ändert sich nicht, der räumliche Bezug
     Aber irgendwann muss man den Jungen auch loslassen. Es ist        bleiben das Haus und die nähere Umgebung. „Bei Mädchen
     nicht immer einfach. Loslassen und man möchte ihn wieder          muss man besser aufpassen. Sie muss immer zu Hause blei-
     umarmen. Das ist ganz schön schwer.“ (Ulima) Die Beziehung        ben. Also, ich meine, das Mädchen soll nur rausgehen, wenn
     ist einerseits noch von körperlicher Zärtlichkeit geprägt, an-    das nicht anders geht. Kleine Mädchen dürfen sowieso nicht
     dererseits wird von beiden Seiten diese Körperlichkeit mit        alleine rausgehen. Wenn ich oder meine Mutter andere Fa-
     zunehmenden Alter abgelehnt. Auch wenn die Mutter und die         milien besuchen, ja, dann nehmen wir sie mit.“ (Ulima) Donia
     Großmutter noch die Hauptbezugspersonen des Jungen sind,          kommt nur sehr eingeschränkt mit der Außenwelt in Kontakt:
     wird die Zuordnung zum Vater forciert: „Irgendwann muss           sie begleitet die Mutter zu Besuchen bei Verwandten oder
     der Junge ja lernen, was es ist, ein Mann zu sein. Deshalb muss   Nachbarn. Im Gegensatz zu Khalid werden Donias Kontakte
     er mit dem Vater rausgehen. Er muss schauen, was draußen          über die Mutter vermittelt. Während die Mutter ihren Sohn
     los ist. Er muss alles kennen. Auch andere Stadtteile und so      bei der Neuorientierung am männlichen Geschlecht ohne
     weiter.“ (Fadi)                                                   Strenge positiv unterstützt, wird die Festigung der weiblichen

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Geschlechterrolle bei Donia streng überwacht und begleitet:
Hier bleibt die Autorität der Mutter unangreifbar und Unge-
horsam wird bestraft. In dieser Phase wird die Tochter gele-
gentlich zu kleinen Arbeiten im Haushalt herangezogen. Auch       3.2
soll sie lernen, sich in Anwesenheit anderer ruhig zu verhalten
und nicht zu sprechen, außer sie wird etwas gefragt. Zudem
                                                                  Sozialisation und Erziehung in
wird jedem Mädchen prinzipiell die Aufgabe der Fürsorge für       religiösen muslimischen Familien
jüngere Geschwister übertragen; diese Verantwortung wird
Jungen in aller Regel nicht gegeben.
   In den Interviews wird deutlich, dass sich bei Konflikten      In diesem Kapitel wird der Schwerpunkt am Beispiel der religi-
zwischen Ulima und Donia der Vater einschaltet, indem er sie      ösen Familien auf die religiöse Erziehung und religiöse Pflich-
durch ein Machtwort beendet. Während die Ehre bei Khalid          ten und Feste gelegt. Exemplarisch wird die Familie Karatepe
kämpferische Eigenschaften verlangt, so erfordert sie bei Do-     vorgestellt, um die Bedeutung der religiösen Erziehung besser
nia Schamhaftigkeit und Körperbeherrschung. Da der Vater          nachvollziehbar zu machen.
sich aus der geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung von
Donia weitgehend heraushält, ist die Vater-Tochter-Beziehung      Familie Karatepe im Profil
freundlich.
   Zur dargestellten geschlechtsspezifischen Erziehung muss       Die Karatepes stammen aus dem Landkreis der zentralanato-
folgendes hervorgehoben werden: Die Lebensgewohnheiten,           lischen Großstadt Kayseri, rund 250 Kilometer östlich von An-
Traditionen und Denkmuster ländlich-provinzieller Her-            kara. Die dortige Bevölkerung gilt in der Türkei als besonders
kunftsorte geraten in der Migration immer wieder in Kon-          religiös. Der Familienvater Abdullah wird 1939 in Kayseri ge-
flikt mit den in Deutschland erlebten Orientierungsmustern        boren, kommt 1969 als Gastarbeiter zunächst nach Hannover
und Normen. Dies führt oftmals dazu, dass umso stärker an         und zieht 1972 nach München. In der Türkei schließt Abdullah
jenen Werten und Traditionen festgehalten wird, die als we-       die obligatorische fünfjährige Grundschule ab, eine weiterge-
niger fremd beziehungsweise als „eigene“ erlebt oder gedeutet     hende Schul- und Berufsausbildung hat er nicht. Bevor er als
werden und gleichsam realisierbar erscheinen. Beispielsweise      sogenannter Gastarbeiter nach Deutschland kommt, arbeitet
kann die Erziehung in die Geschlechterrollen in der traditio-     er in Kayseri in einer kleinen Fabrik. Von 1972 bis 1999 arbeitet
nellen Form in der deutschen Gesellschaft nicht eins zu eins      Abdullah bei Siemens am Fließband, bis er mit 60 Jahren in
umgesetzt werden. So modifizieren die Jugendlichen diese tra-     Frührente geht. Die Mutter Gülbahar wird 1942 ebenfalls in
ditionellen Formen und entwickeln gewissermaßen neue, aber        der Nähe von Kayseri geboren. Sie besucht keine Schule und
aus den alten abgeleitete Denkmuster und Orientierungen.          kann nicht lesen und schreiben. Gülbahar folgt ihrem Mann

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1974 mit ihren drei Kindern nach München. Sie arbeitet eben-             des Islam werden demnach beiden Geschlechtern gleicherma-
falls bei Siemens, bis sie 1995 krankheitsbedingt ausscheidet.           ßen vermittelt: Shahada (die Annahme des Islam als Religion),
Gülbahar und Abdullah haben fünf gemeinsame Kinder, vier                 salat (das täglich fünfmal zu verrichtende Ritualgebet), zakat
Töchter und einen Sohn. Während die zwei älteren Töchter                 (Almosensteuer), saum (das Fasten im Monat Ramadan) sowie
und der Sohn keine Berufsausbildung nachweisen können,                   die Wallfahrt nach Mekka. Außerdem gehören zur religiösen
schließen die beiden jüngeren Töchter das Studium der Rechts-            Erziehung der Familien dieses Typus das Feiern der islami-
beziehungsweise Betriebswirtschaftslehre mit Erfolg ab.                  schen Feiertage, des Opfer- und Zuckerfests.
  Im Interview mit dem Vater der Familie Karatepe kommen
viele Themen zur Sprache. Den Schwerpunkt des Gesprächs
setzt Abdullah auf die religiöse Erziehung der Kinder und
Enkelkinder, die er wie folgt begründet:                                 Shahada      Glaubensbekenntnis

     „Ich bin schon über siebzig Jahre alt, und ich lebe schon seit 40    Die Annahme des Islam vollzieht sich mit dem Aussprechen
     Jahren in Deutschland. Ich bin immer religiös gewesen. Da wo         des Glaubensbekenntnisses. „Ashadu an la ilaha illa llah wa-as-
     wir her stammen, ist Religion sehr wichtig. Ich würde schon          hadu anna Muhammadan rasulullah“ – ins Deutsche übersetzt:
     sagen, dass ich für die Religion lebe. Meine Kinder habe ich        „Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt, und ich
     anständig, also nach den Regeln unserer Religion, erzogen.           bezeuge, dass Muhammad der Gesandte Gottes ist.“ Wie kann
     Meine Kinder erziehen ihre Kinder nach denselben Vorgaben.           aber ein neugeborenes Kind das Glaubensbekenntnis ablegen?
     Religiöse Erziehung bedeutet, dass die Kinder die Pflichten          Hierzu ein Zitat der Mutter Gülbahar:
     eines Moslems kennen und umsetzen. Diese Pflichten sind
      zum Beispiel Beten, Fasten, Almosen geben und natürlich die            „Wenn ein Kind auf die Welt kommt, kann das Kind nicht spre-
     muslimischen Feste.“                                                     chen. Natürlich ist dieses Kind Moslem, weil die Eltern diese
                                                                              Religion haben. Und wenn das Kind da ist, spricht man in sein
Abdullah rückt hier zwei Bereiche in den Mittelpunkt: die re-                 Ohr ‚Es gibt als Gott nur Allah und der Muhammad ist unser
ligiöse Erziehung innerhalb der Familie und die institutionelle               Prophet’. Natürlich spricht man dieses Glaubensbekenntnis
religiöse Erziehung.                                                          im Leben öfters aus, zum Beispiel bei bestimmten Gebeten.“

Die Bedeutung der religiösen Erziehung im Islam                          Kinder in religiösen Familien werden von klein auf mit re-
                                                                         ligiösen Ritualen vertraut gemacht. Das Kind lernt im Lau-
Wie Abdullah im Interview betont, bedeutet religiöse Erzie-              fe der Zeit, sich in unterschiedlichen Zusammenhängen
hung für ihn die Vermittlung der fünf Säulen. Die fünf Säulen            zu Gott und seinem Propheten zu bekennen. Das kann in

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unterschiedlichen Gebeten geschehen, wie Gülbahar betont,             Zakat    Almosensteuer
oder aber bei religiösen Schulungen oder Familienfesten.
                                                                       Almosenpflichtig ist jeder volljährige, gesunde und freie Mus-
Salat     Beten                                                       lim; der Ertrag der Steuer ist für die Armen und Bedürftigen
                                                                      bestimmt. Die Höhe der Almosensteuer richtet sich nach dem
Das bedeutendste religiöse Ritual ist für die größte Anzahl           Einkommen. Ausgenommen ist, wer Schulden hat oder nicht
der MuslimInnen das täglich fünfmalige Gebet. Aufgrund der            genug verdient. Die Almosensteuer hebt den sozialen Aspekt
Erwerbstätigkeit können nicht alle dieses Ritual regelmäßig           der religiösen Pflicht hervor: Der Wohlhabende soll durch die
einhalten. Aber mindestens das Freitagsgebet (mittags), das           Almosensteuer die Ärmeren unterstützen, sie soll an andere
mit dem sonntäglichen Kirchgang der ChristInnen verglichen            MuslimInnen ausgezahlt werden. Ein Blick auf die erziehe-
werden kann, soll eingehalten werden. Kinder und Jugendliche          rische Umsetzung zeigt, dass die Kinder zu dieser religiös
sollen die richtige Abfolge in ritualisierter Form, begleitet von     motivierten sozialen Pflicht angehalten werden.
gesprochenen Gebetsversen, erlernen und umsetzen. Es geht
nicht darum, die Bedeutung der arabisch gesprochenen Verse            Saum    Fasten
zu verstehen und nachzuvollziehen, sondern das auswendig
Gelernte soll korrekt wiedergegeben werden:                           Das Einhalten des Fastenmonats Ramadan ist in den Her-
                                                                      kunftsländern der MigrantInnen sehr verbreitet. Die Gläu-
     „Die Kinder müssen lernen, richtig zu beten. Natürlich müssen    bigen verstehen sich dabei als verpflichtet, einen Monat lang
     sie auch die richtige Körperhaltung haben und an bestimmten      von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nicht zu essen, nicht
     Stellen bestimmte Gebete aufsagen. (…) Die Gebete sind ara-      zu trinken und nicht zu rauchen. Am Abend – zwischen Son-
     bisch, die müssen arabisch sein. Ich kann auch kein Arabisch,    nenuntergang und Sonnenaufgang – kann wieder gegessen
     aber ich habe sie alle gelernt. Ich weiß nicht ganz genau, was   werden. Der Ramadan wird nach einem Monat mit dem drei
     jedes Wort bedeutet. Aber muss man auch nicht. Genauso           Tage anhaltenden Zuckerfest beendet. Die Fastenzeit liegt im
     müssen das die Kinder auch lernen.“ (Gülbahar)                   neunten Monat (Ramadan) des islamischen Mondkalenders,
                                                                      weil in diesem Monat die Offenbarung des Korans an den
Wie schon bei den konservativ-autoritären Familien beschrie-          Propheten Mohammed begann. Da MuslimInnen den beweg-
ben, werden auch hier bestimmte Werte und Normen ge-                  lichen Mondkalender nutzen, verschiebt sich der Fastenmonat
schlechtsspezifisch vermittelt, das heißt der Vater unterweist        jeweils um zehn bis elf Tage. Für viele MuslimInnen besteht
den Sohn, die Mutter die Töchter. Das tägliche Beten wird den         ein zentraler Sinn des Fastens darin, dass sich die oder der
Kindern in der Grundschulzeit beigebracht und soll spätestens         Gläubige durch Enthaltsamkeit die Bedeutung von Hunger
ab der Pubertät beherrscht werden.                                    und Durst vergegenwärtigt. Darüber hinaus wird das Fasten

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