GESELLSCHAFT - Internationales Forum Gastrosophie

 
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 GESELLSCHAFT

                                           Fotos: Maidje Meergans, Staffan Sundström

Kochen ist Handwerk
Die Auswahl der Zutaten
ist für das Team vom
Restaurant „ernst“ in
Berlin-Wedding die
Grundlage jeder Koch-
kunst. Alles wird selbst
vorbereitet, hier eine
Brandenburger Gans

20                         FOCUS 11/2019
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GENUSS

                                  Kochen ist Kunst
                              Für sein innovatives Konzept
                                bekam „ernst“-Chefkoch
                               Dylan Watson-Brawn aus
                               Kanada nun seinen ersten
                                     Stern – mit 25

             Die neue Gourmet-Fraktion
Die Küche ist ihre Bühne, Casual Fine Dining ihre Berufung: Die Sehnsucht nach
  dem Einzigartigen verändert die Art und Weise, wie wir essen. Und auch die
 Sterne-Gastronomie erfindet sich neu. Junge Köche servieren Hauptgänge
    mit nur einer einzigen Zutat oder zaubern ein ganzes Menü aus Desserts
         TEXT VON BARBARA   JUNG-ARNTZ, MARIKA SCHAERTL UND MARGOT ZESLAWSKI

                                                                               Maximal reduziert
                                                                               Das „ernst“ in Berlin
                                                                               serviert rund 30 Gänge
                                                                               mit je einem Produkt.
                                                                               Von links: leicht ge-
                                                                               räucherte und über
                                                                               Birkenholzkohle gegrillte
                                                                               Walnuss; pochierter,
                                                                               dann gerösteter
                                                                               Pfirsich; junge, süße
                                                                               Zwiebel, getrocknet
                                                                               und gedämpft

                                                                                                      21
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Eckart Witzigmann            Harald Wohlfahrt        Dieter Müller            Christian Jürgens
„Tantris“ und „Aubergine“    „Traube Tonbach“        „Schlosshotel Lerbach“   „Überfahrt“

Die alten Meister

V
       ier Männer, zwölf Sterne, verteidigt über
       Jahrzehnte: Dass auch die Deutschen ab
       den siebziger Jahren Geschmack am Fine
Dining fanden, ist vor allem diesen vier Künstlern
zu verdanken. Jeder von ihnen steht für einen
Gourmet-Trend. Eckart Witzigmann, 1994 als
„Koch des Jahrhunderts“ ausgezeichnet, lernte
unter anderem bei Paul Bocuse und etablierte
als erster 3-Sterne-Koch Deutschlands auch hier-
zulande die Nouvelle Cuisine. Mit seinen präzisen
Kreationen in der „Schwarzwaldstube“ erkochte
Harald Wohlfahrt zwischen 1993 und 2017
25-mal drei Sterne: Rekord. Dieter Müller
bereicherte die klassisch französische Tradition
in seinem Restaurant in Bergisch Gladbach
um asiatische Aromen. Und Christian Jürgens
entwickelte die Kochschule seines Lehrers
Witzigmann weiter, indem er Regionales und
Rustikales mit Haute Cuisine kombinierte.

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GENUSS

                                                                                                                       E
                                                                                                                                       inem Gourmet alter Schu-
                                                                                                                                       le dürfte schon die Gegend
                                                                                                                                       suspekt sein. Wedding, Mül-
                                                                                                                                       lerstraße, Shisha-Bars und
                                                                                                                                       Telefonshops. Am Jobcen-
                                                                                                                                       ter Mitte vorbei, dann am
                                                                                                                                       Urnenfriedhof Gerichtstra-
                                                                                                                                       ße, eine graue Fassade, eine
                                                                                                                       Klingel und der Name „ernst“. Hier also
Die französische Küche galt in ihrer Pracht als                                                                        findet das derzeit spannendste Gastro-
wichtigste Kulinarik-Referenz. Das ändert sich gerade                                                                  Experiment Deutschlands statt, in Ber-
                                                                                                                       lin schon länger entweder geliebt oder
                                                                                                                       gehasst, in jedem Fall gehypt und soeben
                                                                                                                       mit einem Stern des ehrwürdigen „Guide
                                                                                                                       Michelin“ ausgezeichnet: Im „ernst“
                                                                                                                       zelebriert der erst 25 Jahre alte Kanadier
                                                                                                                       Dylan Watson-Brawn das Produkt an sich.
                                                                                                                          Seine Menüs sind keine genialen Kom-
                                                                                                                       binationen verschiedener Aromen, jahr-
                                                                                                                                     zehntelang das Nonplusultra
                                                                                                                                     der Sterne-Gastronomie. Son-
    Maximal perfektioniert                                                                                                           dern eine knapp drei Stunden
    Ente, Kürbis, Lotus-                                                                                                             dauernde Hommage an rund
    und Lilienwurzeln                                                                                                                30 ursprüngliche Zutaten, die
    mit Innereiencreme,                                                                                                              hintereinanderweg serviert
    gekocht von Wohlfahrt-                                                                                                           werden: die Essenz eines sizi-
    Nachfolger Torsten                                                                                                               lianischen Pfirsichs, einer mär-
    Michel in der „Schwarz-                                                                                                          kischen Gurke, einer einzel-
    waldstube“ im Hotel                                                                                                              nen Karotte, im eigenen Saft
    „Traube Tonbach“ (l.).                                                                                                           gegart. Dazu erklären die Kell-
    Rechts: „Tomatenschnee-                                                                                                          ner den Gästen an zwölf The-
    ball“ mit Wildblüten von                                                                                                         kenplätzen die Bodenbeschaf-
    Christian Jürgens                                                                                                                fenheit des Möhrenackers, die
                                                                                                                                     Sonnenstunden in Sizilien, die
                                                                                                                                     Regenmenge vor der Gurken-
                                                                                                                       ernte und den Namen des jeweiligen
                                                                                                                       Bauern, gefolgt von einem herzlichen
                                                                                                                       „Enjoy!“.
                                                                                                                          Ein irres kulinarisches Erlebnis, so weit
                                                                                                                       weg von den weißen Tischdecken und
                                                                                                                       getäfelten Stuben der traditionellen deut-
                                                                                                                       schen Sterne-Küche, die bislang ja vor
                                                                                                                       allem im Schwarzwald stattfand, dass man
                                                                                                                       sich fragt, ob Gwendal Poullennec, der
                                                                                                                       neue Chef des „Guide Michelin“, viel-
                                                                                                                       leicht etwas zu lang an den 258 Positionen
                                                        Fotos: Traube Tonbach, dpa, Imago, Rene Riis, Martin Kreuzer

                                                                                                                       der Weinkarte herumprobiert hat. „Eine
                                                                                                                       unscheinbare Adresse, die es in sich hat!“,
                                                                                                                       heißt es über das „ernst“ in der gewohnt
                                                                                                                       kurzen Bewertung der neuesten Ausga-
                                                                                                                       be des roten Gourmet-Führers. Sogar ein
                                                                                                                       Ausrufezeichen ist den Testern das Res-
                                                                                                                       taurant wert.
                                                                                                                          Es tut sich etwas in Deutschlands Sterne-
                                                                                                                       Gastronomie. Begonnen hat diese neue
                                                                                                                       Phase des Fine Dining wahrscheinlich mit
                                                                                                                       dem Stern für das krasse Regionalkonzept
                                                                                                                       des wilden Berliner „Nobelhart & Schmut-
                                                                                                                       zig“ im Jahr 2016. Mit 309 besternten Res-
                                                                                                                       taurants hat Deutschland nun so viele

FOCUS 11/2019                                                                                                                                                     23
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GESELLSCHAFT

wie noch nie, und gerade die 38 Neuzu-        schen. „Rehumanisierung des Kochens“           unseres Essens auf Instagram, Snapchat
gänge zeigen, dass die Ära der Witzig-        nennt der Salzburger Gastrophilosoph           oder Facebook zeigen neben den Bildern
manns und Wohlfahrts, der Tischdecken,        und Publizist Harald Lemke („Szenarien         unseres letzten total außergewöhnlichen
Blumendekors und in Schönheit erstarrten      der Ernährungswende“) diesen Gegen-            Urlaubs in irgendeiner Geheimtipp-Des-
Menüabfolgen von Amuse-Bouche bis Pra-        trend zu international standardisiertem        tination, wer wir sind – oder zumindest,
liné langsam zu Ende geht. Diejenigen, für    Fast Food und der Lebensmittelindustrie.       wer wir gern wären.
die Fine Dining genau damit erst beginnt,       „Essen verbindet uns Menschen über-             Das Spiel mit dem Geheimtipp be-
werden im Schwarzwälder Gourmet-Dorf          all auf der Welt, und es verbindet uns         herrscht das Team des Berliner Restau-
                                                                                                               rants „Cookies Cream“
Die jungen Wilden                                                                                              noch viel besser als die
                                                                                                               Kollegen vom „ernst“ mit
                                                                                                               ihrer unscheinbaren Klin-
                                                                                                               gel im wilden Wedding.
                                                                                                               Testesser der „Guide
                                                                                                               Michelin“-Ausgabe von,
                                                                                                               sagen wir, 1999 hätten
                                                                                                               ein solches Restaurant
                                                                                                               niemals in die enge-
                                                                                                               re Wahl genommen –
                                                                                                               allein schon deshalb,
 René Frank                  Maike Menzel             Stephan Hentschel          Alexander Müller              weil sie es nicht gefun-
 „Coda“                      „Schwarzreiter“          „Cookies Cream“            „17fuffzig“                   den hätten. Das „Cookies
                                                                                                               Cream“ liegt – nein, es
                                                                                                               versteckt sich geradezu –
Baiersbronn mit seinen insgesamt acht        mit dem Planeten Erde“, so Lemke. Die           in einem dunklen, ranzigen Hinterhof
Sternen auf 15 000 Einwohner auch wei-       Rückbesinnung auf handwerklich produ-           mit Taubendreck und vollen Mülltonnen.

                                                                                                                                            Fotos: Maximilian Otto, Moritz Hoffmann, Paulina Hildesheim, Tino Schulz, Hotel Vier Jahreszeiten Kempinski München, White Kitchen Berlin
terhin glücklich. Harald Wohlfahrt selbst    zierte Mahlzeiten, auf den Faktor Mensch,       Das Lokal besitzt weder ein Logo noch
zum Beispiel, ein Vierteljahrhundert lang    beobachtet der Gesellschaftstheoretiker         irgendeine Plakette, die seine Existenz
Küchenchef der legendären „Schwarz-          in vielen Metropolen weltweit. „Uns ist         bezeugte. Der Gast muss vorab davon
waldstube“ im Hotel „Traube Tonbach“,        wieder bewusst geworden, dass wir sind,         gehört haben (Social Media), reservieren
genießt seinen Hummer nach wie vor lie-      was wir essen.“ Die Alternativkultur ist in     (dann erst bekommt er auch die Weg-
ber von Porzellan auf Tischdecke statt von   der Haute Cuisine angekommen.                   beschreibung zugemailt) und – wenn er
selbst getöpfertem Steingut: „Wenn man         Ein weiterer Grund für das, was „Guide        die Eingangstür gefunden hat – klingeln.
Streicheleinheiten für den Gaumen kre-       Michelin“-Chef Poullennec eine „unge-              Küchenchef Stephan Hentschel, 37,
iert, sollte auch der Rest passen.“          brochen positive Entwicklung“ im einsti-        Hipsterbärtchen, die langen roten Haare
                                             gen Gourmet-Banausenland nennt, dürf-           zum Zopf gebunden, steht in der offenen
Die neuen Konzepte sind anders – aber gut    te auch die wachsende Sehnsucht nach            Küche und freut sich, wenn die Leute ein
Doch das Schöne ist, dass der Rest in        einzigartigen Erlebnissen sein, nach dem        wenig irritiert bei ihm ankommen. „Geho-
Restaurants wie dem „ernst“ oder dem         Zauber des Besonderen, mit dem wir in           bene Gastronomie ist ein Gesamterleb-
vegetarischen Sterne-Haus „Cookies           sozialen Netzwerken unsere Individualität       nis. Wir wollen unseren Gästen die volle
Cream“ eben auch passt. Die Konzep-          unter Beweis stellen können. „Die westli-       Show bieten. Sie erwarten Berlin – und
te sind anders, aber stimmig. Kulturge-      che Kultur hat Essen schon früh zur sozi-       wir geben ihnen Berlin“, sagt der Sachse,
schichtlich galt die französische Küche      alen Distinktion eingesetzt“, sagt Lemke.       der als Jugendlicher der Techno-Nächte
mit ihrer kulinarischen Prachtentfaltung     Was wir essen – und was nicht –, ist heute      wegen in die Hauptstadt kam. Deshalb
jahrzehntelang als oberstes Paradigma        mehr denn je ein politisch-gesellschaftli-      kannte er das „Cookies“ schon lange,
der westlichen Gastronomie. Das löst sich    ches Statement von identitätsstiftender         bevor es ein Restaurant wurde: In den
gerade auf, im Zuge der Globalisierung       Kraft. Es ist ja kein Zufall, dass Köche        Räumen residierte zuvor ein Club. Die
und Digitalisierung entdecken Köche und      die neuen Helden sind, die wahlweise            Vorräte der Hentschel’schen Küche wer-
Konsumenten die Küche als Ort kreativen      den Nahostkonflikt lösen sollen (Yotam          den heute unter der ehemaligen Tanzflä-
Schaffens und eigener Authentizität, als     Ottolenghi) oder die Hungerkonflikte            che gebunkert.
Ort des Handwerks und auch des Politi-       weltweit (Massimo Bottura). Die Fotos              Bei der Umgestaltung des Clubs zum
                                                                                             Restaurant wurde allerdings nicht über-
                                                                                             trieben. Hinter einer schwarz gestriche-
                                                                                             nen, fensterlosen Bar mit Möbeln, die wie
                                                                                             vom Sperrmüll wirken (aber neu sind),
Was wir essen – und was nicht –, ist heute mehr denn                                         führt eine industrielle Metalltreppe in
                                                                                             den Speisesaal, in dem Rohre und Kabel
je ein politisch-gesellschaftliches Statement                                                lose über den Putz kriechen. Überall hän-
                                                                                             gen Lautsprecher, aus denen – na klar –
                                                                                             Techno wummert. Eine Disco-Kugel glit-

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GESELLSCHAFT - Internationales Forum Gastrosophie
GENUSS

zert. An der Wand ein riesiges Gemälde:         nach geschicktem Marketing, hat aber vor                    ke, allerdings mit dem nötigen Respekt
„ficken.“, steht da in großen Lettern –         allem damit zu tun, dass neue Konzepte                      für sein Publikum auf Tischdecken, mit
und etwas kleiner darunter: „American           sich nur dort entwickeln können, wo der                     Ente, Auster und Kaviar zwischendurch.
Express“. Definitiv nicht die Welt der tra-     Gast das Unperfekte gestattet. „Wir hat-                       So viele gute Neuigkeiten aus Deutsch-
ditionellen Michelin-Klientel.                  ten am Anfang nur Papierservietten“, sagt                   lands Küchen, allein eine schlechte
   Es gibt auch kein Tafelsilber. Keinen        René Frank vom „Coda“ in Neukölln, das                      wiederholt sich jedes Jahr, und das ist
Oberkellner mit Fliege. Das Personal bei        erste Dessert-Restaurant überhaupt, das                     angesichts der Modernisierung, Humani-
„Cookies Cream“ ist gepierct, tätowiert         der „Guide Michelin“ ausgezeichnet hat.                     sierung, Individualisierung wirklich zum
und bedient in Alltagsklamotten – mit           „Und wir haben drei Jahre gebraucht, um                     Weinen: Auf der deutschen Sterne-Liste
einer Lässigkeit, die sie sich als Vollprofis   unser Konzept ausprobieren zu können,                       finden sich nur zehn Frauen.
leisten können: Sie alle haben ihr Fach         um Fehler zu machen.“                                          Die jüngste heißt Maike Menzel, 29, sie
auf den renommiertesten Hotelschulen                                                                        kocht im Münchner Restaurant „Schwarz-
oder in anderen Spitzenlokalen gelernt.         Hinterhöfe als Kreativlabors für Köche                      reiter“ im Hotel „Vier Jahreszeiten“ und
   Auch das Menü wäre vom traditionel-          In satten Gegenden wie Berlin-Mitte,                        gibt beim Cappuccino in der Lobby-Bar
len Michelin kaum goutiert worden: Bei          München oder gar Baiersbronn ist das                        doch ein bisschen Hoffnung, dass auch
Hentschel gibt es weder Foie gras noch          kaum möglich, in Berlins kreativen                          hier demnächst eine Trendwende stattfin-
Hummer, Forelle nur zum Nachtisch – und         Nischen immer noch. Ob dieser Trend                         den wird. Ihr Restaurant ist gerade eine
dabei handelt es sich um eine alte Birnen-      von der Hauptstadt Richtung Provinz                         Baustelle, aber als Pop-up-Stätte mit Show-
sorte. Denn das „Cookies Cream“ koch-           ausstrahlt, werden Köche wie Alexan-                        küche dennoch in Betrieb. Erst Ende Juli
te von Beginn an komplett vegetarisch.          der Müller, 33, zeigen, der neue junge                      wird das eigentliche „Schwarzreiter“ wie-
Ein mutiges Konzept, das von Michelin           Küchenchef des Gourmet-Restaurants                          der eröffnen. Andere Bereiche des seit den
ebenso mutig fürs Jahr 2018, zum zehn-          „17fuffzig“ im Hotel „Bleiche Resort &                      Wittelsbachern bestehenden Hotels sind
jährigen Jubiläum des Restaurants, mit          Spa“ im Spreewald. Sein Vorgänger feier-                    schon modernisiert. Allein 20 Millionen
einem Stern belohnt wurde. Nie zuvor            te noch die französische Küche, er selbst                   Euro kostet der Umbau von Bar, Tagesbar
ist in Deutschland ein voll vegetarisches       interpretiert kongenial die Spreewaldgur-                   und Fine-Dining-Restaurant – diese gigan-
Restaurant ausgezeichnet worden,
mittlerweile sind es mit dem neu
dazugekommenen „Tian“ in Mün-                                                                                                        Maximal sortiert
chen schon drei.                                                                                                                     Maike Menzel
   „Dass so jemand wie wir beachtet                                                                                                  arrangiert Lamm,
wurde, zeugt klar von einem Gene-                                                                                                    Schwarzwurzel und
rationenwechsel bei Michelin“, sagt                                                                                                  Buchenpilze zu über-
Hentschel und schwört, er habe                                                                                                       sichtlich abstrakter
die Tester – „Inspektoren“ heißen                                                                                                    Teller-Kunst (l.).
sie bei Michelin – nicht bemerkt.                                                                                                    Patissier René Frank
„Offenbar sehen sie genauso aus                                                                                                      ehrt in Neukölln das
wie unsere normalen Gäste.“ Und                                                                                                      Dessert: Kiwi mit
zum Glück hat sie der düstere                                                                                                        Weizengras und
Hinterhof nicht abgeschreckt. Das                                                                                                    Himbeeren
„Cookies Cream“ hat für 2019 sei-
nen Stern halten können. Seit einiger Zeit      Die neue S-Klasse: Unsere Empfehlungen                      tisch große Kulinarik-Bühne von einer Frau
sitzt nun ein dickes Michelin-Männchen                                                                      bespielen zu lassen, und dann auch noch
aus Plastik auf dem Vordach. Sonst hat          „ernst“, Berlin               „Purs“, Andernach             von so einer jungen, ist ja schon mal ein
sich nichts verändert, weder die Musik          Für Foodies, die extreme      Neu und schon zwei Sterne:    Statement, das man den Betreibern des
noch der Habitus, nicht einmal die ver-         Experimente lieben            exquisite Aromaküche          Traditionshauses an der Maximilianstra-
gleichsweise günstigen Preise. Nur sind                                                                     ße gar nicht zugetraut hätte. Neun Köche
seit der Auszeichnung alle Tische immer         „Coda“, Berlin                „Köhlerstube“, Tonbach        und fünf Auszubildende hat Menzel unter
ausgebucht.                                     Dessert als Menü, in allen    Der kleine, günstige Bruder   sich, einige ein paar Jahre älter. Trotz ihrer
                                                Geschmacksrichtungen          der „Schwarzwaldstube“
   Der Trick mit der künstlichen Verknap-                                                                   schmalen Statur und leisen Art verschafft
pung sei den jungen Wilden gestattet,           „Kin Dee“, Berlin             „17fuffzig“, Spreewald        sie sich Respekt. Brüllende Chefs, die
Spaniens Molekularkoch Ferran Adrià hat         Authentisch thailändisch      Noch besser und inno-         Azubis Pfannen mit heißem Fett hinter-
mit seinem „El Bulli“ schließlich jahrelang     aus lokalen Produkten         vativer mit neuem Koch        herschmeißen, sind glücklicherweise auch
an der Legende gestrickt, dass man dort                                                                     nicht mehr angesagt. Dafür Young Ba-
eigentlich gar keinen Platz bekommt. Die        „Tian“, München               „100/200“, Hamburg            varian Cuisine, die Trüffel mit Tatar vom
„Doch drin!“-Statusmeldung auf Insta,           Vegetarisch-vegan, chic,      Industriedesign und krea-     bayerischen Ochsen mischt.
                                                gute Mittagskarte             tive „Nose to Tail“-Küche
WhatsApp oder Facebook ist dann umso                                                                           Der Oberbegriff heißt Casual Fine
mehr wert. Und dass so viele der neu-           „Schwarzreiter“,              „Sosein“, Heroldsberg         Dining. Oder wie es „ernst“-Chef Dylan
en experimentierfreudigen 1-Sterne-             München                       Die Vordenker der neuen       Watson-Brawn formuliert: „Wenn ein Ge-
Häuser in den struppigsten Gegenden             Young Bavarian Cuisine,       Regionalküche bekamen zu      richt zu perfekt wird, nehmen wir es von
Berlins liegen, klingt auch erst einmal         lässig, elegant, freundlich   Recht den zweiten Stern       der Karte.“n

FOCUS 11/2019                                                                                                                                          25
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