Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund - RKI
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Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund KAPITEL 6
▶▶ Frauen mit Migrationshintergrund sind eine hete rogene Gruppe; die Datenlage zur Gesundheit ist unzureichend. ▶▶ Soziodemografische und migrationsspezifische Faktoren beeinflussen die Gesundheit und das Gesundheitsverhalten von Frauen mit Migra tionshintergrund. ▶▶ Frauen mit Migrationshintergrund sind im Ver gleich zu Frauen ohne Migrationshintergrund seltener von bestimmten chronischen körper lichen Erkrankungen betroffen, leiden aber häu figer an einer depressiven Symptomatik. ▶▶ Frauen mit Migrationshintergrund konsumieren seltener Alkohol in riskanten Mengen; sie sind allerdings auch seltener sportlich aktiv. ▶▶ Unterschiede in der Inanspruchnahme von Leis tungen des Gesundheitssystems und der Qualität der Behandlung sind insbesondere auf sprachliche Barrieren zurückzuführen.
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 245 6 Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund 6.1 Einleitung Von den weltweit über 257 Millionen internatio- nal Migrierenden sind nahezu die Hälfte (48,4 %) Infobox 6.1.1 weiblich (Jahr 2017). In Deutschland beläuft sich Definition Migration und Migrationshinter- der Frauenanteil bei der internationalen Migration grund auf 50,2 % [1]. Menschen mit Migrationshinter- Internationale Migration bezeichnet die dauer- grund (siehe Infobox 6.1.1) sind im Vergleich zur hafte, grenzüberschreitende Verlagerung des Bevölkerung ohne Migrationshintergrund einer- Lebensmittelpunktes einer Person [13, 14]. Dieses seits spezifischen Gesundheitsrisiken ausgesetzt, biografische Ereignis beeinflusst nicht nur die andererseits weisen sie besondere gesundheitsre- Lebenssituation der Zugewanderten, sondern levante Ressourcen auf (religiös begründete Ableh- auch die der in Deutschland geborenen Nach- nung von Substanzkonsum, Ernährungsgewohn- kommen [10]. Um die gesellschaftliche Vielfalt in heiten, soziale Unterstützung) [2–4]. Zudem mig- Deutschland hinlänglich abzubilden, wurde im rieren häufig junge, gesunde Menschen mit einer Jahr 2005 mit der Novellierung des Mikrozen- niedrigeren Sterblichkeit als die Bevölkerung des susgesetzes das Konzept der „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ eingeführt: „Eine Per- Ziellandes („Healthy Migrant Effect“) [5–7]. Aller- son hat einen Migrationshintergrund, wenn dings steigt mit zunehmender Aufenthaltsdauer sie selbst oder mindestens ein Elternteil die das Risiko neuer Erkrankungen, die aus einer deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Ge- lebensstilbedingten Anpassung resultieren [5, 8]. burt besitzt“ [15]. Diese Definition ermöglicht Die Einflussgrößen auf die Gesundheit von die Berücksichtigung von Migrantengruppen Menschen mit Migrationshintergrund unter- mit deutscher Staatsangehörigkeit wie Spät- scheiden sich nach dem Geschlecht. So können aussiedlerinnen und Spätaussiedler oder einge- bereits im Herkunftsland geschlechtsbezogene bürgerte Personen [10, 16, 17]. Spätaussiedlerin- Expositionen wirken, die die Gesundheit noch im nen und Spätaussiedler sind Personen mit Zielland beeinflussen (z. B. weibliche Genitalver- deutscher Herkunft, die seit dem 01.01.1993 aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjet stümmelung (female genital mutilation, FGM)). union oder weiteren osteuropäischen Ländern Neben den kulturellen und sozialen Bedingun- nach Deutschland zugezogen sind [13, 15]. In den gen im Herkunftsland variieren auch die mit dem Gesundheitssurveys des Robert Koch-Instituts Migrationsprozess verbundenen Herausforderun- (RKI) wird der Migrationshintergrund über das gen zwischen Frauen und Männern. Im Zielland Geburtsland der/des Befragten und ihrer/seiner wirken ebenfalls geschlechtsbezogene Einflussgrö- Eltern bestimmt. Demnach weisen Personen ßen auf die gesundheitliche Situation von Frauen einen Migrationshintergrund auf, wenn sie ent- mit Migrationshintergrund: Einerseits können weder selbst aus einem anderen Land zugewan- positive Faktoren zum Tragen kommen, wie eine dert sind (1. Generation) oder mindestens ein El- selbstbestimmtere Rolle der Frau in der Gesell- ternteil im Ausland geboren ist (2. Generation) [4]. schaft, die in vielen aufnehmenden Ländern üblich ist. Andererseits können psychosoziale Belastun- -status, Sprachkenntnissen, Migrationsgeneration, gen (Diskriminierungserfahrungen, Trennung von Akkulturationsgrad oder religiösem Hintergrund Familienangehörigen) die Gesundheit von Frauen [10, 11]. Dementsprechend variieren die Gesundheits- (und auch von Männern) mit Migrationshinter- chancen und Krankheitsrisiken auch innerhalb der grund negativ beeinflussen [9]. Gruppe der Frauen mit Migrationshintergrund stark. Frauen mit Migrationshintergrund stellen Um auf der Grundlage einer datenbasierten eine in sich heterogene Bevölkerungsgruppe dar. Beschreibung der Gesundheit von Frauen mit Sie unterscheiden sich sowohl nach soziodemo- Migrationshintergrund mögliche gesundheits- grafischen (Alter, soziale Lage) als auch migrati- politische Handlungsfelder zu identifizieren, ist onsbezogenen Merkmalen wie Herkunftsland, eine zielgruppenspezifische Betrachtung bedeut- Motiven der Migration, Aufenthaltsdauer und sam. Allerdings liegen nur wenige Datenquellen
246 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund vor, die sowohl die gesundheitliche Lage als auch den Migrationshintergrund umfassend abbilden Infobox 6.1.3 und differenzierte Auswertungen für spezifische Daten zur Beschreibung der Gesundheit von (Herkunfts-)Gruppen oder nach der Aufenthalts- Frauen mit Migrationshintergrund dauer erlauben (siehe Infobox 6.1.2). Während Um repräsentative und differenzierte Aussagen das Gesundheitsverhalten von Frauen mit Migra zur Gesundheit von Frauen mit Migrationshin- tionshintergrund anhand einzelner Befragungs- tergrund treffen zu können, wurden für dieses daten unter Berücksichtigung der Heterogenität Kapitel Datenquellen ausgewählt, welche die der Bevölkerungsgruppe beschrieben werden kann Besonderheiten dieser Gruppe sowohl bei der (siehe Infobox 6.1.3), besteht „Konsens über den Stichprobenziehung als auch im Befragungs- fortbestehenden Mangel an repräsentativen Daten und Untersuchungsprogramm berücksichti- zur Präventionsteilhabe, zum Gesundheitsstatus gen. In der Studie zur Gesundheit Erwachsener und zur medizinischen Versorgung von Menschen in Deutschland (DEGS1, 2008 – 2011) wurden spezifische Maßnahmen zur Erhöhung der Be- mit Einwanderungsgeschichten“ [12]. Aufgrund teiligung von Menschen mit Migrationshinter- dieser Herausforderungen basieren die folgenden grund angewendet (Oversampling, d. h. die Ausführungen teilweise auf Studien, die auf spezi- überproportionale Berücksichtigung von Perso- fische Regionen und bestimmte Migrantengruppen nen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit bei begrenzt sind. der Stichprobenziehung, Einsatz mehrsprachi- ger Fragebögen) [22]. Allerdings sind nicht alle Subgruppen von Migrantinnen (und Migran- ten) in DEGS1 repräsentativ vertreten [4]. Eine repräsentative Einbindung von Familien Infobox 6.1.2 mit Migrationshintergrund gelang in der zwei- Datenbezogene Beschränkungen der ten Welle der Studie zur Gesundheit von Kin- Gesundheitsberichterstattung zu Frauen mit dern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS Migrationshintergrund Welle 2, 2014 – 2017) [23]. Dafür wurde nicht nur ein Oversampling von Kindern und Jugend In amtlichen Statistiken und Routinedaten des lichen mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit Gesundheitswesens (z. B. Abrechnungsdaten) durchgeführt, sondern auch ein Namenszuwei- wird häufig allenfalls die Staatsangehörigkeit sungsverfahren (onomastisches Verfahren) an- erhoben, wodurch bestimmte Gruppen von gewendet, um die Einladungsschreiben entspre- Frauen mit Migrationshintergrund (z. B. einge- chend der Herkunftssprache zu versenden. bürgerte Frauen) nicht identifizierbar sind. Dar- Weiterhin wurden die Erhebungsmaterialien über hinaus sind die Auswertungsmöglich übersetzt und die Feldteams waren interkulturell keiten aufgrund fehlender Informationen zur geschult. sozialen Lage, die empirisch bereits als relevan- te Einflussgröße zur Erklärung von gesundheit- Darüber hinaus sind für Fragestellungen zur ge- licher Ungleichheit belegt worden ist, deutlich sundheitlichen Lage von Menschen mit Migra eingeschränkt [2, 18, 19]. In (gesundheitswissen- tionshintergrund sowohl der Mikrozensus, der schaftlichen) Surveys sind Menschen mit Migra- aufgrund des Stichprobenumfangs Analysen tionshintergrund jedoch oftmals unterrepräsen- nach Subpopulationen ermöglicht [24], als auch tiert, d. h. der Anteil in der Befragung entspricht das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) wertvolle nicht ihrem Anteil in der Bevölkerung. Neben Datenquellen. Neben dem Oversampling be- der Stichprobenziehung über das Merkmal stimmter Migrantengruppen, der zusätzlichen „Staatsangehörigkeit“ werden durch sprach Anwendung eines onomastischen Verfahrens liche und kulturelle Barrieren bei der Datener- bei der Stichprobenziehung und dem Einsatz hebung bestimmte Teile der Bevölkerung mit übersetzter Erhebungsmaterialien bei Stichproben Migrationshintergrund von der Befragung aus- der Gesamtbevölkerung, werden im SOEP spezi geschlossen [2, 4, 20, 21]. fische Migrantenstichproben realisiert [25, 26].
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 247 6.2 Frauen mit Migrationshintergrund oder durch Einbürgerung und 0,6 % durch Adop- in Deutschland – Eckdaten tion [15]. Mit 13,3 % stellen Frauen mit türkischem Migra 6.2.1 Herkunftsländer, Aufenthaltsdauer tionshintergrund die größte Gruppe dar (Abb. und Motive der Migration 6.2.1.1), gefolgt von Polen (11,5 %), der Russischen Föderation (7,2 %), Kasachstan (6,4 %), Rumänien 24,6 % der Frauen in Deutschland haben einen (4,8 %), Italien (3,6 %) sowie Syrien (3,2 %). Dabei Migrationshintergrund (Jahr 2018). Von den zeigen sich im Hinblick auf die Herkunftslän- Frauen mit Migrationshintergrund sind knapp der der Bevölkerung mit Migrationshintergrund zwei Drittel (65,4 %) selbst zugewandert, d. h. Unterschiede nach dem Geschlecht: Während der sie sind im Kindes- oder Erwachsenenalter nach Anteil der Frauen an allen Migrierenden in Län- Deutschland gekommen. Ein kleinerer Teil der dern wie Syrien (39,5 %) und Pakistan (38,3 %) Frauen mit Migrationshintergrund ist in Deutsch- vergleichsweise niedrig ist, liegt der Frauenanteil land geboren und hat demzufolge keine eigene aus China (53,3 %) oder der Ukraine (58,8 %) über Migrationserfahrung (34,6 %). Knapp die Hälfte dem der Männer [15]. aller Frauen mit Migrationshintergrund besitzt Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer von einen ausländischen Pass (45,8 %). Einen deut- selbst zugewanderten Frauen variiert nach dem schen Pass besitzen 54,2 % aller Frauen mit Migra Herkunftsland (Abb. 6.2.1.2). Fast ein Drittel (31,9 %) tionshintergrund. Knapp die Hälfte von ihnen der Frauen mit türkischem Migrationshintergrund wurde mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren leben seit 40 und mehr Jahren in Deutschland. Dies (48,4 %), je ein Viertel (je 25,5 %) erlangte die deut- trifft hingegen nur auf jede 16. Frau aus Rumä- sche Staatsbürgerschaft als (Spät-)Aussiedlerin nien zu. Selbst zugewanderte Frauen aus Rumänien haben zu einem höheren Anteil eine Aufenthalts- Abbildung 6.2.1.1 Herkunftsländer und Staatsangehörigkeit der Frauen mit dauer von unter zehn Jahren (45,2 %) [15]. Migrationshintergrund in Deutschland Datenbasis: Mikrozensus 2018 [15] Abbildung 6.2.1.2 Aufenthaltsdauer von selbst zugewanderten Frauen nach den häufigsten Herkunftsländern Datenbasis: Mikrozensus 2018 [15] Anteil (%) 100 65,4 % sind selbst zugewandert 90 45,8 % haben eine ausländische 80 Staatsangehörigkeit 70 24,6 % der Frauen in Deutschland haben einen Migrationshintergrund 60 50 Die fünf häufigsten Herkunftsländer der 13,3 Frauen mit Migrationshintergrund (in %) 40 11,5 30 7,2 20 6,4 4,8 10 Türkei Polen Russische Kasachstan Rumänien Türkei Polen Kasachstan Russische Rumänien Föderation Föderation 40 und mehr Jahre 20 bis unter 40 Jahre 10 bis unter 20 Jahre unter 10 Jahre
248 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund Im Hinblick auf die Hauptmotive der Zuwande- keinen Schulabschluss im Vergleich zu 1,5 % der rung zeigen sich unter den selbst zugewanderten Frauen ohne Migrationshintergrund. Gleichzeitig Frauen ebenfalls herkunftslandspezifische Unter- ist der Anteil der Frauen mit Hochschulreife jedoch schiede: Fast drei Viertel (73,1 %) der syrischen höher als bei Frauen ohne Migrationshintergrund Frauen migrierten aus humanitären Gründen wie (31,0 % bzw. 23,6 %) oder bei Männern mit Migra Flucht oder Asyl. Unter den Frauen aus der Türkei tionshintergrund (28,0 %). Bei einer differenzier- (79,1 %), Kasachstan (72,4 %) und der Russischen ten Betrachtung nach den häufigsten Herkunfts- Föderation (65,6 %) liegt der Zuwanderungsanteil ländern werden deutliche Unterschiede innerhalb aufgrund von Familienzusammenführung und der Migrantinnengruppen sichtbar: So weisen 14,3 % der Familiengründung besonders hoch. Von den der Frauen mit türkischem und 25,6 % der Frauen Frauen mit kroatischem (33,3 %), bulgarischem mit russischem Migrationshintergrund eine Hoch- (33,3 %) und spanischem (27,7 %) Hintergrund schulreife auf. Im Hinblick auf den beruflichen werden zudem arbeitsbezogene Migrationsmotive Abschluss zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei den häufig genannt [15]. Schulabschlüssen: Ein Großteil der Frauen mit Migrationshintergrund verfügt über keinen beruf lichen Abschluss (38,8 % bzw. 16,6 % der Frauen 6.2.2 Alters- und Familienstruktur ohne Migrationshintergrund). Der Anteil an Hoch- schulabsolventinnen (ohne Promotion) liegt unter Mit einem Durchschnittsalter von 36,1 Jahren den Frauen mit Migrationshintergrund (14,5 %) aber sind Frauen mit Migrationshintergrund deutlich höher als unter den Frauen ohne Migrationshin- jünger als Frauen ohne Migrationshintergrund tergrund (10,0 %) [15]. Die Spreizung bei den schu (48,6 Jahre). Während 10,3 % der Mädchen ohne lischen und beruflichen Abschlüssen ist demnach Migrationshintergrund unter 15 Jahre alt sind, liegt unter Frauen mit Migrationshintergrund größer als der entsprechende Anteil unter den Mädchen mit unter Frauen ohne Migrationshintergrund. Migrationshintergrund mit 20,4 % doppelt so hoch. Demgegenüber beläuft sich der Anteil der 65-Jährigen und Älteren unter den Frauen mit 6.2.4 Erwerbsbeteiligung und wirtschaft- Migrationshintergrund auf 10,4 % und bei den liche Situation Frauen ohne Migrationshintergrund auf 27,3 % [15]. Frauen mit Migrationshintergrund (12,8 %) Der insgesamt überproportional hohe Anteil von leben seltener allein als Frauen ohne Migrations- Frauen mit Migrationshintergrund ohne schu hintergrund (24,0 %). Darüber hinaus leben sie lische sowie berufliche Qualifikation geht mit häufiger in einer Paarfamilie mit Kindern (27,8 % einer schlechteren Positionierung am Arbeits- bzw. 19,4 % der Frauen ohne Migrationshinter- markt einher: Frauen mit Migrationshintergrund grund). Bezüglich des Anteils an Verheirateten gibt weisen im Vergleich zu Männern mit Migrations- es keinen Unterschied zwischen Frauen mit und hintergrund und Personen ohne Migrationshin- ohne Migrationshintergrund (44,2 % bzw. 44,8 %). tergrund nicht nur die niedrigste Erwerbstätigen- Bei den Alleinerziehenden bestehen nur gering- quote und das geringste durchschnittliche Netto- fügige Unterschiede nach dem Migrationshinter- einkommen auf, sondern sie sind auch häufiger grund (Frauen mit Migrationshintergrund: 5,9 %, in einer geringfügigen Beschäftigung tätig [15, 27]. Frauen ohne Migrationshintergrund: 5,1 %) [15]. Darüber hinaus liegt die sogenannte Armutsge- fährdungsquote bei Frauen mit Migrationshinter- grund doppelt so hoch wie bei den Frauen ohne 6.2.3 Schulische und berufliche Qualifi- Migrationshintergrund (27,1 % bzw. 12,3 %) [15]. Als kation armutsgefährdet gilt, wem weniger als 60 % des Durchschnittseinkommens zur Verfügung steht Frauen mit Migrationshintergrund haben überpro- (bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen) portional häufig keinen Schulabschluss. Von allen [28]. Die Armutsgefährdungsquote unterschei- Frauen mit Migrationshintergrund, die nicht mehr det sich zudem deutlich nach den Herkunftslän- in Ausbildung bzw. schulpflichtig sind, haben 13,6 % dern: Frauen mit syrischem (78,2 %), irakischem
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 249 (69,2 %) sowie afghanischem (68,7 %) Migra (43,2 %) etwas über dem Wert für Frauen ohne tionshintergrund sind besonders häufig armuts- Migrationshintergrund liegt (39,2 %) (Abb. 6.3.2.1), gefährdet [15]. Vor dem Hintergrund des Zusam- werden Unterschiede deutlich, wenn man differen- menhangs zwischen der sozialen und gesund- zierter auswertet. Der Anteil der Frauen mit chro- heitlichen Ungleichheit [29] sind Frauen mit nischen Beschwerden ist unter den in Deutschland Migrationshintergrund infolge der mehrfachen geborenen Frauen mit Migrationshintergrund sozialen Benachteiligung besonderen gesundheit- sogar etwas niedriger (38,1 %) als unter Frauen lichen Risiken ausgesetzt [30, 31]. ohne Migrationshintergrund. Demgegenüber liegt der entsprechende Anteil unter den selbst zuge- wanderten Frauen mit 46,8 % deutlich höher. Eine 6.3 Gesundheitliche Situation von altersdifferenzierte Betrachtung zeigt, dass in der Frauen mit Migrationshintergrund Altersgruppe ab 60 Jahren sowohl selbst zugewan- derte Frauen als auch in Deutschland geborene 6.3.1 Subjektive Gesundheit Frauen mit Migrationshintergrund deutlich häu- figer von chronischen Beschwerden betroffen sind Der selbsteingeschätzte allgemeine Gesundheits- als Frauen ohne Migrationshintergrund. zustand steht in einem engen Zusammenhang Während die deskriptiven Auswertungen zu den mit funktionalen Einschränkungen, chronischen chronischen Beschwerden im Allgemeinen auf Erkrankungen und der Inanspruchnahme von gesundheitliche Nachteile der Frauen mit Migra- Leistungen des Gesundheitssystems [32, 33] (siehe tionshintergrund hindeuten, liegt nach den Daten Kapitel 2.1.2). Insgesamt bestehen nur geringfügige des SOEP für das Jahr 2015 sowohl die Lebenszeit- Unterschiede in der subjektiven Gesundheit zwi- prävalenz von Herzerkrankungen (inkl. Herzinsuf- schen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund. fizienz, Herzschwäche) als auch von chronischen Deskriptive Auswertungen der DEGS1-Studie zei- Rückenbeschwerden bei Frauen mit Migrations- gen, dass 71,0 % der Frauen mit Migrationshinter- hintergrund niedriger als bei Frauen ohne Migrati- grund und 74,3 % der Frauen ohne Migrationshin- onshintergrund (Abb. 6.3.2.1). Darüber hinaus zei- tergrund ihren allgemeinen Gesundheitszustand gen die Auswertungen, dass der Anteil einer jemals als gut oder sehr gut einschätzen. Allerdings variie- ärztlich diagnostizierten Diabeteserkrankung bei ren die Einschätzungen zur subjektiven Gesundheit Frauen mit Migrationshintergrund niedriger ist als nach der Generationszugehörigkeit: Selbst zuge- bei Frauen ohne Migrationshintergrund. Insbeson- wanderte Frauen bewerten ihre subjektive Gesund- dere selbst zugewanderte Frauen weisen mit 3,9 % heit signifikant schlechter als Frauen ohne Migra- eine fast halb so hohe Lebenszeitprävalenz von Dia- tionshintergrund. Dieser statistisch bedeutsame betes auf wie Frauen ohne Migrationshintergrund Effekt bleibt auch bei Berücksichtigung der Unter- schiede in der Altersstruktur und dem sozioökono- Abbildung 6.3.2.1 mischen Status (SES) bestehen. Für in Deutschland Chronische Beschwerden und ausgewählte Erkrankungen von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund geborene Frauen mit Migrationshintergrund zeigt Datenbasis: SOEP 2015/2016 sich kein derartiger Effekt [11]. 50 Anteil (%) 40 6.3.2 Körperliche Gesundheit 30 Im Hinblick auf das Vorliegen chronischer Erkran- 20 kungen deuten deskriptive Auswertungen des SOEP für das Jahr 2016 auf migrationsbezogene 10 Unterschiede hin. Gefragt wurde, ob die Frauen seit mindestens einem Jahr oder chronisch an Chronische Herz- Chronische Diabetes Beschwerden erkrankungen Rücken- bestimmten Beschwerden leiden. Während der beschwerden Anteil von Frauen mit Beschwerden unter den Frauen mit Migrationshintergrund Frauen mit Migrationshintergrund insgesamt Frauen ohne Migrationshintergrund
250 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund (7,5 %). Hierbei ist allerdings zu bedenken, dass Hautkrebs aufweisen, sondern u. a. auch für Krebs- Frauen mit Migrationshintergrund eine im Durch- erkrankungen des Atmungssystems [41]. Die niedri- schnitt jüngere Bevölkerungsgruppe sind als gere Inzidenz für Lungenkrebs unter den Frauen mit Frauen ohne Migrationshintergrund (siehe Kapi- Migrationshintergrund resultiert aus dem geringe- tel 6.2.2). Ein weiterer Erklärungsansatz könnte ren Anteil an Raucherinnen. Demgegenüber erklä- die zumeist niedrigere Inanspruchnahme medi- ren die höheren Prävalenzen für Helicobacter pylori zinischer Leistungen durch Menschen mit Migra- (Bakterium, das chronische Infektionen des Magens tionshintergrund sein. Eine vergleichende Studie verursacht) sowie spezifische Ernährungsgewohn- zu Schwangerschaftsdiabetes von türkischen und heiten in Teilen die höheren Erkrankungs- und Ster- deutschen Frauen auf der Grundlage einer namens- beraten für Magen- und Leberkrebs bei Frauen mit basierten Auswertung schwangerschaftsbezogener Migrationshintergrund [36, 39]. Zeitvergleichende Abrechnungsdaten der AOK Berlin zeigte, dass tür- Analysen zu Krebserkrankungen legen die Schluss- kischstämmige Frauen eine signifikant höhere Inzi- folgerung nahe, dass sich aufgrund der zunehmen- denz für Schwangerschaftsdiabetes aufweisen [34]. den Adaption des westlichen Lebensstils der Frauen Der scheinbar im Gegensatz zu den krank- mit Migrationshintergrund die Risikounterschiede heitsbezogenen Ergebnissen aus dem SOEP ste- zwischen den Bevölkerungsgruppen zukünftig ver- hende Befund, dass Frauen mit Migrationshinter- mutlich weiter verringern [40–42]. grund von nicht näher spezifizierten chronischen Beschwerden häufiger betroffen sind (Abb. 6.3.2.1), lässt sich möglicherweise durch spezielle Belastun- 6.3.3 Psychische Gesundheit gen und kulturelle Unterschiede im Krankheitsver- ständnis erklären. Auch hier könnte die zumeist Frauen mit Migrationshintergrund sind eine sehr niedrigere Inanspruchnahme medizinischer Leis- heterogene Gruppe (siehe Kapitel 6.2). Etwa zwei Drit- tungen durch Menschen mit Migrationshinter- tel sind selbst zugewandert, ein Drittel ist in Deutsch- grund eine Rolle spielen: Die Frage nach Erkran- land geboren. Sie unterscheiden sich hinsichtlich vie- kungen bezog sich auf jemals erhaltene ärztliche ler soziodemografischer und migrationsspezifischer Diagnosen. Die Frage nach chronischen Beschwer- Merkmale, darunter z. B. Herkunftsländer, Aufent- den war eine Selbsteinschätzung. haltsdauer, Motive der Migration, Aufenthaltssta- Die verfügbaren Studien zur Erkrankungs- tus. Die Studienlage zu psychischen Belastungen häufigkeit und Sterblichkeit an Krebserkrankun- und Ressourcen von Frauen mit Migrationshinter- gen konzentrieren sich auf spezifische Regionen grund bildet diese Vielfalt nicht gleichermaßen dif- und Migrantengruppen. Für Aussiedlerinnen und ferenziert ab. Die vorliegenden Arbeiten zeigen: In Frauen mit türkischem Migrationshintergrund Abhängigkeit von der persönlichen Situation kön- wurde nachgewiesen, dass im Vergleich zu Frauen nen Frauen mit Migrationshintergrund spezifischen ohne Migrationshintergrund keine Unterschiede in psychosozialen Anforderungen ausgesetzt sein, der Häufigkeit von Krebsneuerkrankungen beste- die in Kombination mit sozialer Benachteiligung hen (Gesamtkrebsinzidenz unter Berücksichtigung zu einer mehrfachen Belastung führen können von Unterschieden in der Altersstruktur der Grup- [7, 43, 44]. So kann die psychische Gesundheit pen) [35]. Die Sterblichkeit an Krebserkrankungen der Frauen durch ungünstige Wohn- und Arbeits (Gesamtkrebsmortalität) liegt sogar unter dem Wert bedingungen sowie eine unzureichende finanzielle der Vergleichsgruppe [36–40]. Im Hinblick auf ein- Absicherung beeinflusst werden. Daneben können zelne Krebsarten zeigen sich jedoch Unterschiede migrationsspezifische Faktoren auf die Gesundheit zwischen den Bevölkerungsgruppen: Während Aus- der Frauen einwirken. Dazu gehören Unsicherheiten siedlerinnen höhere Inzidenz- und Mortalitätsra- bzgl. der aufenthaltsrechtlichen Situation, insbeson- ten für Leber- und Magenkrebs aufweisen, sind die dere bei Asylsuchenden, Anpassungsanforderungen Raten für Lungen- und Brustkrebs niedriger als bei an die neue Gesellschaft und damit einhergehend die den Frauen ohne Migrationshintergrund [35–39]. neue Kultur (multipler Akkulturationsstress) aber Ein vergleichbares Bild ergibt sich für Frauen mit auch Diskriminierungserfahrungen, Erfahrungen türkischem Migrationshintergrund, die nicht nur von gesellschaftlicher Ablehnung und Fremden- niedrigere Neuerkrankungsraten für Brust- und feindlichkeit [44, 45, 46]. Bei speziellen Gruppen
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 251 von Frauen mit Migrationshintergrund, insbeson- dere Frauen mit Fluchterfahrungen, können trau- In einer 2016/2017 durchgeführten repräsentati- matisierende Erlebnisse, die im Zusammenhang ven Befragung unter Federführung der Charité mit dem Migrationsprozess selbst stehen (Flucht, – Universitätsmedizin Berlin wurden traumati- Folter, Verfolgung, sexuelle Gewalt) die psychische sche Erfahrungen geflüchteter Frauen im Hei- Gesundheit beeinflussen (siehe Infobox 6.3.1) [47]. matland und während der Flucht erhoben. 663 Neben den migrationsspezifischen Belastungen in Deutschland lebende Frauen, die aus Afgha- nistan, Syrien, Iran, Irak, Somalia und Eritrea verfügen Frauen mit Migrationshintergrund häufig geflüchtet waren, nahmen teil. Neben dem über wichtige Ressourcen, wie eine ausgeprägte sozi- Aufenthalt im Kriegsgebiet (54,8 %), Wohnungs ale Unterstützung und einen starken Zusammenhalt losigkeit (51,5 %), Hunger und Durst (46,3 %) innerhalb der Migrantenpopulationen [48]. sowie dem fehlenden Zugang zu medizinischer Studien zeigen, dass diese sozialen Ressour- Versorgung (35,9 %) wurden auch schwere Un- cen durch Familienmitglieder, Freundinnen und fälle (29,6 %), der unnatürliche Tod eines Fami- Freunde sowie Bekannte einen wesentlichen Ein- lienmitgliedes oder Freundes (27,1 %) sowie ge- fluss auf die Stressbewältigung [49], das psychische walttätige Angriffe durch Fremde (22,1 %) und Wohlbefinden und die Auftretenswahrscheinlich- Bekannte oder Familie (18,6 %) als Belastungen keit manifester psychischer Störungen ausüben genannt [58]. Die Zufriedenheit mit der eigenen Gesundheit wurde eher mäßig bewertet (mit können [50]. einem Mittelwert von 3,01 auf einer 5-stufi Allerdings liegen bislang kaum aussagekräf- gen-Skala). Nahtoderfahrungen, eine fehlende tige Studien zur psychischen Gesundheit von in Gesundheitsversorgung bei Krankheit sowie er- Deutschland lebenden Frauen mit Migrationshin- fahrene Angriffe durch ein Familienmitglied tergrund vor [51]. In einer bevölkerungsrepräsen- stellten hier bedeutsame Einflussfaktoren für tativen Befragung zur Prävalenz von psychischen die Selbsteinschätzung des Gesundheitszustan- Störungen zeigen sich marginale, statistisch nicht des dar [58]. bedeutsame Unterschiede nach dem Migrationshin- Eine 2017/2018 vom Wissenschaftlichen Insti- tergrund: So weisen Frauen mit Migrationshinter- tut der AOK (WIdO) durchgeführte Befragung grund leicht höhere Prävalenzen für Depressionen, von erwachsenen Geflüchteten aus Syrien, somatoforme Beschwerden (körperliche Beschwer- dem Irak und Afghanistan in Erstaufnahme- den ohne eine organische Ursache), generalisierte einrichtungen bestätigt dies (n = 2.021). Nur Angststörungen (Angstzustände ohne konkreten gut die Hälfte (55,1 %) der geflüchteten Frauen Anlass) und Posttraumatische Belastungsstörungen (n = 665) schätzen ihren Gesundheitszustand als gut oder sehr gut ein. Bei den geflüchteten auf als Frauen ohne Migrationshintergrund [52]. Männern liegt der Anteil bei 64,5 % [60]. Die Ergebnisse der oben genannten repräsentati- ven Befragung von 663 geflüchteten Frauen zeigen weiterhin, dass die Frauen eine große Infobox 6.3.1 Breite physischer sowie psychischer Sympto- Gesundheitliche Lage von geflüchteten Frauen me aufweisen. So sind Frauen mit Fluchterfah- Frauen mit Fluchterfahrung bilden eine beson- rung besonders häufig von Rücken- (33 %), ders vulnerable Gruppe. Sie sind vor, während Kopf- (32 %) und Muskelschmerzen (27 %) be- und nach der Flucht starken physischen sowie troffen. Daneben berichten die geflüchteten psychischen Belastungen ausgesetzt [57–59]. Frauen häufig von der Neigung zum Weinen Neben der Lebensgefahr infolge von Krieg und (52 %) und einer stark ausgeprägten Traurig- Terror in den jeweiligen Herkunftsländern stel- keit (40 %) [59]. Die psychische Belastung der len Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung Frauen kann durch die in Deutschland erfahre- (female genital mutilation, FGM), geschlechts- ne Diskriminierung sowie Stigmatisierung spezifische, restriktive Gesetze, erlebte Gewalt nochmals verstärkt werden [59]. Insbesondere und Angst vor Ehrenmord Fluchtgründe für bürokratische und sprachliche Barrieren er- Frauen dar [57]. Auch die Gefahr, Opfer von schweren geflüchteten Frauen die Inanspruch- Menschenhandel zu werden, kann Frauen zur nahme von Leistungen des Gesundheitssys- Flucht aus ihrem Heimatland bewegen. tems [59–61].
252 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund Auswertungen der DEGS1-Studie nach der Prävalenz bestimmter Infektionserkrankungen Migrationsgeneration zeigen, dass sowohl selbst in einigen Herkunftsländern können sowohl der zugewanderte Frauen (15,1 %) als auch Frauen der Migrationsprozess an sich als auch Bedingungen zweiten Generation (14,1 %) häufiger von einer im Zielland (Unterbringung in Gemeinschaftsunter- depressiven Symptomatik (PHQ-9) betroffen sind künften) das Risiko für eine Infektionserkrankung als Frauen ohne Migrationshintergrund (9,1 %). Bei erhöhen [64, 65]. Da nur für eine begrenzte Anzahl Berücksichtigung der unterschiedlichen Alters- meldepflichtiger Erkrankungen nach dem Infekti- struktur ist der Effekt allerdings nur für Frauen onsschutzgesetz Informationen zum Migrations- der ersten Migrationsgeneration signifikant [11]. hintergrund vorliegen [65], konzentrieren sich die Deskriptive Auswertungen des SOEP für das Jahr folgenden Darstellungen auf HIV und Tuberkulose. 2015 legen nahe, dass insbesondere in der Alters- Im Jahr 2018 wurden 2.818 HIV-Neudiagnosen gruppe ab 60 Jahren deutliche migrationsspezi- an das Robert Koch-Institut (RKI) übermittelt. 22 % fische Unterschiede zwischen den betrachteten der Betroffenen waren Frauen, 78 % Männer. Von Gruppen bestehen: Mit 19,3 % liegt der Anteil den HIV-Neudiagnosen mit Herkunftsangabe stam- einer jemals ärztlich diagnostizierten depressiven men 62 % der Betroffenen aus Deutschland; mit 15 % Erkrankung bei den selbst zugewanderten Frauen stellt Subsahara-Afrika die häufigste nicht-deutsche fast doppelt so hoch wie bei den Frauen ohne Migra Herkunftsregion unter den HIV-Neudiagnosen dar. tionshintergrund (11,5 %) und fast dreimal so hoch Im Hinblick auf die Herkunftsregionen zeigen sich wie bei den in Deutschland geborenen Frauen mit deutliche Unterschiede nach dem Geschlecht: Der Migrationshintergrund (6,9 %). Die höheren Prä- relative Anteil von Frauen an den HIV-Neudiagno- valenzen für depressive Symptome bei Frauen mit sen lag unter der Bevölkerung mit nicht-deutscher Migrationshintergrund, insbesondere der ersten Herkunft (37 %) deutlich höher als bei der Bevölke- Generation, werden nach aktueller nationaler sowie rung mit deutscher Herkunft (10 %). Dabei kamen internationaler Datenlage bestätigt [53, 54]. 65 % der Frauen nicht-deutscher Herkunft mit HIV- Suizidalität und suizidales Verhalten stehen in Neudiagnosen aus Subsahara-Afrika [66]. Bei der einem engen Zusammenhang mit der psychischen Bewertung der HIV-Meldedaten ist zu berücksichti- Gesundheit [44]. Eine Auswertung der Todesursa- gen, dass die Zahl der HIV-Neudiagnosen nicht mit chenstatistik für Deutschland legt nahe, dass die der tatsächlichen Zahl von Neuerkrankungen (HIV- Suizidrate der 18- bis 64-jährigen türkischen Frauen Inzidenz) gleichgesetzt werden kann. Dies ist darauf niedriger ist als die der gleichaltrigen deutschen zurückzuführen, dass zwischen der HIV-Infektion Frauen. Demgegenüber weisen türkische Mäd- und der HIV-Diagnose ein individuell unterschied chen und junge Frauen im Alter von 10 bis 17 Jah- licher Zeitraum liegen kann. Die Zahl der HIV-Neu- ren ein fast doppelt so hohes Suizidrisiko auf wie diagnosen wird außerdem durch verschiedene Fakto- Mädchen und junge Frauen der Altersgruppe ohne ren beeinflusst, z. B. dem Zugang zum Testangebot. Migrationshintergrund. Ein möglicher Erklärungs- In Deutschland wurden 5.429 Tuberkulose- ansatz bezieht sich auf kulturelle Konflikte infolge Erkrankungen für das Jahr 2018 registriert. Der traditioneller Normen und moderner Lebensformen überwiegende Teil der übermittelten Tuberkulose- [55, 56]. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, Fälle betrifft Personen mit ausländischer Staats- dass diese Auswertung auf Daten aus den Jahren angehörigkeit (69,8 %) und/oder Personen, die 1980 bis 1997 basiert. Eine weitere Einschränkung in einem anderen Land als Deutschland geboren besteht in der niedrigen Fallzahl für die 10- bis 17-jäh- sind (73,9 %). Dabei stellen Eritrea, Somalia, Rumä- rigen Mädchen mit türkischer Staatsangehörigkeit. nien, Afghanistan und die Türkei die am häufigs- ten übermittelten Geburtsländer (ohne Deutsch- land) dar. Neben der Staatsangehörigkeit und dem 6.3.4 Infektionskrankheiten Geburtsland zeigen sich deutliche Unterschiede nach dem Geschlecht: Männer mit ausländischer Infektionskrankheiten stellen insbesondere in Län- Staatsangehörigkeit (68,8 %) sind mehr als doppelt dern mit einem niedrigen Lebensstandard eine der so häufig betroffen wie Frauen mit ausländischer wesentlichen Ursachen für Erkrankungen sowie Staatsangehörigkeit (31,2 %). Von den 1.795 erkrank- Sterblichkeit dar [62, 63]. Neben der höheren ten Frauen weisen 32,5 % die deutsche und 62,8 %
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 253 eine ausländische Staatsangehörigkeit auf (unbe- Abbildung 6.4.1.1 kannte Staatsangehörigkeit: 4,7 %). Zudem zeigen Gesundheitsverhalten von 11- bis 17-jährigen Mädchen mit und ohne Migrationshintergrund sich Geschlechterunterschiede in der Tuberkulose- Datenbasis: KiGGS Welle 2 (2014 – 2017) Inzidenz nach der Altersverteilung, die bei den Anteil (%) Erkrankten mit nicht-deutscher Herkunft im jun- 50 gen Erwachsenenalter besonders stark ausgeprägt 40 sind: In der Altersgruppe der 15- bis 19-Jährigen war die Inzidenz der Männer mit ausländischer Staats- 30 angehörigkeit mehr als doppelt so hoch wie die der 20 Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit [67]. 10 6.4 Gesundheitsverhalten Sportlich inaktiv Übergewichtig Rauchen Riskanter Alkoholkonsum 6.4.1 Sportliche Aktivität Mädchen ohne Migrationshintergrund Mädchen mit Migrationshintergrund Körperliche Aktivität wirkt sich positiv auf die phy- sische sowie psychische Gesundheit aus und senkt 6.4.2 Übergewicht und Adipositas sowohl das Erkrankungs- als auch das Sterberisiko (siehe Kapitel 2.2.1) [68]. Eine spezifische Form der Übergewicht und insbesondere Adipositas sind Risi- körperlichen Aktivität stellt der Sport dar [69]. Die kofaktoren für Diabetes mellitus Typ 2, Herz-Kreis- Daten der DEGS1-Studie weisen darauf hin, dass lauf-Erkrankungen, Bluthochdruck und für einzelne Frauen mit Migrationshintergrund (44,4 %) – ins- Krebserkrankungen [71, 72]. Mit Hilfe des Body Mass besondere selbst zugewanderte Frauen (48,2 %) – Index (BMI), einem Quotienten aus Körpergewicht deutlich häufiger sportlich inaktiv sind als Frauen und Körpergröße (zum Quadrat), kann eine Klassi- ohne Migrationshintergrund (31,4 %). Der Zusam- fizierung in Unter-, Normal-, Übergewicht und Adi- menhang zwischen sportlicher Inaktivität und ers- positas vorgenommen werden (siehe Kapitel 2.2.3). ter Migrationsgeneration bleibt auch bei Berück- Zur Beschreibung des BMI von Frauen mit und sichtigung der Altersstruktur und des SES statis- ohne Migrationshintergrund empfiehlt sich auf- tisch bedeutsam [11]. Deskriptive Auswertungen grund der Stichprobengröße und der daraus resul- des SOEP von 2015 bestätigen die migrationsspezi- tierenden Möglichkeiten für differenzierte Auswer- fischen Ergebnisse der DEGS1-Studie im Hinblick tungen der Mikrozensus 2017, bei dem Selbstanga- auf die sportliche Inaktivität. ben zu Körpergröße und -gewicht erfasst werden. Langzeituntersuchungen belegen, dass das Der Anteil der übergewichtigen und adipösen Bewegungsverhalten im Kindes- und Jugendalter Frauen liegt unter den Frauen der zweiten Migra die körperliche Aktivität im Erwachsenenalter tionsgeneration mit 19,0 % (Übergewicht) bzw. beeinflusst [70]. Die Daten der KiGGS-Studie zei- 10,1 % (Adipositas) deutlich unter den Werten gen, dass der Anteil sportlich inaktiver Mädchen der selbst zugewanderten Frauen (Übergewicht: mit Migrationshintergrund signifikant höher ist als 27,9 %, Adipositas: 16,9 %) und der Frauen ohne unter den Mädchen ohne Migrationshintergrund Migrationshintergrund (Übergewicht: 28,3 %, Adi- (41,6 % bzw. 23,0 %) (Abb. 6.4.1.1). Zudem weisen positas: 14,2 %) [73]. die Daten auf einen deutlichen Unterschied in der Eine differenzierte Betrachtung der Adiposi- sportlichen Inaktivität zwischen Mädchen und Jun- tasprävalenz zeigt, dass die migrationsspezifischen gen mit Migrationshintergrund hin: So liegt der Unterschiede zum Teil auf Alterseffekte zurückzu- Anteil sportlich inaktiver Jungen mit Migrations- führen sind (Abb. 6.4.2.1). So steigt der Anteil adi- hintergrund mit 19,7 % nur halb so hoch wie bei pöser Frauen mit zunehmendem Alter unter den den Mädchen mit Migrationshintergrund. Dieser Frauen der ersten Migrationsgeneration stärker an geschlechtsbezogene Unterschied spiegelt sich als unter den Frauen ohne Migrationshintergrund. auch bei den Erwachsenen in der DEGS1-Studie Während 18,1 % der Frauen ohne Migrationshin- wider, wenngleich geringer ausgeprägt. tergrund ab 60 Jahren als adipös gelten, liegt der
254 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund Abbildung 6.4.2.1 Messwerte zu Körpergröße und -gewicht, wie sie Adipositas bei Frauen mit und ohne Migrationshinter- grund nach Alter im Rahmen des Untersuchungssurveys von KiGGS Datenbasis: Mikrozensus 2017 [73] bei Kindern und Jugendlichen standardisiert erho- ben werden, gelten im Vergleich zu Selbstangaben Anteil (%) 30 der Befragten als verlässlichere Kennzahlen (siehe auch Kapitel 2.2.3). Die KiGGS-Daten belegen, 25 dass insbesondere im Hinblick auf das Überge- 20 wicht migrationsspezifische Unterschiede bestehen (Abb. 6.4.1.1). So liegt in der Altersgruppe der 11- bis 15 17-Jährigen der Anteil übergewichtiger Mädchen 10 mit Migrationshintergrund (17,7 %) höher als in 5 der gleichaltrigen Vergleichsgruppe ohne Migra tionshintergrund (11,0 %). Bei einem als adipös klassifizierten BMI weichen die Anteile zwischen Frauen ohne Selbst In Deutschland Migrations- zugewanderte geborene Frauen Mädchen mit (5,2 %) und ohne Migrationshinter- hintergrund Frauen mit Migrations- grund (3,2 %) dagegen nur leicht voneinander ab. (1. Generation) hintergrund (2. Generation) 18 –39 Jahre 40 – 59 Jahre 60 Jahre und älter Gesamt 6.4.3 Tabakkonsum Anteil unter den selbst zugewanderten Frauen mit Auswertungen des Mikrozensus 2017 geben 29,1 % deutlich höher. Demgegenüber bestehen in Hinweise darauf, dass das Rauchverhalten von der jüngsten Altersgruppe (18 bis 39 Jahre) keine Frauen nach der Migrationsgeneration variiert Unterschiede in der Adipositasprävalenz nach dem (Abb. 6.4.3.1). Der Anteil an Raucherinnen ist bei Migrationshintergrund. Frauen der zweiten Generation (21,1 %) höher als Die Auswertungen weisen zudem auf herkunfts- bei selbst zugewanderten Frauen (17,6 %) und landspezifische Einflüsse hin: Frauen aus Kasachs- bei Frauen ohne Migrationshintergrund (18,9 %) tan (22,1 %) und der Russischen Föderation (21,9 %) [73]. Die höhere Raucherinnenquote unter den in sind häufiger von Adipositas betroffen als Frauen Deutschland geborenen Frauen mit Migrationshin- mit polnischem Migrationshintergrund (13,6 %). tergrund zeigt sich auch in den Ergebnissen der Abbildung 6.4.3.1 Raucherquoten von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund nach Alter Datenbasis: Mikrozensus 2017 [73] 35 Anteil (%) 30 25 20 15 10 5 Frauen ohne Selbst zugewanderte In Deutschland Spätaussiedlerinnen Migrations- Frauen geborene Frauen hintergrund (1. Generation) mit Migrations- hintergrund (2. Generation) 18 –39 Jahre 40 –59 Jahre 60 Jahre und älter Gesamt
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 255 DEGS1-Studie des RKI [11]. Ein möglicher Erklä- bestehen. Bei den Männern zeigt sich kein der- rungsansatz ist der Wandel kultureller Einstel- artiger Zusammenhang zwischen dem Konsum lungen und Werte der in Deutschland geborenen von Alkohol und der Migrationsgeneration. Diese und aufgewachsenen zweiten Generation, der im weisen jedoch im Vergleich zu den Frauen deut- Vergleich zu den selbst zugewanderten Frauen zu lich häufiger einen riskanten Alkoholkonsum auf einer Zunahme der Rauchprävalenz führt [74, 75]. (selbst zugewanderte Männer: 36,3 %) [11]. Spätaussiedlerinnen (siehe Infobox 6.1.1) weisen Für 11- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche mit 13,5 % die niedrigste Raucherinnenquote und zeigen sich ähnliche Ergebnisse bzgl. des Alko- mit 74,3 % den höchsten Anteil an Nieraucherin- holkonsums nach dem Migrationshintergrund nen auf [73]. Allerdings steigt ihre Rauchprävalenz (Abb. 6.4.1.1): Mädchen ohne Migrationshinter- mit zunehmender Aufenthaltsdauer (unabhängig grund (16,5 %) konsumieren signifikant häufiger vom Bildungsniveau). Dagegen geht unter den Alkohol in riskanten Mengen als Gleichaltrige mit männlichen Aussiedlern eine zunehmende Auf- Migrationshintergrund (5,2 %). Allerdings sind die enthaltsdauer mit einer sinkenden Rauchpräva- geschlechtsbezogenen Unterschiede im riskanten lenz einher [75]. Alkoholkonsum in dieser Altersgruppe weniger Auswertungen des Mikrozensus 2017 belegen stark ausgeprägt (Jungen mit Migrationshinter- weiterhin, dass herkunftslandspezifische Unter- grund: 6,0 %). schiede in der Rauchprävalenz bestehen. Wäh- rend Frauen mit bulgarischer Herkunft (34,0 %) die höchste Prävalenz für das Rauchen aufweisen, 6.5 Prävention und Gesundheits- ist der Anteil an Raucherinnen unter Frauen aus der versorgung von Frauen mit Russischen Föderation (9,8 %), asiatischen Ländern Migrationshintergrund (10,2 %) sowie Kasachstan (11,8 %) am niedrigsten. Bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwi- 6.5.1 Inanspruchnahme von Krebs- schen 11 und 17 Jahren zeigen sich weder her- früherkennungsuntersuchungen kunfts- noch geschlechtsbezogene Unterschiede in den Rauchprävalenzen (Abb. 6.4.1.1). KiGGS- Nach Angaben der DEGS1-Studie nehmen Frauen Auswertungen zum Rauchen in der Schwanger- mit Migrationshintergrund (57,1 %), insbeson- schaft belegen, dass die Prävalenz des mütterlichen dere Frauen der ersten Generation (55,6 %), sel- Rauchens in der Schwangerschaft bei Kindern mit tener regelmäßig an Krebsfrüherkennungsunter Migrationshintergrund niedriger ist [76]. suchungen teil als Frauen ohne Migrationshinter- grund (69,1 %). In einer registerbasierten Studie, bei der Daten 6.4.4 Alkoholkonsum aus Mammographie-Screening-Einheiten in Duis- burg, Bielefeld, Paderborn, Hamburg und Berlin Bisherige Forschungsergebnisse deuten auf einen ausgewertet wurden, zeigten sich keine wesent- kulturell sowie religiös begründeten Zusammen- lichen Unterschiede in der Mammographie-Teil- hang zwischen dem Konsum von Alkohol und nahme zwischen Frauen mit und ohne türkischen dem Vorliegen eines Migrationshintergrundes Migrationshintergrund. Lediglich ältere Frauen hin. Zudem bestehen innerhalb der Migranten- mit türkischer Herkunft (65 bis 69 Jahre) nahmen population starke Unterschiede im Alkoholkon- seltener am Mammographie-Screening teil. Zur sum nach dem Geschlecht und dem Herkunfts- Bestimmung der türkischen Herkunft wurde ein land [77, 78]. Namensalgorithmus verwendet [79]. In einer Stu- Nach Auswertungen der DEGS1-Studie wei- die in Westfalen-Lippe wurden zum Mammogra- sen insbesondere selbst zugewanderte Frauen phie-Screening eingeladene deutsche und türkische mit 18,6 % deutlich seltener einen riskanten Frauen ab 50 Jahren sowohl nach ihrem Wissen Alkoholkonsum auf als Frauen ohne Migrations- über als auch nach der Entscheidung zur Teilnahme hintergrund (26,9 %). Dieser statistisch bedeut- am Screening-Programm befragt. Mit 60,6 % beab- same Effekt bleibt unter Berücksichtigung der sichtigten Frauen mit türkischem Migrations- unterschiedlichen Altersstruktur und des SES hintergrund seltener am Screening-Programm
256 Kapitel 6 | Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund teilzunehmen als Frauen ohne Migrationshinter- standardisierten Interviews gewonnenen Befra- grund (74,6 %). Zudem wiesen Frauen mit türki- gungsdaten der Frauen mit den Mutterpassdaten schem Migrationshintergrund das geringste Wis- sowie den Perinataldaten der jeweiligen Geburts- sen über das Screening auf und besaßen ein sig- klinik verknüpft. Insgesamt belegen die Aus- nifikant größeres Risiko für eine uninformierte wertungen, dass in der Inanspruchnahme der Entscheidung zur Screening-Teilnahme als Frauen ärztlichen Schwangerenvorsorge weder Unter- ohne Migrationshintergrund [80]. In einer qualita- schiede im Hinblick auf die Anzahl noch bzgl. tiven Studie zu den Einflussfaktoren auf die Mam- des Zeitpunktes der Erstuntersuchung nach dem mographie-Screening-Teilnahme von Frauen mit Migrationshintergrund bestehen. Allerdings neh- türkischem Migrationshintergrund zeigte sich, men Frauen mit Migrationshintergrund, die eine dass unzureichende deutsche Sprachkenntnisse kurze Aufenthaltsdauer (unter fünf Jahren) aufwei- die größte Barriere darstellen. Sprach- und Überset- sen, später an der ersten Vorsorgeuntersuchung teil. zungsprobleme beim Lesen der Einladungsschrei- Darüber hinaus stellten sich sowohl der Aufenthalts- ben und der beigefügten Informationsmaterialien status als auch unzureichende Sprachkenntnisse als können zu einer unzureichenden Aufklärung der Risikofaktoren für eine geringe Nutzung (d. h. fünf Frauen über das Mammographie-Screening füh- oder weniger dokumentierte Vorsorgeuntersuchun- ren. Darüber hinaus erhöhen sprachliche Barrieren gen) heraus. Frauen mit Migrationshintergrund die Wahrscheinlichkeit, dass die Entscheidung zur nehmen zudem seltener nicht-ärztliche Angebote Mammographie-Screening-Teilnahme nicht durch wie Schwangerenvorsorge durch Hebammen oder die Frauen selbst, sondern von Familienangehö- Geburtsvorbereitungskurse wahr [83]. rigen getroffen wird [81]. Hervorzuheben ist das Die Erhebung belegt weiterhin, dass Frauen Angebot der Kooperationsgemeinschaft Mammo- mit Migrationshintergrund tendenziell geringere graphie: Sie stellt auf ihrer Internetseite Informa- Raten von Kaiserschnittentbindungen aufweisen tionsmaterialien in 13 verschiedenen Sprachen zur als Frauen ohne Migrationshintergrund [84, 85]. Verfügung [82]. Die oben genannte qualitative Stu- Allerdings liegen bisher keine aktuellen und ver- die zeigte allerdings auch, dass schriftliches Infor- lässlichen Studien zu den Einflussfaktoren auf mationsmaterial insgesamt, selbst wenn es auf Tür- den Entbindungsmodus bei Frauen mit Migra kisch vorlag, kaum verwendet wurde. tionshintergrund in Deutschland vor. Im Rahmen einer internationalen Metaanalyse wurden u. a. Kommunikationsprobleme, ein niedriger SES und 6.5.2 Inanspruchnahme von Unterversorgung während der Schwangerschaft gynäkologischen Leistungen als Risikofaktoren für Kaiserschnittentbindungen und Schwangerenvorsorge unter Frauen mit Migrationshintergrund identifi- ziert. Demgegenüber gelten sozio-kulturelle Ein- Neben dem Gesundheitszustand und -verhalten stellungen (Präferenz der vaginalen Geburt), ein im wurden in der DEGS1-Studie auch Angaben zur Durchschnitt jüngeres Alter der Frauen mit Migra- Gesundheitsversorgung erhoben. Deskriptive tionshintergrund bei Geburt sowie ein gesünderer Auswertungen belegen, dass zwischen Frauen Lebensstil als Schutzfaktoren in Bezug auf Kaiser- mit (67,2 %) und ohne Migrationshintergrund schnittentbindungen [86]. (70,9 %) nur geringfügige Unterschiede in der Inanspruchnahme von niedergelassenen Frauen ärztinnen bzw. Frauenärzten in den letzten zwölf 6.5.3 Inanspruchnahme von Monaten bestehen. Rehabilitationsmaßnahmen In einer Studie zur geburtshilflichen Versorgung bei 7.100 Frauen mit und ohne Migrationshinter- Im Rahmen von DEGS1 wurde die Teilnahme grund in drei Berliner Geburtskliniken (2011 – 2012) an von Kranken-, Renten- oder Unfallversiche- wurde der Einfluss soziodemografischer sowie rung gewährten Rehabilitationsmaßnahmen bzw. migrationsbezogener Merkmale auf das Inan- Anschluss-Heilbehandlungen in den letzten drei spruchnahmeverhalten der Schwangerenvorsor- Jahren erfasst. Die Auswertungen belegen, dass geangebote untersucht. Dazu wurden die aus keine Unterschiede in der Inanspruchnahme
Gesundheit von Frauen mit Migrationshintergrund | Kapitel 6 257 rehabilitativer Angebote zwischen Frauen mit Pflegebedürftigkeit betroffen sein (siehe auch (9,4 %) und ohne Migrationshintergrund (10,9 %) Kapitel 2.3.6) [18, 90, 91]. Allerdings liegen bis- bestehen. Infolge der im Durchschnitt höheren lang keine repräsentativen Daten zur Pflegebe- körperlichen Arbeitsbelastung und dem Älterwer- dürftigkeit und der Versorgungssituation von den der derzeit noch „jungen“ Gruppe von Frauen älteren Menschen mit Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund (siehe Kapitel 6.5.4) vor, einschließlich der spezifischen Pflege- und wird die Bedeutung rehabilitativer Angebote auf- Unterstützungsbedarfe [92, 93]. Eine vom Bun- grund des Risikos altersbedingter chronischer desministerium für Gesundheit in Auftrag gege- Erkrankungen zukünftig zunehmen [87, 88]. bene repräsentative Studie legt nahe, dass ältere Ergebnisse einer Studie zum Rehabilitations- Menschen mit Migrationshintergrund die beste- erfolg anhand von Routinedaten der Deutschen henden Angebote und Leistungen für pflegebe- Rentenversicherung in Rheinland und Westfalen dürftige Menschen und deren Angehörige seltener (2000 – 2006) legen nahe, dass Frauen mit türki- wahrnehmen als die Mehrheitsbevölkerung [94]. scher Herkunft rehabilitative Leistungen aufgrund Dies erscheint zunächst ungewöhnlich, leisteten einer psychischen/Verhaltensstörung tendenziell doch die in den 1950er- bis in die 1970er-Jahre häufiger (30,8 % bzw. 21,6 %) und Reha-Leistungen nach Deutschland gekommenen Arbeitsmigran- infolge von Neubildungen seltener in Anspruch ten („Gastarbeiter“) über einen längeren Zeitraum nehmen als Frauen ohne Migrationshintergrund hinweg schwere körperliche Arbeit, die mit einem (6,4 % bzw. 13,9 %). Zudem deuten die Ergebnisse höheren Risiko der vorzeitigen Erwerbsminderung auf Unterschiede im Rehabilitationserfolg hin: oder auch Pflegebedürftigkeit im Alter einhergeht. Während sich der Gesundheitszustand nach der Insgesamt lebt ein hoher Anteil der Menschen Rehabilitation bei 81,9 % der Frauen ohne Migra mit Migrationshintergrund unter ungünstigeren tionshintergrund verbesserte, stellte sich bei ledig- sozioökonomischen Bedingungen, die sich auf lich 70,8 % der Frauen mit Migrationshintergrund das Risiko für eine Pflegebedürftigkeit auswirken ein Rehabilitationserfolg ein. Insbesondere bei der können [95, 96]. Die Verbesserung des Zugangs Inanspruchnahme von rehabilitativen Leistungen zu Angeboten der Pflege, insbesondere für die aufgrund des Muskel-Skelett-Systems/Bindegewe- „erste Generation der Arbeitsmigranten“, wird im bes und psychischen/Verhaltensstörungen zeigen aktuellen Koalitionsvertrag hervorgehoben [97]. sich wesentliche Unterschiede im Behandlungs- Die Ursachen der geringeren Inanspruch- erfolg zuungunsten der Frauen mit türkischem nahme von gesetzlichen Pflegeleistungen durch Migrationshintergrund. Die migrationsspezifi- Menschen mit Migrationshintergrund können auf schen Unterschiede in den Behandlungsergebnis- unterschiedliche Barrieren zurückgeführt werden. sen bleiben auch bei statistischer Berücksichtigung Hierzu gehören u. a. Sprach- und Kulturbarrieren, der sozialen Merkmale bestehen [89]. Demzufolge Wissensdefizite und Diskriminierungserfahrungen unterscheiden sich Frauen mit und ohne Migra- (siehe Kapitel 6.5.5) [18, 98, 99]. Neben den Barrie tionshintergrund zwar nicht in der Inanspruch- ren können die hohen Solidarpotenziale in den nahme rehabilitativer Leistungen, jedoch in der Familien die geringere Inanspruchnahme erklä- Ergebnisqualität der Behandlung. Dieser Nachteil ren [100]. Nach Daten des Medizinischen Dienstes von Frauen mit Migrationshintergrund im Rehabi- der Krankenversicherung liegt der Anteil der von litationserfolg kann u. a. auf die sprachlichen und Angehörigen gepflegten türkischstämmigen Men- kulturellen Kommunikationsprobleme zurückge- schen bei 98 % [101]. Der hohe Anteil der häuslichen führt werden [87, 88]. Pflege ist möglicherweise auch darauf zurückzu- führen, dass Menschen mit Migrationshintergrund infolge der schlechteren Einkommenssituation 6.5.4 Migration und Pflege eher Geldleistungen statt Sachleistungen der Pfle- geversicherung (ambulante Pflege, Pflege in einer Im Zuge des demografischen Wandels nimmt der Pflegeeinrichtung) in Anspruch nehmen [94, 102]. Anteil älterer Menschen in Deutschland deutlich Es ist davon auszugehen, dass die Inanspruch- zu. Insbesondere Frauen werden aufgrund ihrer nahme gesetzlicher Pflegeleistungen – allein längeren Lebenserwartung häufiger von einer aufgrund der sich wandelnden demografischen
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