Glück gehabt?! Best of CARE-Schreibwettbewerb 2021
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CARE- Schreibwettbewerb 2021 Alle Texte und weitere Eindrücke der diesjährigen Preisverleihung findet ihr unter care.de/schreibwettbewerb. In den Texten wurden lediglich orthografische Fehler behoben.
Glück gehabt?! - Platzierungen eine Frage, die auch als Feststellung gelesen werden könnte, bot den Rahmen des diesjährigen 14 - 18 Jahre 19 - 25 Jahre CARE-Schreibwettbewerbs. 1 Juliane Schlick 1 Katrin Griebenow Seit nunmehr acht Jahren lädt CARE junge Menschen dazu ein, sich im Rahmen des CARE-Schreibwettbewerbs mit globalen Wo das Glück gemacht wird... | Seite 6 Die Volksempfängerin | Seite 16 Fragestellungen auseinanderzusetzen und ihre Gedanken zu Papier zu bringen. Der Wettbewerb richtet sich dabei an Jugendliche von 14 bis 18 Jahren und junge Erwachsene von 19 bis 25 Jahren. 2 Pia Marie Hegmann 2 Celine Frey Das goldene Bassin | Seite 10 Euphoria™ – Der Preis des Glücks | Seite 20 Unter dem diesjährigen Wettbewerbsthema „Glück gehabt?!“ stellten sich die jungen Autor:innen Fragen darüber, was es überhaupt bedeutet, Glück zu haben oder was eigentlich die Definition von Glück ist. Warum haben scheinbar 3 Annie Joon Bastheim 3 Inga Adams einige Menschen mehr davon als andere? Verdoppelt sich Glück, wenn wir es teilen? Und kann ich mehr Glück Überall Wasser | Seite 14 So viel Glück, es ist zum Kotzen | Seite 24 als Verstand haben? Egal ob Songtext, Gedicht, Kurzgeschichte, Essay oder Drama – alle Textformen waren willkommen. Insgesamt 387 Einsendungen aus Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Griechenland und 3 Inga Miksch Kamerun erreichten uns dieses Mal – wieder ein neuer Rekord! Wahnsinn! Die Antworten auf das Thema fielen Kinder ohne Namen. | Seite 28 sehr unterschiedlich aus: In manchen Texten wurden das Hoffnungsvolle und die Chancen, die im Glück liegen, herausgestellt. Für andere standen der Zufall, die Ungerechtigkeit und die Kehrseite des Glücks im Vordergrund. In vielen Texten spürten die Autor:innen auch der Essenz von Glück nach. Also dem Kern dessen, was Glück überhaupt ausmacht, wann Glück empfunden, erfahren oder wie es bewertet wird. Nominierungen Ein ganz großer Dank geht an die Jury der diesjährigen Wettbewerbsrunde – an den Soziologieprofessor Jan Delhey, 14 - 18 Jahre 19 - 25 Jahre den Musiker Philipp Dittberner, den Autoren Linus Giese, die Journalistin Alice Hasters und Sprecherin Maxi Häcke vom Podcast Feuer & Brot, die ehemalige Teilnehmerin und Preisträgerin Kathi Rettich und an unsere Kollegin Anne Weingarten Pia Wagner Sabine Wilke – für die gewissenhafte Ausübung ihres Amtes und die Unterstützung des Wettbewerbs. Außerdem Von den Klängen einer Ney in der Wüste | Seite 36 Brief an Fatimah | Seite 48 danken wir allen Gästen und Mitwirkenden der diesjährigen Preisverleihung, insbesondere Ralph Caspers, sowie Mira Rzany und Rani Dhupia für die liebevolle Gestaltung dieses Sammelbands. Ein besonderer Dank gilt auch der Nele Feldmann Franziska Flachs lit.COLOGNE für die tolle Unterstützung und die Möglichkeit, die Preisverleihung und Lesung auch in diesem Jahr Glücksflieger | Seite 40 Geburtstag | Seite 52 wieder im Rahmen des Literaturfestivals stattfinden zu lassen. Sven Beck Pauline Weinberg Das größte Dankeschön haben aber die über 380 kreativen Köpfe alles egal, was | Seite 44 Der Geigenspieler | Seite 56 verdient, die uns erneut mit ihren feinfühligen, konsequenten, kraftvollen, fantasievollen und auch zweifelnden und mit Silvia Nwadiuto Chike Prolog dem Glück ringenden Texten zum Nachdenken angeregt Das Glück post Pech | Seite 60 haben haben. Ohne eure Einsendungen wäre der CARE- Schreibwettbewerb so nicht möglich. Leider kann nur ein kleiner Ann-Kathrin Speckmann Teil aller Einsendungen einen Platz in diesem Sammelband Der glückbringende Grabstein | Seite 64 Inhalt finden. Umso mehr freuen wir uns auf die Beiträge zur nächsten Runde des Wettbewerbs. Viel Spaß beim Lesen wünscht das Team vom CARE-Schreibwettbewerb
Platzierungen 14 - 18 Jah re Platz 1: Juliane Schlick | Seite 6 Platz 2: Pia Marie Hegmann | Seite 10 Platz 3: Annie Joon Bastheim | Seite 14 19 - 25 Jah re Platz 1: Katrin Griebenow | Sei te 16 Platz 2: Celine Frey | Seite 20 Platz 3: Inga Adams | Seite 24 Platz 3: Inga Miksch | Seite 28
1 14 - 18 Jahre Wo das Glück gemacht wird... „Was für eine langweilige und eintönige stellen – ich bin nicht früh dran, sondern du Arbeit…“, murrte Raphael, während er einen zu spät! Mal wieder! Wenn das so weitergeht, neuen rot blinkenden Punkt, der unter ihm rufe ich… “Lailah schien das überhaupt nicht auf der riesigen digitalen Karte der Erde ver- zu interessieren, denn nach einer Analyse zeichnet war, irgendwo in Indien antippte. von Raphaels Becher unterbrach sie ihn er- Juliane Schlick Ein paar Sekunden später tauchte mit einem freut: „Meine Güte, du hast ja ein schlaues 18 Jahre zischenden Geräusch ein Becher in dem da- Kerlchen da im Glas. Wenn der mal nicht für geschaffenen Loch neben der Ersatztei- hochintelligent ist… warte, ich schau‘ mir le-Schublade unter der Arbeitsfläche auf. Es mal die Familie an, in der er das Licht der Welt war ein Becher, wie man ihn von Starbucks erblicken wird“, fügte sie extra dramatisch kannte, nur aus Glas. Gott wollte unbedingt hinzu, grinste breit und wendete sich der eine gute Qualität beim Eintüten der neuen Karte zu. Seelen, weswegen er die Plastikbecher bald nach ihrer Einführung wieder umtauschen Lailah begann immer näher heranzuzoo- ließ. Der Erzengel empfand diesen Aufwand men und die vorhandenen Informationen als unnötig. zu der Familie, die dieses Baby erwartet, herauszusuchen und durchzulesen. Raphael Nachdem er mit der rechten Hand das Glas schnaubte genervt und verdrehte die Augen. genommen hatte, öffnete er mit der linken Wenn alle so langsam arbeiten würden wie den Hängeschrank neben ihm. In ihm befan- sie, wäre irgendwann ein Haufen Kinder auf den sich unzählige Einmachgläser, gefüllt der Welt nicht bearbeitet und Gott würde mit unterschiedlich schimmernder Flüssig- sich mal wieder unglaublich aufregen. Der keit, zahlreichen Farben und Schattierun- Erzengel betrachtete kurz die Flüssigkeit im gen. Jede war auf ihre Weise einzigartig. Die Glas, die begonnen hatte sich in Schichten Seelen. Raphael schnappte sich gelangweilt abzusetzen, so wie Öl auf Wasser. Die gelbe eines der vorderen Gläser und während er Intelligenzschicht war tatsächlich über- es auf der Arbeitsfläche mit einem leisem durchschnittlich groß. „Plopp“ öffnete und mit dem ersten Shake vermischte, öffnete sich die Tür und Lailah „Aaaalso:“, unterbrach Lailah seine Gedan- kam herein. Gut gelaunt und zu spät zur ken und begann mit ihrer Berichterstattung, Schicht, wie immer. „Guten Morgen Erz- „es ist ein Mädchen, Geburt in ca. drei engelchen, du bist aber früh dran“, flötete sie Monaten, aber jetzt kommt‘s Raphi: Ihre Fa- und linste ihm von hinten über die Schulter. milie lebt in einem riesigen Slum in Mumbai „Guten Morgen, aber ich muss das richtig- und sie ist das sechste Kind ihrer Mutter.“ 6 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 14 - 18 Jahre 7
Raphael war gerade dabei das nächste Baby „Erstens nervst du mich und zweitens nervt „Oh Gott!“, entfuhr es Lailah. Sie war so ge- vorzubereiten, doch plötzlich hielt er inne. mich diese Arbeit.“ „Ach Samiel…“, seufzte schockt, dass ihr ihre nette Anspielung auf Er kannte den Slum Dharavi – wahrschein- Lailah mit einem Grinsen auf den Lippen. Gott gar nicht aufgefallen war. „Tja, was will lich sogar besser als Lailah. Vor seinem Wie konnte sie nur alles lustig finden? Ihr man machen“, sagte der Botenengel schul- inneren Auge sah er auf einmal die schäbige Kollege Samiel hatte ein – nach eigenen An- terzuckend. Er zwinkerte Lailah zu, als er ihr Hütte, in der das Mädchen wohnen würde, gaben – kleines „Experiment“ durchführen beim Rausgehen noch schnell das letzte Glas dessen Zukunft er gerade mit einer kleinen wollen. Er hatte den Shake einer Fledermaus des Tabletts in die Hand drückte. Handbewegung bestimmt hatte. Durch seine mittels spezieller Techniken verändert und ist Arbeit im großen Kongress, dem Kongress so für den Tod etlicher Menschen verant- Als er verschwunden war, bemerkte Raphael der Gerechtigkeit, kannte er diese Bilder und wortlich geworden. Er wurde natürlich auf mit gespielter Begeisterung: „Oh Lailah, das Elend. Er verstand gar nicht, wieso ihm der Stelle gefeuert. deine erste Seele heute? Cool!“ Erst jetzt er- dieser spezielle Fall so nahe ging, wo doch wachte sie aus ihrer Starre. seine tagtägliche Arbeit darin bestand, die Der Platz ist also freigeworden und da kein Gerechtigkeitsprobleme zu analysieren und niederer Engel mehr für diesen Job zu finden „Raphael, wir müssen etwas tun. Wir alle mit den höchsten Engeln über Lösungs- war, musste Raphael die Sache übernehmen. hier und du hast eine wichtige Position… möglichkeiten zu beraten. Halt… machte sich Und das ärgerte ihn gewaltig. Stillschwei- du kannst etwas bewegen.“ „Ach, das ist Lailah etwa über ihn lustig? Dass der große gend füllte er den Cocktail des Schweden und alles nicht so einfach… “Lailah unterbrach Kongress nicht allzu viele Erfolge zu verbu- auch Lailah war kurz davor, sich endlich mal ihn mit lauter Stimme: „Nein Raphael, hör chen hatte, war vielen Engeln bekannt, aber an die Arbeit zu machen. bitte einfach auf damit, alles im Keim zu er- diese Anspielung ging zu weit. sticken. Du bist ein Erzengel – sprich doch Doch sie wurden unterbrochen. Ein Botenen- mit Gott.“ „Ich bin schlicht und einfach rea- „Ja, Lailah, das reicht jetzt auch schon wie- gel platzte mit einem voll beladenen Tablett listisch und…“, Raphaels aggressive Stimme der. Wir wissen ja, dass es auf der Welt ein mit Seelen hinein. „Hallihallo“, rief er und verstummte schlagartig, als sich die Tür Gerechtigkeitsproblem gibt. Das musst du mit einem Blick auf die viel zu wenigen fer- öffnete. Es war Gott. Oft schlenderte er durch jetzt auch nicht so hinstellen, als wäre es tigen Shakes fügte er hinzu: „Na ihr wart ja die Gänge, um nach dem Rechten zu sehen. etwas ganz Neues“, gab er ihr barsch zurück schon superfleißig heute, Respekt.“ Raphael „Was gibt’s?“, fragte er bestimmt. Lailah war und machte sich schnell daran auf einen schnaubte und rollte mit den Augen. Lailah still, doch die auffordernden Blicke, die sie weiteren roten Punkt zu drücken. Diesmal in kicherte. Der Botenengel machte sich daran, Raphael zuwarf, sprachen für sich. Der Erz- Schweden. die Seelen in den Schrank zu schichten, engel atmete tief durch: während er zu erzählen begann: „Das ist ein „Uiuiui, heute mit dem falschen Flügel auf- ganzes Flüchtlingsboot. Die Ladung haben „Gott, ich möchte mit dir über die Ungerech- gestanden, oder was?“, fragte Lailah, hob wir gerade frisch bekommen.“ tigkeit in der Welt sprechen.“ abwehrend die Hände und kicherte über ihre geniale Abwandlung des Menschen- sprichworts. „Nein ehrlich. Warum bist du so schlecht drauf?“ 8 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 14 - 18 Jahre 9
Pia Marie Hegmann 2 18 Jahre 14 - 18 Jahre Das goldene Bassin (Ein Bassin von den Ausmaßen eines Stau- (MANN schnaubt angewidert. FRAU dreht sees, eingelassen in einen Berghang. Links sich um und sieht zusammen mit ihm über fließt ein goldener Bach in das Becken; an den Rand des Bassins.) dessen rechter unterer Seite liegt ein mäch- tiger Staudamm aus riesigen Felsblöcken FRAU: Oh, doch nicht, schau. Sie werden vor einem schmalen, trockenen Flussbett. wieder zurückgeschickt. (Verzieht kurz das Dieses führt den Berghang hinab, offenbar Gesicht.) Oh. Das sah schmerzhaft aus. in ein Tal, das wir aus unserer Perspektive jedoch nicht sehen. Das Licht ist weich, fast MANN: Sie wollen es auch einfach nicht so golden wie die Flüssigkeit in dem Bassin. anders. (Beide wenden sich wieder einander Darin sitzen verschiedene Personen. Vorn in zu.) der Mitte baden ein MANN und eine FRAU. Sie sind einander zugewandt, bis der MANN FRAU: Weißt du, was Betty mir vorhin er- einen Blick in Richtung Tal wirft, das tro- zählt hat? Anscheinend rasen wir auf eine ckene Flussbett entlang.) Katastrophe zu. MANN (dreht sich ganz in Richtung Tal): Oh MANN: Unsinn. Wie das denn? nein. Es kommen wieder welche. FRAU: Ach, keine Ahnung… irgendwie hat FRAU (lehnt entspannt am Rand des Bassins, es damit zu tun, dass unser Bassin immer halb geschlossene Augen): Schon wieder? voller wird. MANN: Ja. Meine Güte, wie viele sind die da MANN: Ach so, das habe ich auch schon ge- unten eigentlich? hört. Und dass die da unten deshalb anschei- nend Probleme haben. Die Armen. Gut, dass FRAU: Vermehren sich wie die Fliegen. wir Glück haben und hier oben sind. MANN: Dass die aber immer noch glauben, FRAU: Betty sagt, dass wir irgendwann auch wir hätten hier genug Platz. So groß ist die- Probleme kriegen, wenn das so weitergeht. ses Becken auch wieder nicht. MANN: Sowas. FRAU (sieht auf): Am Ende nehmen die uns noch unseren Platz hier drin weg. 10 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 14 - 18 Jahre 11
FRAU: Und sie sagt, dass wir vielleicht… ver- FRAU: Vielleicht ist es das, was Betty meinte. MANN: Ach was. Bevor so etwas passiert, zichten müssten, weil wir sonst möglicher- (Sie taucht abwesend eine goldene Hand in bauen wir einfach einen größeren Damm. weise alles verlieren. die goldene Substanz im Bassin.) Sie sollten auch mal wieder den Beckenrand erhöhen. FRAU: Das meinte ich. Meinst Du, wir kön- MANN: Aber das geht doch gar nicht. Viel passt hier nicht mehr rein. nen bis in alle Ewigkeit größere Staudämme bauen? FRAU: Das hab ich mir auch gedacht. Ich MANN: Das werden sie sicher, Schatz. (Er meine – Verzichten – das würde ja bedeuten, deutet den Hang hinab; auch sein Arm ist MANN (überlegt lange): Vielleicht hast du dass wir nicht immer mehr haben. golden.) Oh, schau mal, da kommen wieder Recht. Jemand sollte etwas ändern. welche. MANN: Betty war schon immer ein bisschen FRAU: Unbedingt. Jemand muss eine Lösung hysterisch. Verzichten – wie lächerlich. FRAU: Als ob sie hier noch reinpassen wür- finden. den. FRAU: Abstrakt. (Stille. FRAU räkelt sich. MANN: Mach dir keine Sorgen. Irgendje- Ihre ganzen Arme sind von der Flüssigkeit MANN: Lächerlich. Aber schau, sie werden mand macht das bestimmt irgendwann. golden überzogen. Rechts von ihnen fügen zurückgeschickt. (Stille. Die ARBEITER ver- einige ARBEITER dem Staudamm neue Stei- lassen den Damm.) FRAU: Du hast Recht. Irgendwann wird das ne hinzu.) jemand machen. FRAU: Weißt du, manchmal frage ich mich, FRAU: Oh, schau mal, sie reformieren den ob das hier ewig so weitergeht. (Die beiden sehen glücklich nach vorne, die Damm. Gesichter von der Abendsonne erleuchtet. MANN: Wie meinst du das? Rechts von ihnen bekommt der Damm Ris- MANN: Wurde auch Zeit, ich hatte schon se.) Angst, dass er demnächst bricht. Das hätte FRAU: Du weißt schon. Was, wenn der Damm richtig gefährlich werden können. irgendwann bricht? Wenn Betty Recht hat, würden alle weggespült werden und ertrin- ken. Alle – wir hier oben und die da unten auch. 12 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 14 - 18 Jahre 13
3 14 - 18 Jahre Überall Wasser Annie Joon Bastheim 16 Jahre Brausend schlagen die Wellen von allen Seiten, Als sich meine Augen wieder öffnen, treibe ich auf so als wäre es ihre einzige Aufgabe, das Boot dem Wasser. Um mich herum schwimmen leblose einzusaugen und nie wieder freizugeben. Es Körper. Ich schreie nicht. Ich fühle mich nicht im scheint mir, als würde sich das Wasser von oben Stande zu schreien. Trauern tue ich auch nicht. Ich mit dem Wasser von unten verbinden wollen, um habe niemanden mehr, um den ich hätte trauern eine erdrückende Blase um mich und das Boot können. Ruckartig blitzen Erinnerungen in mir zu bilden. Der Wind kommt von allen Seiten. hoch. Sie enden mit einem tödlichen Knall, der nur Ich bin nirgendswo sicher. Ich klammere mich in meinem Kopf stattfindet. Stattdessen schaue ich schreiend an einem orangenen Reifen fest. Alle mich um. Weit und breit ist nichts als Wasser zu schreien. Es kommt mir vor, als würden meine sehen. Ich glaube es nicht. Ich kann es nicht glau- Arme brechen und meine Stimmenbänder reißen. ben. Ich darf es nicht glauben. Ich schließe meine Dennoch schreie ich weiter. Ich spüre das eiskalte Augen, in der Hoffnung, ich könnte dadurch das Salzwasser auf meiner Haut. Es scheint mich an- Wasser auslöschen. zugreifen. Es dringt in meine trockene Haut und saugt sie aus. Dort, wo meine Haut aufgeplatzt Glück? Was ist das eigentlich? Wer hat Glück? Hatte ist, fällt es dem Wasser noch leichter. Es ist, als ich Glück? Dies frage ich mich schon seit fünf würde sich jedes einzelne Salzkorn tanzend Jahren. Schweißgebadet wache ich jede Nacht auf. vor Vergnügen an meinen Schmerzen ergötzen. Ich sehe überall Wasser um mich herum. Überall Plötzlich werde ich gegen die Innenseite der Wasser. Überall. Mit zitternden Beinen erhebe ich Bootswand gedrückt und damit der Sauerstoff in mich von meiner Matratze und schnappe keuchend einem Zug aus mir. Panisch reiße ich die Augen nach Luft. Mir ist kalt. Ich fühle mich leer und auf, als ich merke, wie das Boot zur Seite kippt. ausgesaugt. Es fühlt sich an, als wäre mein Herz Mit einem Mal ist es still. Wasser umhüllt mich. ein schwarzes Loch, mit der einzigen Aufgabe, Sofort kneife ich die Augen zusammen. Sie bren- jedes gute Gefühl einzusaugen und nie wieder frei nen. Alles brennt. Ich sinke immer weiter nach zu geben. Ich halte es nicht mehr aus. Alle sagen, unten in eine bodenlose Tiefe. Hektisch strampe- ich hätte Glück gehabt. Sie wissen nicht, was in le ich mit den Füßen. Ich weiß, dass ich nach oben mir ist. Ich kann nicht klar denken. Ich müsste muss. Meine Füße zappeln weiter, wie Fische, glücklich sein. Wer hat schon so viel Glück, sich an wenn sie frisch aus dem Wasser kommen. Plötz- einen Rettungsring klammern zu können, wenn lich werde ich bewegungsunfähig. Die einzigen das Boot sinkt? Warum ich? Wer hat so viel Glück, Muskeln, die noch arbeitsfähig erscheinen, sind nicht vom Wasser verschluckt zu werden und dann die, die sich krampfhaft um den Reifen klam- leblos wieder hochgewürgt zu werden? Warum ich? mern. Langsam treibe ich zur Wasseroberfläche. Wieso hatte ich mehr Glück als meine Familie? Wa- Gierig recke ich meinen Kopf aus dem Wasser und rum ich? Diese Fragen zerren an mir. Sie sind wie sauge die Luft ein, doch eine riesige Welle packt Eisenketten an meinen Füßen, die mich nach unten mich und reißt mich mit. Ich überschlage mich ziehen. Ich taumele zu meinem Spiegel. Ich sehe mehrmals. Wie in Trance schlüpfe ich ganz in den mir tief in die Augen. Der Schmerz blickt zurück. Reifen. Danach wird mir schwarz vor Augen und Ich fühle mich schuldig. Ich fühle mich schuldig, eine befreiende Dunkelheit deckt mich zu. Glück gehabt zu haben. 14 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 14 - 18 Jahre 15
1 19 - 25 Jahre Die Volksempfängerin Katrin Griebenow Der 16. September 1933 war in vielerlei Hin- Allerdings stellte ich bald fest, dass ich mit 23 Jahre sicht wohl der glücklichste Tag meines den technischen Möglichkeiten des Volks- Lebens, denn als ich von der Schule nach empfängers noch nicht zufrieden war. An Hause kam und den kleinen Laden meiner einem verregneten Tag im Jahr 1937 hatte ich Eltern betrat, stand dort auf dem Verkaufs- es geschafft, den Flämischen Rundfunk Ant- tresen ein brandneuer Volksempfänger. Ich werpen einzustellen und lauschte gebannt war begeistert. Mein Papa sagte, die Stirn einem Hörspiel, das „Der Prozess der Jeanne in sorgenvolle Falten geschlagen, es sei d’Arc zu Rouen 1431“ hieß. Leider konnte ich nun wichtiger denn je, das Tagesgesche- nicht alles verstehen, weil der Empfang so hen zu verfolgen. Also dudelte, schnatterte rauschte, und dann kurz vor Ende brach das und rauschte der kleine metallene Kasten Signal einfach ab. Ich ärgerte mich so sehr, zwischen den Büchern und Zeitschriften dass ich die Geschichte nicht noch einmal geschäftig vor sich hin und ich saß daneben hören konnte und wollte unbedingt wissen, und lauschte. Dank des Volksempfängers was mit Jeanne passiert war. Deshalb über- erfuhr ich nicht länger nur Neues aus den legte ich, den Volksempfänger aufzuschrau- Straßen von Laurensberg, sondern auch, was ben, um herauszufinden, wie er funktionier- in Aachen passierte oder sogar in Berlin und te, sodass ich ihn einfach umbauen konnte. München. Ich konnte ganze Theaterstücke Ich wollte das Programm anhalten können, anhören, Geschichten aus der ganzen Welt um kurz auf die Toilette zu gehen und nichts erfahren und natürlich lief Musik. Manch- zu verpassen, oder es aufzeichnen wie ein mal, wenn der Wind günstig stand, haben Buch, das man wieder und wieder lesen wir sogar das belgische Radio empfangen. konnte. Aber meine Mama verbot mir jeg- Ich musste mich also nicht mehr in meinem liche Form der Bastelei. Zimmer langweilen, ich verbrachte fortan jede freie Minute im Laden und machte mei- ne Hausaufgaben auf dem Boden hinter der Ladentheke, bis mein Po kalt war und mein Rücken schmerzte. Manchmal half ich auch meiner Mama beim Sortieren der Waren und tanzte mit Büchern auf dem Arm durch das kleine Geschäft. Eigentlich war das die Art, wie ich meine Zeit am liebsten verbrachte. 16 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 17
Genau 26 Jahre später wäre mein techni- angeschrien hätte, nur weil ich mir in sei- Meine größte Chance auf ein technisches scher Wunsch in Erfüllung gegangen, denn nem Geschäft ein paar Lakritze kaufen woll- Wunder ergab sich am 06. November 1938, 1963 würde Philips auf der Internationa- te, dann hätte ich den Ton einfach noch lau- dem in vielerlei Hinsicht wohl traurigsten len Funkausstellung in West-Berlin die ter gestellt. Beim Spazierengehen hätte ich Tag meines Lebens, denn an diesem Tag ist erste Audiokassette vorstellen und in den die Geschichte von Jeanne d’Arc gehört und der Volksempfänger kaputt gegangen. Ich Siebzigern hätte dann jeder Mensch einen mir vorgestellt, es wäre nicht 1937, sondern habe ihn aus Versehen vom Verkaufstre- eigenen Kassettenrekorder gehabt. Das hätte 1429 und ich vertriebe gerade die Engländer sen geschubst, als ich dort einen schweren meine Sternstunde sein können, denn wenn aus Frankreich. Dann würde ich zu Unrecht Karton Bücher abstellen wollte. Mit einem ich nach meinem Schulabschluss Technik vor Gericht gestellt, aber freigesprochen und lauten Knall schlug der Metallkasten auf den studiert hätte, wäre ich vielleicht sogar an wäre von da an eine freie Ritterin Frank- Boden und platze auf wie eine reife Tomate. seiner Entwicklung beteiligt gewesen. Ava reichs. Niemand könnte mir weh tun, weil Den ganzen restlichen Tag saß ich über dem Mintz, Erfinderin des Kassettenrekorders. ich ein Schwert hätte und eine Armee und Haufen aus Blech und Drähten und betete, Das hätte mir gefallen. Ein tragbarer Kas- einen Walkman. Vielleicht hätte ich sogar er würde einen Ton von sich geben, nur ein settenrekorder wäre natürlich noch besser den Mut gehabt, der blöden Lisa auch einmal leises Rauschen. Nichts. Die folgenden Nach- gewesen, so wie einer von diesen batterie- an den Zöpfen zu ziehen, weil ich gewusst mittage verbrachte ich wie sonst auch auf betriebenen Volksempfängern, nur im Ta- hätte, dass ihr Geschrei an mir abprallen dem kalten Ladenboden, jedoch nicht, um schenformat. Doch der Walkman würde erst würde wie Pfeile an Jeannes Rüstung, sobald Hausarbeiten zu machen, sondern um den 1979 die weltweiten Märkte erobern. Er wäre ich nur mein kleines, zauberhaftes Wunder Volksempfänger zu reparieren. Aber es hat auf jeden Fall mein treuster Begleiter für der Technik angeschaltet hätte. Vielleicht wohl nicht sein sollen. Drei Tage später hat alle Lebenssituationen geworden. Ganz für hätte ich den alten Hubert einfach zurückbe- der alte Hubert eine angezündete Schnaps- mich allein hätte ich durch die Welt laufen leidigt und ihm vor die Füße gespuckt. Dann flasche durch eine Fensterscheibe zwischen können, ohne mir anhören zu müssen, was wäre ich nach Hause gegangen, hätte meine die Bücherstapel geworfen, als die Menschen andere gerade über mich sagten. Hätte ich Mama und meinen Papa umarmt und ihnen mit Fackeln durch die Straßen zogen. Meine 1937 einen Walkman gehabt, ich hätte auf gesagt, dass alles gut wird, irgendwann. Eltern sind aus dem Schlafzimmerfenster im dem Schulhof einfach Musik gehört, wenn ersten Stock gesprungen und ich … die blöde Lisa und ihre Freunde mich wegen Aber ich hatte nun einmal keinen Walk- meiner Nase geärgert hätten. Da wären man. Ich hatte nur den Volksempfänger im ich hätte mir 1979 so gern einen Walkman nur die Comedian Harmonists, ein kleiner Laden, dem ich zuhören konnte, wie er ein gekauft. grüner Kaktus und ich gewesen, weil ich das wenig Musik spielt und auch ein wenig Ge- Lied natürlich aufgezeichnet hätte. So wäre schrei von wütenden Männern, was wirklich ich auch gar nicht traurig gewesen, als der besser ist als gar nichts, aber irgendwie auch Volksempfänger irgendwann aufgehört hat, nicht genug. Weder ich noch irgendjemand mein Lieblingslied zu spielen, denn ich hätte anderes hat 1933 oder in den folgenden fünf es trotzdem hören können. Auch die einsame Jahren den Walkman oder zumindest den Stille auf meinem Weg von der Schule nach Kassettenrekorder erfunden. Darauf gehofft Hause wäre laut und lustig geworden und habe ich natürlich trotzdem, was blieb mir wenn der alte Hubert mich wieder einmal auch anderes übrig? 18 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 19
2 19 - 25 Jahre Euphoria™ – Der Preis des Glücks „Willkommen bei Euphoria™!“ Ich blicke mich noch einmal um. „Sie können aus folgendem Angebot wählen“, informiert Die fröhliche Stimme hallt blechern aus dem mich der Automat sanft. „Meine Güte“, seuf- Automaten. „Wie kann ich Ihnen heute be- ze ich genervt und drücke auf Taste C, bevor hilflich sein? Für unsere ‚Reise ins Glück‘, die Stimme überhaupt die Chance hat, mich das exklusive Monatspaket für alle, die sich weiter mit ihrem Gesäusel aufzuhalten. Ich Celine Frey Luxus und Zufriedenheit gönnen wollen, weiß, was ich will. Der Automat bleibt kurz 24 Jahre drücken Sie bitte A. Für alle anderen Optio- still und flackert leicht. Für einen kurzen nen drücken Sie B.“ angsterfüllten Moment befürchte ich, dass mein hektisches Drücken ihn hat abstürzen „Ja, ja“, brumme ich und drücke hektisch lassen. Einen Fußmarsch zum anderen Ende mehrfach auf Knopf B, während die Stimme des Viertels kann ich gerade wirklich nicht noch munter vor sich hin säuselt. Ange- gebrauchen. Außerdem steht der Automat spannt streiche ich mir eine Haarsträhne aus dort zu nah am Zaun. Insbesondere seit den dem Gesicht und blicke über meine Schulter. Wasser-Aufständen im Februar wimmelt es Es ist dunkel in der Gasse, nur wenige Fens- dort vor Sicherheitspersonal. ter sind erleuchtet und die Straßenlaterne flackert. Ich erschaudere und fange an zu Doch die Angst war unbegründet, ein letztes zittern, dabei ist der leichte Windhauch an- Flackern und die fröhliche Stimme hallt genehm warm. Doch er trägt den Geruch des wieder durch die Häuserreihen. „Sie haben Elends mit sich – nach Müll und ungewa- das Super-Spar-Angebot gewählt. Für den schener Wäsche. Ich ziehe meine Jacke enger unschlagbaren Preis von nur 50€ schenken um mich und wende mich wieder dem grell wir Ihnen fünf Stunden höchster Glückselig- leuchtenden Automaten vor mir zu. Der keit.“ Ich verdrehe die Augen, „schenken“. Bildschirm ist gesprungen, offensichtlich hat jemand einen Stein gegen das Glas ge- schmettert. 20 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 21
Zum Glück sieht der Automat das nicht, dem noch einmal durch die Erinnerungsfet- mir der Gedanke, wie ich hier enden konnte. Glück zu erhalten, hörte ich auch damit auf. bösen Roboter würde ich glatt zutrauen, we- zen: Der Kindergeburtstag meiner kleinen Ich erinnere mich an meine erste Nutzung Ich konnte nicht ertragen, wie mir jemand gen so einer Frechheit abzustürzen. „Sollten Schwester, eine Autofahrt mit Freunden, an von Euphoria™. „Das ist super“, sagte je- von Menschen erzählte, die ich lieben sollte. Sie nicht über finanzielle Zahlungsmittel die ich mich nicht mehr erinnere, Tanzen mand, den ich nicht mehr kenne. „Und du Denn ich fühlte nichts. verfügen, steht Ihnen unsere kundenfreund- im Regen, eine junge Frau, die einen Hund brauchst nicht mal Geld. Du bezahlst einfach liche und praktische Bezahlungsmethode via streichelt, mich anlächelt und mir bedeutet, mit deinen negativen Erinnerungen und * Erinnerungstransfer zur Verfügung. Bevor- zu ihr zu kommen und noch einmal die glei- fühlst dich für ein paar Stunden richtig gut.“ zugen Sie diese Zahlungsmethode, drücken che Frau, wie sie sich in einem Sommerkleid Ich stolpere aus der Tür und falle zu Boden. Sie bitte Taste A.“ vor dem Spiegel dreht. Ich zögere kurz und Dass die negativen Erinnerungen schnell Eine Nachbarin rümpft die Nase „das ist eine wähle dann Erinnerung zwei. Erinnerungen aufgebraucht sind, daran hatte damals kei- von diesen Euphoria™-Junkies“, giftet sie Ich hämmere auf Taste A, dieser Automat mit unbekannten Personen sind nichts, wo- ner von uns gedacht. angeekelt, während ich mich aufrapple. raubt mir noch den letzten Nerv. Meine ran ich festhalte. Warum ich Erinnerung vier Hände zittern immer stärker und mir ist oder fünf nicht wähle, weiß ich nicht. Anfangs führte ich noch Buch darüber, wel- „Das ist wohl der Preis des Glücks“, murmelt kalt, ich kann nicht ewig hier warten. In che Erinnerungen ich aufgab. Ich arbeitete ein anderer und blickt mir mit verhangenen meiner Ungeduld kommen mir die wenigen Es sticht in meinem Kopf, dann ist es vorbei. mich von schlecht nach gut. Den Start mach- Augen nach. Sekunden bis zum Öffnen der Klappe unend- Ich fühle mich kurz leer und meine Ge- te der Tag, an dem meine Mutter ihre Arbeit lich vor. „Bitte platzieren Sie ihre Stirn vor danken sind wie in Watte gepackt. Dann verlor und wir weit weg vom Zaun ziehen dem Sensor, anschließend wählen Sie eine spüre ich, wie es beginnt. Ich höre auf zu mussten. Anschließend verbrauchte ich neu- Erinnerung und folgen den Anweisungen in zittern und mir wird angenehm warm, ich trale Erinnerungen – ein Witz im Mathe- Ihrem Kopf.“ lächle. „Vielen Dank, dass sie Euphoria™ unterricht oder ein Spaziergang am ausge- genutzt haben. Bis zum nächsten Mal“, ruft trockneten Ufer des Sees. Doch irgendwann Erschöpft lasse ich meinen Kopf gegen den der Automat mir hinterher, während ich be- hörte ich auf. Es war sinnlos, Buch über Sensor sinken und schließe die Augen. Wie schwingt die Gasse entlangmarschiere. Personen zu führen, deren Namen mir nichts in einem Auswahlmenü ziehen meine Erin- sagten und deren Gesichter einer weißen nerungen vorbei – es sind nicht mehr viele. Der Geruch nach Müll und Armut macht mir Leinwand glichen. Später tauschte ich mich Die Stimme, die nun in meinen Kopf dringt, nichts mehr aus. Ich nehme mir vor am Zaun mit anderen über unsere Erinnerungen aus, ist nicht mehr fröhlich. Schließlich zahle entlang zu gehen, wo die Reichen wohnen. Es bevor wir zum Automaten gingen. „Du warst ich ja auch nicht mit Geld, da kann man am ist so schön die Häuser zu betrachten, wenn so verzweifelt, dass du keine unwichtigen Kundenservice sparen. Ein bitteres Lachen alles dort leuchtet. Erinnerungen mehr hattest, dass du mit entfährt mir. einem Stein auf den Automaten eingeschla- * gen und ihn angeschrien hast“, erzählte mir Die Stimme ist tiefer, dunkler, bedrohlich. jemand, dessen Namen ich nicht weiß. Das Vielleicht bilde ich mir das auch ein, weil ich Als ich am nächsten Morgen erwache wirkte noch lustig und harmlos. Doch als weiß, was jetzt kommt. „Sie können zwi- brummt mein Kopf und mir ist wieder kalt. ich die Erinnerung an meine Eltern aufgab, schen 5 Erinnerungen wählen“, informiert Fröstelnd ziehe ich die Decke um mich – ich um zum Super-Spar-Montag für diese be- mich die Stimme in meinem Kopf. Ich zappe fühle mich leer. Und wieder einmal kommt sonders große Erinnerung sogar fünf Tage 22 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 23
3 19 - 25 Jahre So viel Glück, es ist zum Kotzen Sie weiß nicht, welche Musik sie hören will, re hinweg angelesen und diverse Workshops die ihrer Wut gerecht werden könnte. Sie dazu besucht, aber wenn es den Damen und zieht die Haustür hinter sich zu und setzt die Herren der Universität zu Köln nicht inner- Kopfhörer auf, dann geht sie los Richtung halb weniger Minuten in Gänze verständlich Feld. Sookee dröhnt aus ihren Kopfhörern, ist, dann muss die Diskussion wohl abgebro- Inga Adams langsam trabt sie los. chen werden, denn man muss sich ja noch 23 Jahre ein theoretisches Modell anschauen. Sie Sie ist froh, das Haus verlassen zu haben, bezweifelt, dass irgendjemand ihren Emp- rauszukommen aus der Enge. Seit fünf Tagen fehlungen an Büchern und Spotifyoptionen ist sie in der Heimat und sie hatte gehofft von Expert*innen zu den Themen nachgeht. runterzukommen. Die letzten Wochen waren Stattdessen: keine Diskussion zulassen, stressig, viel zu stressig, sie hat sich mal wenn man keine Ahnung hat, die Autorität wieder zu viel vorgenommen. Der Refrain muss ja gewahrt werden, ist ja auch ein un- setzt ein und sie zieht ihr Tempo an, läuft angenehmes Thema. Was unangenehm für vorbei an dem Haus einer früheren Freundin sie ist: danach vor Wut weinend zu Hause zu und verspürt das Bedürfnis, sich nach Jahren sitzen, weil keine*r den Diskussionsbedarf mal wieder bei ihr zu melden. Das Lied wird versteht oder verstehen will, weil sie das schneller und härter, ihre Füße treffen im Gefühl hat, nur wieder als die anstrengen- Rhythmus auf den Asphalt. de Linke wahrgenommen zu werden, und weil diese Personen als Therapeut*innen Gekommen ist sie, um abzuschalten. Von arbeiten, ohne sich jemals ernsthaft mit Dis- ihrem stressigen Alltag, von der Politarbeit, kriminierung auseinandergesetzt zu haben. von den Szenemackern, die ja so super aware Außerdem wird sie am Ende des Semesters sind, aber alle Carearbeit dann doch an den benotet, von der Frau, die sie gerade so un- FLINT* Personen hängen lassen. Und auf verhohlen abgewürgt hat. der Arbeit, da kocht immer sie den Kaffee für alle und der Kollege nur für sich. Und in der Uni… naja, davon braucht sie gar nicht anfangen. Verkorkste Seminare mit wenig sensiblen Lehrkräften, denen sie dann in den zwei Minuten, die sie für das Thema eventu- ell mal übrighaben, die Relevanz von Critical Whiteness für den Fachbereich Psychologie erklären soll. Das hat sie sich zwar über Jah- 24 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 25
Ihr kommen zwei Mädchen entgegen. Eine Der ganze Feldweg ist übersät von Regen- Wenn sie abends da liegt und darüber nach- Ihr Gedankenkarussell dreht sich immer von ihnen ist eine Schulfreundin ihrer würmern. Sie versucht auf keinen zu treten, denkt, was sie den Tag über alles falsch weiter, sie merkt wie ihr schwindelig wird, Schwester. Von Instagram weiß sie, dass die aber manchmal ist sie unsicher, ob sie nicht gemacht hat, dann greift sie gerne zu einem von ihren eigenen Gedanken und ihrer eige- andere ihre Partnerin ist. Sie möchte schrei- doch einen erwischt hat. In ihr steigt eine Buch. Am besten zu einem, von dem sie was nen Unzulänglichkeit. Sie sprintet los, wird en: „Ihr seid queer, können wir reden, bitte beängstigende Zerstörungswut auf, und lernt. Auf ihrem Nachttisch liegt bell hooks immer schneller, um den roten Faden ein- lasst uns über Queerness reden, alle sind hier gleichzeitig fühlt sie sich schuldig dafür, neben Audre Lorde. Letztens hat sie sogar zuholen, den sie verloren hat. Dann bleibt sie so cis-hetero.“ Aber sie lässt es dann doch dass sie vielleicht einen getötet haben könn- etwas von Holzkamp gelesen, nur um fest- stehen, beugt sich über das Stück Wiese am lieber und nickt nur freundlich. Für eine te. zustellen, dass er auch nur ein alter weißer Rande des Feldes und übergibt sich. kurze Sekunde verlangsamt sich ihr Schritt, Mann ist. Sie liest diese ganzen Bücher, um dann joggt sie schneller weiter. Schuld ist ein großes Thema für sie. Sie fühlt eine Existenzberechtigung in den linken sich schuldig, wenn sie nichts sagt, obwohl Kreisen zu verspüren. Damit sie Debatten Sie dachte also hier mal abschalten zu kön- sie es sollte. Sie fühlt sich schuldig, wenn führen kann, damit sie sich legitimiert fühlt. nen über die Feiertage. Selbstverständlich das, was sie sagt, ihrem Gegenüber vor den Aber da kommt sie nie hin. Sie stößt immer war das ein Irrtum. Die Fragen, die ihr Un- Kopf stößt. Sie fühlt sich schuldig, weil sie nur auf Wissenslücken, auf Fehler, die sie behagen auslösen, sind nur andere als in der denkt, das Falsche gesagt zu haben, weil macht, auf Privilegien, die sie nicht bemerkt Großstadt: „Wie läuft dein Bi-Experiment?“ sie Situationen nicht erkannt hat, oder für hat, und dann fühlt sie sich wieder schlecht, oder „Dieses…. Ehm …. Binär-Sein, ist das für andere gesprochen haben könnte. Sie fühlt weil sie so ein verdammtes Glück hatte, dass dich auch ein Thema?“ zum Beispiel. Also sich immer schuldig, und diese Schuld kann sie kotzen könnte. Sie kann sich aussuchen, weiter unbezahlte Bildungsarbeit, die so sie kaum mehr ertragen, vor allem, weil sie ob sie in Debatten eintreten möchte oder viele Menschen da draußen sehr viel besser weiß, dass sie einfach nur Glück hatte, dass nicht. Trotzdem ist sie am Abend so er- machen als sie, einfach, weil die Leute das sie sich schuldig fühlt. Denn schuldig fühlt schöpft, von den Debatten, die sie führt, dass von ihr erwarten. Also weiter darüber disku- sich nur, wer nicht betroffen ist. sie Erholung braucht. Und dann backt sie tieren, wann das Nennen der so genannten Kekse für ihren Opa, weil er die so gerne isst Herkunft einer Person von Relevanz ist und Bis zu der Kreuzung, an der sie gerade an- und nicht selbst backen kann, weil… naja… wann nicht, warum Monogamie nicht die gekommen ist, läuft sie eigentlich nie. Sonst das haben immer Frauen für ihn gemacht. einzige Option ist und nebenbei erläutern, läuft sie eine halbe Stunde, ihr Handy zeigt Die Frau, die es jetzt für ihn macht, ist eben dass Klassismus und Ableismus übrigens an, dass die schon um ist. Sie fühlt sich den- sie. auch noch existieren. noch kaum ausgelaugt, sondern wütend. Und schuldig. 26 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 27
Inga Miksch 3 21 Jahre 19 - 25 Jahre Kinder ohne Namen. UN-Kinderrechtskonvention Das heißt nicht, Artikel Sieben: Registrierung - Name - dass es keine Eltern - zu den Kindern gibt, Staatsangehörigkeit die ihnen Namen gaben. Absatz eins Das heißt nicht, „Das Kind (…) hat das Recht auf einen dass sie nicht genug geliebt werden, geliebt Namen von Geburt an“ wurden, für das Tragen von schwierigen I. Konsonanten-Vokal-Kombinationen, Ich habe einen Namen. mit denen man behördliche Unterlagen Einen Namen, ausfüllen könnte. den mir meine Eltern gaben. Ihre Namen werden nur nicht gesagt, Mit Bedacht ausgesucht, paraphrasiert, aus einem finnischen Kinderbuch, erfragt, oder buchstabiert. II. Es gibt Kinder, Kinder ohne Namen. die haben Namen, bei denen muss man nochmal nachfragen, Wir nennen sie: wie man sie richtig ausspricht. „Kinder aus bildungsfernen Schichten“ Da gibt es, „Hungernde Kinder in Afrika.“ Probleme mit dem Aussprechen, „sozial schwach“ als würde es einem die Zunge zerbrechen. Doch sind es die Namen, die sie wirklich k o m p l i z i e r t. tragen? Wie Jacken, die sie im Winter warmhalten? III. Doch sind es die Namen, die sie wirklich Und dann: tragen? Dann gibt es noch wie starke Schultern, an denen sie sich Kinder ohne Namen. festhalten können? K i n d e r o h n e N a m e n. 28 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 29
Wir nennen sie: Nenn‘ das Kind beim Namen. Glück gehabt. Glück gehabt. „Kinder aus bildungsfernen Schichten“ Auch wenn du seinen:ihren Namen nicht Ich hab einen Namen, Ich habe einen Namen, So nimmt sich die sog. kennst. mir hat jemand einen gegeben. einen Namen, „Bildungsschicht“ heraus, Weil dieses Kind Ein Name für ein Leben. den mir meine Eltern gaben. über -Menschen, die von Armut vielleicht gerade Bleibt wie ein Kaugummi an der Schuhsohle, Mit Bedacht ausgesucht, betroffen sind- zu richten? rennt. für immer an mir kleben. aus einem finnischen Kinderbuch, Das ist keine Bildung. Das ist Stigma. flieht. „Hungernde Kinder in Afrika.“ schreckliches, Glück gehabt. Und vielleicht ist es nur ein Name? Afrika ist kein einziges großes nicht kindergerechtes, In Deutschland geboren. Nur eine Projektion. Entwicklungsland. sieht. Aufgewachsen im Land der Denker, der und die zugesprochene Bedeutung dahinter Afrika ist nicht nur ein riesiger Nenn‘ das Kind beim Namen. Dichter:innen, der großen Autoren. - nur Illusion. trauriger Regenwaldbrand, auch wenn du seinen:ihren Namen nicht Willkürliche Kombination von Vielleicht ist es nur ein Name? Afrika ist ein komplexer Kontinent mit kennst. Zufallsfaktoren. Menschen. I. II. III. Diese Welt ist ein riesiges Land, Und in der Wohnung über uns: Glück gehabt. Kinder mit, mit geschlossenen innerstaatlichen Zweiter Stock. Fachwerkhaus. Kleinfamilie. Weiß gelesen - Kinder mit komplizierten, Grenzen. Trampeln die Kinder unseres Vermieters, trotz schwarzer Tinte in meinem Füller. Kinder ohne N A M E N. „sozial schwach“ „Es ist sicher wieder Timmy“ - weiß’ aus Personalausweis - kann ich zeigen, schwach: ein Armutszeugnis für Erfahrung: wenn jemand mir mit >>Passport Please>Passport Please
Glück gehabt. UN-Kinderrechtskonvention Ich kann das Glück nicht immer spüren. Artikel Sieben: Registrierung - Name - Glück gehabt. Staatsangehörigkeit muss meine Aufenthaltserlaubnis, Absatz eins nicht immer mit mir führen. „Das Kind (…) hat das Recht auf einen Namen denn, von Geburt an“ ich bin ein „Kind mit Namen“, Nenn das Kind beim Namen. Und mein Name steht nicht allein für sich. doch ich bin bereits erwachsen. er bringt mir Glück, aus meinen Kinderschuhen rausgewachsen, er beschreibt meine Rechte, brauche meinen Namen, vielleicht auch mich. nicht mehr. nicht mehr so sehr, Mein Name. wie ihn andere bräuchten. brech’ ich mir beide Arme, ist er meine Krankenversicherung. Kann ich ihn jetzt abgeben? Möcht’ ich ein Haus, für meinen Also so im All-Inclusive-Paket, mit meinen Fensterrahmen bauen, ganzen Privilegien? ist er mein Bausparvertrag, In ein Kinderzimmer [oder sonst wo] hinein [Und somit mein Fenster zur Welt.] schweben? Sitz’ ich aufgeregt in meinen Einem Kind ohne Namen, Hochschulexamen, unter das kleine Kopfkissen legen? ermöglicht er es mir erst, Wenn es seinen ersten Zahn verliert, durch die finanzielle Unterstützung meiner Kann ich Zahnfee spielen, nur für eine Nacht. Eltern, Die sein, die über die Rechte der Kinder in meinem Federmäppchen, nach meinem wacht. Bleistift zu kramen. Mein Glück, zumindest meinen Zweitnamen Mein Name ist mein Privileg, teilen. das mir groß in schwarz auf meine [schon Chancengleichheit. immer] weiße Stirn geschrieben steht. Lass mich noch ein bisschen in diesem Privileg. Gedanken verweilen. bis sich das Glück, das Glück beginnt zu teilen. 32 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Platzierungen 19 - 25 Jahre 33
Nominierungen 14 - 18 JAHRE Anne Weingarten | Seite 36 Nele Feldmann | Seite 40 Sven Beck | Seite 44 19 - 25 JA HRE Pia Wagner | S eite 48 Franziska Fla chs | Seite 52 Pauline Weinb erg | Seite 56 Silv ia Nwadiu to Chike | Seite Ann-Kathrin S 60 peck mann | S eite 64
14 - 18 Jahre Von den Klängen einer Ney in der Wüste Dunkelheit. Mein Freund und Verräter. Sie ich im Regen tanzen könnte, während mir liegt über allem, lässt die Explosionen nur die Tropfen ins Gesicht fallen. Der Gedanke noch heller in den Himmel schießen. Ein Ge- schnürt mir die Brust zu, weckt das Be- ruch nach Staub und Feuer hängt über allem, dürfnis, mein Herz zu greifen, um mich zu Anne Weingarten in allem. Um uns karge Steppe, ich kann sie vergewissern, dass die Erinnerungen noch 16 Jahre inzwischen mit geschlossenen Augen sehen. darin sind. Meine rissigen Fingerkuppen In uns Wüste, die alles bedeckt, aber nichts erfühlen Feuchtigkeit, wollen sich darin ver- vergehen lässt. Von den fernen Felswänden senken, aber ich halte verwundert inne, bli- hallen Echos wider, lassen um, lassen in uns cke prüfend in den Himmel. Es regnet nicht. nie Ruhe einkehren. Der metallische Geruch Nur von meiner Brust läuft ein stetes Rinnsal von Blut hängt in den Gräben, zu viel Blut, von Dunkelheit. Raed stürzt auf mich zu. um wieder gesund zu werden. Hakima. Day- Was kann ihn, der mit seinen Geschich- yan. Zarif. Jawahir. Tote, die ihren Tod nicht ten die endlosen Stunden besiegte, dessen wollten. Geister, die ihre Leichen verlassen Stimme sanft wie dunkler Donner grollt, haben, um in unseren Köpfen eine neue erschrecken? Blut. Die Umrisse um mich he- Heimat zu finden. Ich wünschte, wenigstens rum verschwimmen, dann verlöschen auch einer von ihnen hätte im Sterben gelächelt. die flackernden Explosionen. Ruhe ergreift So bleibt nur die tiefschwarze Nacht, die von mich, erfüllt mich, lässt mich lächeln. keinem noch so grellen Licht durchstoßen werden kann. Schreie, wieder einer mehr. Der sanfte Wind trägt eine Melodie zu mir Leyth, glaube ich. Wie lange noch werden sie herüber. Leise Trommeln begleiten eine Ney in uns nachhallen, unsere Wüsten durch- auf ihrem Weg durch meine Wüste. Für einen wandern? Die Sturmgewehre spucken ihren Moment schwebe ich neben den Klängen, unaufhörlichen Strahl aus leeren Patronen über hohe Berge, weite Ebenen und unsicht- aus. Ich wünschte, es wäre Wasser. Dass bare Grenzen. Raed, die Trommeln erinnern 36 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Nominierungen 14 - 18 Jahre 37
mich an den Klang seiner Stimme. An uralte Das Grollen halte ich erst für Raeds Stimme, Das Meer ist meine einzige Zuflucht. Ich sin- Geschichten voller Liebe und Geborgen- aber es wird von gebellten Befehlen durch- ke so tief wie nie zuvor, lerne die glasklare heit. Glück inmitten des Unbegreifbaren. schnitten. Das Aufheulen von Motoren Kälte des Wassers zu schätzen, weil sie jeden Raed. Seine Stimme ist es, die mich in die und das Rattern von Gewehren dringen zu Schmerz erstickt. Selten höre ich den Ruf Gegenwart zurückholt. Die ersten Strahlen mir durch, ehe ich es schaffe, die Augen zu eines einzelnen Wales, aber er verhallt jedes der aufgehenden Sonne brechen durch die öffnen. Hände hoch! Alle! Hey, ich habe ge- Mal ungehört in der Ferne. Manchmal meine Wolkendecke und lassen in mir den Schmerz sagt: Hände hoch! Ich verstehe nicht. Siehst ich, aus den Augenwinkeln Sterne zu sehen, aufflammen. Er ergießt sich durch meinen du nicht, dass er nur ein angeschossenes Kind aber sie verschwinden, sobald ich sie be- Körper, schwappt in Wellen umher, pulsiert ist? Er kann seine Hände nicht bewegen, also trachten will. Die Unbewegtheit des Wassers ungezähmt. Hör genau hin, flüstert Raed. hör endlich auf, ihn anzuschreien! Wer redet wird ab und an von Berührungen unterbro- Ich versinke durch das Schaukeln des Jeeps da? Ihre Lampen blenden mich, lassen mich chen, aber sie haben keine Bedeutung. Etwas immer weiter in seinem Schoß, während er nur erahnen, dass es Fremde sind. In mir dringt zu mir durch, lässt mich aufhorchen. mir leicht durch das Haar streicht. Ich will steigert sich der Schmerz ins Unermess- Nein, ich habe mich nicht verhört, wenn ich ihn fragen, wo wir sind, aber ich habe nicht liche. Die vertraute Melodie der Ney beginnt lausche, kann ich etwas hören. Eine Ney, ge- genug Luft dafür, nicht einmal genug zum wieder, lässt mich die Augen schließen. Nicht stützt durch kaum hörbare Trommeln. Trotz Atmen. Scht, murmelt er. Nicht reden. Dann bewegen. Immer noch die Fremden, aber der geringen Lautstärke bemerke ich es setzt kaum hörbar die Musik wieder ein. Ich inzwischen noch mehr. Was sie wollen, habe sofort, als sich unsicher eine zweite Ney ein- würde schwören, dass sie von ihm kommt, ich auch jetzt noch nicht verstanden. Wollen schleicht. Verwundert öffne ich die Augen. aber sein Gesicht ist so unbewegt wie immer. sie uns töten? Eher nicht, das hätten sie Eine Fremde sieht mich lächelnd an, sagt, Die zarten Töne reiten auf den Wellen aus längst getan. Was dann? Wieder explodiert Du hattest Glück. Wirkliches Glück, das zu über- Schmerz, wandeln sie zu ihresgleichen. Ir- der Schmerz, während sie mich in einen leben. Nein, schüttele ich stumm den Kopf. gendwann bestehe ich nur noch aus dumpfen LKW tragen. Über mir am Himmel leuchten Glück wäre, an der Seite von Raed gegangen Trommeln, die zerbrechliche Klänge stüt- die Sterne hell wie immer schon, aber ich zu sein. zen. kann sie nicht sehen. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge lassen alles in grelles Licht oder Später bekomme ich mit, wie ich in ein Zelt tiefschwarze Dunkelheit fallen. Den Sternen gebracht werde. Sie wollen mich nicht ver- ist es gleich, was unter ihnen passiert. Ob lieren, weil ich die ungezählten Höhlen der Tiere sterben, Feinde sterben. Lichtkegel Gegend auswendig kenne. Raed ist fort, gleiten über den Boden. Es ist nur ein Bruch- aber sein Lied ist geblieben. Ein sanftes teil einer Sekunde, aber er verschiebt meinen Trommeln des Herzens, vermischt mit dem Schmerz und potenziert ihn. Raed - Freunde sehnsüchtigen Wehklagen der Seele. Beides sterben. Der Geschichtenerzähler, der große wird stärker, sie überdecken den Schmerz, Bruder. Wieder einer mehr, den die Dünen in der in jedem Sandkorn meiner Wüste liegt. mir verdecken müssen. Wieder einer mehr, Den alten, der mit den im Sand Verscharr- der den bitteren Strom des Verlustes speist, ten kam, und den neuen, der mit dem Regen während sein Schmerz jeden vorherigen kam. Ich sinke zurück in die Schwärze. Fühle übertrifft. Es dauert lange, bis ich wieder in die vorsichtige Berührung des Wassers, die Einsamkeit des Meeres eintauchen kann. welches mich trägt. Lausche den Gesängen der Wale, die ich hören, aber doch nicht ver- stehen kann. 38 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Nominierungen 14 - 18 Jahre 39
14 - 18 Jahre Glücksflieger Ein leichter Spätsommerwind wehte durch Wieder war das Knirschen von Kies zu meine Haare, während ich langsam, jeden hören. Verwundert brach ich den Kontakt Schritt auskostend, über das Flachdach zum Licht ab und richtete meine Aufmerk- schritt. Meine Augen waren starr auf das ge- samkeit stattdessen auf das, was sich rechts richtet, was vor mir lag. Meine Füße führten von mir abspielte. Auf der anderen Seite des mich schon beinahe von alleine über die Abgrunds – es mögen keine sechs Meter Kieselsteine, die bei jedem Schritt ein leises sein, die die beiden Häuserblöcke trennten – Knirschen von sich gaben. näherte sich ein Junge. Ich befahl mir selbst, meine Aufmerksamkeit der Sonne zu wid- Nele Feldmann Irgendwann war das Geräusch verschwun- men, ganz von alleine schnellten meine Au- 17 Jahre den. Stille kehrte ein. Meine Füße waren gen jedoch immer wieder zu dem Fremden. stehengeblieben, mein Blick war noch immer gen Himmel gerichtet. Seine blaue Haut Auf einmal war alles wieder still: kein Knir- wurde bereits von einem orangenen Film schen, keine Schritte. Vorsichtig wagte ich überzogen, in dessen Mitte der leuchtend es, zunächst nur hinüber zu schielen, um rote Sonnenball schien. Seufzend gab ich schlussendlich doch den ganzen Kopf mit- dem Gewicht meines eigenen Körpers nach zudrehen, sodass ich mir die Person genauer und ließ mich, keinen Meter vom Dachrand anschauen konnte. Die zerzausten Haare entfernt, nieder. Beinahe schon automa- des Jungen wirkten genauso orange wie das tisch schob sich ein kleines, zartes Lächeln Sonnenlicht, welches sie beschien, und wäh- auf meine Lippen. Ich liebte diesen Moment. rend ich meine Füße zum Körper gezogen Nahezu jeden Abend genoss ich diese wert- hatte, ließ er sie an der Fassade des Hauses vollen Minuten der Auszeit. herunterbaumeln. 40 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Nominierungen 14 - 18 Jahre 41
Ich sah, wie sein Blick langsam zur Seite wieso sollte es nicht?“ Ein Schulterzucken, Wieder tauschte der Papierflieger die Seiten. glitt. Augenblicklich schnellte mein Kopf in mehr bekam ich nicht als Antwort. Kurz dar- Erst einmal zu ihm, dann zurück zu mir: „Du seine Ausgangsposition. Starr versuchte ich auf zeigte der Fremde allerdings in Richtung kannst gerne herüberkommen, wenn du willst.“ mich wieder auf das verzaubernde Farben- des Papierfliegers, klatschte einmal in die Ich blickte zum Jungen, ich blickte zum spiel in weiter Ferne zu konzentrieren, je- Hände und ließ diese geöffnet. Kurz zögerte Flieger, ich blickte zum Jungen. Schließlich doch rasten meine Gedanken immer wieder ich. Schließlich aber holte ich leicht aus und schüttelte ich den Kopf. herüber zu meinem unerwarteten Besuch. schickte das Papier zurück zu seinem ur- Ich kannte ihn nicht. Ich konnte mich nicht sprünglichen Besitzer. Der Junge erhob sich. Ein aufmunterndes einmal erinnern, ihn je irgendwo gesehen Lächeln schenkte er mir noch, dann wandte zu haben. Allerdings kannte ich das Haus, in Interessiert beobachtete ich, wie er erneut er sich zum Gehen. Doch er verschwand kei- dem er zu wohnen schien. Es war nicht eines zu seinem Kugelschreiber griff und etwas nesfalls alleine in der Dunkelheit. Ein junger der besten Gebäude in der Stadt. Die Woh- auf das Papier kritzelte, bevor er dieses zu- Mann trat aus der Dachtür und umarmte nungen waren klein, die meisten Familien, sammenfaltete und herüberwarf: „Du sahst meinen Papierfliegerjungen lächelnd. die dort lebten, waren froh, wenn sie am so alleine aus.“ Meine Augen zogen sich leicht Ende des Monats über die Runden kamen. zusammen, als ich die Worte meines Nach- Ein Stechen breitete sich in meinem Herzen barn entzifferte. Er saß doch genauso alleine aus, als ich die beiden sah – zusammen, mit Mitleid machte sich in meinem Herzen hier wie ich. einem Lächeln im Gesicht, dessen Ehrlich- breit. Ich hatte das Glück, in einer Familie keit ich förmlich spüren konnte. zu leben, die mich finanziell in all‘ meinen „Wer bist du?“ Stille. Ich erhielt keine Ant- Träumen unterstützte. Ich hatte das Glück, wort. „Kannst du etwa nicht sprechen?“ Ein Hatte ich nicht eben noch gesagt, wie glück- mir nie über schlechte Noten Gedanken zu kleines Lachen entfuhr meinen Lippen. Ich lich ich sein konnte, dass es nicht sein Leben machen und meine Freizeit mit Hobbys zu hatte die Frage nicht ernst gemeint. Und war, welches ich besaß. Und saß ich jetzt füllen. Und er…? Wie viel Glück konnte er umso heftiger traf es mich, als der Junge hier und wünschte mir ganz tief im Innern, schon in seinem Leben gehabt haben? völlig ernst mit dem Kopf schüttelte. „Du wenigstens für ein paar Sekunden mit dem bist stumm?“ Unglauben war aus meiner seinen tauschen zu können? Ein Rascheln holte mich aus meinen Ge- Stimme zu hören. Dieses Mal nickte er. „Tut danken und warf mich zurück in die Realität. mir leid.“ Auch wenn mir das Lächeln aus Hatte ich nicht gerade eben noch gesagt, Dennoch wagte ich es zunächst nicht, nach- dem Gesicht gerutscht war, saß seines noch ich hätte mein Leben mit einer Menge Glück zuschauen, was das Geräusch verursacht immer perfekt auf seinen Lippen. Und auch aufbauen können? Aber wenn dem so war, hatte. Erst, als mit einem Mal etwas Weißes das begleitende Schulterzucken wirkte so wieso saß ich dann hier und bezweifelte auf durch mein Sichtfeld zischte, blickte ich er- gleichgültig, dass ich es kaum ernst nehmen einmal, dass ich je verstanden hatte, was es neut zur Seite. Mit einem auffordernden Lä- konnte. Ich dachte, ich konnte von Glück überhaupt bedeutete, Glück zu haben? cheln auf den Lippen nickte der Junge zu mir sprechen, dass ich anders aufgewachsen war. herüber. Verwirrt und doch mit einer Spur Mit einer Stimme. In einem großen Haus. Mit aus Neugierde folgte ich seinem Blick bis allen sich bietenden Möglichkeiten. hin zu dem Papierflieger, der einen Hand- griff entfernt von mir gelandet war. Schnell „Wieso bist du alleine?“, lautete die nächste fischte ich das weiße Ding vom Untergrund Frage, auf die der Fremde wenig später eine und versuchte, die mit einem blauen Kugel- Antwort wollte. „Es wollte niemand mit- schreiber geschriebenen Worte zu entzif- kommen.“ Sein Lächeln verwandelte sich in fern: „Geht es dir gut?“ Falten legten sich auf ein trauriges. Es wirkte beinahe, als täte ich meine Stirn und ich brauchte einen Moment, ihm leid. Aber wieso? Sollte es nicht genau bis ich mich an den Versender wandte. „Ja, andersherum sein? 42 CARE-Schreibwettbewerb 2021 Nominierungen 14 - 18 Jahre 43
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