"Gott ist nicht das Problem" - Jochen Arnold - Michaeliskloster ...
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Jochen Arnold „Gott ist nicht das Problem“ Wahrnehmungen und theologische Überlegungen zur Feier des Heiligen Abendmahls in einer „Notsituation“ Hinführung Im Folgenden soll die gottesdienstliche Situation der evangelischen Kir- che während der ersten Welle der Corona-Pandemie im März/April 2020 in Deutschland in den Blick genommen werden. Meine besondere Auf- merksamkeit gilt dabei den Widerständen und neuen Möglichkeiten, das heilige Abendmahl zu feiern.1 Nach einer allgemeinen Situationsbeschreibung beleuchte ich im We- sentlichen drei grundsätzliche Optionen: Abendmahl-Fasten, Hausabend- mahl und digitales Abendmahl. Danach möchte ich die theologischen Ar- gumente für und gegen das digitale Abendmahl in den Blick nehmen, einige liturgiepraktische Hinweise geben und mit einem Ausblick schließen. 1 Zur Situation Ende März / Anfang April 2020 Die Situation des von den staatlichen Behörden verhängten Lockdown im März 2020 traf die Evangelische Kirche in Deutschland aufs Ganze gesehen unerwartet und mit einer Vehemenz wie wenig andere Ereignis- se in den Jahren seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.2 Auf öffentliche 1 Meine eigene auf Michaeliskloster.de veröffentlichte Stellungnahme vom 3. April ha- be ich jüngst geringfügig überarbeitet, vgl. Jochen Arnold, Gottes Wort tut, was es sagt. Stellungnahme zur Abendmahlsnotsituation, in: Für den Gottesdienst 91 (2020), S. 45–46. 2 Vgl. dazu Hanna Fülling, Digitalisierungsschub für das religiöse Leben in der Co- rona-Krise, in: Jeannine Kunert (Hrsg.), Corona und die Religionen. Religiöse Pra- 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 167 18.03.2021 14:01:05
168 Jochen Arnold (analoge) Gottesdienste – von den digitalen abgesehen – verzichten zu müssen, das hat es meines Wissens so seit Menschengedenken nicht ge- geben. Selbst globale oder nationale Katastrophen wie der 11. Septem- ber 2001, der Tsunami 2004, die Amokläufe von Erfurt 2002 und Win- nenden 2009, der Absturz der Germanwings-Maschine in Frankreich 2015 oder die Terroranschläge von Berlin 2016 konnten immer mit gro- ßen Trauer- und Gedenkgottesdiensten begleitet werden. Von daher war und ist diese Situation neu. Vielfach reagierten die Hauptamtlichen bzw. die Gemeinden rasch, indem sie Gottesdienste oder Ansprachen aus leeren Kirchen streamten oder Kurzbotschaften ins Netz stellten. Gebet und Musik, besonders aber die Feier der Sakramente traten deutlich in den Hintergrund, setzte diese doch wieder die Beteiligung mehrerer Menschen / eines Teams oder Chors voraus. Ein besonderes Problem zeichnete sich mit dem Herannahen des Gründonnerstags bzw. Karfreitags und des Osterfestes ab, an denen in den evangelischen Kirchen wie in anderen Kirchen der weltweiten Öku- mene auch gewöhnlich jedes Jahr Abendmahlsfeiern stattfinden. Es ent- brannte eine leidenschaftliche theologische Debatte, die sich um die Fra- ge rankte, ob und wie Abendmahlsfeiern unter den Bestimmungen zur Pandemie denkbar seien. Nach meiner Kenntnis wurden im Wesentlichen vier Optionen prak- tiziert und theologisch bzw. rechtlich propagiert. Dazwischen gibt es auch Übergänge oder Mischformen. – Verzicht auf eine Mahlfeier mit dem Hinweis auf die Vollgültigkeit des Wortgottesdienstes bzw. dem Vorschlag eines eucharistischen Fastens – Häusliche Abendmahlsfeier mit einem Getauften/einer Getauften als Leitenden (in Analogie zur Nottaufe) – Das Streamen einer (Agape- oder) Abendmahlsfeier mit einem/einer Ordinierten ins häusliche Wohnzimmer und der Teilnahme daran mit bereit gestellten Elementen – Teilnahme an einem digitalen Format ohne Kommunion Neben Verlautbarungen der einzelnen Landeskirchen (z. B. Hessen- Nassau, Württemberg, Baden, Hannover u. a.) äußerte sich auch die theo- xis in Zeiten der Pandemie (= EZW-Texte Nr. 268), Berlin 2020, S. 89–104, hier: S. 91–94. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 168 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 169 logische Leitungsebene der EKD in einem insgesamt ausgewogenen Statement (Anke, Bosse-Huber, Gorski, Gundlach): „Wo angesichts der geistlichen Not, sich nach dem Abendmahl zu sehnen und es doch in der gewohnten Form in unseren Kirchen nicht feiern zu können, neue Wege versucht werden, sollte dies sehr sorgfältig und unter Wahrung unserer Traditionen sowie in guter ökumenischer Verbundenheit getan werden“3, hieß es vorsichtig mahnend. Einzelne Landeskirchen empfahlen häusliche Abendmahlsfeiern (Hannover, Kurhessen4 bzw. Württemberg eingeschränkt pro loco et tem- pore), andere streamten auch Abendmahlsfeiern digital, um sie zuhause mitzufeiern (Rheinland,5 Hannover), während ebendies von anderen wie- der abgelehnt wurde (z. B. Württemberg, EKBO). Auch die Möglichkeit einer „Agapefeier“ (vgl. unten 4.) wurde vorgeschlagen und damit eine Zwischenlösung propagiert. 2 Abendmahlsfasten in einer Notsituation? Eine erste grundsätzliche Debatte ging um die Frage, ob es sich im März/ April 2020 eigentlich um eine Notsituation handle und daher ein beson- deres Vorgehen, das über normale Regelungen des ius liturgicum hinaus- geht, angezeigt sei. Sicher lässt sich dazu sagen, dass die Regierung nicht den „nationalen Notstand“ ausgerufen hat. Dennoch war und ist die durch die Pandemie (und die damit verbundenen politischen Weichen- 3 Hinweise zum Umgang mit dem Abendmahl in der Corona-Krise, unterzeichnet von Dr. Anke, Dr. Gundlach, Dr. Gorski, Bischöfin Bosse-Huber, veröffentlicht in Han- nover, 3.4.2020. Vgl. https://bit.ly/3paORMP (pdf-Datei, abgerufen am: 21.12.2020). 4 So Alt-Bischof Dr. Martin Hein (Evangelische Kirche in Kurhessen und Waldeck), vgl. Martin Hein, Am Gründonnerstag in der Familie ein „Notabendmahl“ feiern, in: idea Spektrum 08.04./2020, S. 8. 5 Das Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland lud – so Ralf Peter Reimann (vgl. http://bit.ly/38dAGQ8; abgerufen am: 16.12.2020) – am Gründon- nerstag seine Mitarbeitenden zur Hausandacht mit Abendmahl ein – per Videokonfe- renz. Man habe sich intensiv mit den liturgischen Herausforderungen und theologi- schen Fragen beschäftigt und sei zu dem Entschluss gekommen, das Abendmahl online feiern zu wollen. „Es wird sich ganz anders anfühlen, als wenn wir im Kreis zusammenstehen“, heißt es in der Einladung des Landeskirchenamtes weiter, „aber wir trauen dem Abendmahl in dieser besonderen Situation etwas zu. Wir sind nicht in einem Raum zusammen. Doch eint uns das Abendmahl miteinander und mit Chris- tus. Wo immer wir gerade auch sein werden.“ (zit. n. Lena Christin Ohm, Kerze an- zünden, Gebet formulieren, Agapemahl feiern – Digitale Rituale zu Ostern, in: evan- gelisch.de [http://bit.ly/3r37yny; abgerufen am: 27.11.2020]). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 169 18.03.2021 14:01:05
170 Jochen Arnold stellungen) entstandene „geistliche Not“ für die Kirche nicht zu unter- schätzen. Ein gottesdienstliches Versammlungsverbot – und sei es aus gut begründeten medizinischen bzw. epidemologischen Gründen – stell- te in der Geschichte der noch recht jungen Demokratie einen (erstmali- gen) massiven Eingriff in die Religions- und Versammlungsfreiheit dar.6 Gewiss mag die persönliche Notsituation in den meisten Fällen nicht mit einem Krieg oder Bürgerkrieg bzw. einer Naturkatastrophe ver- gleichbar gewesen sein. Die große Mehrzahl der Menschen war nicht in- fiziert oder in tödlicher Gefahr. Und doch war die Situation einzelner plötzlich durch Quarantäne isolierter Personen, besonders in den Pflege- heimen und auf den Intensivstationen – unter Umständen verbunden mit striktem Besuchsverbot, womöglich einer beängstigenden Corona-Diag- nose samt konkreten bedrohlichen Symptomen – in dieser Brisanz so kaum dagewesen. Von daher plädierten viele dafür, den Lockdown als tatsächliche seelsorgliche Notlage zu begreifen und diese mit der bedrän- genden Situation zu vergleichen, die eine Nottaufe rechtfertigt.7 Bei Idea Spektrum war am Mittwoch der Karwoche 2020 zu lesen: „Christen sollten am Gründonnerstag bei sich zu Hause im Familienkreis gemeinsam ein ‚Notabendmahl‘ feiern. Das schlägt der frühere Bischof der Evangelischen Kir- che von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein (Kassel), vor. Wie er in seinen ‚Gedanken zum Gründonnerstag‘ schreibt, die er auf seiner Internetseite veröffentlicht, hat Jesus Christus nach der biblischen Überlieferung an dem Tag vor seinem Tod das Abend- mahl mit seinen Jüngern gefeiert. Weil solche Erinnerungsfeiern wegen der Corona- Pandemie in diesem Jahr in Kirchengemeinden nicht möglich seien und die Elemen- te des Abendmahls, Brot und Wein, nicht digital, sondern ‚nur in echt‘ empfangen werden könnten, sei ihm die Idee mit dem ‚Notabendmahl‘ gekommen. Zur Begrün- dung verweist Hein auf jüdische Seder-Feiern, die ebenfalls im Familienkreis began- gen würden.“8 Heins Begründungsfigur ist zunächst schlicht biblisch mit dem Hinweis auf urchristliche Mahlfeiern (Lk 24 und Apg 2) motiviert. In Analogie zur Nottaufe möchte er dem allgemeinen Priestertum der Getauften die 6 Auch andere Religionsgemeinschaften traf dies hart, vgl. zum Judentum und Islam: Hanna Fülling, Digitalisierungsschub für das religiöse Leben, 96–99. 7 Vgl. Jochen Arnold, Gottes Wort tut, was es sagt, 45. Dagegen steht in der der EKD-Stellungnahme (vgl. Anm. 3), S. 2: „Bei der Nottaufe geht es darum, den nicht mehr zu heilenden Umstand zu verhindern, dass ein Mensch ungetauft stirbt. Die see- lische oder geistliche Not, nicht Abendmahl feiern zu können, ist damit nicht ver- gleichbar.“ Diese Äußerung klingt angesichts der persönlichen Dramatik infizierter oder isolierter Menschen einigermaßen zynisch. 8 Vgl. Martin Hein, Am Gründonnerstag. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 170 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 171 Austeilung des Abendmahls bzw. Leitung einer häuslichen Abendmahls- feier anvertrauen.9 Dies ist in letzter Konsequenz auf der Linie des lutherischen Bekennt- nisses (Confessio Augustana = CA 5), wonach dem ministerium verbi divini – gemeint ist hier das verkündigende Amt aller Getauften – die Be- zeugung des Evangeliums und auch die Austeilung der Sakramente anvertraut ist. Dieser Artikel gilt – so jedenfalls die Opinio Communis – unabhängig von der Berufung zum ordinierten Amt bzw. von der Erlaub- nis öffentlich zu lehren (vgl. CA 14)10. Die Feststellung einer Notsituation muss freilich nicht automatisch zu einem häuslichen Abendmahl führen. Für manche Theologinnen und Theologen war genau das Gegenteil angezeigt: ein zeitweiliges „Fasten“ des Abendmahls.11 Die in diesem Zusammenhang – besonders von re- nommierten Professoren (männlich) – vorgetragenen Argumente seien hier kurz ausgeführt. Volker Leppin, Kirchenhistoriker mit Schwerpunkt Reformationsge- schichte an der Universität Tübingen, schreibt nach einem flammenden Plädoyer für die Leiblichkeit des Sakraments, die eine digitale Feier un- möglich mache: „Das Abendmahl passt in die Corona-Situation einfach nicht hinein. Dieses Ärgernis könnte man sehr dürr zusammenfassen: Hygienische Bestimmungen, definiert durch das Robert-Koch-Institut, und implementiert durch die Bundesregierung und die Landesregierungen machen Abendmahl unmöglich […]. Eine geistliche Deutung der gegebenen Situation ist etwas ganz anderes als digitale Ersatzhandlungen zu schaf- 9 Vgl. Martin Hein, Am Gründonnerstag: Hein räumt ein, dass in der Kirchenordnung seiner Landeskirche ein „Notabendmahl“ nicht vorgesehen sei. Aber sie kenne die „Nottaufe“: „Alle getauften Christen haben das Recht, wenn für einen Menschen, insbesondere für ein neugeborenes Kind, Lebensgefahr besteht und ein Pfarrer nicht kommen kann, selbst die Taufe zu vollziehen.“ 10 Vgl. dazu Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSLK), Göttingen 1979, S. 58 bzw. 69. 11 Vgl. Kristian Fechtner, Abendmahlsfasten in widriger Zeit. Überlegungen, ob man Abendmahl online feiern kann und soll, Mainz 2020 (online-Thesenpapier: https:// bit.ly/2K81Hwk; abgerufen am: 16.12.2020) bzw. die EKD Stellungnahme, 1: „Für wieder andere ist angesichts der Tatsache, dass diese Notsituation befristet ist, das Abendmahlfasten auch am Gründonnerstag und in der bevorstehenden österlichen Freudenzeit die beste Form der Bewältigung […]. Ob man über eine rein individuell zu verantwortende Einschätzung der Schwere der Notsituation hinauskommt, wird auch davon abhängen, wie man die Kraft des Wortes beurteilt: Betont man intensi- ver, dass die Gegenwart Jesu Christi im Wort von Kreuz ausreichend und vollständig gegenwärtig ist, dann lässt man sich leichter auf eine befristete Zeit des Abendmahl- fastens ein.“ 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 171 18.03.2021 14:01:05
172 Jochen Arnold fen. Die Leere am Gründonnerstag, die Leere in den Kirchen am Karfreitag 2020 er- innert an die Leere dieser Welt durch den Tod Gottes an Karfreitag. […] Diese Bot- schaft ist auch auszuhalten – und nicht durch gut gemeinte aber wenig reflektierte Digitalsurrogate zuzukleistern.“12 Damit wird die Corona-Krise geschichtstheologisch gedeutet. Die luthe- rische Figur des Deus absconditus (vgl. Ps 22 bzw. Mk 15,34) wird mit Blick auf die Passion Jesu gleichsam als Interpretament der aktuellen Noterfahrung herangezogen. Als Konsequenz aus dieser Deutung wird der ebenfalls in der Passionszeit erteilte biblische Auftrag Jesu Christi an seine Jünger: „Solches tut zu meinem Gedächtnis!“ zeitweilig dispen- siert. Die Polemik gegenüber digitalen Feiern ist dabei unverkennbar. Man fragt sich in allem: Woher kommt die Autorität der geschichtlichen Deutung und woher die Sicherheit in den theologischen Ansagen? Um die Spannung aufzulösen, bekommt die Osterbotschaft, kommu- niziert durch die kirchliche Wortverkündigung, großes Gewicht. Sie soll die (sakramentale) Leere wieder auffüllen und neue österliche Gewiss- heit vermitteln. Dabei ist dann auch (fast) jedes Wort-Medium recht. Leppin schreibt: „Nicht wie das geschieht. Ob digital oder gedruckt, im Fernsehen oder im Radio, ist die entscheidende Frage, sondern was das heute, hier und jetzt bedeuten kann an ei- nem Krankenbett […]. Auch da ernsthaft verkündigen zu können: ‚Er ist auferstan- den‘ – das ist eine Aufgabe, die der Kirche 2020 aufgetragen ist. Gerade 2020.“13 Die durch die fehlende Abendmahlsfeier entstehende Lücke soll exklu- siv durch die Wucht der österlichen Verkündigung – ohne gemeindliche Gottesdienste! – geschlossen werden. Das mediale Wort soll das gottes- dienstliche Sakrament ersetzen. Etwas bescheidener argumentiert der Mainzer Praktische Theologe Kristian Fechtner, wenn er schreibt: „Meine Empfehlung in dieser Zeit und bis auf Weiteres: Solange keine Gottesdiens- te als gemeinschaftliche Zusammenkunft von Christinnen und Christen stattfinden können, sollten wir auf die Feier des Abendmahls bewusst verzichten. […] Ein Ver- zicht bringt auch die diakonische Dimension des Abendmahls zur Geltung, denn er macht – ohne es technisch zu überspringen – sinnenfällig, dass Menschen in und 12 Volker Leppin, In, mit und unter. Ein digitales Abendmahl widerspricht dem luthe- rischen Verständnis, in: zeitzeichen (http://bit.ly/2LIQjrp; abgerufen am: 16.12.2020). Man fragt sich in all dem: Worin unterscheidet sich das digitale Surrogat der Mahl- feier gegenüber dem digitalen Surrogat der Predigt? Ist nicht beides eine „innenhaft- leibliche“ Angelegenheit? 13 Volker Leppin, In, mit und unter. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 172 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 173 durch ihre leibliche Existenz gefährdet sind. Ein solches Abendmahlsfasten steht in der Hoffnung und unter der Verheißung, die bleibende Verbundenheit mit Christus und untereinander künftig wieder gemeinschaftlich feiern zu können. In der Zwi- schenzeit gibt es andere religiöse Praxen (z. B. Beten, Segnen, individuelle alltags- nahe Rituale, Lesen, seelsorgliche Gespräche), durch die Verbundenheit entsteht und geistliche Stärkung erfolgt.“14 Mit dieser Begründung wird das Sakramentsfasten als demütiges Zei- chen der Kreuzesnachfolge in diakonischer Verantwortung interpretiert. Es lebt in den Herzen weiter in der Hoffnung, sich einmal wieder ver- sammeln zu können und soll durch andere Rituale und Praktiken bewusst ersetzt werden. Wort- und Segensfeiern kompensieren ritualtheoretisch und -praktisch die Feier des Altarsakraments. Ob der gänzliche Verzicht auf eine Feier des Heiligen Abendmahls in der Karwoche, mithin ein völliges „Abendmahl-Fasten“, ein echte theo- logische Option oder nur eine Verlegenheit darstellt, möchte ich hier nicht beurteilen.15 Jedenfalls ist klar, dass all diejenigen, die sich von kirchenleitender Seite (!) gegen ein häusliches Abendmahl oder eine di- gitale Übertragung entschieden haben, eines der beiden äußeren Kenn- zeichen von Kirche (CA 7),16 nämlich die Feier des Altarsakraments, zeitweise einfach dispensierten. Wenn die Notsituation als solche Be- gründung für das Fasten war, müsste dies eigentlich in kirchlichen Hand- reichungen von evangelischer Seite bedacht werden. Von katholischer Seite ist mir bekannt, dass es um die Frage des „Eucharistienotstands“ schon lange immer wieder Diskussionen gibt. Viele denken dabei an die Berufung sog. viri probati, (oder besser: personae probatae), Personen, die sich aufgrund ihres Einsatzes, ihrer Kenntnisse und ihres Charakters bewährt haben und dann ordiniert werden, um in ihren Gemeinden die Eucharistie und auch Krankensalbung zu feiern und damit die geweihten Priester zu vertreten. 14 Kristian Fechtner, Abendmahlsfasten in widriger Zeit, 3. 15 In der Alten Kirche pflegten fromme Aszetikerinnen die sog. „Basilikaabstinenz“ und aßen das heilige Brot zuhause (vgl. Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, in: Dies., @Worship. Liturgical Practices in Digital Worlds, London / New York, S. 75– 100, hier: S. 90). Auch die von den Reformatoren kritisierte Augenkommunion bei der Eucharistie bzw. die rein spirituelle Kommunion am Bildschirm bei der Feier ei- nes Abendmahlsgottesdienstes sind in gewisser Weise Formen eucharistischer Ent- haltsamkeit. 16 Vgl. BSLK, 61. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 173 18.03.2021 14:01:05
174 Jochen Arnold 3 Häusliche Abendmahlsfeier Damit sind wir bei der ersten Alternative zum Aussetzen oder Fasten des Abendmahls.17 Gemeint ist eine häusliche Mahlfeier, geleitet von einer getauften Christin, wie wir sie u. a. in „Gottesdienst zeitgleich“ vom Mi- chaeliskloster aus entwickelt und erstmalig für den Gründonnerstag ver- breitet haben. Hingewiesen sei hier auf einen schon früh erschienenen Brief des ba- dischen Landesbischofs Prof. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh vom 27. März 2020: Abendmahl feiern in Zeiten der Corona-Pandemie. Er wendet sich an die Pfarrerinnen und Pfarrer: „[…] Ich lade Sie ein, Ihre Gemeinden zu ermutigen […] zu Hause bei sich am Familientisch am Gründonnerstag das Abendmahl zu feiern, vielleicht vor dem Abendes- sen oder darin integriert. Der Glaube ist eine Kraft, die sich mitten im Alltag, im Leben der Menschen als wirksam erweist; machen Sie den Menschen in Ihren Gemeinden und Einrichtungen Mut, das für sich mit ihren Angehörigen zu erproben. Wichtig scheint mir, dass wir uns wech- selseitig zusprechen, was uns verheißen ist, uns dabei als Personen in die Augen schauen und uns hören: Das Brot des Lebens – der Kelch des Heils – Christus für dich!“18 Auch die Zeitschrift Chrismon hat (in Abstimmung mit der Kirchen- leitung der ev. Landeskirche von Hessen und Nassau) mit ihrem Beitrag „Ostern@home“ dafür geworben und einen Karfreitags- bzw. Ostergot- tesdienst zuhause mit Abendmahl vorgestellt. Am Rand steht der Satz: „Auch wenn Sie an diesem Tag allein sind, auch wenn wir nicht zusam- men sein können, verbindet uns im Gottesdienst das Abendmahl. Jede und jeder ist eingeladen, dabei ein Stück Brot zu essen und einen Schluck Saft zu trinken.“19 Die Liturgie beginnt mit dem trinitarischen Votum, der Lesung von Ps 22 und Mk 15 (am Karfreitag) bzw. Versen aus Mk 16 und Elementen der Liturgie der Osternacht („Der Herr ist auferstanden“) am Ostersonn- 17 Vgl. dazu grundsätzlich Traugott Roser, „… und brachen das Brot hier und dort in den Häusern …“ (Apg 2,46). Mahlfeier als Christentumspraxis in poimenischer und liturgischer Perspektive, in: KuD 66 (2020), S. 1‑16. Rosers Resümee geht dahin, dass die häusliche Mahlfeier seit den 1950er Jahren zunehmend marginalisiert bzw. zeitgleich „verkirchlicht“ wurde. 18 Brief des Landesbischofs vom 27.03.2020, vgl. Jochen Cornelius-Bundschuh, Abendmahl feiern in Zeiten der Corona-Pandemie (https://bit.ly/3nrX3aZ; abgerufen am: 17.11.2020). 19 Chrismon spezial, Ostern 2020, S. 6. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 174 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 175 tag. Ihr folgen die Einsetzungsworte, die mit einer kurzen Meditation eingeleitet werden. Die Spendeformel sprechen sich alle Anwesenden gleichzeitig zu. Es folgen Fürbitten und eine Segensbitte (mit „Segen“ überschrieben). Umstritten war und bleibt die Frage, ob die ganze Liturgie von einer Person allein gelesen und die Einsetzungs-/Spendeworte auch selbst ge- sprochen werden, oder ob das jemand anderes tun sollte. Im Entwurf des Michaelisklosters war es möglich, die Einsetzungsworte anzuhören, um sie, wenn man allein ist, nicht selbst sprechen zu müssen. So entsteht die Möglichkeit, gleichsam eine vox externa zu vernehmen, die der Einzel- person das Gefühl gibt, dass sie nicht allein ist und ein Gegenüber ihr die Worte der Einladung zuspricht. Damit soll die Situation vermieden wer- den, als müsse oder könne man sich die Herrenworte bzw. die Spende- formel selbst zusagen („für mich gegeben“). Aus der Perspektive meiner Hannoverschen Landeskirche, der größ- ten innerhalb der EKD, kann ich berichten, dass die von uns vorgeschla- gene Linie der Argumentation und auch der liturgischen Realisierung insgesamt auf große Zustimmung stieß, ohne dass dieser Fall bis zu die- sem Zeitpunkt rechtlich geregelt gewesen wäre. So verständigten sich die Regionalbischöfe und die Regionalbischöfin unter der Leitung von Landesbischof Meister darauf, aufgrund der Notsituation, die häuslichen (und digitalen) Feiern zu befürworten. Die Evangelische Kirche im Rheinland dagegen hatte diesen Fall be- reits geregelt und sieht in Art. 74 ihrer Kirchenordnung dafür folgendes vor: „Die Feier des Abendmahls wird von Ordinierten geleitet. Presbyte- rinnen und Presbyter und andere Mitglieder der Kirchengemeinde kön- nen mitwirken. In Notfällen können sie auch die Feier des Abendmahls leiten.“ Ähnliches findet sich auch in der Lebensordnung der EKHN (Abschnitt II, Nr. 125). Der Kirchenjurist Matthias Friehe schreibt dazu: „Die Vorschrift ist nicht so klar und deutlich gefasst wie die Bestimmung über die Nottaufe. Aber im Ergebnis beruft sie doch jedes Kirchenmit- glied ‚im Notfall‘ zur Leitung der Abendmahlsfeier.“20 Die Verlautbarung des OKR Stuttgart (Dr. Frank Zeeb) vom 3. April 2020 argumentierte und regulierte dagegen deutlich restriktiver im Sin- ne einer Erlaubnis pro loco (Privathäuser) et tempore (Gründonnerstag und Karfreitag): 20 Matthias Friehe, Abendmahl @home. Nur Mut: Feiert das Abendmahl – ganz bib- lisch – zu Hause, in: zeitzeichen (http://bit.ly/3moEenY; abgerufen am: 16.12.2020). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 175 18.03.2021 14:01:05
176 Jochen Arnold „Immer wieder wird gefragt, ob es möglich ist, in den Familien Abendmahl zu feiern […]. Angesichts der gegenwärtigen Notsituation hat das Kollegium des Oberkirchen- rates am 31. März 2020 beschlossen, die Regelungen für eine Hausabendmahlsfeier für die Tage der Einsetzung des Heiligen Abendmahls (Gründonnerstag, 9. April 2020) und den Tag der Kreuzigung des Herrn (Karfreitag, 10. April 2020) auszuset- zen, den Familien also die Abendmahlsfeier im häuslichen Kreis an diesen beiden Ta- gen zu gestatten, auch wenn keine von der Landeskirche ausgebildeten und ermäch- tigten Personen im Sinne der Abendmahlsordnung anwesend sind, die die Feier leiten.“21 Ganz anders akzentuiert Matthias Friehe. Er hält zunächst den christolo- gisch-ekklesiologischen „Standard“ fest: „Die Abendmahlsfeier soll re- gelmäßig im Gottesdienst stattfinden. […] Wenn es Christus ist, der zum Abendmahl einlädt, dann ist es am Gründonnerstag 2020 unter den ge- gebenen Umständen besonders nötig.“22 Damit ist vom Auftrag Christi und vom Bekenntnis der Kirche her an der Abendmahlsfeier zunächst unbedingt festzuhalten und nur, wenn es gar nicht anders geht, davon ab- zusehen. Wenig diskutiert wurde in jenen Wochen die grundsätzliche Frage, ob ein häusliches Abendmahl überhaupt ein öffentlicher Gottesdienst sei und damit die Frage nach der Leitung durch eine ordinierte oder berufe- ne Person (CA 14) überhaupt relevant ist. Immerhin wäre es ja auch denkbar, eine häusliche Abendmahlsfeier als „Andacht“ zu verstehen, die eben nicht unter diesen Artikel fällt, da es sich nur um eine sehr ein- geschränkte Öffentlichkeit handelt.23 Deutlich ist jedenfalls, dass sich al- le Befürworter eines häuslichen Abendmahls der ökumenisch relevanten Frage stellen müssen, welchen Grad der Öffentlichkeit eine solche Feier hat und wer sie deshalb unter welchen Vorzeichen leiten darf. Zusammengefasst seien hier nochmals die beiden Positionen gebün- delt: 21 Vgl. Ev. Landeskirche in Württemberg, Geistliches zur Corona-Pandemie (http:// bit.ly/3gUsbNZ; abgerufen am: 16.12.2020); Evangelische Landeskirche in Württemberg, Theologische Überlegungen zur Feier des Heiligen Abendmahls in der Karwoche 2020, S. 2. 22 In meiner oben (Anm. 1) erwähnten Stellungnahme „Abendmahl in einer Notsituati- on“ habe ich ähnlich argumentiert. 23 Vgl. Kristian Fechtner, Abendmahlsfasten in widriger Zeit, 2: „Insofern es sich da- bei um eine eigenständige Form des privaten Christentums handelt und nicht um ei- ne öffentliche Abendmahlsfeier der Kirche, kann m. E. der Aspekt der ordnungsge- mäßen Berufung in das Amt der Verkündigung und Sakramentsverwaltung in der gegenwärtigen Situation zunächst ausgeklammert werden.“ 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 176 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 177 PRO: In Analogie zur Nottaufe betrachte(te)n einzelne evangelische Landeskirchen getaufte Christen und Christinnen als befähigt,24 Abend- mahlsfeiern in den Häusern zu leiten. Damit begeben sie sich gleichsam „back to the roots“, und nehmen das auf, was u. a. in der Apostelge- schichte von den ersten Christen erzählt wird, wonach sie „das Brot mit- einander in den Häusern brachen“ (Apg 2,42–27). Damit ist eine ordent- liche Berufung zur Leitung der öffentlichen Sakramentsfeier nicht gänzlich außer Kraft gesetzt (vgl. CA 14). Die exklusive Stellung der Be- rufung zur öffentlichen Verkündigung und Sakramentsverwaltung hat nach der Not- oder Ausnahmesituation wieder volle Gültigkeit. CONTRA: Gegen häusliche Abendmahlsfeiern unter der Leitung von Nicht-Ordinierten spricht die in der römisch-katholischen und zahlrei- chen orthodoxen Kirchen geltende Ablehnung solcher Feiern, zumindest mit dem Anspruch, „vollgültig“ Eucharistie zu sein. Somit argumentie- ren ökumenisch sensible evangelische Theologinnen und Theologen in- tuitiv in geschwisterlicher Rücksichtnahme eher mit Zurückhaltung. Besonders umstritten war und ist die Abendmahlsfeier einer einzel- nen Person, in der sie sich selbst (evtl. unter Zuhilfenahme eines akusti- schen Mediums, das die Einsetzungsworte spricht) die Elemente nimmt. Der für das Sakrament fundamentale Gedanke des Empfangens und der geschwisterlichen Gemeinschaft tritt hier (notgedrungen) stark zurück. Allerdings ist es auch möglich, gleichsam „unterhalb“ der Abend- mahlsfeier eine andere Form der Gemeinschaft bzw. des gemeinsamen Essens anzubieten, die nicht so stark agendarisch geprägt ist: die sog. Agape-Feier. In den Zeiten der Pandemie ist und war dies analog eben- falls nur eingeschränkt möglich (Essen mit Abstand von wenigen Perso- nen aus max. zwei Haushalten, möglichst an einem Tisch). Der Vorteil dabei ist, dass die Ausführenden nicht in der Verlegenheit sind, die Fra- ge nach dem Vorsitz der Feier zu rechtfertigen. In diese Richtung geht ein Erfahrungsexperiment aus New York: 4 Häusliches oder digitales Agapemahl Miriam Groß, Pfarrerin der deutschsprachigen Evangelisch-Lutheri- schen Gemeinde in New York, hat kein klassisches Abendmahl in der Karwoche angeboten. „Weil die Bedürftigkeit so groß war, haben wir et- 24 Vgl. https://bit.ly/37D8oiX (abgerufen am: 21.12.2020). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 177 18.03.2021 14:01:05
178 Jochen Arnold was Unbekanntes gewagt und ein digitales Agapemahl gefeiert“, erzähl- te Groß im EKD-Webinar. Ihr sei es wichtig gewesen, die Menschen so seelsorgerisch durch den Einsatz digitaler Medien aufzufangen. Ein Agapemahl unterscheidet sich vom Abendmahl vor allem da- durch, dass es ohne die Einsetzungsworte stattfindet, die beim Abend- mahl über Brot und Kelch gesprochen werden. Außerdem darf im Prin- zip jede/r zu so einem Mahl einladen und jeder darf daran teilnehmen, weshalb es in der Ökumene beliebt bzw. als unproblematisch gilt ist. Bei einem Agapemahl stehen das gemeinschaftliche Essen und Trinken im Vordergrund. Gleichwohl ist es eine geistliche Feier, die von Gebet und Bibelworten getragen wird. Miriam Groß schildert, dass sie die Teilnehmer des Agapemahls zu- erst einmal in der Videokonferenz begrüßt habe und danach sei ein Aus- tausch über die aktuelle Situation entstanden. „Ich habe gemerkt, dass dieser Austausch wichtig war, weil wir so gezeigt haben, dass wir einan- der wahrnehmen. So ist dann die Distanz geschmolzen“, erläutert die Pfarrerin. Nach einem Eröffnungsgebet und zwei Lesungen habe sie dann die Danksagung über Brot und Wein gesprochen, den Segen für die Versammelten formuliert, und dann habe man gemeinsam das Vaterun- ser gesprochen. „Und dann haben wir das Kreuzzeichen über Brot und Becher gemacht und das Brot gemeinsam gebrochen.“ Danach habe es Musik und einen Segen als Anschluss und Überführung in den gemütli- chen Verzehr der Nahrung gegeben. „Es war eine sehr intensive Stunde, aber die Rückmeldung der Teilnehmenden war durchweg positiv. Es hat allen gut getan und sie möchten gern mehr davon erleben“, erzählt Mi- riam Groß. Deshalb beschloss sie, im Karfreitagsgottesdienst ebenfalls ein Agapemahl zu feiern.25 5 Abendmahl online vor Corona – eine Spurensuche Bevor wir uns den Argumenten für und gegen ein digitales Abendmahl in der Pandemie zuwenden, möchte ich zunächst einige Spuren davon aus den Zeiten davor darlegen: Welche Vorerfahrungen gab es damit in der (weltweiten) Ökumene? Ich muss zugeben, dass ich bis 2020 zwar 25 Vgl. Lena Christin Ohm, Kerze anzünden, Gebet formulieren, Agapemahl feiern (abgerufen am: 27.11.2020). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 178 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 179 die Diskussionen mit Interesse verfolgt habe,26 aber eine letzte Relevanz oder Notwendigkeit nicht gesehen hatte. Teresa Berger27 und Christian Grethlein28 nennen verschiedene Erfah- rungen und Optionen in Publikationen, die vor der Pandemie erschienen sind. Eine erste Möglichkeit stellt die Partizipation an Livestream-Gottes- diensten mit Abendmahl dar, die es seit über 20 Jahren in unterschiedli- chen Gemeinden weltweit gibt. Mit z. T. großer Selbstverständlichkeit nahmen und nehmen Menschen einer großen Online-Gemeinde an sol- chen Feiern teil. Manchmal werden diese auch in Krankenzimmer von Kliniken übertragen und unterscheiden sich damit m. E. nicht substan- ziell von einem Gottesdienst, der von der Krankenhauskapelle live in die Klinik übertragen wird. Auch Fernsehgottesdienste mit Eucharistiefeier fallen mehr oder weniger unter diese Rubrik. Eine Eucharistie-App (missal App) ermöglicht seit 2015 den Zugang zu Messtexten und Liedern auf dem Smartphone. Dabei geht es nicht nur um das Nachlesen oder Herunterladen von Texten für die Gottesdienst- vorbereitung, sondern auch um einen aktiven liturgischen Gebrauch: „May I use a Missal app during a Mass?“ fragt da jemand und bekommt die Antwort: „Unless instructed not to, the answer is YES. These apps were designed for that purpose and some even carry approval from dio- cesan and Vatican authorities.“29 26 Vgl. besonders die Dissertation von Stefan Böntert, Gottesdienste im Internet. Per- spektiven eines Dialogs zwischen Internet und Liturgie, Stuttgart 2005. 27 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 75–100. 28 Christian Grethlein, Liturgia ex machina, in: Alexander Deeg / Christian Lehnert (Hrsg.), Liturgie – Körper – Medien, Leipzig, 2019, S. 45–64. 29 Jennifer Kane, Missal apps: the most popular Catholic apps searched, in: catholic aptitude (http://bit.ly/3gSq3Gi; abgerufen am: 16.12.2020). Gebets-Apps gibt es auch im deutschsprachigen Raum, u. a. die Gebets-App des Herder-Verlags. Ariane Wilke schreibt dazu am 4. März 2020, also noch vor dem Lockdown (!): „Nach der Installation geht es dann auch ohne Registrierung los. Der Startbildschirm bietet Dir drei wesentliche Funktionen an: Täglich Beten, Anlässe und Favoriten. In der Rubrik Täglich Beten findest Du wichtige Gebete für den Alltag. Dazu gehören etwa Das Va- ter unser, Das Ave Maria oder Gloria. Ein Klick auf das gewünschte Gebet und schon hast Du den Text vor Dir. Möchtest Du diesen mit Freunden oder Familie via WhatsApp, E‑Mail oder SMS teilen, findest Du das entsprechende Symbol am obe- ren Displayrand. Hier befindet sich auch das Herz-Zeichen, mit dem Du das ge- wünschte Gebet als Favoriten markierst. Unter Anlässe hast Du wiederum die Mög- lichkeit, Gebete für bestimmte Situationen wie etwa Bitte um Frieden oder Gebet für die Feinde aufzurufen. Damit ist die Beten-App eine würdige Anwendung für eine 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 179 18.03.2021 14:01:05
180 Jochen Arnold Eine Variation oder Verknüpfung beider Formen ist die von Papst Franziskus schon 2013 propagierte Initiative einer weltweiten Synchro- nisation eucharistischer Anbetung (2. Juni 2013), bei der sich jede Ge- meinde auf dem Globus mit der Feier in der römischen Basilika von St. Peter verlinken kann. Vor Ort sollte es dann selbstverständlich zeit- gleich trotzdem eine „Live-Kommunion“ unter der Leitung eines ge- weihten Priesters geben. Dies war allerdings rund um den Globus gar nicht so leicht. In den begleitenden digitalen Medien wurde (nachträglich?) das ei- gentliche Ziel der Mission nicht nur im Sinne einer globalen räumlichen Ausweitung, sondern auch einer zeitlichen Entgrenzung verstanden: „The goal of on-line adoration is not to replace or to minimize the hours spent in the PHYSICAL presence of the Blessed Sacrament, but rather to multiply them. Our mis- sion is to bring the live electronic image of Our Lord in the Blessed Sacrament to tho- se who can’t physically present in Adoration.“30 Deutlich unterschieden von diesen Formen sind inszenierte Darbietun- gen im Internet. Dabei kommen auch Avatare zum Einsatz, die stellver- tretend für reale Personen an einer Mahlfeier teilnehmen, um die Imagi- nation der Teilnehmenden am Bildschirm zu unterstützen.31 Wieder anders verhält es sich mit einem Abendmahl, das von vornhe- rein so konzipiert ist, dass sich (einzelne) Menschen im digitalen Raum (z. B. Zoom) treffen, ohne dass eine analoge größere Gemeinde in einer Kirche versammelt ist. Hier ist eine klare Uhrzeit vorgegeben, bei der die Feier beginnt und endet. Die einsetzende bzw. austeilende Person sollte ordiniert oder berufen sein und vor ihrem Bildschirm auch selbst Emp- fangende sein, um nicht den Eindruck zu wecken, dass sie sich „selbst bedient“ (Priestermesse). Wesentlich ist dabei, dass Brot und Wein tat- sächlich „genommen werden“ und sowohl die Einsetzungsworte als auch die Spendeworte („Christi Leib für dich gegeben“ bzw. „Christi Blut für dich vergossen“) von Seiten des Liturgen der online versammelten Ge- intime Aussprache mit Gott.“ (Ariane Wilke, Beten-Apps: 3 beste Apps zum mobi- len Gebet, in: DH. Magazin [http://bit.ly/3p2mC2V; abgerufen am: 25.11.2020].) 30 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 82; bzw. www.savior.org/webadoration. htm. Inwieweit es sich bei diesen Stellungnahmen um Privatmeinungen einzelner Personen handelt, entzieht sich meiner Kenntnis. 2019 hat der Papst auch unter sei- ner „Click to pray“- APP zum Angelus-Gebet auf dem Petersplatz eingeladen, vgl. Stefan von Kempis, Papst Franziskus beim Angelus: „Das einfache Lebenspro- gramm“, in: Vatican News (http://bit.ly/3qY1mx7; abgerufen am: 16.12.2020). 31 Vgl. z. B. Avatar inklusive. Gottesdienst in der „Virtual-Reality“, in: jesus.de (http:// bit.ly/2LBPZdL; abgerufen am: 16.12.2020). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 180 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 181 meinde zugesprochen werden. Solche und ähnliche Formate haben wir vom Michaeliskloster Hildesheim aus mit ca. 20 Vikarinnen und Vikaren im Predigerseminar Loccum im Mai 2020 und Januar 2021 durchgeführt. Um sich nach diesem Durchgang nochmals eine „eucharistische Not- situation“ besser vor Augen zu stellen, sei hier abschließend ein plas- tisch-prekäres Beispiel erwähnt, von dem Teresa Berger berichtet. Eine christliche Familie versammelt sich mitten im syrischen Bürgerkrieg im Haus ihres muslimischen Nachbarn, der eine Webcam besitzt, und nimmt online an einer Eucharistiefeier einer syrischen Gemeinde in Nordame- rika teil. Nach den Einsetzungsworten des Priesters kommuniziert die Familie mit vor dem Bildschirm bereit gestelltem Brot und Wein gleich- zeitig mit der Gemeinde in Übersee.32 War das ein gültiges Abendmahl? Oder ist es so, als ob man während des Gottesdienstes in den Bänken sitzen geblieben wäre? Wer so denkt, würde die Ablehnung nicht an der Person des leitenden Liturgen (und dessen zweifelsohne existierender Weihe) festmachen, sondern am Me- dium der Digitalität bzw. an der fehlenden leiblichen Ko-Präsenz der Fa- milie gegenüber der restlichen Gemeinde. Man bedenke ferner: Immer- hin gibt es ein tatsächliches Mitessen und Mittrinken und das Gefühl für eine Gemeinschaft mit Hören auf das Wort und mit der Anbetung Gottes. 6 Wirkt Gott auch digital? – Systematisch‑theologische Überlegungen Die hinter vielen Argumenten stehende Frage, ob ein Online-Abendmahl angemessen sei wirft die Frage auf, ob eine solche Kommunikationsform der christlichen Vorstellung göttlicher Offenbarung oder Heilsvermitt- lung grundsätzlich entspricht oder widerspricht. Damit werden eine Vielzahl von theologischen bzw. christologischen und pneumatologischen, aber auch anthropologischen und ekklesiologi- schen Argumentationsfiguren bemüht, die an substanzielle Grundsatzfra- gen heranführen. 32 Vgl. Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 77. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 181 18.03.2021 14:01:05
182 Jochen Arnold 6.1 „Das Wort ward Fleisch“ – Hat sich Christus an eine bestimmte Form von „leiblicher“ Vermittlung gebunden? Ein vielfach anzutreffendes Argument gegen das Online-Abendmahl lau- tet: Gott hat sich in Christus inkarniert. Er hat Fleisch und Blut angenom- men. Das Kind in der Krippe, der Mann am Kreuz ist ein realer Mensch gewesen (und ist es noch!). Analog dazu wird gesagt: Das gnädige Her- abkommen ins Fleisch ist auch dem Abendmahl und seiner Feier einge- stiftet. Über fast 2000 Jahre haben Christen in einer konkreten Gemein- schaft von mindestens zwei oder drei Personen (vgl. Mt 18,20) unter Brot und Wein Christus empfangen. Horst Gorski, leitender Theologe der Vereinigten Lutherischen Kir- che in Deutschland, erinnert sowohl an zentrale Weichenstellungen der Theologie- und Dogmengeschichte als auch an die innerevangelische Leuenberger Konkordie, die 1973 zur Gemeinschaft Evangelischer Kir- chen in Europa führte, deren zentraler Identitätspunkt die Abendmahls- gemeinschaft unter Lutheranern, Reformierten, Unierten, Methodisten und einigen anderen Kirchen ist.33 Gorski akzentuiert die „völlige Per- soneneinheit von Menschheit und Gottheit in Jesus Christus“, welche be- sonders die alexandrinische und später die lutherische Tradition geprägt habe. Sie stehe der je „unversehrten Gottheit und Menschheit: Gott im Himmel, der Mensch auf der Erde“ gegenüber, die besonders für die An- tiochener und die Reformierten wichtig (gewesen) sei. Mit Blick auf die Konkordie (Ziffer 22) meint Gorski, könne die „Selbsthingabe des auferstandenen Christus“ mal eher in die eine oder eher in die andere Richtung akzentuiert werden. Diese theologischen Denkvoraussetzungen hätten meist eine entweder positive (eher refor- mierte) oder aber eine negative (eher lutherische) Haltung zum digitalen Abendmahl zur Folge.34 Sein eigentliches Anliegen ist – ausgehend von Ziffer 19 der Konkordie – vor einer Verdunklungsgefahr zu warnen, die darin besteht, „die Gemeinschaft mit Jesus Christus in seinem Leib und Blut“ vom „Akt des Essens und Trinkens zu trennen“35. Die Problematik 33 Horst Gorski, Erinnerung an Leuenberg. Der „Streit ums Abendmahl“ lohnt ein Blick auf ein grundlegendes theologisches Dokument, in: zeitzeichen (http://bit.ly/ 3ns1vGJ5; abgerufen am: 16.12.2020). 34 Diese Beobachtungen decken sich mit der Situation der evangelischen Kirchen in Ungarn, wo ein digitales Abendmahl in den reformierten Kirchen praktiziert wurde, während es in den lutherischen Kirchen strikt abgelehnt wurde. 35 Vgl. Horst Gorski, Erinnerung an Leuenberg. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 182 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 183 ist klar und das Anliegen ebenso biblisch wie reformatorisch: Nur Zu- schauen statt Mitfeiern, nur „im Geist teilnehmen“ statt „zeitgleich und leiblich dabei sein“, das erscheint problematisch. Gorski kritisiert damit eine bloße „Augenkommunion“ ebenso wie ein individualisiertes „Abend- mahl to go“, dessen Beginn und Ende den Rezipienten überlassen wird. Dennoch ist zu fragen: Widerspricht die Tatsache einer Online-Feier bereits dem leiblichen Charakter des Abendmahls, wenn es sowohl am Ort der Einsetzung als auch bei den digitalen Empfängern tatsächlich ausgeteilt wird? M. E. treffen beide Kritikpunkte die digitale Form nicht zwingend. Es ist möglich, dass zeitgleich an unterschiedlichen Orten das Wort der Ein- setzung gehört und tatsächlich unter Brot und Wein Christi Leib und Blut empfangen werden. (Schon in einem großen Open-Air-Gottesdienst, z. B. beim Schlussgottesdienst des Kirchentags, wird an einem zentralen Altar eingesetzt und an verschiedenen Seitenaltären in großer Entfer- nung ausgeteilt.) Dennoch könnte man fragen: Was ist wirklich stiftungsgemäß? Hat sich Gott in Christus nicht mit seinem Gebot und seiner Verheißung an bestimmte Formen der Weitergabe gebunden und uns (seit fast 2000 Jah- ren) bestimmte Formen der Feier auferlegt, bei denen er seine Gegenwart versprochen hat? Der Wiederholungsbefehl „SOLCHES tut zu meinem Gedächtnis!“ wäre dann dahingehend bindend, dass Jesus sich konkrete Menschen in einem Raum wünschte, die in genau dieser Weise seine Ver- heißung bezeugten und ihm gehorsam wären. Die Aussage wäre dann: Gott will im Sakrament gerade und genauso mit seinen Menschen han- deln. Es würde dann zur Demut der Kirche gehören, dieses gnädige He- rabneigen Gottes so anzunehmen und eben nicht durch technische Mög- lichkeiten zu „durchbrechen“. 6.2 „Ubi et quando visum est Deo“ – Kann Gottes Geist auch digital wirken? Etwas anders lautet die eher an Gottes Allmacht oder Allgegenwart ori- entierte Frage, ob Gott(es Geist) auch durch digitale Medien sakramen- tal wirken könne. Ein Blick auf Schrift und Bekenntnis kann diese An- frage schnell entkräften: Gottes Geist weht, wo er will (Joh 4,24). Aber der schöpferische Heilige Geist schenkt den rechtfertigenden Glauben bevorzugt durch die „Instrumente“ von Wortverkündigung und Sakra- 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 183 18.03.2021 14:01:05
184 Jochen Arnold menten. Er tut dies, wann und wo Gott will (CA 5).36 Man könnte auch sagen: wann, wo und wie (z. B. auch digital) Gott will. Aber eben auch: „wo und wann Gott will“ (ubi et quando visum est Deo), solange die In- strumente nur „recht“37 im Gebrauch sind, d. h. dem Evangelium ent- sprechen (CA 7).38 So wird man, will man nicht grundsätzliche Fragezeichen hinter Got- tes Vollmacht setzen, sich diesbezüglich rasch Teresa Berger anschlie- ßen, die pointiert schrieb: „God is not the problem here at least not in terms of theologcal reflection.“39 Das pneumatologische Argument ließe sich übrigens auch nochmals christologisch wenden, insofern der auferstandene Christus (für lutheri- sche Theologie) als allgegenwärtig vorausgesetzt werden kann. Die lu- therische Ubiquitätslehre besagt, dass Jesus Christus leiblich im Abend- mahl anwesend ist, weil er an der göttlichen Allgegenwart nicht nur nach seiner göttlichen Natur, sondern auch nach seiner menschlichen Natur Anteil habe, da beide Naturen nicht voneinander zu trennen seien und sich gegenseitig durchdringen (Communicatio idiomatum). So unterliegt es keinem Zweifel, dass „Christus, der Herr des Mahles, präsent sein kann, wann und wo er will.“40 Mit anderen Worten: Es gibt eine Dynamik im Sakrament, die zwi- schen „Lokalität und Translokalität“41 oszilliert und gleichsam zum We- sen der Gegenwart Christi im Sakrament gehört. Der zentrale Artikel 5 der CA (De ministerio ecclesiastico) beschreibt Wort und Sakrament als Instrumente, durch die Gottes Geist, wann und wo er will, den Glauben wirkt. Damit ist sehr deutlich gesagt, dass Gottes Geist das eigentliche (unverfügbare) Subjekt für die äußere und innere Wirksam- keit von Wort und Sakrament ist. Kritisch haben diese sich einzig und al- lein am Evangelium bzw. an der norma normans, dem biblischen Wort (CA 7, pure docetur et recte administrantur), zu messen. Dort steht be- kanntlich nicht über die Medialität an sich und damit auch keine Absage an Digitalität, nur dass Gottes Geist weht, wo er will, dass Glaube Berge ver- 36 Vgl. BSLK 58. 37 Vgl. CA 7, BSLK 61, wonach Kirche dort lebt und zu erkennen ist, wo das Wort rein verkündigt und die Sakramente „recht verwaltet/ausgeteilt werden“ („recte adminis- trantur sacramenta“). 38 Diese Figur ist im Grunde nur als Gegenargument schlüssig, wenn man mit dem eben Gesagten [5.1.] voraussetzt, dass die digitale Form nicht stiftungsgemäß ist. 39 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 94. 40 Konkordienformel, Solida Declaratio VII, BSLK 1494, 4. 41 Vgl. Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 88 mit Hinweis auf Peter Philips. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 184 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 185 setzen kann, dass Jesus natürliche Grenzen und menschliche Möglichkei- ten auf Schritt und Tritt überwindet (Wunder- und Heilungsgeschichten). M. E. wäre es vermessen, Gottes Geist nicht zuzutrauen, dass er die heilsame Wirkung des Sakraments digital vermitteln könne. Es wäre so, als wolle man Gott in eine „Schachtel stecken und sagen, er könne nicht in einem Online-Gottesdienst erfahren werden und seine Gnade nicht den Teilnehmenden austeilen.“42 Stattdessen folgert Peter Philipps posi- tiv: „Gott kann selbstverständlich Brot und Wein an verschiedenen Stel- len segnen“43. 6.3 „Leibliche Kopräsenz“ – ist virtuelle Gemeinschaft echte Gemeinschaft? Das am häufigsten vorgetragene Argument gegen ein digitales Abend- mahl ist die fehlende „leibliche Kopräsenz“. Damit ist zunächst schlicht gemeint, dass nicht alle (oder fast keine) der am Abendmahl Teilnehmen- den leiblich beim Feiern zusammen sind. Es stellt sich also die Frage, ob eine bloß virtuelle Gemeinschaft der Stiftung Jesu bzw. den anthropolo- gischen Voraussetzungen einer evangeliumsgemäßen bzw. angemesse- nen Mahlfeier widerspricht. Das normativ gesprochen stärkste Argument ist: Der Wiederholungs- befehl „Solches tut zu meinem Gedächtnis!“ bzw. die Formulierung aus 1 Kor 10,16 ist an eine reale Gemeinschaft von mehreren Personen ge- bunden. Damit korrespondiert der Hinweis auf Mt 18,20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Außerdem wird angeführt, dass Menschen gerade in heutiger Zeit sinnliche Zeichen bräuchten – konkret leiblich spürbar wie der Hände- druck des Nachbarn oder das Schmecken der Hostie, die reale Stimme der Liturgin. Kristian Fechtner hat dazu Folgendes ausgeführt: „Wenn die Besonderheit des Abendmahls darin besteht, dass es als Sakrament (wie die Taufe auch) im Sinne Martin Luthers ein ‚leibhaft Wort‘ ist, dann ist dessen Fei- er wesentlich eine ‚leibliche Praxis‘, dies in einem doppelten Sinne: Zum einen be- ruht die Teilnahme am Abendmahl auf der leiblichen Kopräsenz der Mitfeiernden, 42 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 86. 43 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 85 mit Hinweis auf Tim Ross, zitiert bei Mark Woods, Twitter Communions (http://bit.ly/3mkMlBH; abgerufen am: 16.12.2020). 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 185 18.03.2021 14:01:05
186 Jochen Arnold zum anderen sind die konkreten Elemente, Brot und Wein, auf die sich die Deutewor- te beziehen, für die Bedeutung des Geschehens konstitutiv. Der Ritus ist nur dann ei- ne gemeinschaftliche Feier des Abendmahls, wenn für alle Beteiligten die Einheit von Raum, Zeit und leiblichem Zusammensein gilt und erfahrbar wird: Wenn ich an einem anderen Ort und/oder zu einer anderen Zeit und/oder medial zugeschaltet bin, dann nehme ich nicht an dieser Feier teil, auch wenn ich – aber eben durch das Me- dium getrennt – privatissime zu Hause Brot und Wein zu mir nehme. Ohne ihre leib- liche Kopräsenz sind mir die Mitfeiernden eben nicht im Geschehen gegenwärtig; sie bleiben in dem, was ich für mich tue, außen vor. Zudem gewinnen die Elemente ih- re Bedeutung nur, wenn sie Teil des Ritus sind und im Ritus selbst ausgeteilt und ge- gessen und getrunken werden.“44 Gegen diese Sicht lässt sich einwenden, dass leibliche Präsenz anthropo- logisch unter damaligen und heutigen Bedingungen nicht die einzige Art der Präsenz ist. Der ehemalige Sekretär von Faith and Order, Peter Phil- ipps, schreibt: „While if it is true that physical presence seems to be the best way for humans to experience mutual presence with one another, it is wrong to say, that physical presence is the only form of presence.“45 Deshalb hat Paulus das Medium der Briefe gewählt und damit Gemein- de begleitet und bis heute im Sinne der Oikodome gewirkt. Was also christologisch gilt, dass Christus sich an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten vergegenwärtigen kann, gilt auch ekklesiologisch für seine Kirche, die sich als universale geistliche Gemeinschaft an sei- nem Leib versteht. Tim Ross schreibt dazu: „the Church of Christ is not defined by a pa- rochial togetherness in time and space, but by its universal unity in Christ who, through the power of the Spirit, is always and everywhere pres- ent.“46 Ich habe in meiner Stellungnahme ganz ähnlich auf die Aussagen der Abendmahlsliturgie verwiesen, in der wir uns explizit hineinnehmen lassen in den Gesang und die Gemeinschaft der Engel bzw. der Christen, die vor uns und nach uns geglaubt haben. Damit ist eine „trans-leibliche“ Form der Gemeinschaft geglaubt und besungen, die sich nunmehr als „communio virtualis et realis“47 entpuppen könnte. Sie überschreitet auch die ansonsten geläufige Begrenzung einer gottesdienstlichen Feier auf eine oder zwei Stunden an einem konkreten Ort. 44 Kristian Fechtner, Abendmahlsfasten in widriger Zeit, 2 f. 45 Teresa Berger, Sacramental bit and bytes, 85, in Aufnahme von Peter Philips, zi- tiert nach Mark Woods, Twitter Communions (abgerufen am: 16.12.2020). 46 Tim Ross, Mark Woods, Twitter Communions (abgerufen am: 16.12.2020). 47 Vgl. Jochen Arnold, Gottes Wort tut, was es sagt, 46. 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 186 18.03.2021 14:01:05
„Gott ist nicht das Problem“ 187 Außerdem kann auch historisch geltend gemacht werden, dass ge- weihtes Brot schon in der Alten Kirche in den Kranken bzw. jenen, die an der Feier nicht teilnehmen konnten, in die Häuser gebracht wurde. Auch wenn möglicherweise die „volle Sakramentsgegenwart“ damit nicht mehr gegeben war, zeigt der bei Justin und in der Traditio aposto- lica überlieferte Brauch, dass eine besondere Gegenwart Christi in den geweihten Elementen auch außerhalb des Ritus geglaubt wurde.48 Aufgrund dieser Einsicht sollte die sog. leibliche Kopräsenz bzw. Gleichzeitigkeit des Essens und Trinkens während der einen Mahlfeier nicht zu hoch angesetzt werden. Christian Grethlein votiert ähnlich, wenn er schreibt: „Die Grundsatzfrage nach der Bedeutung der Korporalität – und damit der leiblichen Anwesenheit – als Konstitutivum für den Gottesdienst scheint sich dagegen eher mo- dernen ontologischen Vorstellungen zu verdanken […]. Theologisch bewahrte die Einsicht in die grundlegende Bedeutung des Heiligen Geistes für jede Kommunika- tion des Evangeliums eine Reserve gegenüber der Überschätzung der menschlichen Gemeinschaft, wie sie wohl vor allem im Zuge der Kontextualisierung des Christ‑Seins in Vereinsform seit Ende des 19. Jahrhunderts zu dominieren begann.“49 6.4 „Das Wort tut, was es sagt“ – Was ist wesentlich? Ich selbst habe in meiner Äußerung am 3. April 2020 versucht, auf das Wesentliche abzuheben und mich auf das zu besinnen, was ich für das Abendmahl biblisch-theologisch bzw. -reformatorisch für zentral halte. Damit berufe ich mich auf einen Knotenpunkt christlicher Überlieferung und Lehre, der seit fast zwei Jahrtausenden – also nicht erst seit der Re- formation – das Sakramentsverständnis und die Feier geprägt hat. „Accedat verbum ad elementum et fit sacramentum“.50 Diese auf Au- gustin zurückgehende Formel bringt zum Ausdruck, dass die Elemente und das Wort das Sakrament zum Sakrament machen. Wo real Brot und Wein durch das (vernehmbare) Wort Christi gesegnet und auch tatsäch- lich gegessen bzw. getrunken werden,51 dürfen wir seine heilsame Gegen- 48 Dass dies zu einer ausgeprägten Hostienverehrung führte, die auch ihre Schattensei- te hat, brauche ich an dieser Stelle eigentlich nicht zu erwähnen. 49 Christian Grethlein, Liturgia ex machina, 63. 50 Vgl. Schmalkaldische Artikel, III. Teil, BSLK 449f, und ähnlich Martin Luther, Großer Katechismus, BSLK 694 (Taufe) und 709 (Abendmahl). 51 Sollte ein Mensch auf dem Sterbebett gar nicht mehr in der Lage sein zu schlucken, ist eine Extremsituation erreicht, die dennoch die einfühlsame Rezitation oder Erzäh- 202100028_Liturgie-und-Covid-19.indd 187 18.03.2021 14:01:05
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