Grenzenlose Mobilität in Europa - Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug - DGAP Policy Brief

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Grenzenlose Mobilität in Europa - Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug - DGAP Policy Brief
Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

                                                                                                            Nr. 3
                                                                                                    Oktober 2021

                                   ANALYSE

                                        Grenzenlose
                                        Mobilität in Europa
                                        Die deutsch-französischen
                                        Grenzregionen sind am Zug

                                               Sie ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Austausch
                                               ­z wischen Deutschland und hat durch die coronabedingten
                                                Einschränkung erneut an Bedeutung gewonnen: die Mobilität der
                                                Menschen in den Grenzregionen. Über die Notwendigkeit des Aus-
           Jacob Ross                           baus bestehender Angebote herrscht zwar Einigkeit zwischen den
           Wissenschaftlicher                   Verantwortlichen. Gestritten wird allerdings über die Prioritäten-
           Mitarbeiter,
           Programm Frankreich                  setzung und Finanzierung. Entsprechende Verhandlungen werden
                                                zunehmend durch Institutionen der bilateralen Zusammenarbeit
                                                beeinflusst, die während der Pandemie ihren Platz in den deutsch-
                                                französischen Beziehungen gefunden haben.

                                               – Akteure aus den Grenzregionen sollten betreffende nationale
                                                 politische Entscheidungen nicht mehr nur rückwirkend
                                                 kommentieren, sondern sich aktiv in Entscheidungsfindungen
                                                 einbringen können

                                               – Deutschland und Frankreich sollten stärker für den Ausbau
                                                 grenzüberschreitender Verbindungen mit europaweiten
                                                 Infrastrukturplänen eintreten

                                               – Beide Regierungen sollten sich gemeinsam für die Wieder­
                                                 belebung europäischer Initiativen wie des „European Cross
                                                 Border Mechanism“ (ECBM) einsetzen
Grenzenlose Mobilität in Europa - Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug - DGAP Policy Brief
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Grenzenlose Mobilität in Europa
    EXECUTIVE SUMMARY                                                                                                     ANALYSE

                        In den Diskussionen um den Bahnverkehr zwischen        schärfen und ihren Mehrwert für die Grenzregionen
                        Deutschland und Frankreich spiegeln sich K­ onflikte   und die Hauptstädte unter Beweis zu stellen. Für den
                        wider, die die grenzüberschreitende Zusammen­          Bedarf einer besseren Abstimmung bieten die Mo-
                        arbeit beider Länder betreffen. Der Wille, Stre­       bilität in den Grenzregionen sowie der grenzüber-
                        ckennetze und Angebote sowohl zwischen den             schreitende Schienenverkehr zahlreiche Beispiele.
                        Hauptstädten als auch zwischen grenznahen Kom­         Gelingt es, die sogenannten Missing Links zwischen
                        munen auszubauen, wird seit Jahrzehnten auf al­        den Grenzregionen sinnvoll mit Zugverbindungen
                        len E­­benen betont: von den Gebietskörperschaften     zwischen den Hauptstädten und den Infrastruk-
                        in unmittelbarer Grenznähe über die regionalen         turvorhaben auf europäischer Ebene zu verbinden,
                        Hauptstädte bis in die nationalen Hauptstädte. Zu­     wäre viel gewonnen: für die grenzüberschreitende
                        letzt hat auch der Ausbau des Schienennetzes zwi­      Mobilität, die Vernetzung Europas und den Kampf
                        schen den Mitgliedsstaaten der EU große politische     gegen den Klimawandel. Gelingt das nicht, droht
                        und mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Im Kampf           Enttäuschung dort, wo der europäische Einigungs-
                        gegen den Klimawandel und dank politischer Pri­        prozess lange am sichtbarsten war.
                        oritäten wie der Verkehrswende sind bessere Zug­
                        verbindungen eine Voraussetzung, um Bürgerinnen
                        und ­Bürger zum Umstieg zu bewegen und das Kon­        ÜBER DAS PROJEKT „MONITORING
                        zept „von der Straße auf die Schiene“ auch und ge­     DER GRENZÜBERSCHREITENDEN
                        rade in der Grenzregion umzusetzen.                    ZUSAMMENARBEIT IN DER
                                                                               DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN
                        Die Reaktivierung von Europas Nachtzug­                GRENZREGION“
                        verbindungen, etwa zwischen Berlin und Paris, trifft
                        dabei einen Nerv. Angesichts der Begeisterung für      Europas Grenzregionen sind für die nachbarschaft-
                        Verbindungen zwischen den europäischen Haupt-          lichen bilateralen Beziehungen wie auch für die
                        städten hoffen auch die Befürworterinnen und Be-       Europa­politik der Mitgliedstaaten von z
                                                                                                                      ­ entraler Be-
                        fürworter kleinerer Streckenabschnitte im Grenz-       deutung. Sie wirken als Brennglas für E  ­ rfolge und
                        gebiet auf mehr politische Aufmerksamkeit. Diese       Herausforderungen der europäischen I­ntegration
                        Hoffnung speist sich auch aus den Erfahrungen,         und machen Fortschritte oder Stagnation tagtäglich
                        die deutsche und französische Bewohnerinnen und        für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort greifbar. Der
                        Bewohner der Grenzregion im vergangenen Jahr           deutsch-französischen Grenz­region kommt dabei als
                        gemacht haben, als die Pandemie die Mobilität          einer der am stärksten integrierten grenzüberschrei-
                        und den Austausch über Grenzen hinweg kurzzei-         tenden Regionen Europas und wichtigem Schauplatz
                        tig fast vollkommen zum Erliegen brachte. Akteu-       des europäischen Einigungsprozesses eine zusätzli-
                        re grenznaher Gebietskörperschaften argumentie-        che Bedeutung zu. Sie steht als Labor für Errungen-
                        ren, dass bereits Bruchteile der Investitionen für     schaften, Chancen und Defizite der europäischen
                        große Infra­strukturprojekte zum Ausbau des eu-        ­Einigung unter besonderer Beobachtung.
                        ropäischen Schienennetzes – wie beispielsweise
                        des Eisenbahntunnels zwischen Lyon und Turin –         Der 2019 unterzeichnete Vertrag von Aachen er-
                        reichten, um viele grenzüberschreitende Strecken       kennt diese besondere Bedeutung der Grenz­
                        zu ­reaktivieren, zu ergänzen oder neu zu bauen. Die   regionen an. Die Regierungen verpflichten sich, die
                        nationalen Regierungen wiederum verweisen auf          Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frank-
                        ihre Verant­wortung für das gesamte Staatsgebiet,      reich weiter zu stärken, indem die Gebietskörper-
                        Mehrkosten für spezifische Anliegen der Grenzregi-     schaften in den Grenzregionen mit „angemessenen
                        onen müssten gerechtfertigt sein.                      Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und be-
                                                                               schleunigten Verfahren“ ausgestattet werden. Dort,
                        Im Ringen um politische Aufmerksamkeit und den         wo deutsche und französische Interessen schon
                        Zugang zu finanziellen Ressourcen könnten zuneh-       heute eng verflochten sind, könnte in den kommen-
                        mend zwei neue Institutionen eine Rolle spielen, die   den Jahren ein Experimentierfeld für Europas Zu-
                        im Zuge der Unterzeichnung des Aachener Vertrags       kunft entstehen. Dabei betreffen die Erwartungen
                        geschaffen wurden: die Deutsch-F­     ranzösische      vieler Bürgerinnen und Bürger – auch mit Blick auf
                        parla­mentarische Versammlung (DFPV) und der           die Erfahrungen im Frühjahr 2020 – die Vertiefung
                        Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammen-           der Zusammenarbeit, etwa im Mobilitätsbereich, in
                        arbeit (AGZ). Beide haben während der Covid-19-        der Gesundheitspolitik oder der Frage nach grenz-
                        Pan­demie die Gelegenheit bekommen, ihr Profil zu      überschreitenden Arbeitsverhältnissen.
Grenzenlose Mobilität in Europa - Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug - DGAP Policy Brief
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                               3

           ANALYSE                                     Grenzenlose Mobilität in Europa

                                                                               EXECUTIVE SUMMARY
In den Hauptstädten wurde das Potenzial grenz-
überschreitender Zusammenarbeit – für die regio-
nale Entwicklung, aber auch für die bilateralen Be-
ziehungen und den europäischen Einigungsprozess
– lange unterschätzt. Umso wichtiger ist es nun, die
richtigen Lehren aus den Verwerfungen der vergan-
genen Monate zu ziehen.

Zu dieser Aufgabe möchte unser Projekt einen
Beitrag leisten. Aufbauend auf Hintergrundge-
­
sprächen mit Politikerinnen und Politkern, Beam-
ten, Fach­leuten aus der Wissenschaft sowie en-
gagierten Bürgerinnen und Bürgern aus der
deutsch-­französischen Grenzregion sollen zunächst
­Einblicke in diesen Lernprozess ermöglicht werden.
 Im zweiten Schritt folgen Handlungsempfehlungen
 für ­nationale Verantwortliche.

Das Projekt wird mit freundlicher Unterstützung
des Auswärtigen Amts durchgeführt.
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Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                     ANALYSE

             Inhalt
             Executive Summary                                                                            2
             Einführung                                                                                   5

             1 	Grenzüberschreitende Kooperation als „kleine Außenpolitik“                               7
                1.1 Geschichte der GRÜZ in der deutsch-­französischen Grenzregion                         7
                1.2	GRÜZ ergänzt als „kleine Außenpolitik“ die bilateralen Beziehungen                   7
                1.3 Wissenschaftliche Zugänge zur GRÜZ                                                    8

             2 	GRÜZ als Herzstück des Aachener Vertrags                                              10
                2.1 Die Pandemie als Stresstest für die neuen Institutionen des Aachener Vertrags       10
                2.2 Aufmerksamkeit für die Grenzregionen – über die Ausnahmesituation hinaus            10
                2.3 Europäische Experimente in der deutsch-­französischen Grenzregion                   11

             3 	Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Europas Hauptstädten
                und in den Grenzregionen                                                                13
                3.1	Grünere Mobilität für mehr Integration und Klimaschutz                             16
                3.2 Grenzüberschreitender Schienenverkehr an der deutsch-französischen Grenze           16
                3.3 Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Missing Links und Leuchtturmprojekten       17

             Fazit                                                                                      20
             Literatur                                                                                  21
5                                                                                                     Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                ANALYSE

             Einführung
             Deutschland und Frankreich gelten als engste Part-      samkeit: Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin
             ner in Europa. Grenzüberschreitende Zusammen-           und Paris ist als „europäisches Leuchtturmprojekt“
             arbeit (im Folgenden „GRÜZ“) zwischen den Grenz-        auch im Vertrag von Aachen festgeschrieben.
             regionen beider Länder ist eine fundamentale Säule
             dieser Beziehungen. Anlässlich der Bedeutung die-       Über Flaggschiff-Infrastrukturen und Leuchtturm-
             ser Partnerschaft widmet sich die Deutsche Gesell-      projekte hinaus hoffen viele Bürgerinnen und Bür-
             schaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) in einer      ger in Europas Grenzregionen auf den Ausbau grenz-
             dreiteiligen Publikationsreihe in Form von Fallstu-     überschreitender Zugverbindungen. Vertreterinnen
             dien den aktuellen Entwicklungen an der deutsch-        und Vertreter lokaler und regionaler Gebietskör-
             französischen Grenze. Den Rahmen dafür bildet das       perschaften bemühen sich um politische Aufmerk-
             DGAP-Projekt „Monitoring der grenzüberschreiten-        samkeit und finanzielle Mittel für den Bau neuer
             den Zusammenarbeit in der deutsch-französischen         Infrastruktur, die Verbesserung bestehender Verbin-
             Grenzregion“. Im vorliegenden ersten Beitrag der        dungen und die Angleichung von technischen Stan-
             Reihe steht das Thema Mobilität im Vordergrund.         dards und Dienstleistungen für eine reibungslosere
                                                                     grenzüberschreitende Mobilität.
             Verglichen mit ihrer Bedeutung muss festgestellt
             werden, dass die GRÜZ abseits der großen Gipfel-        Grenzüberschrei tende Zugverbindungen ha-
             treffen nur selten eine breite mediale Aufmerksam-      ben es auch dank dieses Engagements auf die Lis-
             keit bekommt. Schafft sie es doch, geht es nicht sel-   te prioritärer Vorhaben geschafft, die dem Aachener
             ten um schlechte Nachrichten. Dies war während          Vertrag angehängt wurde: So verspricht Punkt acht
             der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 der Fall,        verbesserte grenzüberschreitende Bahnverbindun-
             als die Schlagbäume an vielen Stellen entlang der       gen. Dabei ist oft auf den ersten Blick nur schwer
             Grenze wieder fielen. Bilder einer schwer bewaff-       verständlich, warum diese Verbindungen technisch,
             neten Bundespolizei, empörter Pendlerinnen und          wirtschaftlich und politisch so herausfordernd sind.
             Pendler und getrennter binationaler Paare und Fa-       Die vorliegende Analyse wird deshalb auf Fortschrit-
             milien wurden in der überregionalen Presse thema­       te und weiter bestehende Hindernisse eingehen und
             tisiert. Die Pandemie hat folglich an vielen Stellen    dabei insbesondere die Rolle der Institutionen in
             noch einmal die wichtige Rolle deutlich gemacht,        den Blick nehmen, die der Aachener Vertrag 2019
             die Städte, Kommunen und Vertreter anderer loka-        neu geschaffen hat.
             ler und regionaler Gebietskörperschaften heute für
             die bilateralen Beziehungen spielen. Es wurde klar:     Grenzüberschreitende Bahnverbindungen und die
             Die GRÜZ hat im Alltag vieler Menschen auf bei-         sie betreffenden Diskussionen zeigen im Kleinen vie-
             den Rheinseiten konkretere Auswirkungen als viele       le Probleme, die die GRÜZ insgesamt betreffen. Zwar
             deutsch-französische Gipfeltreffen.                     hat der Ausbau des Schienennetzes zwischen den
                                                                     Mitgliedsstaaten der EU zuletzt viel Aufmerksamkeit
             Unser Monitoring der GRÜZ seit der Unterzeichnung       aus Politik und Medien bekommen. Die Reaktivie-
             des Aachener Vertrags beginnen wir mit einem Über-      rung von Nachtzugverbindungen zwischen Europas
             blick zum Stand der grenzüberschreitenden Mobilität,    Hauptstädten trifft in Verbindung mit dem Kampf
             genauer des Schienenpersonenverkehrs. Für 2021 hat      gegen den Klimawandel einen Nerv. Doch droht an-
             die EU das „europäische Jahr der Schiene“ ausgerufen.   gesichts der Begeisterung für die großen Verbindun-
             Seit Jahren hält die Union die Mitgliedsstaaten zum     gen, zwischen Berlin und Paris oder Wien und Paris,
             Ausbau der grenzüberschreitenden Fernzugverbin-         in Vergessenheit zu geraten, dass in den Grenz­
             dungen an und unterstützt den Ausbau beziehungs-        regionen Europas oft mit einem Bruchteil der Inves-
             weise Neubau sogenannter „Flaggschiff-Verkehrs-         titionen, die für die großen Korridore aufgewendet
             infrastrukturen“ . Auch die Regierungen Frankreichs     werden, Verbesserungen für die grenzüberschrei-
             und Deutschlands widmeten dem Ausbau grenzüber-         tende Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner
             schreitender Schienennetzte zuletzt viel Aufmerk-       auf beiden Seiten der Grenze möglich wären.
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                                                          6

                 ANALYSE                                                                         Grenzenlose Mobilität in Europa

                     Diskrepanzen zwischen EU-Infrastrukturvorhaben         Die folgende Auseinandersetzung basiert auf Hinter-
                     und politischen Leuchtturmprojekten auf der einen      grundgesprächen mit Politikerinnen und Politikern,
                     und dem Neubau oder der Reaktivierung grenzüber-       Beamtinnen und Beamten sowie Wissenschaftlerin-
                     schreitender Streckenabschnitte auf der anderen Sei-   nen und Wissenschaftlern, die zwischen Juni und
                     te sind somit auch Ausdruck der unterschiedlichen      August 2021 geführt wurden. Informationen aus
                     Gewichtung, die zwischenstaatliche und grenzüber-      diesen Gesprächen sind in anonymer Form in die
                     schreitende Initiativen in den Hauptstädten haben.     Analyse eingeflossen.

1: DAS NATIONALE SCHIENENNETZ IN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH

Die Unterschiede zwischen deutschem Föderalstaat und französischem
Zentralstaat werden bei der Betrachtung der nationalen Schienennetze
schnell deutlich. Grenzüberschreitende Verbindungen haben mit vielen
weiteren, oft weit weniger sichtbaren Problemen zu kämpfen.
Quelle: openstreetmap.org
7                                                                                                                                          Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                                                       ANALYSE

             1. GRENZÜBERSCHREITENDE                                                     und Zivilgesellschaft des Saarlandes, der französi-
                 KOOPERATION                                                              schen Region Lorraine und des Staates Luxemburg im
                 ALS „KLEINE AUSSENPOLITIK“                                               Rahmen des Strukturwandels der Kohle- und Stahlin-
                                                                                          dustrie mit ähnlichen Problemen konfrontiert4. In der
             Zum Auftakt der dreiteiligen Serie und zur Einord-                           Oberrheinregion wurde die GRÜZ ursprünglich von
             nung der folgenden Analyse wird eingangs auf die                             der Schweizer Politik und Vertreterinnen und Ver-
             Entstehungsgeschichte der deutsch-französischen                              tretern lokaler Wirtschaftsinteressen vorangetrieben
             GRÜZ eingegangen sowie der wissenschaftliche Zu-                             und folgte lange vor allem ökonomischen Interessen5.
             gang zum Thema erläutert.
                                                                                          Dass die Gründung der privatrechtlichen „Regio
             1.1 G
                  eschichte der GRÜZ in der deutsch-­                                    ­Basiliensis“ 1963 im gleichen Jahr erfolgte wie die
                 französischen Grenzregion                                                 Unterzeichnung des deutsch-französischen Freund-
                                                                                           schaftsvertrags („Élysée-Vertrag“) weist anekdotisch
             Das vierte Kapitel des Aachener Vertrags baut auf                             auf das Zusammenspiel zwischen GRÜZ und nati-
             der langen Geschichte europäischer GRÜZ auf. In der                           onaler Außenpolitik hin. Die Kontakte, die Vertre-
             Bundesrepublik entstanden erste grenzüberschrei-                              ter grenznaher Gebietskörperschaften entlang der
             tende Kooperationsformate 1958 an der deutsch-                                Grenze in die Nachbarländer knüpften, kamen der
             niederländischen Grenze1. Kurz darauf folgten ähn-                            bundesrepublikanischen Versöhnungspolitik, spä-
             liche Initiativen auch an der deutsch-französischen                           ter auch europapolitischen Zielsetzungen zugute.
             Grenze, wo die GRÜZ bis heute in zwei großen Räu-                             Die Verknüpfung von Europapolitik, bilateralen Au-
             men stattfindet – der Oberrheinregion und der                                 ßenbeziehungen und zahllosen kleineren Kooperati-
             Großregion im Saar- und Moselbecken. In beiden                                onsformaten entlang der rund 450 Kilometer langen
             Regionen sind neben Deutschen und Franzosen auch                              Grenze spricht auch aus der „Hambacher Erklärung“.
             Vertreter von Drittstaaten involviert: am Oberrhein                           Diese wurde 2017 von Vertretern des deutschen und
             Schweizer Kantone, in der Großregion wiederum                                 französischen Außenministeriums sowie der drei
             Luxemburg sowie belgische (wallonische) Bezirke.                              deutschen Bundesländer und der Region Grand Est
                                                                                           verabschiedet und unterstreicht das historisch ge-
             Neben den entsprechenden Kooperationsformaten                                 wachsene Selbstbewusstsein in den G  ­ renzregionen:
             „Großregion“ und „Oberrheinkonferenz“ gibt es eine                            „Die deutsch-französische Grenzregion ist ein
             Vielzahl weiterer deutsch-französischer Vernetzun-                            ­Europa im Kleinen, ein konkretes, handlungsfähiges,
             gen: etwa den Eurodistrikt PAMINA, ein Kooperati-                              innovatives und solidarisches Europa“6.
             onsformat zwischen Südpfalz, mittlerem Oberrhein
             und nördlichem Elsass, sowie drei grenzüberschrei-                           1.2 G
                                                                                               RÜZ ergänzt als „kleine Außenpolitik“
             tende Ballungsräume, den trinationalen Eurodistrikt                              die bilateralen Beziehungen
             Basel, den Eurodistrikt Straßburg-Ortenau und den
             Eurodistrikt Saar-Mosel2.                                                    Für die deutsche Diskussion hat die Historikerin Bir-
                                                                                          te Wassenberg im Zusammenhang mit der GRÜZ das
             Historiker heben im Rückblick die Bedeutung der                              Konzept der „kleinen Außenpolitik“ geprägt7. Wassen-
             GRÜZ für die Versöhnungspolitik der jungen Bonner                            berg, die zwischen Straßburg und Kehl zur deutsch-
             Republik mit Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg                           französischen Zusammenarbeit forscht, grenzt ihr
             hervor3. Die Zusammenarbeit entlang der deutsch-                             Konzept ausdrücklich von anderen, meist politikwis-
             französischen Grenze entsprang in den 1960er Jahren                          senschaftlichen Konzepten, ab.8 Ihr Ansatz ist auch
             unterschiedlichen Motiven, abhängig von den jeweili-                         von der „Nebenaußenpolitik“ zu unterscheiden9. Die-
             gen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.                          se beschreibt beispielsweise die außenpolitischen
             In der Großregion etwa sahen sich Politik, Wirtschaft                        Aktivitäten deutscher Minister­präsidentinnen und

             1   Vgl. Europäische Kommission 2016: 6
             2   Vgl. Virginie Delattre-Escuide et. al. 2020: 5
             3   Vgl. Birte Wassenberg 2015: 77
             4   Vgl. Ministerium des Saarlands für Finanzen und Europa 2021
             5   Vgl. Wassenberg 2019: 13
             6   Auswärtiges Amt et. al. 2017
             7   Vgl. Wassenberg 2015
             8   Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es etwa zahlreiche Arbeiten zum Thema „Para- oder Proto-Diplomatie“.
                 Diese setzten sich aber meist mit den Konsequenzen einer mit der nationalen Außenpolitik konkurrierenden Lokalpolitik auseinander.
             9   Vgl. Swaantje Marten 2021
8                                                                                                                                       Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                                                       ANALYSE

             Ministerpräsidenten, die zwar nicht mit der nationalen                         überschreitenden Kooperation führt beispielsweise
             Außenpolitik konkurrieren, aber doch nach Möglich-                             dazu, dass auf deutscher Seite vielfach von kommu-
             keiten suchen, unabhängige Beziehungen ins Ausland                             nalen Vertretern zu hören ist, dass dank eigener Ge-
             zu pflegen. Im Jahr 2020 wurde diese Nebenaußenpo-                             sprächskanäle und persönlicher Kontakte ins Nach-
             litik deutlich, als der nordrhein-westfälische Minister-                       barland der Schaden für die deutsch-französischen
             präsident Armin Laschet sich in Berlin dafür einsetz-                          Beziehungen begrenzt worden sei.
             te, die Grenzen zu den Niederlanden und Belgien trotz
             der Corona-Pandemie offen zu halten. Auch der bay-                             1.3 Wissenschaftliche Zugänge zur GRÜZ
             erischen Staatsregierung sagten Berliner Regierungs-
             beamte im Zuge der Pandemiebekämpfung bessere                                  Entsprechend der unterschiedlichen Motive deutsch-
             Kontakte zur tschechischen Regierung nach als der                              französischer GRÜZ gibt es vielfältige wissenschaft-
             Bundesregierung.                                                               liche Zugänge zum Thema. Eine kürzlich im Namen
                                                                                            des Bundesministeriums des Inneren (BMI) veröf-
             Trotz gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten und                             fentlichte Studie unterscheidet drei wesentliche
             unterschiedlichen Prioritäten wurde der Mehrwert                               Forschungsinteressen14:
             der GRÜZ in den nationalen Hauptstädten schnell
             erkannt. Die offizielle Integration der „kleinen Au-
             ßenpolitik“ in die deutsch-französischen Beziehun-
             gen erfolgte 1975 mit der Unterzeichnung des Bon-
                                                                                            1.       renzregionen werden oft als „nationale Peri-
                                                                                                    G
                                                                                                    pherien“ betrachtet, die auf Unterstützung aus
                                                                                                    den Zentren der Nationalstaaten angewiesen
             ner Abkommens10. Ausgehandelt von Diplomaten aus                                       sind. Die Wissenschaft interessiert sich für die
             Deutschland, Frankreich und der Schweiz, definier-                                     Bemühungen lokaler oder regionaler Mandats-
             te das Abkommen den Geltungsbereich für die GRÜZ                                       trägerinnen und -träger, mehr Aufmerksamkeit
             im Oberrheingebiet. Die Initiative war 1972 vom fran-                                  in den nationalen Hauptstädten zu bekommen.
             zösischen Außenministerium ausgegangen, das an-
             gesichts sich häufender Anfragen zur GRÜZ eine zu
             große Unabhängigkeit grenznaher Gebietskörper-
             schaften fürchtete. Die folgenden Delegations­treffen
                                                                                            2.        ie Literatur zur sogenannten „Mehrebe-
                                                                                                     D
                                                                                                     nen-Governance“15 betrachtet Grenzregionen
                                                                                                     nicht vordergründig als periphere Räume von
             machten schon zu Beginn die großen ­Unterschiede                                        Nationalstaaten. Sie interessiert sich im Ge-
             im Umgang der nationalen Regierungen mit der                                            genteil für politische, wirtschaftliche oder kul-
             „kleinen Außenpolitik“ deutlich: Während Deutsch-                                       turelle Gemeinsamkeiten, die Regionen auf
             land und die Schweiz auch durch Vertreter der Ge-                                       beiden Seiten der Grenze verbinden sowie für
             bietskörperschaften im Oberrheingebiet repräsen-                                        die Frage, welche Konsequenzen sich daraus
             tiert wurden, saßen auf französischer Seite zunächst                                    für die nationale Politik ableiten lassen.
             ausschließlich Pariser Beamtinnen und Beamte am
             Verhandlungstisch11.

             Hierzulande bringen sich subnationale Einheiten
                                                                                            3.        rgebnisse dieser beiden Forschungsansätze
                                                                                                     E
                                                                                                     fließen in die Diskussion um „sekundäre Au-
                                                                                                     ßenpolitik“ ein, die das Spannungsverhältnis
             immer aktiver in die Außenbeziehungen ein12. 2013                                       zwischen grenzüberschreitender Kooperati-
             schrieb der damalige Oberbürgermeister der baden-                                       on und bilateralen diplomatischen Beziehun-
             württembergischen Grenzstadt Kehl Günther Petry                                         gen in den Blick nimmt.
             anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Élysée-Ver-
             trags über die Bedeutung, aber auch Schwierigkei-                              Tatsächlich ist die „periphere Lage“16 in den Grenz-
             ten der „kommunalen Außenpolitik“ für die GRÜZ13.                              regionen zwischen Deutschland und Frankreich ein
             Das in vielen Gebietskörperschaften pandemiebe-                                häufiges Motiv für die GRÜZ. Durch die geographische
             dingt geschärfte Bewusstsein für die Rolle der grenz-                          Distanz zu den wirtschaftlichen und politischen Zen-

             10   Das Bonner Abkommen beschloss 1975 die „Vereinbarung über die Bildung einer Regierungskommission
                  zur Prüfung und Lösung von nachbarschaftlichen Fragen“ – Bundesgesetzblatt 1976
             11   Vgl. Wassenberg 2015, 82
             12   Vgl. Volker Stanzel 2018
             13   Günther Petry 2013: 2
             14   Vgl. Tobias Chilla 2020: 12
             15	Der Begriff „Governance“ bezeichnet allgemein die „Regierungspraxis eines kooperativen Staates“. Die Definition wird in Abgrenzung
                 zum Begriff „Government“ als klassische Ordnungsgröße politischer Prozesse klar: Government-Analysen beschreiben die exklusive
                 Interaktion zwischen Regierungen und nachgelagerten Behörden. Im Fokus stehen Gesetzgebungsverfahren, bürokratische Vorschriften
                 und Hierarchien. Governance-Forschung betrachtet dieselben Interaktionen, legt dabei aber einen stärkeren Fokus auf partizipative
                 Entscheidungsprozesse und berücksichtigt nichtstaatliche Akteure – Karsten Berr et al. 2019: 18/19
             16	In Frankreich hat sich rund um den Begriff „peripher“ nach der Veröffentlichung des Buchs „La France périphérique“
                 (Christophe Guilluy 2014) in den vergangenen Jahren eine rege Debatte entwickelt.
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                                                        9

           ANALYSE                                                                            Grenzenlose Mobilität in Europa

              tren des eigenen Landes nehmen sich Grenzregio-            formiert. Raumplanung zählt zu den wichtigsten
              nen häufig als benachteiligt wahr. Gesprächspartner        Hoheits­rechten moderner Nationalstaaten und fin-
              auf beiden Seiten der Grenze kritisieren, dass oft der     det ebenenübergreifend Anwendung, in Deutschland
              Sitz der regionalen Regierung zu weit entfernt ist, um     etwa in Bundesländern und Kommunen18. Mit der zu-
              spezifische Anliegen der Grenzregionen zu verstehen.       nehmenden Intensivierung der GRÜZ an den deut-
              Vertreter lokaler und regionaler Gebietskörperschaf-       schen Außengrenzen hat der Bedarf nach grenz-
              ten in deutschen Bundesländern beklagen, bereits in        überschreitender Abstimmung in den vergangenen
              Stuttgart oder Mainz sei „die Distanz für Belange der      Jahrzehnten massiv zugenommen. Häufig ergibt sich
              GRÜZ spürbar“. Die detaillierte Kenntnis und ein ech-      aber das Problem, dass die aktuellen Instrumente der
              tes Verständnis für die spezifischen Probleme in den       Raumplanung, deren wichtigster Bezugsrahmen nati-
              Grenzregionen fehlen somit. Abhilfe soll Vernetzung        onale Grenzen sind, den Realitäten grenzüberschrei-
              über die Grenze hinweg schaffen.                           tender Planungsräume nicht mehr gerecht werden19.

              Ein konkretes Beispiel unterstreicht den Mehrwert der      Grenzüberschreitende Zugverbindungen sind ein
              GRÜZ im Verhältnis der Grenzregionen zu nationalen         gutes Beispiel. Deren Nutzbarkeit hängt für die Bür-
              Hauptstädten. Die nordöstlichen französischen Dépar-       gerinnen und Bürger in den Grenzregionen von po-
              tements Meuse, Meurthe-et-Moselle und Moselle sind         litischen Entscheidungen beidseits der Grenze ab.
              spärlich besiedelt und kämpfen seit Jahrzehnten mit        Eine Gesprächspartnerin bedauerte etwa, Bewoh-
              den Folgen einer schwachen regionalen Wirtschaft.          nerinnen und Bewohner der Grenzregionen seien
              Zusammenarbeit mit deutschen Bundesländern ist             deutlich häufiger mit dem Auto unterwegs als an-
              für diese Regionen aber nicht nur aus wirtschaftlichen     derswo. Oft fehlten Bus- oder Zugverbindungen als
              Gesichtspunkten interessant. Sie bietet außerdem Ge-       Alternative, da grenzüberschreitenden Strecken in
              legenheit, sich über Bezeichnungen wie „Eurodéparte-       den nationalen Planungen nur wenig Aufmerksam-
              ment“ oder Slogans wie „im Herzen Europas“17 im na-        keit geschenkt werde. Die Raumplanung scheint auf
              tionalen Kontext neu zu positionieren – wenn auch          diese Veränderungen nun zu reagieren. Das Akti-
              nicht geographisch, so doch in der Debatte.                onsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“
                                                                         (MORO) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und
              Für die Aktualität der Forschung zur Mehrebe-              Raumforschung (BBSR) untersucht aktuell die „Er-
              nen-Governance ist die Schaffung des Ausschusses           probung und Umsetzung innovativer, raumordneri-
              für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (AGZ)              scher Handlungsansätze […] mit Akteuren in den Re-
              das beste Beispiel. Der Ausschuss bringt Vertreter         gionen vor Ort“20. Zwei Modellvorhaben gehen an
              grenznaher Gebietskörperschaften und grenzüber-            der deutsch-französischen Grenze der Frage nach,
              schreitender Kooperationsformate wie der Ober-             „inwiefern eine Harmonisierung und Annäherung
              rheinkonferenz oder der Großregion mit Parlamen-           von verbindlichen Normen in der Planungspraxis der
              tariern und Regierungsvertretern aus Deutschland           beiden Länder möglich und erforderlich ist“21.
              und Frankreich an einen Tisch. Der Mehrwert des
              Formats wurde 2020 im Zuge der coronabeding-               Das BBSR legt in der Projektbeschreibung großen
              ten Einschränkungen des Grenzverkehrs zwischen             Wert auf den Beitrag, den entsprechende Modellvor-
              Deutschland und Frankreich deutlich. Zuletzt hat der       haben für außenpolitische Ziele leisten. Experimen-
              AGZ im Mai 2021 in Vorbereitung des Deutsch-Fran-          te mit grenzüberschreitender Raumplanung trügen,
              zösischen Ministerrats (DFMR) Vertretern der Regie-        so die dem Bundesinnenministerium (BMI) unter-
              rungen beider Länder Empfehlungen vorgelegt.               stellte Behörde, auch zur „Umsetzung des Aachener
                                                                         Vertrags“ bei22. Die Zielsetzung des BBSR entspricht
              Ein weiteres Beispiel für die steigende Bedeutung grenz-   damit dem Vertragstext von Aachen, der zur Ver-
              überschreitender Governance ist die Raumplanung in         besserung der GRÜZ die Möglichkeit für „angepasste
              der deutsch-französischen Grenzregion. Politische          Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Ausnahme-
              Entscheider werden von nationalen Raumplanern              regelungen“ vorsieht23. Tatsächlich könnte grenzüber-
              über wichtige Kennzahlen für das Staatsgebiet in-          schreitende Raumplanung in vielen Bereichen eine
              17   Präfektur Grand Est et al. 2021
              18   Nienaber zitiert in Berr et al. 2019: 42
              19   Ebd.: 44
              20   BBSR 2021
              21   BBSR 2020
              22   Ebd.
              23   Vgl. Artikel 10, Aachener Vertrag
10                                                                                                                                         Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                                                       ANALYSE

             wichtige Rolle spielen, indem sie eine gemeinsame                             le und lokale Gebietskörperschaften, Parlamente
             Datengrundlage schafft. Entsprechende Initiativen                             und grenzüberschreitende Einheiten wie Eurodist-
             des BBSR reagieren auch auf Kritiker, die der GRÜZ                            rikte […]“ um einen Tisch versammeln, um die grenz-
             lange die fehlende Datengrundlage und den „Mangel                             überschreitende Raumbeobachtung zu koordinieren,
             an konkreten Informationen zu Stärken, Schwächen                              Hindernisse in die Hauptstädte zu melden und Stra-
             und Potenzialen in den Grenzräumen“ vorwarfen24.                              tegien zur Lösung bestehender Probleme zu erar-
                                                                                           beiten28. Der Ausschuss feierte im Januar 2020 seine
                                                                                           konstituierende Sitzung. Schon kurz darauf musste
             2. G
                 RÜZ ALS HERZSTÜCK DES                                                    er sich in der COVID-Pandemie als neue Plattform
                AACHENER VERTRAGS                                                          für deutsch-französisches Krisenmanagement be-
                                                                                           weisen. Die Experimentierklauseln sind seit der Un-
             Der Aachener Vertrag trägt der historischen Bedeu-                            terzeichnung des Vertrags noch nicht angewendet
             tung der GRÜZ für die bilateralen deutsch-französi-                           worden. Mit beiden Instrumenten ist in der Grenz-
             schen Beziehungen Rechnung und verspricht, GRÜZ in                            region die Hoffnung verknüpft, in Berlin und Paris
             Zukunft weiter auszubauen. Im zweiten Teil der Analy-                         langfristig mehr Aufmerksamkeit für die spezifischen
             se werden die wichtigsten institutionellen Neuerungen                         Bedürfnisse zu generieren, die sich aus der Nähe zu
             vorgestellt und erklärt, welchen Einfluss die Pandemie                        einer nationalen Außengrenze ergeben.
             langfristig für die Grenzregionen haben könnte.
                                                                                           Ähnlich wie die deutsch-französische parlamentari-
             2.1 D
                  ie Pandemie als Stresstest für die neuen                                sche Versammlung (DFPV) hat der AGZ während der
                 Institutionen des Aachener Vertrags                                       Covid-Pandemie schnell an Profil und politischem
                                                                                           Gewicht gewonnen29. Das AA, das den Ausschuss von
             Der Wille, die GRÜZ zwischen Deutschland und                                  deutscher Seite im Namen der Bundesregierung fi-
             Frankreich zu vertiefen, wird im vierten Kapitel des                          nanziert, urteilt selbst, der Ausschuss habe sich wäh-
             Aachener Vertrags zur „grenzüberschreitenden und                              rend der Pandemie als „sehr wertvolles Forum“ erwie-
             regionalen Zusammenarbeit“ betont. Dort wird das                              sen, das „Akteure aller staatlichen Ebenen auf beiden
             langfristige politische Ziel formuliert, Gebietskörper-                       Seiten der Grenze zusammenbringt“30. Beschlüsse, bei
             schaften in der deutsch-französischen Grenzregion                             den ebenenübergreifenden Treffen erarbeitet, werden
             mit „angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten                               anschließend an die jeweiligen Fachministerien in den
             Mitteln und beschleunigten Verfahren“ auszustatten.                           Hauptstädten gemeldet. Ende Mai 2021 informierte
             Damit sollen „Hindernisse bei der Umsetzung grenz-                            der AGZ erstmals den deutsch-französischen Minis-
             überschreitender Vorhaben“ überwunden werden (Art                             terrat. In Vorbereitung des Treffens der Regierungs-
             13., Abs. 2)25. Neben der Stärkung der Zweisprachigkeit                       vertreter beider Länder formulierte der Ausschuss
             ist die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität                          eine Reihe von Empfehlungen für die GRÜZ, unter an-
             als prioritäre Zielvorgabe im Vertrag hervorgehoben.                          derem auch zur grenzüberschreitenden Mobilität.
             Der aktuelle Europastaatsminister des Auswärtigen
             Amts (AA) und Beauftragte der Bundesregierung für                             2.2 Aufmerksamkeit
                                                                                                             für die Grenzregionen –
             deutsch-französische Zusammenarbeit Michael Roth                                  über die Ausnahmesituation hinaus
             (SPD) sieht die GRÜZ als „Herzstück des Vertrags“26.
                                                                                           In den Grenzregionen wird größtenteils eine positi-
             Zwei Neuerungen sollen bei der zukünftigen Vertie-                            ve Bilanz zur bisherigen Arbeit des AGZ gezogen. Der
             fung der GRÜZ eine entscheidende Rolle spielen: Der                           Ausschuss ermögliche es, eine „direktere Stimme“ von
             AGZ und die sogenannten „Experimentierklauseln“27.                            der Grenze an die Regierungsvertreter in den Haupt-
             Laut Vertragstext soll der AGZ „nationale, regiona-                           städten zu tragen. Konkret wird die Arbeit im AGZ, et-

             24   Beck 2014: 346 Übersetzung des Autors
             25    eben den Grenzregionen wird in Artikel 17 des Aachener Vertrags auch zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften
                  N
                  aufgerufen, die nicht an der Grenze liegen. Der Artikel hat in seiner allgemeinen Formulierung aber eher Empfehlungscharakter.
             26   Auswärtiges Amt 2020 – die Experimentierklauseln werden auf Seite 12 erläutert
             27   Vgl. Artikel 13, Aachener Vertrag
             28   Ebd.
             29   Eine ausführliche Bilanz der Arbeit der DFPV haben Dr. Stefan Seidendorf und Dr. Claire Demesmay im August 2021 veröffentlicht –
                  Stefan Seidendorf, Claire Demesmay 2021
             30   Auswärtiges Amt 2021: 1
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                                                                                                 11

           ANALYSE                                                                                                         Grenzenlose Mobilität in Europa

              wa für den grenzüberschreitenden Bahnverkehr, als                             In die Erwartungshaltung mischen sich nach anfäng-
              „Anerkennung für kleine Verbindungen“ wahrgenom-                              licher Euphorie vereinzelt auch Zweifel, wie nach-
              men, so der Vertreter einer deutschen Gebietskör-                             haltig der Mehrwert des AGZ sei. Zwischen vie-
              perschaft. Mit diesem Urteil geht die Hoffnung einher,                        len bereits existierenden Foren bestehe die Gefahr
              dass die „Praktiker vor Ort mehr Gewicht bekommen“.                           von Parallelstrukturen. Einige Gesprächspartner be-
              Oft erinnern die Einschätzungen zur Arbeit des AGZ                            fürchten die zusätzliche Verkomplizierung der oh-
              in Pandemiezeiten an ähnliche Einschätzungen zur                              nehin schon wenig übersichtlichen institutionellen
              DFPV: Ein Forum, um der Stimme von Bürgerinnen                                Landschaft der deutsch-französischen GRÜZ. Kriti-
              und Bürgern aus den Grenzregionen mehr Gewicht zu                             siert wird, es sei noch immer nicht erkennbar, wie
              verleihen und politischen Druck auf Entscheidungs-                            der AGZ mit anderen bestehenden Strukturen zu-
              trägerinnen und Entscheidungsträger in den Haupt-                             sammenarbeiten wolle. Zuständigkeiten und Kom-
              städten aufzubauen.                                                           petenzen seien oft noch nicht klar definiert und
                                                                                            müssten ad hoc verhandelt werden. Bei Fragen der
              Die Freude über das gestiegene Interesse an der                               grenzüberschreitenden Mobilität sei beispielswei-
              GRÜZ in Pandemiezeiten weicht zunehmend Forde-                                se unklar, wie der AGZ mit entsprechenden Gremien
              rungen nach verbindlichen Rückmeldungen auf die                               der Oberrheinkonferenz zusammenarbeiten werde.
              eingereichten Vorschläge. Dass Vertreter grenzna-
              her Gebietskörperschaften in direktem Kontakt mit                             Die politische Aufmerksamkeit für Grenzregionen
              den zuständigen Europa-Staatssekretären der Au-                               während der Pandemie war begrüßenswert – da sind
              ßenministerien Deutschlands und Frankreichs ste-                              sich alle Gesprächspartner einig. Langfristig gebe es
              hen, findet in der Grenzregion große Zustimmung.                              aber einen großen Bedarf für die organisatorische
              Ein Gesprächspartner berichtet, es habe „eine ganz                            Straffung der GRÜZ.
              andere Wirkung“, wenn Probleme mit Grenzschlie-
              ßungen im direkten Gespräch mit Vertreterinnen                                2.3 E
                                                                                                 uropäische Experimente in der
              und Vertretern der Ministerien in Berlin besprochen                               deutsch-­französischen Grenzregion
              würden und diese nicht über ein bürokratisches Ver-
              fahren erreichten. Der direkte Gesprächskanal wird                            Die „Experimentierklauseln“ sind – neben dem AGZ –
              als Wertschätzung für lokale und regionale Perspek-                           die zweite Neuerung des Aachener Vertrags in Bezug
              tiven empfunden. Nun sei allerdings entscheidend,                             auf die GRÜZ. Dank der Klauseln soll es für bestimm-
              was über Bekundungen und Absichtserklärungen der                              te Projekte möglich sein, Ausnahmeregelungen von
              Regierungen zum hohen Stellenwert der GRÜZ hin-                               nationalem Recht zu erlassen. Artikel 13 des Vertrags
              aus konkret passiere: Nur echte Fortschritte könn-                            sieht vor, dass, sofern kein bestehendes Rechtsins-
              ten den tatsächlichen Mehrwert des AGZ deutlich                               trument die Überwindung von Hindernissen in der
              machen.                                                                       GRÜZ ermöglicht, auch „angepasste Rechts- und
                                                                                            Verwaltungsvorschriften einschließlich Ausnahme-
              Unsicherheit herrscht in der Grenzregion darüber,                             regelungen“ vorgesehen werden können32.
              wie es nach dem Ende der coronabedingten Ausnah-
              mesituation mit dem AGZ weitergeht. Ähnlich wie                               Ähnlich wie beim AGZ verbinden sich auch mit den
              bei der DFPV ist unklar, ob die Grenzregionen die                             Experimentierklauseln große Erwartungen in den
              Aufmerksamkeit aus Berlin und Paris auch über die                             Grenzregionen. Juristinnen und Juristen sowie Be-
              Pandemie hinaus erhalten werden können. Die Rück-                             amtinnen und Beamte in den Landesverwaltungen
              kehr des AGZ, von seiner Rolle im akuten Krisenma-                            melden allerdings Zweifel an, wie schnell der innova-
              nagement zu den ursprünglich im Aachener Vertrag                              tive Mechanismus tatsächlich zur Anwendung kom-
              festgeschriebenen Aufgaben, wird genau beobachtet.                            men wird. Dass die Experimentierklauseln bisher
              Nationale Regierungen werben in diesem Zusam-                                 noch nicht genutzt wurden, liege an erster Stelle da-
              menhang für Geduld für die neue Institution, die im-                          ran, dass Ausnahmeregelungen für die GRÜZ juristi-
              mer noch in der Findungsphase sei31.                                          sches Neuland seien: Die Klauseln seien „kein klares
                                                                                            Rechtskonzept“. Ein Vertreter einer Gebietskörper-
                                                                                            schaft aus der Grenzregion bedauert das „bislang un-

              31    ine Beamtin unterstreicht die Rolle der Berichterstatter, die im ersten Semester 2020 für verschiedene Dossiers im Arbeitsprogramm des AGZ ernannt
                   E
                   wurden. Die persönliche Verantwortung für einzelne Dossiers war in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und wird als Erfolg gewertet. Nun liege es
                   an den Berichterstattern, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Fachministerien nicht das Interesse an den Vorgängen in der Grenzregion verlören.
              32   Artikel 13, Aachener Vertrag
12                                                                                                                                           Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                                                       ANALYSE

             genutzte Instrument“. Eine andere Gesprächspartne-                             regionen auf Unterschiede bei der Umsetzung von
             rin verweist auf die Sorgen von Verfassungsrechtlern                           EU-Recht auf beiden Seiten der Grenze zurück.
             vor den Auswirkungen der Klauseln über die Grenz-
             regionen hinaus33. Mit Blick auf mögliche Ausnahme-                            Entsprechend werden alle Fortschritte in der Arbeit
             regelungen für grenznahe Betriebe berichtet sie von                            des AGZ und mögliche Anwendungen der Experimen-
             Sorge in den Ministerien auf Bundesebene, vor al-                              tierklauseln von den EU-Institutionen aufmerksam
             lem im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), dass                               verfolgt. Ein Papier des Institut Français des Relations
             in der deutsch-französischen Grenzregion „Sonder-                              Internationales (IFRI) von Juni 2020 kommt zu dem
             wirtschaftszonen“ geschaffen werden könnten.                                   Schluss, beide Neuerungen hätten den Vorschlag der
                                                                                            EU-Kommission für einen „European Cross Border
             Ein zweites Hindernis für Ausnahmeregelungen ist die                           Mechanism“ (ECBM) „im Kern […] vorweggenom-
             bereits angesprochene „periphere Lage“ der Grenzre-                            men“35. Der ECBM-Vorschlag war 2015 unter luxem-
             gionen. In den Hauptstädten misst man vielen Projek-                           burgischer EU-Ratspräsidentschaft vorgeschlagen
             ten offenbar nicht genug Bedeutung bei, um das po-                             und 2018 von der Kommission als Legislativvorschlag
             litische Risiko einer Ausnahmeregelung in Kauf zu                              eingebracht worden. Der Mechanismus sieht Aus-
             nehmen. Ein konkretes Beispiel: Seit Langem enga-                              nahmeregelungen von nationalem Recht vor, um Hin-
             gieren sich Einwohnerinnen und Einwohner in der                                dernisse in der GRÜZ zu beseitigen. Die 2019 von der
             deutsch-französischen Grenzregion für die Organisa-                            Kommission geschaffene Plattform „B-Solutions“36
             tion grenzüberschreitender Sportwettkämpfe. Für die                            zur Befragung und Beratung von Behörden in Grenz-
             Teilnahme an einem Marathon etwa muss in Frank-                                regionen bescheinigt dem ECBM großes Potenzial:
             reich ein ärztliches Attest vorgelegt werden, das die                          In 30 Prozent der untersuchten Fälle betonten Ge-
             Unbedenklichkeit bescheinigt. Eine Entsprechung                                sprächspartner in den Grenzregionen, ein Rechtsins-
             dieses Attests gibt es auf deutscher Seite nicht. Hier                         trument wie der ECBM wäre hilfreich gewesen, um
             könnte eine Ausnahmeregelung scheinbar unkompli-                               „wiederkehrende Grenzhindernisse zu beseitigen“37.
             ziert konkrete Fortschritte in der GRÜZ ermöglichen.
             Bisher sieht das zuständige französische Sportminis-                           Das ECBM-Konzept wurde im Juli 2021 von der slo-
             terium aber offenbar keinen Anlass, den Anfragen aus                           wenischen EU-Ratspräsidentschaft jedoch vor-
             der Grenzregion, die vom französischen Außenminis-                             erst fallengelassen 38. Im Gesetzgebungsverfahren
             terium unterstützt werden, stattzugeben.                                       zeichnete sich keine Einigung zwischen EU-Par-
                                                                                            lament und EU-Rat ab. Mit dem vorläufigen Schei-
             Probleme, die sich aus den unterschiedlichen Rechts-                           tern des ECBM auf europäischer Ebene wächst nun
             vorschriften entlang der Grenze ergeben, gibt es zu-                           die Aufmerksamkeit für entsprechende Experimen-
             dem nicht nur an der deutsch-französischen Gren-                               te in der deutsch-französischen Grenzregion. Der
             ze. Entlang der europäischen Binnengrenzen entsteht                            AGZ und die Experimentierklauseln werden als bi-
             regelmäßig die paradoxe Situation, dass Unionsrecht,                           laterale Umsetzung der ECBM-Ideen gesehen. Phi-
             das gemeinsam auf europäischer Ebene ausgearbeitet                             lippe Voiry, französischer Botschafter für GRÜZ,
             wurde, von den Mitgliedsstaaten sehr unterschied-                              sieht die „ECBM-Philosophie“ im Aachener Vertrag
             lich in nationales Recht überführt wird. Diesen Um-                            verwirklicht39. Voiry war maßgeblich an der Ausar-
             stand kritisiert die EU schon seit einiger Zeit. Ein Be-                       beitung des Aachener Vertrags beteiligt und wurde
             richt der Kommission zu den Grenzregionen von Juli                             Anfang 2021 von seinem Posten als diplomatischer
             2021 bemängelte die „anhaltenden Schwierigkeiten“,                             Berater der Region Grand Est ins Außenministerium
             die für Bewohnerinnen und Bewohner der Grenz-                                  nach Paris berufen. Dort setzt er sich nicht nur für
             regionen durch den Mangel an öffentlichen grenz-                               die Wiederbelebung des ECBM-Konzepts ein, son-
             übergreifenden Verkehrsdiensten entstünden34. Lö-                              dern prüft auch die Übertragung der Lektionen des
             sungsansätze würden häufig durch „voneinander                                  Aachener Vertrags für die bilaterale Zusammenarbeit
             abweichende nationale Vorschriften behindert“. Auch                            mit Italien und Spanien.
             dieser Bericht führt viele Blockaden in den Grenz­

             33	Diese Sorge ist in Frankreich besonders präsent, schließlich bestimmt gleich der Eingangssatz des ersten Artikels der Verfassung
                 der Fünften Französischen Republik, dass Frankreich eine „unteilbare Republik“ ist („une et indivisible“).
             34	Europäische Kommission 2021: 1
             35   Andreas Marchetti 2020: 13
             36   Ein Überblick zum Projekt ist unter folgendem Link online verfügbar: https://www.b-solutionsproject.com
             37   Europäische Kommission 2021: 4
             38   Vgl. Anne Sander 2021
             39   Committee of Regions 2021
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                                                         13

           ANALYSE                                                                             Grenzenlose Mobilität in Europa

              3. GRENZÜBERSCHREITENDE                                    3.1 G
                                                                               rünere Mobilität für mehr Integration
                  MOBILITÄT ZWISCHEN EUROPAS                                  und Klimaschutz
                  HAUPTSTÄDTEN UND IN
                  DEN GRENZREGIONEN                                       Grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur ist
                                                                          Grundlage für die Mobilität von Personen und Gütern
              Die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität            in der EU. Artikel 170 des Vertrags über die Arbeits-
              ist eines der Kernanliegen des Aachener Vertrags.           weise der EU („Lissabon-Vertrag“) hebt die Bedeu-
              Die Ausgestaltung dieses politischen Ziels auf der          tung transeuropäischer Verkehrsnetze (TEN-V) „für
              europäischen, nationalen und regionalen Ebene er-           die Verwirklichung des Binnenmarktes […]“ hervor40.
              öffnet viele Möglichkeiten zur sinnvollen Ergänzung         Die aktuelle Verkehrspolitik der Kommission zielt da-
              und Zusammenarbeit, schafft aber auch eine Reihe            rauf ab, „Lücken zu schließen, Flaschenhälse zu be-
              von Konflikten. Letztere werden in den kommenden            seitigen und technische Barrieren abzubauen“, um die
              Jahren auch Herausforderungen für die neuen Ins-            „soziale, ökonomische und territoriale Kohäsion der
              titutionen und Instrumente sein, die der Aachener           EU zu stärken“41. Bis 2030 soll ein Kernnetz vollen-
              Vertrag geschaffen hat.                                     det sein, das die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte

              2: D
                  ER RHEINGEBIET-ALPEN-KORRIDOR (ORANGE) VERBINDET
                 NORDSEE-HÄFEN MIT DEM MITTELMEER

              Quelle: Europäische Kommission

              40   BMVI 2021
              41   Europäische Kommission 2021a, Übersetzung des Autors
14                                                                                                                                        Nr. 3 | Oktober 2021

Grenzenlose Mobilität in Europa                                                                                                                    ANALYSE

             des europäischen Kontinents miteinander verbindet.                           den entlang dieser gesetzlichen Rahmenbedingun-
             Neun Verkehrskorridore, von der Kommission defi-                             gen Maßnahmen gefördert, um zunächst den Güter-
             niert, bilden das „Rückgrat“ dieses Netzes. Einer die-                       verkehr vermehrt auf die Schiene zu bringen45.
             ser Korridore, Rheingebiet-Alpen, verläuft in weiten
             Teilen entlang der deutsch-französischen Grenze.42                           Neben dem Güterverkehr soll in den kommenden
                                                                                          Jahren aber auch der Personenverkehr von der Stra-
             Neben seiner grundsätzlichen Bedeutung für den                               ße auf die Schiene verlagert werden. Die Strate-
             Binnenmarkt hat das grenzüberschreitende europäi-                            gie „Trans-Europe-Express“ (TEE) wurde unter der
             sche Schienennetz jüngst dank ambitionierter Kli-                            deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Se-
             maschutzziele an Aufmerksamkeit gewonnen. Die                                mester 2020 maßgeblich vorangetrieben. Auf einem
             Regierungen Deutschlands und Frankreichs beto-                               „EU-Schienengipfel“ hatte Verkehrsminister Andre-
             nen regelmäßig ihre Unterstützung des Kommissi-                              as Scheuer (CSU) im September 2020 seine Ideen zur
             onsziels, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen43.                          „Ausweitung der grenzüberschreitenden Koopera-
             Auf deutscher Seite ist die „Wende zur klimafreund-                          tion“ präsentiert46. So soll unter anderem schon ab
             lichen Mobilität“ mit dem Ziel einer Reduktion der                           Dezember 2021 eine Nachtzuglinie Wien via Mün-
             CO2-Emissionen im Verkehrssektor um 42 Prozent                               chen mit Paris verbinden. Zwei Jahre später soll ei-
             im Bundes-Klimaschutzgesetz verankert 44. Unter                              ne ähnliche Verbindung dann Berlin mit Brüssel und
             dem Slogan „von der Straße auf die Schiene“ wer-                             Paris verbinden47:

             3: B
                 EREITS ENDE 2021 SOLLEN ZWEI NEUE
                NACHTZUGVERBINDUNGEN (ZÜRICH-AMSTERDAM
                UND WIEN-PARIS) DEN BETRIEB AUFNEHMEN

             Quelle: Deutsche Bahn

             42   Der Rhein-Alpen-Korridor führt durch die großen westdeutschen Wirtschaftszentren und einige der am dichtesten besiedelten und
                  reichsten Regionen der EU. Er verbindet niederländische und belgische Nordseehäfen mit dem Mittelmeerraum – BMVI 2021a
             43   Vgl. BMVI 2019: 2
             44   BMF 2021: 141
             45   Vgl. BMVI 2021b
             46   EU2020.de, 2020
             47   Vgl. Lone Grotheer 2020
Nr. 3 | Oktober 2021                                                                                                                              15

           ANALYSE                                                                                                   Grenzenlose Mobilität in Europa

              Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin und Paris                          In einer Pressemitteilung des AA zum DFMR von Mai
              ist ein Leuchtturmprojekt der deutsch-französischen                       2021 ist neben der Einrichtung von Nachtzugver-
              grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. 2016 erst                           bindungen „im Rahmen der TransEuropeExpress-
              hatte die Deutsche Bahn (DB) angekündigt, ihr eige-                       Strategie“ ebenfalls von kleineren Verbindungen die
              nes Nachtzugangebot aus wirtschaftlichen Gründen                          Rede54. Auch die französische Botschaft in Berlin be-
              aufzugeben48. Umso mehr begrüßten Ende 2020 die                           tonte nach dem DFMR ausdrücklich, neben der Ver-
              Ko-Vorsitzenden des Büros der DFPV die Ankündi-                           bindung zwischen den Hauptstädten müsse auch der
              gung einer Reaktivierung der Nachtzugverbindung                           grenzüberschreitende öffentliche Verkehr „auf regi-
              zwischen den beiden Hauptstädten. Die Abgeordne-                          onaler und lokaler Ebene“ gestärkt werden“55.
              ten forderten darüber hinaus, den Ausbau regulärer
              Verbindungen schneller voranzutreiben – auch im                           Viele Gesprächspartner in Deutschland heben al-
              Rahmen des EU-Wiederauf baufonds49.                                       lerdings hervor, dass die „große Symbolkraft“ der
                                                                                        Nachtzugverbindung Berlin-Paris für die Fortschritte
              Ähnliche Forderungen wie die der DFPV berufen sich                        eine wichtige Rolle spiele. Erst diese Symbolkraft, so
              auf eine Reihe deutsch-französischer Abkommen und                         scheint es, hat dem Projekt auch außerhalb der oh-
              Erklärungen. Der Vertrag von La Rochelle von 1992 et-                     nehin zugeneigten Außenministerien in den Fachmi-
              wa hält beide Länder zum schnellen Ausbau der Di-                         nisterien die nötige Aufmerksamkeit verschafft. Pro-
              rektverbindung zwischen ihren Hauptstädten an50.                          jekte auf regionaler und lokaler Ebene, das schwingt
              Eine jüngere Referenz für die grenzüberschreiten-                         in den Gesprächen oft mit, profitieren weniger oder
              de Kooperation im Schienenverkehr ist die deutsch-                        gar nicht von dieser Aufmerksamkeit.
              französische Erklärung von Meseberg von 201851. Das
              in Meseberg vereinbarte „Mainstreaming des Klima-                         Zwischen den Ankündigungen aus den Hauptstäd-
              schutzes“ hat dank Konzepten wie der „grünen Mobi-                        ten und dem Urteil zum Ausbau kleinerer Strecken
              lität“ und Slogans wie „von der Straße auf die Schiene“                   entlang der deutsch-französischen Grenze klafft
              auch für den grenzüberschreitenden Schienenverkehr                        deshalb oft eine große Lücke. Auf diese Lücke wur-
              zunehmend Bedeutung. In einem Papier der „Mese-                           de während einer öffentlichen Anhörung des deut-
              berger Klima-Arbeitsgruppe“ von 2019 heißt es zum                         schen Verkehrsministers in der DFPV im Januar 2021
              Beispiel, das Bundesministerium für Verkehr und di-                       hingewiesen 56. Verkehrsminister Scheuer beton-
              gitale Infrastruktur (BMVI) und das französische Um-                      te zwar auch im Namen seines Amtskollegen Jean-
              weltministerium, das Ministère de la Transition éco-                      Baptise Djebbari die Zusammenarbeit bei grenzüber-
              logique et solidaire (MTES) (dt. „Ministerium des                         schreitenden Projekten. Über thematische Gremien
              ökologischen und solidarischen Übergangs“), wollten                       wie die deutsch-französischen Arbeitsgruppe (AG)
              „grenzüberschreitende Mobilität und den Aufbau von                        zur Eisenbahn sei die grenzüberschreitende Mobili-
              Infrastruktur […] stärken“, ein besonderer Fokus liege                    tät während der deutschen Ratspräsidentschaft auch
              auf dem „Klimaschutz im Verkehr“52.                                       auf europäischer Ebene ein Schwerpunktthema ge-
                                                                                        wesen. Mehrere Abgeordnete machten während der
              Den wichtigsten Bezugspunkt bildet aber der Aa-                           Anhörung deutlich, dass sie sich beim Ausbau grenz-
              chener Vertrag. Die dem Vertrag angehängte Lis-                           überschreitender Strecken mehr Unterstützung aus
              te prioritärer Vorhaben erwähnt unter Punkt acht                          den Hauptstädten wünschen. Beispielhaft wurde der
              die „Verbesserung grenzüberschreitender Bahnver-                          Investitionsbedarf in bestimmte Streckenabschnitte
              bindungen“53. Seit der Unterzeichnung des Vertrags                        genannt: Zugreisende bräuchten heute aus Saarbrü-
              wird der Wille zum weiteren Ausbau grenzüber-                             cken zwar nur knapp zwei Stunden nach Paris, dafür
              schreitender Bahnverbindungen regelmäßig betont.                          aber siebeneinhalb Stunden nach Berlin – das zeige,

              48   Vgl. Macro Völklein 2016
              49   Vgl. Andreas Jung, Christophe Arend 2020
              50   Der Vertrag immer wieder als wichtiger Referenzpunkt aufgenommen, zum Beispiel in der
                   „Erklärung von Hambach zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in den Grenzregionen“ von 2017.
              51   Vgl. Bundesregierung 2018
              52   BMVI 2019: 3
              53   Vgl. französische Präsidentschaft 2019
              54   Auswärtiges Amt 2021
              55   Französische Botschaft in Berlin 2021
              56   Vgl. Bundestag 2021
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