Grenzenlose Mobilität in Europa - Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug - DGAP Policy Brief
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Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik Nr. 3 Oktober 2021 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa Die deutsch-französischen Grenzregionen sind am Zug Sie ist Grundlage für den grenzüberschreitenden Austausch z wischen Deutschland und hat durch die coronabedingten Einschränkung erneut an Bedeutung gewonnen: die Mobilität der Menschen in den Grenzregionen. Über die Notwendigkeit des Aus- Jacob Ross baus bestehender Angebote herrscht zwar Einigkeit zwischen den Wissenschaftlicher Verantwortlichen. Gestritten wird allerdings über die Prioritäten- Mitarbeiter, Programm Frankreich setzung und Finanzierung. Entsprechende Verhandlungen werden zunehmend durch Institutionen der bilateralen Zusammenarbeit beeinflusst, die während der Pandemie ihren Platz in den deutsch- französischen Beziehungen gefunden haben. – Akteure aus den Grenzregionen sollten betreffende nationale politische Entscheidungen nicht mehr nur rückwirkend kommentieren, sondern sich aktiv in Entscheidungsfindungen einbringen können – Deutschland und Frankreich sollten stärker für den Ausbau grenzüberschreitender Verbindungen mit europaweiten Infrastrukturplänen eintreten – Beide Regierungen sollten sich gemeinsam für die Wieder belebung europäischer Initiativen wie des „European Cross Border Mechanism“ (ECBM) einsetzen
2 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa EXECUTIVE SUMMARY ANALYSE In den Diskussionen um den Bahnverkehr zwischen schärfen und ihren Mehrwert für die Grenzregionen Deutschland und Frankreich spiegeln sich K onflikte und die Hauptstädte unter Beweis zu stellen. Für den wider, die die grenzüberschreitende Zusammen Bedarf einer besseren Abstimmung bieten die Mo- arbeit beider Länder betreffen. Der Wille, Stre bilität in den Grenzregionen sowie der grenzüber- ckennetze und Angebote sowohl zwischen den schreitende Schienenverkehr zahlreiche Beispiele. Hauptstädten als auch zwischen grenznahen Kom Gelingt es, die sogenannten Missing Links zwischen munen auszubauen, wird seit Jahrzehnten auf al den Grenzregionen sinnvoll mit Zugverbindungen len Ebenen betont: von den Gebietskörperschaften zwischen den Hauptstädten und den Infrastruk- in unmittelbarer Grenznähe über die regionalen turvorhaben auf europäischer Ebene zu verbinden, Hauptstädte bis in die nationalen Hauptstädte. Zu wäre viel gewonnen: für die grenzüberschreitende letzt hat auch der Ausbau des Schienennetzes zwi Mobilität, die Vernetzung Europas und den Kampf schen den Mitgliedsstaaten der EU große politische gegen den Klimawandel. Gelingt das nicht, droht und mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Im Kampf Enttäuschung dort, wo der europäische Einigungs- gegen den Klimawandel und dank politischer Pri prozess lange am sichtbarsten war. oritäten wie der Verkehrswende sind bessere Zug verbindungen eine Voraussetzung, um Bürgerinnen und Bürger zum Umstieg zu bewegen und das Kon ÜBER DAS PROJEKT „MONITORING zept „von der Straße auf die Schiene“ auch und ge DER GRENZÜBERSCHREITENDEN rade in der Grenzregion umzusetzen. ZUSAMMENARBEIT IN DER DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN Die Reaktivierung von Europas Nachtzug GRENZREGION“ verbindungen, etwa zwischen Berlin und Paris, trifft dabei einen Nerv. Angesichts der Begeisterung für Europas Grenzregionen sind für die nachbarschaft- Verbindungen zwischen den europäischen Haupt- lichen bilateralen Beziehungen wie auch für die städten hoffen auch die Befürworterinnen und Be- Europapolitik der Mitgliedstaaten von z entraler Be- fürworter kleinerer Streckenabschnitte im Grenz- deutung. Sie wirken als Brennglas für E rfolge und gebiet auf mehr politische Aufmerksamkeit. Diese Herausforderungen der europäischen Integration Hoffnung speist sich auch aus den Erfahrungen, und machen Fortschritte oder Stagnation tagtäglich die deutsche und französische Bewohnerinnen und für die Bürgerinnen und Bürger vor Ort greifbar. Der Bewohner der Grenzregion im vergangenen Jahr deutsch-französischen Grenzregion kommt dabei als gemacht haben, als die Pandemie die Mobilität einer der am stärksten integrierten grenzüberschrei- und den Austausch über Grenzen hinweg kurzzei- tenden Regionen Europas und wichtigem Schauplatz tig fast vollkommen zum Erliegen brachte. Akteu- des europäischen Einigungsprozesses eine zusätzli- re grenznaher Gebietskörperschaften argumentie- che Bedeutung zu. Sie steht als Labor für Errungen- ren, dass bereits Bruchteile der Investitionen für schaften, Chancen und Defizite der europäischen große Infrastrukturprojekte zum Ausbau des eu- Einigung unter besonderer Beobachtung. ropäischen Schienennetzes – wie beispielsweise des Eisenbahntunnels zwischen Lyon und Turin – Der 2019 unterzeichnete Vertrag von Aachen er- reichten, um viele grenzüberschreitende Strecken kennt diese besondere Bedeutung der Grenz zu reaktivieren, zu ergänzen oder neu zu bauen. Die regionen an. Die Regierungen verpflichten sich, die nationalen Regierungen wiederum verweisen auf Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frank- ihre Verantwortung für das gesamte Staatsgebiet, reich weiter zu stärken, indem die Gebietskörper- Mehrkosten für spezifische Anliegen der Grenzregi- schaften in den Grenzregionen mit „angemessenen onen müssten gerechtfertigt sein. Kompetenzen, zweckgerichteten Mitteln und be- schleunigten Verfahren“ ausgestattet werden. Dort, Im Ringen um politische Aufmerksamkeit und den wo deutsche und französische Interessen schon Zugang zu finanziellen Ressourcen könnten zuneh- heute eng verflochten sind, könnte in den kommen- mend zwei neue Institutionen eine Rolle spielen, die den Jahren ein Experimentierfeld für Europas Zu- im Zuge der Unterzeichnung des Aachener Vertrags kunft entstehen. Dabei betreffen die Erwartungen geschaffen wurden: die Deutsch-F ranzösische vieler Bürgerinnen und Bürger – auch mit Blick auf parlamentarische Versammlung (DFPV) und der die Erfahrungen im Frühjahr 2020 – die Vertiefung Ausschuss für grenzüberschreitende Zusammen- der Zusammenarbeit, etwa im Mobilitätsbereich, in arbeit (AGZ). Beide haben während der Covid-19- der Gesundheitspolitik oder der Frage nach grenz- Pandemie die Gelegenheit bekommen, ihr Profil zu überschreitenden Arbeitsverhältnissen.
Nr. 3 | Oktober 2021 3 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa EXECUTIVE SUMMARY In den Hauptstädten wurde das Potenzial grenz- überschreitender Zusammenarbeit – für die regio- nale Entwicklung, aber auch für die bilateralen Be- ziehungen und den europäischen Einigungsprozess – lange unterschätzt. Umso wichtiger ist es nun, die richtigen Lehren aus den Verwerfungen der vergan- genen Monate zu ziehen. Zu dieser Aufgabe möchte unser Projekt einen Beitrag leisten. Aufbauend auf Hintergrundge- sprächen mit Politikerinnen und Politkern, Beam- ten, Fachleuten aus der Wissenschaft sowie en- gagierten Bürgerinnen und Bürgern aus der deutsch-französischen Grenzregion sollen zunächst Einblicke in diesen Lernprozess ermöglicht werden. Im zweiten Schritt folgen Handlungsempfehlungen für nationale Verantwortliche. Das Projekt wird mit freundlicher Unterstützung des Auswärtigen Amts durchgeführt.
4 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE Inhalt Executive Summary 2 Einführung 5 1 Grenzüberschreitende Kooperation als „kleine Außenpolitik“ 7 1.1 Geschichte der GRÜZ in der deutsch-französischen Grenzregion 7 1.2 GRÜZ ergänzt als „kleine Außenpolitik“ die bilateralen Beziehungen 7 1.3 Wissenschaftliche Zugänge zur GRÜZ 8 2 GRÜZ als Herzstück des Aachener Vertrags 10 2.1 Die Pandemie als Stresstest für die neuen Institutionen des Aachener Vertrags 10 2.2 Aufmerksamkeit für die Grenzregionen – über die Ausnahmesituation hinaus 10 2.3 Europäische Experimente in der deutsch-französischen Grenzregion 11 3 Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Europas Hauptstädten und in den Grenzregionen 13 3.1 Grünere Mobilität für mehr Integration und Klimaschutz 16 3.2 Grenzüberschreitender Schienenverkehr an der deutsch-französischen Grenze 16 3.3 Grenzüberschreitende Mobilität zwischen Missing Links und Leuchtturmprojekten 17 Fazit 20 Literatur 21
5 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE Einführung Deutschland und Frankreich gelten als engste Part- samkeit: Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin ner in Europa. Grenzüberschreitende Zusammen- und Paris ist als „europäisches Leuchtturmprojekt“ arbeit (im Folgenden „GRÜZ“) zwischen den Grenz- auch im Vertrag von Aachen festgeschrieben. regionen beider Länder ist eine fundamentale Säule dieser Beziehungen. Anlässlich der Bedeutung die- Über Flaggschiff-Infrastrukturen und Leuchtturm- ser Partnerschaft widmet sich die Deutsche Gesell- projekte hinaus hoffen viele Bürgerinnen und Bür- schaft für Auswärtige Politik e.V. (DGAP) in einer ger in Europas Grenzregionen auf den Ausbau grenz- dreiteiligen Publikationsreihe in Form von Fallstu- überschreitender Zugverbindungen. Vertreterinnen dien den aktuellen Entwicklungen an der deutsch- und Vertreter lokaler und regionaler Gebietskör- französischen Grenze. Den Rahmen dafür bildet das perschaften bemühen sich um politische Aufmerk- DGAP-Projekt „Monitoring der grenzüberschreiten- samkeit und finanzielle Mittel für den Bau neuer den Zusammenarbeit in der deutsch-französischen Infrastruktur, die Verbesserung bestehender Verbin- Grenzregion“. Im vorliegenden ersten Beitrag der dungen und die Angleichung von technischen Stan- Reihe steht das Thema Mobilität im Vordergrund. dards und Dienstleistungen für eine reibungslosere grenzüberschreitende Mobilität. Verglichen mit ihrer Bedeutung muss festgestellt werden, dass die GRÜZ abseits der großen Gipfel- Grenzüberschrei tende Zugverbindungen ha- treffen nur selten eine breite mediale Aufmerksam- ben es auch dank dieses Engagements auf die Lis- keit bekommt. Schafft sie es doch, geht es nicht sel- te prioritärer Vorhaben geschafft, die dem Aachener ten um schlechte Nachrichten. Dies war während Vertrag angehängt wurde: So verspricht Punkt acht der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 der Fall, verbesserte grenzüberschreitende Bahnverbindun- als die Schlagbäume an vielen Stellen entlang der gen. Dabei ist oft auf den ersten Blick nur schwer Grenze wieder fielen. Bilder einer schwer bewaff- verständlich, warum diese Verbindungen technisch, neten Bundespolizei, empörter Pendlerinnen und wirtschaftlich und politisch so herausfordernd sind. Pendler und getrennter binationaler Paare und Fa- Die vorliegende Analyse wird deshalb auf Fortschrit- milien wurden in der überregionalen Presse thema te und weiter bestehende Hindernisse eingehen und tisiert. Die Pandemie hat folglich an vielen Stellen dabei insbesondere die Rolle der Institutionen in noch einmal die wichtige Rolle deutlich gemacht, den Blick nehmen, die der Aachener Vertrag 2019 die Städte, Kommunen und Vertreter anderer loka- neu geschaffen hat. ler und regionaler Gebietskörperschaften heute für die bilateralen Beziehungen spielen. Es wurde klar: Grenzüberschreitende Bahnverbindungen und die Die GRÜZ hat im Alltag vieler Menschen auf bei- sie betreffenden Diskussionen zeigen im Kleinen vie- den Rheinseiten konkretere Auswirkungen als viele le Probleme, die die GRÜZ insgesamt betreffen. Zwar deutsch-französische Gipfeltreffen. hat der Ausbau des Schienennetzes zwischen den Mitgliedsstaaten der EU zuletzt viel Aufmerksamkeit Unser Monitoring der GRÜZ seit der Unterzeichnung aus Politik und Medien bekommen. Die Reaktivie- des Aachener Vertrags beginnen wir mit einem Über- rung von Nachtzugverbindungen zwischen Europas blick zum Stand der grenzüberschreitenden Mobilität, Hauptstädten trifft in Verbindung mit dem Kampf genauer des Schienenpersonenverkehrs. Für 2021 hat gegen den Klimawandel einen Nerv. Doch droht an- die EU das „europäische Jahr der Schiene“ ausgerufen. gesichts der Begeisterung für die großen Verbindun- Seit Jahren hält die Union die Mitgliedsstaaten zum gen, zwischen Berlin und Paris oder Wien und Paris, Ausbau der grenzüberschreitenden Fernzugverbin- in Vergessenheit zu geraten, dass in den Grenz dungen an und unterstützt den Ausbau beziehungs- regionen Europas oft mit einem Bruchteil der Inves- weise Neubau sogenannter „Flaggschiff-Verkehrs- titionen, die für die großen Korridore aufgewendet infrastrukturen“ . Auch die Regierungen Frankreichs werden, Verbesserungen für die grenzüberschrei- und Deutschlands widmeten dem Ausbau grenzüber- tende Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner schreitender Schienennetzte zuletzt viel Aufmerk- auf beiden Seiten der Grenze möglich wären.
Nr. 3 | Oktober 2021 6 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa Diskrepanzen zwischen EU-Infrastrukturvorhaben Die folgende Auseinandersetzung basiert auf Hinter- und politischen Leuchtturmprojekten auf der einen grundgesprächen mit Politikerinnen und Politikern, und dem Neubau oder der Reaktivierung grenzüber- Beamtinnen und Beamten sowie Wissenschaftlerin- schreitender Streckenabschnitte auf der anderen Sei- nen und Wissenschaftlern, die zwischen Juni und te sind somit auch Ausdruck der unterschiedlichen August 2021 geführt wurden. Informationen aus Gewichtung, die zwischenstaatliche und grenzüber- diesen Gesprächen sind in anonymer Form in die schreitende Initiativen in den Hauptstädten haben. Analyse eingeflossen. 1: DAS NATIONALE SCHIENENNETZ IN DEUTSCHLAND UND FRANKREICH Die Unterschiede zwischen deutschem Föderalstaat und französischem Zentralstaat werden bei der Betrachtung der nationalen Schienennetze schnell deutlich. Grenzüberschreitende Verbindungen haben mit vielen weiteren, oft weit weniger sichtbaren Problemen zu kämpfen. Quelle: openstreetmap.org
7 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE 1. GRENZÜBERSCHREITENDE und Zivilgesellschaft des Saarlandes, der französi- KOOPERATION schen Region Lorraine und des Staates Luxemburg im ALS „KLEINE AUSSENPOLITIK“ Rahmen des Strukturwandels der Kohle- und Stahlin- dustrie mit ähnlichen Problemen konfrontiert4. In der Zum Auftakt der dreiteiligen Serie und zur Einord- Oberrheinregion wurde die GRÜZ ursprünglich von nung der folgenden Analyse wird eingangs auf die der Schweizer Politik und Vertreterinnen und Ver- Entstehungsgeschichte der deutsch-französischen tretern lokaler Wirtschaftsinteressen vorangetrieben GRÜZ eingegangen sowie der wissenschaftliche Zu- und folgte lange vor allem ökonomischen Interessen5. gang zum Thema erläutert. Dass die Gründung der privatrechtlichen „Regio 1.1 G eschichte der GRÜZ in der deutsch- Basiliensis“ 1963 im gleichen Jahr erfolgte wie die französischen Grenzregion Unterzeichnung des deutsch-französischen Freund- schaftsvertrags („Élysée-Vertrag“) weist anekdotisch Das vierte Kapitel des Aachener Vertrags baut auf auf das Zusammenspiel zwischen GRÜZ und nati- der langen Geschichte europäischer GRÜZ auf. In der onaler Außenpolitik hin. Die Kontakte, die Vertre- Bundesrepublik entstanden erste grenzüberschrei- ter grenznaher Gebietskörperschaften entlang der tende Kooperationsformate 1958 an der deutsch- Grenze in die Nachbarländer knüpften, kamen der niederländischen Grenze1. Kurz darauf folgten ähn- bundesrepublikanischen Versöhnungspolitik, spä- liche Initiativen auch an der deutsch-französischen ter auch europapolitischen Zielsetzungen zugute. Grenze, wo die GRÜZ bis heute in zwei großen Räu- Die Verknüpfung von Europapolitik, bilateralen Au- men stattfindet – der Oberrheinregion und der ßenbeziehungen und zahllosen kleineren Kooperati- Großregion im Saar- und Moselbecken. In beiden onsformaten entlang der rund 450 Kilometer langen Regionen sind neben Deutschen und Franzosen auch Grenze spricht auch aus der „Hambacher Erklärung“. Vertreter von Drittstaaten involviert: am Oberrhein Diese wurde 2017 von Vertretern des deutschen und Schweizer Kantone, in der Großregion wiederum französischen Außenministeriums sowie der drei Luxemburg sowie belgische (wallonische) Bezirke. deutschen Bundesländer und der Region Grand Est verabschiedet und unterstreicht das historisch ge- Neben den entsprechenden Kooperationsformaten wachsene Selbstbewusstsein in den G renzregionen: „Großregion“ und „Oberrheinkonferenz“ gibt es eine „Die deutsch-französische Grenzregion ist ein Vielzahl weiterer deutsch-französischer Vernetzun- Europa im Kleinen, ein konkretes, handlungsfähiges, gen: etwa den Eurodistrikt PAMINA, ein Kooperati- innovatives und solidarisches Europa“6. onsformat zwischen Südpfalz, mittlerem Oberrhein und nördlichem Elsass, sowie drei grenzüberschrei- 1.2 G RÜZ ergänzt als „kleine Außenpolitik“ tende Ballungsräume, den trinationalen Eurodistrikt die bilateralen Beziehungen Basel, den Eurodistrikt Straßburg-Ortenau und den Eurodistrikt Saar-Mosel2. Für die deutsche Diskussion hat die Historikerin Bir- te Wassenberg im Zusammenhang mit der GRÜZ das Historiker heben im Rückblick die Bedeutung der Konzept der „kleinen Außenpolitik“ geprägt7. Wassen- GRÜZ für die Versöhnungspolitik der jungen Bonner berg, die zwischen Straßburg und Kehl zur deutsch- Republik mit Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg französischen Zusammenarbeit forscht, grenzt ihr hervor3. Die Zusammenarbeit entlang der deutsch- Konzept ausdrücklich von anderen, meist politikwis- französischen Grenze entsprang in den 1960er Jahren senschaftlichen Konzepten, ab.8 Ihr Ansatz ist auch unterschiedlichen Motiven, abhängig von den jeweili- von der „Nebenaußenpolitik“ zu unterscheiden9. Die- gen politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. se beschreibt beispielsweise die außenpolitischen In der Großregion etwa sahen sich Politik, Wirtschaft Aktivitäten deutscher Ministerpräsidentinnen und 1 Vgl. Europäische Kommission 2016: 6 2 Vgl. Virginie Delattre-Escuide et. al. 2020: 5 3 Vgl. Birte Wassenberg 2015: 77 4 Vgl. Ministerium des Saarlands für Finanzen und Europa 2021 5 Vgl. Wassenberg 2019: 13 6 Auswärtiges Amt et. al. 2017 7 Vgl. Wassenberg 2015 8 Auf dem amerikanischen Kontinent gibt es etwa zahlreiche Arbeiten zum Thema „Para- oder Proto-Diplomatie“. Diese setzten sich aber meist mit den Konsequenzen einer mit der nationalen Außenpolitik konkurrierenden Lokalpolitik auseinander. 9 Vgl. Swaantje Marten 2021
8 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE Ministerpräsidenten, die zwar nicht mit der nationalen überschreitenden Kooperation führt beispielsweise Außenpolitik konkurrieren, aber doch nach Möglich- dazu, dass auf deutscher Seite vielfach von kommu- keiten suchen, unabhängige Beziehungen ins Ausland nalen Vertretern zu hören ist, dass dank eigener Ge- zu pflegen. Im Jahr 2020 wurde diese Nebenaußenpo- sprächskanäle und persönlicher Kontakte ins Nach- litik deutlich, als der nordrhein-westfälische Minister- barland der Schaden für die deutsch-französischen präsident Armin Laschet sich in Berlin dafür einsetz- Beziehungen begrenzt worden sei. te, die Grenzen zu den Niederlanden und Belgien trotz der Corona-Pandemie offen zu halten. Auch der bay- 1.3 Wissenschaftliche Zugänge zur GRÜZ erischen Staatsregierung sagten Berliner Regierungs- beamte im Zuge der Pandemiebekämpfung bessere Entsprechend der unterschiedlichen Motive deutsch- Kontakte zur tschechischen Regierung nach als der französischer GRÜZ gibt es vielfältige wissenschaft- Bundesregierung. liche Zugänge zum Thema. Eine kürzlich im Namen des Bundesministeriums des Inneren (BMI) veröf- Trotz gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten und fentlichte Studie unterscheidet drei wesentliche unterschiedlichen Prioritäten wurde der Mehrwert Forschungsinteressen14: der GRÜZ in den nationalen Hauptstädten schnell erkannt. Die offizielle Integration der „kleinen Au- ßenpolitik“ in die deutsch-französischen Beziehun- gen erfolgte 1975 mit der Unterzeichnung des Bon- 1. renzregionen werden oft als „nationale Peri- G pherien“ betrachtet, die auf Unterstützung aus den Zentren der Nationalstaaten angewiesen ner Abkommens10. Ausgehandelt von Diplomaten aus sind. Die Wissenschaft interessiert sich für die Deutschland, Frankreich und der Schweiz, definier- Bemühungen lokaler oder regionaler Mandats- te das Abkommen den Geltungsbereich für die GRÜZ trägerinnen und -träger, mehr Aufmerksamkeit im Oberrheingebiet. Die Initiative war 1972 vom fran- in den nationalen Hauptstädten zu bekommen. zösischen Außenministerium ausgegangen, das an- gesichts sich häufender Anfragen zur GRÜZ eine zu große Unabhängigkeit grenznaher Gebietskörper- schaften fürchtete. Die folgenden Delegationstreffen 2. ie Literatur zur sogenannten „Mehrebe- D nen-Governance“15 betrachtet Grenzregionen nicht vordergründig als periphere Räume von machten schon zu Beginn die großen Unterschiede Nationalstaaten. Sie interessiert sich im Ge- im Umgang der nationalen Regierungen mit der genteil für politische, wirtschaftliche oder kul- „kleinen Außenpolitik“ deutlich: Während Deutsch- turelle Gemeinsamkeiten, die Regionen auf land und die Schweiz auch durch Vertreter der Ge- beiden Seiten der Grenze verbinden sowie für bietskörperschaften im Oberrheingebiet repräsen- die Frage, welche Konsequenzen sich daraus tiert wurden, saßen auf französischer Seite zunächst für die nationale Politik ableiten lassen. ausschließlich Pariser Beamtinnen und Beamte am Verhandlungstisch11. Hierzulande bringen sich subnationale Einheiten 3. rgebnisse dieser beiden Forschungsansätze E fließen in die Diskussion um „sekundäre Au- ßenpolitik“ ein, die das Spannungsverhältnis immer aktiver in die Außenbeziehungen ein12. 2013 zwischen grenzüberschreitender Kooperati- schrieb der damalige Oberbürgermeister der baden- on und bilateralen diplomatischen Beziehun- württembergischen Grenzstadt Kehl Günther Petry gen in den Blick nimmt. anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Élysée-Ver- trags über die Bedeutung, aber auch Schwierigkei- Tatsächlich ist die „periphere Lage“16 in den Grenz- ten der „kommunalen Außenpolitik“ für die GRÜZ13. regionen zwischen Deutschland und Frankreich ein Das in vielen Gebietskörperschaften pandemiebe- häufiges Motiv für die GRÜZ. Durch die geographische dingt geschärfte Bewusstsein für die Rolle der grenz- Distanz zu den wirtschaftlichen und politischen Zen- 10 Das Bonner Abkommen beschloss 1975 die „Vereinbarung über die Bildung einer Regierungskommission zur Prüfung und Lösung von nachbarschaftlichen Fragen“ – Bundesgesetzblatt 1976 11 Vgl. Wassenberg 2015, 82 12 Vgl. Volker Stanzel 2018 13 Günther Petry 2013: 2 14 Vgl. Tobias Chilla 2020: 12 15 Der Begriff „Governance“ bezeichnet allgemein die „Regierungspraxis eines kooperativen Staates“. Die Definition wird in Abgrenzung zum Begriff „Government“ als klassische Ordnungsgröße politischer Prozesse klar: Government-Analysen beschreiben die exklusive Interaktion zwischen Regierungen und nachgelagerten Behörden. Im Fokus stehen Gesetzgebungsverfahren, bürokratische Vorschriften und Hierarchien. Governance-Forschung betrachtet dieselben Interaktionen, legt dabei aber einen stärkeren Fokus auf partizipative Entscheidungsprozesse und berücksichtigt nichtstaatliche Akteure – Karsten Berr et al. 2019: 18/19 16 In Frankreich hat sich rund um den Begriff „peripher“ nach der Veröffentlichung des Buchs „La France périphérique“ (Christophe Guilluy 2014) in den vergangenen Jahren eine rege Debatte entwickelt.
Nr. 3 | Oktober 2021 9 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa tren des eigenen Landes nehmen sich Grenzregio- formiert. Raumplanung zählt zu den wichtigsten nen häufig als benachteiligt wahr. Gesprächspartner Hoheitsrechten moderner Nationalstaaten und fin- auf beiden Seiten der Grenze kritisieren, dass oft der det ebenenübergreifend Anwendung, in Deutschland Sitz der regionalen Regierung zu weit entfernt ist, um etwa in Bundesländern und Kommunen18. Mit der zu- spezifische Anliegen der Grenzregionen zu verstehen. nehmenden Intensivierung der GRÜZ an den deut- Vertreter lokaler und regionaler Gebietskörperschaf- schen Außengrenzen hat der Bedarf nach grenz- ten in deutschen Bundesländern beklagen, bereits in überschreitender Abstimmung in den vergangenen Stuttgart oder Mainz sei „die Distanz für Belange der Jahrzehnten massiv zugenommen. Häufig ergibt sich GRÜZ spürbar“. Die detaillierte Kenntnis und ein ech- aber das Problem, dass die aktuellen Instrumente der tes Verständnis für die spezifischen Probleme in den Raumplanung, deren wichtigster Bezugsrahmen nati- Grenzregionen fehlen somit. Abhilfe soll Vernetzung onale Grenzen sind, den Realitäten grenzüberschrei- über die Grenze hinweg schaffen. tender Planungsräume nicht mehr gerecht werden19. Ein konkretes Beispiel unterstreicht den Mehrwert der Grenzüberschreitende Zugverbindungen sind ein GRÜZ im Verhältnis der Grenzregionen zu nationalen gutes Beispiel. Deren Nutzbarkeit hängt für die Bür- Hauptstädten. Die nordöstlichen französischen Dépar- gerinnen und Bürger in den Grenzregionen von po- tements Meuse, Meurthe-et-Moselle und Moselle sind litischen Entscheidungen beidseits der Grenze ab. spärlich besiedelt und kämpfen seit Jahrzehnten mit Eine Gesprächspartnerin bedauerte etwa, Bewoh- den Folgen einer schwachen regionalen Wirtschaft. nerinnen und Bewohner der Grenzregionen seien Zusammenarbeit mit deutschen Bundesländern ist deutlich häufiger mit dem Auto unterwegs als an- für diese Regionen aber nicht nur aus wirtschaftlichen derswo. Oft fehlten Bus- oder Zugverbindungen als Gesichtspunkten interessant. Sie bietet außerdem Ge- Alternative, da grenzüberschreitenden Strecken in legenheit, sich über Bezeichnungen wie „Eurodéparte- den nationalen Planungen nur wenig Aufmerksam- ment“ oder Slogans wie „im Herzen Europas“17 im na- keit geschenkt werde. Die Raumplanung scheint auf tionalen Kontext neu zu positionieren – wenn auch diese Veränderungen nun zu reagieren. Das Akti- nicht geographisch, so doch in der Debatte. onsprogramm „Modellvorhaben der Raumordnung“ (MORO) des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Für die Aktualität der Forschung zur Mehrebe- Raumforschung (BBSR) untersucht aktuell die „Er- nen-Governance ist die Schaffung des Ausschusses probung und Umsetzung innovativer, raumordneri- für grenzüberschreitende Zusammenarbeit (AGZ) scher Handlungsansätze […] mit Akteuren in den Re- das beste Beispiel. Der Ausschuss bringt Vertreter gionen vor Ort“20. Zwei Modellvorhaben gehen an grenznaher Gebietskörperschaften und grenzüber- der deutsch-französischen Grenze der Frage nach, schreitender Kooperationsformate wie der Ober- „inwiefern eine Harmonisierung und Annäherung rheinkonferenz oder der Großregion mit Parlamen- von verbindlichen Normen in der Planungspraxis der tariern und Regierungsvertretern aus Deutschland beiden Länder möglich und erforderlich ist“21. und Frankreich an einen Tisch. Der Mehrwert des Formats wurde 2020 im Zuge der coronabeding- Das BBSR legt in der Projektbeschreibung großen ten Einschränkungen des Grenzverkehrs zwischen Wert auf den Beitrag, den entsprechende Modellvor- Deutschland und Frankreich deutlich. Zuletzt hat der haben für außenpolitische Ziele leisten. Experimen- AGZ im Mai 2021 in Vorbereitung des Deutsch-Fran- te mit grenzüberschreitender Raumplanung trügen, zösischen Ministerrats (DFMR) Vertretern der Regie- so die dem Bundesinnenministerium (BMI) unter- rungen beider Länder Empfehlungen vorgelegt. stellte Behörde, auch zur „Umsetzung des Aachener Vertrags“ bei22. Die Zielsetzung des BBSR entspricht Ein weiteres Beispiel für die steigende Bedeutung grenz- damit dem Vertragstext von Aachen, der zur Ver- überschreitender Governance ist die Raumplanung in besserung der GRÜZ die Möglichkeit für „angepasste der deutsch-französischen Grenzregion. Politische Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Ausnahme- Entscheider werden von nationalen Raumplanern regelungen“ vorsieht23. Tatsächlich könnte grenzüber- über wichtige Kennzahlen für das Staatsgebiet in- schreitende Raumplanung in vielen Bereichen eine 17 Präfektur Grand Est et al. 2021 18 Nienaber zitiert in Berr et al. 2019: 42 19 Ebd.: 44 20 BBSR 2021 21 BBSR 2020 22 Ebd. 23 Vgl. Artikel 10, Aachener Vertrag
10 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE wichtige Rolle spielen, indem sie eine gemeinsame le und lokale Gebietskörperschaften, Parlamente Datengrundlage schafft. Entsprechende Initiativen und grenzüberschreitende Einheiten wie Eurodist- des BBSR reagieren auch auf Kritiker, die der GRÜZ rikte […]“ um einen Tisch versammeln, um die grenz- lange die fehlende Datengrundlage und den „Mangel überschreitende Raumbeobachtung zu koordinieren, an konkreten Informationen zu Stärken, Schwächen Hindernisse in die Hauptstädte zu melden und Stra- und Potenzialen in den Grenzräumen“ vorwarfen24. tegien zur Lösung bestehender Probleme zu erar- beiten28. Der Ausschuss feierte im Januar 2020 seine konstituierende Sitzung. Schon kurz darauf musste 2. G RÜZ ALS HERZSTÜCK DES er sich in der COVID-Pandemie als neue Plattform AACHENER VERTRAGS für deutsch-französisches Krisenmanagement be- weisen. Die Experimentierklauseln sind seit der Un- Der Aachener Vertrag trägt der historischen Bedeu- terzeichnung des Vertrags noch nicht angewendet tung der GRÜZ für die bilateralen deutsch-französi- worden. Mit beiden Instrumenten ist in der Grenz- schen Beziehungen Rechnung und verspricht, GRÜZ in region die Hoffnung verknüpft, in Berlin und Paris Zukunft weiter auszubauen. Im zweiten Teil der Analy- langfristig mehr Aufmerksamkeit für die spezifischen se werden die wichtigsten institutionellen Neuerungen Bedürfnisse zu generieren, die sich aus der Nähe zu vorgestellt und erklärt, welchen Einfluss die Pandemie einer nationalen Außengrenze ergeben. langfristig für die Grenzregionen haben könnte. Ähnlich wie die deutsch-französische parlamentari- 2.1 D ie Pandemie als Stresstest für die neuen sche Versammlung (DFPV) hat der AGZ während der Institutionen des Aachener Vertrags Covid-Pandemie schnell an Profil und politischem Gewicht gewonnen29. Das AA, das den Ausschuss von Der Wille, die GRÜZ zwischen Deutschland und deutscher Seite im Namen der Bundesregierung fi- Frankreich zu vertiefen, wird im vierten Kapitel des nanziert, urteilt selbst, der Ausschuss habe sich wäh- Aachener Vertrags zur „grenzüberschreitenden und rend der Pandemie als „sehr wertvolles Forum“ erwie- regionalen Zusammenarbeit“ betont. Dort wird das sen, das „Akteure aller staatlichen Ebenen auf beiden langfristige politische Ziel formuliert, Gebietskörper- Seiten der Grenze zusammenbringt“30. Beschlüsse, bei schaften in der deutsch-französischen Grenzregion den ebenenübergreifenden Treffen erarbeitet, werden mit „angemessenen Kompetenzen, zweckgerichteten anschließend an die jeweiligen Fachministerien in den Mitteln und beschleunigten Verfahren“ auszustatten. Hauptstädten gemeldet. Ende Mai 2021 informierte Damit sollen „Hindernisse bei der Umsetzung grenz- der AGZ erstmals den deutsch-französischen Minis- überschreitender Vorhaben“ überwunden werden (Art terrat. In Vorbereitung des Treffens der Regierungs- 13., Abs. 2)25. Neben der Stärkung der Zweisprachigkeit vertreter beider Länder formulierte der Ausschuss ist die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität eine Reihe von Empfehlungen für die GRÜZ, unter an- als prioritäre Zielvorgabe im Vertrag hervorgehoben. derem auch zur grenzüberschreitenden Mobilität. Der aktuelle Europastaatsminister des Auswärtigen Amts (AA) und Beauftragte der Bundesregierung für 2.2 Aufmerksamkeit für die Grenzregionen – deutsch-französische Zusammenarbeit Michael Roth über die Ausnahmesituation hinaus (SPD) sieht die GRÜZ als „Herzstück des Vertrags“26. In den Grenzregionen wird größtenteils eine positi- Zwei Neuerungen sollen bei der zukünftigen Vertie- ve Bilanz zur bisherigen Arbeit des AGZ gezogen. Der fung der GRÜZ eine entscheidende Rolle spielen: Der Ausschuss ermögliche es, eine „direktere Stimme“ von AGZ und die sogenannten „Experimentierklauseln“27. der Grenze an die Regierungsvertreter in den Haupt- Laut Vertragstext soll der AGZ „nationale, regiona- städten zu tragen. Konkret wird die Arbeit im AGZ, et- 24 Beck 2014: 346 Übersetzung des Autors 25 eben den Grenzregionen wird in Artikel 17 des Aachener Vertrags auch zur Förderung der Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften N aufgerufen, die nicht an der Grenze liegen. Der Artikel hat in seiner allgemeinen Formulierung aber eher Empfehlungscharakter. 26 Auswärtiges Amt 2020 – die Experimentierklauseln werden auf Seite 12 erläutert 27 Vgl. Artikel 13, Aachener Vertrag 28 Ebd. 29 Eine ausführliche Bilanz der Arbeit der DFPV haben Dr. Stefan Seidendorf und Dr. Claire Demesmay im August 2021 veröffentlicht – Stefan Seidendorf, Claire Demesmay 2021 30 Auswärtiges Amt 2021: 1
Nr. 3 | Oktober 2021 11 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa wa für den grenzüberschreitenden Bahnverkehr, als In die Erwartungshaltung mischen sich nach anfäng- „Anerkennung für kleine Verbindungen“ wahrgenom- licher Euphorie vereinzelt auch Zweifel, wie nach- men, so der Vertreter einer deutschen Gebietskör- haltig der Mehrwert des AGZ sei. Zwischen vie- perschaft. Mit diesem Urteil geht die Hoffnung einher, len bereits existierenden Foren bestehe die Gefahr dass die „Praktiker vor Ort mehr Gewicht bekommen“. von Parallelstrukturen. Einige Gesprächspartner be- Oft erinnern die Einschätzungen zur Arbeit des AGZ fürchten die zusätzliche Verkomplizierung der oh- in Pandemiezeiten an ähnliche Einschätzungen zur nehin schon wenig übersichtlichen institutionellen DFPV: Ein Forum, um der Stimme von Bürgerinnen Landschaft der deutsch-französischen GRÜZ. Kriti- und Bürgern aus den Grenzregionen mehr Gewicht zu siert wird, es sei noch immer nicht erkennbar, wie verleihen und politischen Druck auf Entscheidungs- der AGZ mit anderen bestehenden Strukturen zu- trägerinnen und Entscheidungsträger in den Haupt- sammenarbeiten wolle. Zuständigkeiten und Kom- städten aufzubauen. petenzen seien oft noch nicht klar definiert und müssten ad hoc verhandelt werden. Bei Fragen der Die Freude über das gestiegene Interesse an der grenzüberschreitenden Mobilität sei beispielswei- GRÜZ in Pandemiezeiten weicht zunehmend Forde- se unklar, wie der AGZ mit entsprechenden Gremien rungen nach verbindlichen Rückmeldungen auf die der Oberrheinkonferenz zusammenarbeiten werde. eingereichten Vorschläge. Dass Vertreter grenzna- her Gebietskörperschaften in direktem Kontakt mit Die politische Aufmerksamkeit für Grenzregionen den zuständigen Europa-Staatssekretären der Au- während der Pandemie war begrüßenswert – da sind ßenministerien Deutschlands und Frankreichs ste- sich alle Gesprächspartner einig. Langfristig gebe es hen, findet in der Grenzregion große Zustimmung. aber einen großen Bedarf für die organisatorische Ein Gesprächspartner berichtet, es habe „eine ganz Straffung der GRÜZ. andere Wirkung“, wenn Probleme mit Grenzschlie- ßungen im direkten Gespräch mit Vertreterinnen 2.3 E uropäische Experimente in der und Vertretern der Ministerien in Berlin besprochen deutsch-französischen Grenzregion würden und diese nicht über ein bürokratisches Ver- fahren erreichten. Der direkte Gesprächskanal wird Die „Experimentierklauseln“ sind – neben dem AGZ – als Wertschätzung für lokale und regionale Perspek- die zweite Neuerung des Aachener Vertrags in Bezug tiven empfunden. Nun sei allerdings entscheidend, auf die GRÜZ. Dank der Klauseln soll es für bestimm- was über Bekundungen und Absichtserklärungen der te Projekte möglich sein, Ausnahmeregelungen von Regierungen zum hohen Stellenwert der GRÜZ hin- nationalem Recht zu erlassen. Artikel 13 des Vertrags aus konkret passiere: Nur echte Fortschritte könn- sieht vor, dass, sofern kein bestehendes Rechtsins- ten den tatsächlichen Mehrwert des AGZ deutlich trument die Überwindung von Hindernissen in der machen. GRÜZ ermöglicht, auch „angepasste Rechts- und Verwaltungsvorschriften einschließlich Ausnahme- Unsicherheit herrscht in der Grenzregion darüber, regelungen“ vorgesehen werden können32. wie es nach dem Ende der coronabedingten Ausnah- mesituation mit dem AGZ weitergeht. Ähnlich wie Ähnlich wie beim AGZ verbinden sich auch mit den bei der DFPV ist unklar, ob die Grenzregionen die Experimentierklauseln große Erwartungen in den Aufmerksamkeit aus Berlin und Paris auch über die Grenzregionen. Juristinnen und Juristen sowie Be- Pandemie hinaus erhalten werden können. Die Rück- amtinnen und Beamte in den Landesverwaltungen kehr des AGZ, von seiner Rolle im akuten Krisenma- melden allerdings Zweifel an, wie schnell der innova- nagement zu den ursprünglich im Aachener Vertrag tive Mechanismus tatsächlich zur Anwendung kom- festgeschriebenen Aufgaben, wird genau beobachtet. men wird. Dass die Experimentierklauseln bisher Nationale Regierungen werben in diesem Zusam- noch nicht genutzt wurden, liege an erster Stelle da- menhang für Geduld für die neue Institution, die im- ran, dass Ausnahmeregelungen für die GRÜZ juristi- mer noch in der Findungsphase sei31. sches Neuland seien: Die Klauseln seien „kein klares Rechtskonzept“. Ein Vertreter einer Gebietskörper- schaft aus der Grenzregion bedauert das „bislang un- 31 ine Beamtin unterstreicht die Rolle der Berichterstatter, die im ersten Semester 2020 für verschiedene Dossiers im Arbeitsprogramm des AGZ ernannt E wurden. Die persönliche Verantwortung für einzelne Dossiers war in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen und wird als Erfolg gewertet. Nun liege es an den Berichterstattern, dafür zu sorgen, dass die zuständigen Fachministerien nicht das Interesse an den Vorgängen in der Grenzregion verlören. 32 Artikel 13, Aachener Vertrag
12 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE genutzte Instrument“. Eine andere Gesprächspartne- regionen auf Unterschiede bei der Umsetzung von rin verweist auf die Sorgen von Verfassungsrechtlern EU-Recht auf beiden Seiten der Grenze zurück. vor den Auswirkungen der Klauseln über die Grenz- regionen hinaus33. Mit Blick auf mögliche Ausnahme- Entsprechend werden alle Fortschritte in der Arbeit regelungen für grenznahe Betriebe berichtet sie von des AGZ und mögliche Anwendungen der Experimen- Sorge in den Ministerien auf Bundesebene, vor al- tierklauseln von den EU-Institutionen aufmerksam lem im Bundeswirtschaftsministerium (BMWi), dass verfolgt. Ein Papier des Institut Français des Relations in der deutsch-französischen Grenzregion „Sonder- Internationales (IFRI) von Juni 2020 kommt zu dem wirtschaftszonen“ geschaffen werden könnten. Schluss, beide Neuerungen hätten den Vorschlag der EU-Kommission für einen „European Cross Border Ein zweites Hindernis für Ausnahmeregelungen ist die Mechanism“ (ECBM) „im Kern […] vorweggenom- bereits angesprochene „periphere Lage“ der Grenzre- men“35. Der ECBM-Vorschlag war 2015 unter luxem- gionen. In den Hauptstädten misst man vielen Projek- burgischer EU-Ratspräsidentschaft vorgeschlagen ten offenbar nicht genug Bedeutung bei, um das po- und 2018 von der Kommission als Legislativvorschlag litische Risiko einer Ausnahmeregelung in Kauf zu eingebracht worden. Der Mechanismus sieht Aus- nehmen. Ein konkretes Beispiel: Seit Langem enga- nahmeregelungen von nationalem Recht vor, um Hin- gieren sich Einwohnerinnen und Einwohner in der dernisse in der GRÜZ zu beseitigen. Die 2019 von der deutsch-französischen Grenzregion für die Organisa- Kommission geschaffene Plattform „B-Solutions“36 tion grenzüberschreitender Sportwettkämpfe. Für die zur Befragung und Beratung von Behörden in Grenz- Teilnahme an einem Marathon etwa muss in Frank- regionen bescheinigt dem ECBM großes Potenzial: reich ein ärztliches Attest vorgelegt werden, das die In 30 Prozent der untersuchten Fälle betonten Ge- Unbedenklichkeit bescheinigt. Eine Entsprechung sprächspartner in den Grenzregionen, ein Rechtsins- dieses Attests gibt es auf deutscher Seite nicht. Hier trument wie der ECBM wäre hilfreich gewesen, um könnte eine Ausnahmeregelung scheinbar unkompli- „wiederkehrende Grenzhindernisse zu beseitigen“37. ziert konkrete Fortschritte in der GRÜZ ermöglichen. Bisher sieht das zuständige französische Sportminis- Das ECBM-Konzept wurde im Juli 2021 von der slo- terium aber offenbar keinen Anlass, den Anfragen aus wenischen EU-Ratspräsidentschaft jedoch vor- der Grenzregion, die vom französischen Außenminis- erst fallengelassen 38. Im Gesetzgebungsverfahren terium unterstützt werden, stattzugeben. zeichnete sich keine Einigung zwischen EU-Par- lament und EU-Rat ab. Mit dem vorläufigen Schei- Probleme, die sich aus den unterschiedlichen Rechts- tern des ECBM auf europäischer Ebene wächst nun vorschriften entlang der Grenze ergeben, gibt es zu- die Aufmerksamkeit für entsprechende Experimen- dem nicht nur an der deutsch-französischen Gren- te in der deutsch-französischen Grenzregion. Der ze. Entlang der europäischen Binnengrenzen entsteht AGZ und die Experimentierklauseln werden als bi- regelmäßig die paradoxe Situation, dass Unionsrecht, laterale Umsetzung der ECBM-Ideen gesehen. Phi- das gemeinsam auf europäischer Ebene ausgearbeitet lippe Voiry, französischer Botschafter für GRÜZ, wurde, von den Mitgliedsstaaten sehr unterschied- sieht die „ECBM-Philosophie“ im Aachener Vertrag lich in nationales Recht überführt wird. Diesen Um- verwirklicht39. Voiry war maßgeblich an der Ausar- stand kritisiert die EU schon seit einiger Zeit. Ein Be- beitung des Aachener Vertrags beteiligt und wurde richt der Kommission zu den Grenzregionen von Juli Anfang 2021 von seinem Posten als diplomatischer 2021 bemängelte die „anhaltenden Schwierigkeiten“, Berater der Region Grand Est ins Außenministerium die für Bewohnerinnen und Bewohner der Grenz- nach Paris berufen. Dort setzt er sich nicht nur für regionen durch den Mangel an öffentlichen grenz- die Wiederbelebung des ECBM-Konzepts ein, son- übergreifenden Verkehrsdiensten entstünden34. Lö- dern prüft auch die Übertragung der Lektionen des sungsansätze würden häufig durch „voneinander Aachener Vertrags für die bilaterale Zusammenarbeit abweichende nationale Vorschriften behindert“. Auch mit Italien und Spanien. dieser Bericht führt viele Blockaden in den Grenz 33 Diese Sorge ist in Frankreich besonders präsent, schließlich bestimmt gleich der Eingangssatz des ersten Artikels der Verfassung der Fünften Französischen Republik, dass Frankreich eine „unteilbare Republik“ ist („une et indivisible“). 34 Europäische Kommission 2021: 1 35 Andreas Marchetti 2020: 13 36 Ein Überblick zum Projekt ist unter folgendem Link online verfügbar: https://www.b-solutionsproject.com 37 Europäische Kommission 2021: 4 38 Vgl. Anne Sander 2021 39 Committee of Regions 2021
Nr. 3 | Oktober 2021 13 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa 3. GRENZÜBERSCHREITENDE 3.1 G rünere Mobilität für mehr Integration MOBILITÄT ZWISCHEN EUROPAS und Klimaschutz HAUPTSTÄDTEN UND IN DEN GRENZREGIONEN Grenzüberschreitende Verkehrsinfrastruktur ist Grundlage für die Mobilität von Personen und Gütern Die Verbesserung grenzüberschreitender Mobilität in der EU. Artikel 170 des Vertrags über die Arbeits- ist eines der Kernanliegen des Aachener Vertrags. weise der EU („Lissabon-Vertrag“) hebt die Bedeu- Die Ausgestaltung dieses politischen Ziels auf der tung transeuropäischer Verkehrsnetze (TEN-V) „für europäischen, nationalen und regionalen Ebene er- die Verwirklichung des Binnenmarktes […]“ hervor40. öffnet viele Möglichkeiten zur sinnvollen Ergänzung Die aktuelle Verkehrspolitik der Kommission zielt da- und Zusammenarbeit, schafft aber auch eine Reihe rauf ab, „Lücken zu schließen, Flaschenhälse zu be- von Konflikten. Letztere werden in den kommenden seitigen und technische Barrieren abzubauen“, um die Jahren auch Herausforderungen für die neuen Ins- „soziale, ökonomische und territoriale Kohäsion der titutionen und Instrumente sein, die der Aachener EU zu stärken“41. Bis 2030 soll ein Kernnetz vollen- Vertrag geschaffen hat. det sein, das die wichtigsten Verkehrsknotenpunkte 2: D ER RHEINGEBIET-ALPEN-KORRIDOR (ORANGE) VERBINDET NORDSEE-HÄFEN MIT DEM MITTELMEER Quelle: Europäische Kommission 40 BMVI 2021 41 Europäische Kommission 2021a, Übersetzung des Autors
14 Nr. 3 | Oktober 2021 Grenzenlose Mobilität in Europa ANALYSE des europäischen Kontinents miteinander verbindet. den entlang dieser gesetzlichen Rahmenbedingun- Neun Verkehrskorridore, von der Kommission defi- gen Maßnahmen gefördert, um zunächst den Güter- niert, bilden das „Rückgrat“ dieses Netzes. Einer die- verkehr vermehrt auf die Schiene zu bringen45. ser Korridore, Rheingebiet-Alpen, verläuft in weiten Teilen entlang der deutsch-französischen Grenze.42 Neben dem Güterverkehr soll in den kommenden Jahren aber auch der Personenverkehr von der Stra- Neben seiner grundsätzlichen Bedeutung für den ße auf die Schiene verlagert werden. Die Strate- Binnenmarkt hat das grenzüberschreitende europäi- gie „Trans-Europe-Express“ (TEE) wurde unter der sche Schienennetz jüngst dank ambitionierter Kli- deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Se- maschutzziele an Aufmerksamkeit gewonnen. Die mester 2020 maßgeblich vorangetrieben. Auf einem Regierungen Deutschlands und Frankreichs beto- „EU-Schienengipfel“ hatte Verkehrsminister Andre- nen regelmäßig ihre Unterstützung des Kommissi- as Scheuer (CSU) im September 2020 seine Ideen zur onsziels, die EU bis 2050 klimaneutral zu machen43. „Ausweitung der grenzüberschreitenden Koopera- Auf deutscher Seite ist die „Wende zur klimafreund- tion“ präsentiert46. So soll unter anderem schon ab lichen Mobilität“ mit dem Ziel einer Reduktion der Dezember 2021 eine Nachtzuglinie Wien via Mün- CO2-Emissionen im Verkehrssektor um 42 Prozent chen mit Paris verbinden. Zwei Jahre später soll ei- im Bundes-Klimaschutzgesetz verankert 44. Unter ne ähnliche Verbindung dann Berlin mit Brüssel und dem Slogan „von der Straße auf die Schiene“ wer- Paris verbinden47: 3: B EREITS ENDE 2021 SOLLEN ZWEI NEUE NACHTZUGVERBINDUNGEN (ZÜRICH-AMSTERDAM UND WIEN-PARIS) DEN BETRIEB AUFNEHMEN Quelle: Deutsche Bahn 42 Der Rhein-Alpen-Korridor führt durch die großen westdeutschen Wirtschaftszentren und einige der am dichtesten besiedelten und reichsten Regionen der EU. Er verbindet niederländische und belgische Nordseehäfen mit dem Mittelmeerraum – BMVI 2021a 43 Vgl. BMVI 2019: 2 44 BMF 2021: 141 45 Vgl. BMVI 2021b 46 EU2020.de, 2020 47 Vgl. Lone Grotheer 2020
Nr. 3 | Oktober 2021 15 ANALYSE Grenzenlose Mobilität in Europa Die Nachtzugverbindung zwischen Berlin und Paris In einer Pressemitteilung des AA zum DFMR von Mai ist ein Leuchtturmprojekt der deutsch-französischen 2021 ist neben der Einrichtung von Nachtzugver- grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. 2016 erst bindungen „im Rahmen der TransEuropeExpress- hatte die Deutsche Bahn (DB) angekündigt, ihr eige- Strategie“ ebenfalls von kleineren Verbindungen die nes Nachtzugangebot aus wirtschaftlichen Gründen Rede54. Auch die französische Botschaft in Berlin be- aufzugeben48. Umso mehr begrüßten Ende 2020 die tonte nach dem DFMR ausdrücklich, neben der Ver- Ko-Vorsitzenden des Büros der DFPV die Ankündi- bindung zwischen den Hauptstädten müsse auch der gung einer Reaktivierung der Nachtzugverbindung grenzüberschreitende öffentliche Verkehr „auf regi- zwischen den beiden Hauptstädten. Die Abgeordne- onaler und lokaler Ebene“ gestärkt werden“55. ten forderten darüber hinaus, den Ausbau regulärer Verbindungen schneller voranzutreiben – auch im Viele Gesprächspartner in Deutschland heben al- Rahmen des EU-Wiederauf baufonds49. lerdings hervor, dass die „große Symbolkraft“ der Nachtzugverbindung Berlin-Paris für die Fortschritte Ähnliche Forderungen wie die der DFPV berufen sich eine wichtige Rolle spiele. Erst diese Symbolkraft, so auf eine Reihe deutsch-französischer Abkommen und scheint es, hat dem Projekt auch außerhalb der oh- Erklärungen. Der Vertrag von La Rochelle von 1992 et- nehin zugeneigten Außenministerien in den Fachmi- wa hält beide Länder zum schnellen Ausbau der Di- nisterien die nötige Aufmerksamkeit verschafft. Pro- rektverbindung zwischen ihren Hauptstädten an50. jekte auf regionaler und lokaler Ebene, das schwingt Eine jüngere Referenz für die grenzüberschreiten- in den Gesprächen oft mit, profitieren weniger oder de Kooperation im Schienenverkehr ist die deutsch- gar nicht von dieser Aufmerksamkeit. französische Erklärung von Meseberg von 201851. Das in Meseberg vereinbarte „Mainstreaming des Klima- Zwischen den Ankündigungen aus den Hauptstäd- schutzes“ hat dank Konzepten wie der „grünen Mobi- ten und dem Urteil zum Ausbau kleinerer Strecken lität“ und Slogans wie „von der Straße auf die Schiene“ entlang der deutsch-französischen Grenze klafft auch für den grenzüberschreitenden Schienenverkehr deshalb oft eine große Lücke. Auf diese Lücke wur- zunehmend Bedeutung. In einem Papier der „Mese- de während einer öffentlichen Anhörung des deut- berger Klima-Arbeitsgruppe“ von 2019 heißt es zum schen Verkehrsministers in der DFPV im Januar 2021 Beispiel, das Bundesministerium für Verkehr und di- hingewiesen 56. Verkehrsminister Scheuer beton- gitale Infrastruktur (BMVI) und das französische Um- te zwar auch im Namen seines Amtskollegen Jean- weltministerium, das Ministère de la Transition éco- Baptise Djebbari die Zusammenarbeit bei grenzüber- logique et solidaire (MTES) (dt. „Ministerium des schreitenden Projekten. Über thematische Gremien ökologischen und solidarischen Übergangs“), wollten wie die deutsch-französischen Arbeitsgruppe (AG) „grenzüberschreitende Mobilität und den Aufbau von zur Eisenbahn sei die grenzüberschreitende Mobili- Infrastruktur […] stärken“, ein besonderer Fokus liege tät während der deutschen Ratspräsidentschaft auch auf dem „Klimaschutz im Verkehr“52. auf europäischer Ebene ein Schwerpunktthema ge- wesen. Mehrere Abgeordnete machten während der Den wichtigsten Bezugspunkt bildet aber der Aa- Anhörung deutlich, dass sie sich beim Ausbau grenz- chener Vertrag. Die dem Vertrag angehängte Lis- überschreitender Strecken mehr Unterstützung aus te prioritärer Vorhaben erwähnt unter Punkt acht den Hauptstädten wünschen. Beispielhaft wurde der die „Verbesserung grenzüberschreitender Bahnver- Investitionsbedarf in bestimmte Streckenabschnitte bindungen“53. Seit der Unterzeichnung des Vertrags genannt: Zugreisende bräuchten heute aus Saarbrü- wird der Wille zum weiteren Ausbau grenzüber- cken zwar nur knapp zwei Stunden nach Paris, dafür schreitender Bahnverbindungen regelmäßig betont. aber siebeneinhalb Stunden nach Berlin – das zeige, 48 Vgl. Macro Völklein 2016 49 Vgl. Andreas Jung, Christophe Arend 2020 50 Der Vertrag immer wieder als wichtiger Referenzpunkt aufgenommen, zum Beispiel in der „Erklärung von Hambach zur deutsch-französischen Zusammenarbeit in den Grenzregionen“ von 2017. 51 Vgl. Bundesregierung 2018 52 BMVI 2019: 3 53 Vgl. französische Präsidentschaft 2019 54 Auswärtiges Amt 2021 55 Französische Botschaft in Berlin 2021 56 Vgl. Bundestag 2021
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