MUSE: Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen Eine landesteilspezifische Analyse - Dr. Achim Hättich
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Dr. Achim Hättich MUSE: Mediennutzung bei Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen Eine landesteilspezifische Analyse Zusammenfassender Bericht vom 1. Dezember 2019
Inhalt Danksagung............................................................................................................................................. 3 Struktur des Berichts ............................................................................................................................... 4 Abstract.................................................................................................................................................... 5 Eine unabdingbare Notwendigkeit: Die MUSE-Studie ............................................................................ 6 Eine notwendige Unabdingbarkeit: Die Schweiz und ihre Landesteile ................................................... 7 Es war einmal…. ..................................................................................................................................... 8 ….. und so ist es nun ............................................................................................................................. 10 Ein Schritt zurück: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher ............................................................................. 14 Ein Takt dazwischen: Musik .................................................................................................................. 12 Ein Schritt nach vorne: Computer.......................................................................................................... 13 Das Handy – unsere dritte Hand oder der neue Teddy ........................................................................ 14 Videogames: kindgerechte Freude am Spielen? .................................................................................. 18 Bewegte und starre Bilder: Filme, Fotos und Kino ................................................................................ 20 Wenn Sex und Gewalt zum Reiz oder zur Herausforderung werden ................................................ 21 Fernsehen: out und doch wieder in ....................................................................................................... 23 Internet: immer vernetzt ......................................................................................................................... 24 Wenn das Internet zur Sucht wird ...................................................................................................... 27 Wenn das Internet zur Qual wird ....................................................................................................... 28 Social Media: der virtuelle Treffpunkt .................................................................................................... 30 Sicherheit und Privatsphäre bei den Social Media ............................................................................ 31 Fazit ....................................................................................................................................................... 34 Literatur.................................................................................................................................................. 35 Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 2
Danksagung Die Durchführung dieser wichtigen Studie wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfe und den Beitrag verschiedener Persönlichkeiten. Da wären meine Kooperationspartner in der französischen Schweiz, Prof. Dr. Catherine Blaya (UER Pédagogie Spécialisée - HEP du Canton de Vaud, Directrice du Laboratoire Accrochage Scolaire et Alliances Educatives) und in der italienischen Schweiz, Prof. Dr. Michele Mainardi (SUPSI / Dipartimento formazione e apprendimento Responsabile Centro di competenze Bisogni educativi scuola e Società). Ganz herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Daniel Süss (Leiter Psychologisches Institut ZHAW), der es ermöglichte, dass ich eine JAMES 1 vergleichbare Studie durchführen und so einen Grossteil der Fragen von JAMES übernehmen konnte. In dem Zusammenhang gilt der Dank ebenso Gregor Waller (ZHAW) und auch Thomas Rathgeb, der erlaubte, dass ich die ursprünglich aus JIM („Jugend – Information – (Multi-) Media“) stammenden Fragen verwenden konnte. Die Swisscom mit Michael in Albon unterstützte die Studie mit einem grosszügigen Betrag und zeigte dadurch, dass sie ein Herz für Kinder mit Behinderung hat. Vielen Dank dafür. Das gleiche gilt Prof. Dr. Andrea Lanfranchi (Leiter Institut für Professionalisierung und Systementwicklung an der HfH), der die Bedeutung der Medienheilpädagogik erkannte und diese Studie an meiner Hochschule ermöglichte, sowie Denise Fuchs und Dr. Steff Aellig für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Natürlich soll auch den Schulleitungen, Lehrpersonen, den Assistentinnen und Assistenten der Befragung und den Kindern gedankt werden, die MUSE erlaubten, durchführten und die Fragebögen ausfüllten. 1JAMES (Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz) war die erste Studie in der Schweiz über Medienverhalten von Jugendlichen (https://www.zhaw.ch/de/psychologie/forschung/medienpsychologie/mediennutzung/james/) Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 3
Struktur des Berichts Der Bericht ist mehr zu verstehen als Nachschlagewerk denn als eine Monografie. Er ist modulartig aufgebaut. Die Icons bieten eine rasche Orientierung und der Leser oder die Leserin kann sich den Bereichen zuwenden, die für die Institution oder die Person grosse Relevanz besitzen. Einleitung, Stellung des Phänomens im weiteren Kontext, wie der historischen Entwicklung oder weltweiten Nutzungszahlen. Ergebnisse: Diese werden vorgestellt mit Schwerpunkt der Unterschiede zwischen den Landesteilen, ohne den Gesamtblick zu verlieren. Es wird erwähnt, wenn ein Vergleich bedeutend ist, d.h. vom Zufall abweicht (=signifikant). Wer sich spezieller für die statistischen Analysen, die den Vergleichen zugrunde liegen, interessiert, kann sich gerne an den Autor wenden. Was noch zu sagen bleibt: Variablen, die mit geringer Häufigkeit auftreten und bei denen keine Unterschiede zwischen den Landesteilen bestehen. Danger Zone: hier werden Ergebnisse dargestellt von Nutzungen, von denen eine Gefährdung ausgeht, die zu Beeinträchtigungen führen können. Praktische Empfehlungen: hier geht es aus Sicht des Autors um Ideen, die aus den Ergebnissen erwachsen und ableitbar sind, in welcher Hinsicht diese im Unterricht einsetzbar sind oder eine Auflistung erforderlicher Massnahmen. Bilder: Die im Bericht enthaltenden Bilder sind alle lizenzfrei und entstammen der Webseite https://www.pexels.com Titelseite: https://static.fanpage.it/wp-content/uploads/sites/6/2019/08/manipulation-smartphone- 2507499_1920-200x133.jpg Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 4
Abstract MUSE ist die weltweit erste Studie, die umfassend das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen über ein grosses Spektrum von Behinderungen erfasst. Zentrale Fragestellung war, welche Medien Kinder aus Sonderschulen wie nutzen und ob sie sich darin von Kindern aus Regelschulen unterscheiden. 351 Kinder in 48 Schulen in der ganzen Schweiz nahmen teil. Die Studie erfolgte in den Monaten März 2018 bis März 2019 und erbrachte zum ersten Mal grundlegende Daten über die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen. Es wurde nachgewiesen, dass im Medienverhalten viel ähnlich ist mit Kindern aus Regelschulen, aber auch wichtige Unterschiede, die Aufmerksamkeit erfordern. In der vorliegenden Studie geht es um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den drei Landesteilen der Schweiz, nicht ohne das Gesamtbild ausser Acht zu lassen. Es zeigt sich, dass Kinder in Sonderschulen hinreichend im Besitz von medienfähigen Geräten sind und diese auch sehr häufig nutzen. Das tun die Kinder vor allem auf passive Art (einen Blog lesen, statt ihn zu erstellen). Die Nutzungszeiten sind nicht nur lang, sondern bei einem überproportionalen Anteil der Kinder ist eine Internet-Abhängigkeit festzustellen. Ebenfalls problematisch ist, dass sie oftmals zu Opfern im Netz werden, Cybermobbing und Cybergrooming sind hier zu nennen. In der Nutzung der Social Media sind sie unterdurchschnittlich. Dennoch gehören Instagram und Snapchat, wie bei nichtbehinderten Jugendlichen, zu den Favoriten. Gleiches gilt für Harry Potter-Bücher, Fast and Furious-Filme oder GTA-Computerspiele. Musik hören und Messengerdienste nutzen sind weit verbreitet. Brutale Videos werden häufiger konsumiert als Pornofilme. In den meisten Analysen gibt es keine Unterschiede zwischen den Landesteilen. Dort, wo sie existieren, können sie durchaus bedeutend sein, z.B. darin, welche privaten Angaben ins Internet gestellt werden, wobei in der italienischen Schweiz eher wahre Angaben gemacht werden als gefakte. Wenn es keine Unterschiede zwischen den Landesteilen gibt, wie bei der überall hohen Internetabhängigkeit, muss in allen Landesteilen reagiert werden. Auf alle Fälle ist das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen in Sonderschulen im Auge zu behalten und besondere Sensibilität zu widmen. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 5
Eine unabdingbare Notwendigkeit: Die MUSE-Studie Medien spielen eine immens wichtige Rolle im Leben von Kindern und Jugendlichen, sie sind nicht mehr wegzudenken aus deren Alltag und begleiten sie rund um die Uhr. Dies ist ein Sachverhalt, den die Pädagogik nicht länger ignorieren kann. So weist das bereits im März 2011 für den ganzen deutschen Sprachraum verabschiedete medienpädagogische Manifest „Keine Bildung ohne Medien“ (Anonymous, 2011) auf die gesellschaftliche, pädagogische und psychologische Wichtigkeit der Medien hin: „Die Verschmelzung der alten und der neuen Medien, ihre zeit‐ und ortsunabhängige Verfügbarkeit (Laptop und Handy) sowie der Zugriff zum Internet, eröffnen den Menschen neue Lern‐ und Erfahrungsbereiche. Medien bieten Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und zur kulturellen und gesellschaftlichen Teilhabe. Darüber hinaus liefern Medien wichtige Deutungsangebote, Identifikations‐, Orientierungs‐ und Handlungsräume. Sie sind eine kontinuierlich verfügbare Ressource für Identitätskonstruktionen von Heranwachsenden. …..Wir streben eine breitenwirksame, systematische und nachhaltige Verankerung von Medienpädagogik in allen Bildungsbereichen der Gesellschaft an: Medienbildung in frühkindlicher Bildung und Schule, in außerschulischen Bildungsangeboten und bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen“. Dies wurde ergänzt durch die Dagstuhl-Erklärung Februar 2016, die im Juli 2017 revidiert, aktualisiert und fortgeschrieben wurde. Im Juli 2019 erfolgte mit dem „Frankfurt-Dreieck zur Bildung in der digital vernetzten Welt“ (Anonymus, 2019) eine Erweiterung der Dagstuhl-Erklärung. Da Menschen mit Behinderungen naturgemäss nicht den gleichen Zugang zu Medien haben – er ist verunmöglicht, umständlicher und erfordert gänzlich andere Voraussetzungen -, interessiert, inwieweit Menschen mit Behinderungen Medien überhaupt nutzen. Doch dazu fehlten Prävalenzstudien zum Medienkonsum und Mediengebrauch von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Diese wurden in keiner der grösseren Studien explizit einbezogen: nicht in der Schweiz in JAMES (Suter et al., 2019) oder MIKE (Genner et al., 2017) sowie EU Kids Online (Hermida, 2019); in Deutschland in KIM/JIM (Feierabend, Rathgeb & Reutter, 2019, 2018), in den USA (Rideout, 2017) oder in Grossbritannien (OFCOM, 2019). Die einzige Studie über Mediennutzung von verschiedenen Gruppen von behinderten Personen stammt aus Deutschland (Adrian et al., 2017), wurde allerdings mehrheitlich mit Erwachsenen durchgeführt. Um diesen Mangel zu beheben wurde mit MUSE in Anlehnung an JAMES eine Studie in Sonderschulen unter vergleichbaren Bedingungen mit einem nahezu identischen Fragebogen durchgeführt. Einige neuere Phänomene wurden erfasst (z.B. Fear of Missing Out (FOMO)), anderes wurde aktualisiert (z.B. neue Social Media) oder die Befragungsformate wurden differenziert. Immer wurde darauf geachtet, dass eine Vergleichbarkeit mit JAMES besteht. Damit wird zum ersten Mal nicht nur in der Schweiz der Medienkonsum von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Behinderungen ermittelt. MUSE ist eine eigenständige Studie, legt allerdings Wert auf eine strikte Parallelität zu JAMES (Forschungsplan, Methodologie), da valide Aussagen nur dann möglich sind, wenn die Ergebnisse der Kinder mit Behinderung in dem Kontext aller Kinder gewertet und gewichtet werden können. Die Schulen wurden anhand eines Verzeichnisses des Bundesamts für Sozialversicherungen über Schweizer Sonderschulen nach Landesteil per Zufall ausgewählt. Einschlusskriterien waren das Alter von 12 bis 19 Jahren und die Fähigkeit, weitgehend selbständig einen Fragebogen zu beantworten. Angefragte Schulen, die dieses Kriterium nicht erfüllten, wurden entweder ganz ausgeschlossen oder nur einzelne Klassen befragt. Ansprechpersonen waren die Schulleitungen, die dann die Lehrpersonen konsultierten, welche Klassen in Frage kamen. Die Befragungen wurden von Assistentinnen durchgeführt, wobei die Lehrperson nicht im Klassenzimmer anwesend sein sollte, um Einflussnahmen auszuschliessen. Die Kinder beantworteten einen 14-seitigen Fragebogen schriftlich im Klassenzimmer während des regulären Unterrichts, danach wurden die Fragebögen eingesammelt. Mit der Datenerhebung wurde im März 2018 begonnen und diese wurde im Juni 2018 abgeschlossen, bis auf einen Kanton, der im März 2019 folgte. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 6
Eine notwendige Unabdingbarkeit: Die Schweiz und ihre Landesteile Die Schweiz ist ein Land mit drei grösseren Sprachregionen, die auch kulturell unterschiedlich sind. Deswegen und auch weil die Befragung von vornherein in drei Landesteilen angelegt worden ist, um die gesamte Schweiz abzudecken, werden die folgenden Analysen landesteiltypisch durchgeführt. Wenn die Unterschiede zwischen den Landesteilen grösser sind als vom Zufall her zu erwarten, wird dies speziell erwähnt, was den Landesteilen ermöglicht, spezifische Massnahmen für den eigenen Kulturraum zu ergreifen. Da die Landesteile sich kulturell unterscheiden, haben die Ergebnisse über die Schweiz hinaus Bedeutung. In diesem ersten Schritt erfolgen deskriptive Analysen, die den Istzustand beschreiben. Um Vergleiche ziehen zu können, sollten die drei Stichproben in wichtigen Merkmalen wie der Soziodemografie ähnlich sein, damit Resultate nicht auf diese Merkmale zurückgeführt werden können. Sind in einem Landesteil mehr Jungen vertreten, können bestimmte Werte überschätzt werden. Darüber hinaus sollte die Gesamtstichprobe repräsentativ für die Gesamtheit aller 12- bis 19-jährigen in der Schweiz sein. Allerdings trifft dies nicht für Kinder mit Behinderung zu, die in einigen Merkmalen davon abweichen (Geschlecht, Herkunft). Dies spielt allerdings im vorliegenden Kontext keine Rolle, da es um Differenzen zwischen Landesteilen geht. Das Aufzeigen etwaiger Unterschiede zwischen Landesteilen soll helfen, spezifische und zielgerichtete Schwerpunkte und Aktionen zu setzen. Befragt wurden 48 Schulen in 17 Kantonen. Von 351 Kindern liegen Fragebögen vor, in der deutschen Schweiz nahmen 147, in der französischen Schweiz 138 und in der italienischen Schweiz 66 Kinder teil. Alle 18 angefragten und die Einschlusskriterien erfüllenden Schulen in der deutschen Schweiz nahmen teil (Teilnahmequote=100%). In der französischen Schweiz nahmen 16 Schulen teil, 12 Schulen verweigerten eine Teilnahme (z. B. wegen organisatorischer Probleme) und 6 Schulen reagierten weder auf Anrufe noch Mails. 14 Schulen beteiligten sich im in der italienischen Schweiz. Das Durchschnittsalter beträgt in der deutschen Schweiz 14.42 (SD 2=1.83) Jahre, in der französischen Schweiz 14.90 (SD=1.54) Jahre und in der italienischen Schweiz 14.18 (SD=1.52) Jahre. Die Kinder aus der französischen Schweiz sind signifikant ein wenig älter. In der deutschen Schweiz sind mit 25.2% Mädchen untervertreten, in der französischen Schweiz mit 40.1% übervertreten und in der italienischen Schweiz sind es 34.8%. Hinsichtlich des Herkunftslandes gibt es in der italienischen Schweiz mehr aus Italien und mehr von außerhalb Europas stammende Kinder, in der deutschen Schweiz mehr aus Deutschland stammende Kinder. Die Familien-Wohlstandsskala (Boyce, Torsheim, Currie & Zambon, 2006) ist in der französischen Schweiz (M2=11.98; SD=3.53) signifikant höher als in der italienischen Schweiz (M=10.55; SD=3.64). Die deutsche Schweiz liegt dazwischen (M=11.52; SD=2.95). Den grössten Unterschied macht die Behinderungsart aus: In der deutschen Schweiz gibt es seltener Kinder mit einer Geistigen Behinderung (insgesamt 154), aber häufiger Kinder mit AHDS (53), Autismus (27), Psychischen Störungen (17) und Körperliche Behinderung (5). In der französischen Schweiz dominieren Geistige Behinderung und Entwicklungsverzögerung (insgesamt 27), in der italienischen Schweiz ist Geistige Behinderung übervertreten. Keine Unterschiede zwischen den Landesteilen gibt es bei Lernschwierigkeiten (33 Kinder) sowie unspezifische, seltene oder fehlende Diagnose (21). Unterschiede zwischen den Landesteilen sind vorhanden, aber wenig ausgeprägt. Freilich unterscheiden sie sich in den Diagnosen, die jedoch zu unterschiedlich und nicht häufig genug sind, dass es Sinn macht, diese in den Analysen zu kontrollieren 3. 2SD=Standardabweichung; 2 M=Mittelwert; 3Eine Auswertung der Kategorie geistige Behinderung erbringt gegenüber anderen Behinderungen nur einige wenige Unterschiede im Hinblick auf eine geringere Nutzung von Fernsehen und Radio und weniger Risikoverhalten (seltener Porno, altersunangemessene Filme und Videogames). Einige der Unterschiede betreffen eher Randgebiete der Nutzung (z.B. Pushnachrichten aufs Handy). Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 7
Es war einmal…. Die Aktivitäten der Jugend haben sich radikal geändert in den letzten 50 Jahren und das besonders im Bereich der Medien. Früher gab es Fernsehen, Bücher, Zeitungen und Radio. Dann begannen Computer, Internet und Handys ihren Siegeszug, die jetzt den Alltag der Jugendlichen prägen. Da zunehmend kritisiert wird, dass Jugendliche rund um die Uhr Medien konsumieren, interessiert zuerst einmal, welche nichtmedialen Aktivitäten Jugendliche durchführen. Abbildung 1: Die 5 häufigsten sowie die hochsignifikanten nichtmedialen Aktivitäten, nach Häufigkeit der Gesamtgruppe geordnet (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz) 7 6 5.005.02 5 4.75 4.76 4.75 4.55 4.41 4.36 4.36 4.27 4.30 4.09 3.91 3.98 4 3.53 3.56 3.42 3.30 3.09 3 2.80 2.49 2.38 2.06 2.14 2.03 2 1.75 1.52 1.47 1.37 1.36 1 DeuSch SuiRom SviIta Abbildung 1 stellt die in jedem Landesteil häufigsten nichtmedialen Freizeitbeschäftigungen dar. Freunde treffen ist überall die liebste nichtmediale Freizeitbeschäftigung. In der deutschen Schweiz sind Sport treiben und faulenzen ähnlich beliebt. Tiere werden zudem in der deutschen Schweiz favorisiert, während Familie in der französischen Schweiz weniger beliebt ist. In der italienischen Schweiz wird signifikant öfter geshoppt als in der französischen Schweiz. Hochsignifikant unterscheidet sich, dass Bücherei in der italienischen Schweiz am seltensten ist, die Disco am häufigsten in der deutschen Schweiz, und die französische Schweiz unterscheidet sich signifikant hinsichtlich der Familie. Weniger ausgeprägt sind die Unterschiede bei einigen anderen Aktivitäten, die insbesondere mit traditioneller Kunst zu tun haben. Konzerte besuchen M=1.81 (französische Schweiz häufiger als die italienische Schweiz), Musik machen M=2.52 (deutsche Schweiz häufiger als italienische Schweiz), Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 8
Malen M=3.18 (deutsche Schweiz häufiger als französische Schweiz), Spiele machen M=2.83 (deutsche Schweiz häufiger als italienische Schweiz). selten genannt werden folgende Aktivitäten: Kirche; Museum; Sportveranstaltungen besuchen Es ist Allgemeingut heute, dass die Kinder zu viel Zeit am Handy verbringen (siehe auch nächstes Kapitel) und das hat Auswirkungen, z.B. auf einen Rückgang an körperlicher Bewegung, der seinerseits sich negativ auf die körperliche Gesundheit auswirkt (Guthold, Stevens, Riley & Bull, 2019). Und auch das Lancet-Editorial 4 “A balanced online Life” weist darauf hin: “… young people must be provided with opportunities for offline social interactions, time for activities that help build identity and self-confidence, and given time limits for technology use.” Um ein Gegengewicht zu Online-Aktivitäten zu schaffen, ist auf genügend Offline-Aktivitäten zu achten, besonders Freunde treffen und Sport treiben, an denen die ganze Schule beteiligt ist, aber mindestens genauso wichtig ist, dass das schulübergreifend erfolgt, etwa im Sinn einer Projektwoche, Aktionen in der Gemeinde oder gemeinsame Feste. Es gilt, einen Ausgleich zu Online zu schaffen, der vorwiegend unter dem Spassaspekt steht und bei Schülerinnen und Schülern Interesse für andere Aktivitäten und andere Personen schafft. 4 https://www.thelancet.com/journals/lanchi/article/PIIS2352-4642(19)30354-2/fulltext Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 9
….. und so ist es nun Heute ist die Rede von der Generation 24 h Online. Auf Schritt und Tritt sieht man die Nutzung von Medien: Menschen, die ihre Handys brauchen, an fast allen Arbeitsstellen haben Computer Einzug gehalten. In MUSE zeigt sich, dass Medien häufiger genutzt werden als nichtmediale Aktivitäten durchgeführt werden, s. Abb. 1 und Abb. 2, ferner Nutzung mehrmals pro Woche: nichtmedial 17.5% der Kinder, medial: 24.6%. Dies hat auch damit zu tun, dass Medien nebenbei genutzt werden können und mediale und nichtmediale Aktivitäten sich überlappen, etwa wenn Freunde getroffen werden, wobei das Handy eine wichtige Rolle spielt. Es gibt viel mehr und grössere Unterschiede in den Medienaktivitäten (Abb. 2), 9 von 22 Vergleichen waren überzufällig. In der italienischen Schweiz gibt es z.B. viel mehr E-Books, aber seltener schaut man Fernsehen und es gibt auch die höchste Frequenz von Videospielen. Das Handy ist in allen 3 Teilen die häufigste Aktivität, die Internet-Nutzung ist ebenfalls vergleichbar. Abbildung 2: Die 5 häufigsten sowie die hochsignifikant unterschiedlichen medialen Aktivitäten, nach Häufigkeit der Gesamtgruppe geordnet, nach Landesteilen (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz) 7 6.51 6.096.06 6 5.77 5.51 5.45 5.31 5 4.91 4.78 4.67 4.67 4.52 4.31 4.02 3.99 4 3.78 3.79 3.86 3.69 3.313.27 3.14 3.17 3 2.88 2.82 2.79 2.45 2 1.53 1.44 1.25 1 DeuSch SuiRom SviIta In folgenden Medien gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Landesteilen: Die Unterschiede sind am grössten bei E-Books, Fernsehen, Computer ohne Internet, Radio, Musik, Fotografieren, Filmen, Gratiszeitschriften, der Nutzung des Internets. In der Nutzung des Internets und von Gratiszeitschriften unterscheidet sich die französische Schweiz von der dies stärker nutzenden deutschen Schweiz. Musik wird in der deutschen Schweiz öfter gehört als in der französischen Schweiz und in der italienischen Schweiz. In der deutschen Schweiz wird signifikant häufiger ein Computer ohne Internet verwendet, in der französischen Schweiz ebenfalls mehr als in der italienischen Schweiz. In E-Books unterscheidet sich die deutsche Schweiz von den Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 10
anderen beiden Landesteilen. Hier fällt der hohe Wert der italienischen Schweiz auf, was daran liegen kann, dass dort vor allem Jugendliche mit geistiger Behinderung teilnahmen und für diese die Bedienung eines E-Books einfacher ist. Die Diagnosegruppen von geistiger Behinderung und Entwicklungsverzögerungen haben die höchsten Mittelwerte in der Verwendung von E-Books. Die Verfügbarkeit eines E-Book-Readers im Haushalt ist in der italienischen Schweiz signifikant unterdurchschnittlich, obwohl sich die Landesteile nicht grundsätzlich unterscheiden. Nur 10 Kinder haben ein eigenes E-Book-Abo, bei 21 Jugendlichen ist im Haushalt eines vorhanden, die Landesteile unterscheiden sich darin nicht. In der Häufigkeit des Fernsehens unterscheidet sich die deutsche Schweiz stark von den anderen Landesteilen, die italienische Schweiz von der französischen Schweiz ebenfalls. In der italienischen Schweiz wird das Fernsehen ganz selten genutzt. Radiohören ist in der deutschen Schweiz üblich, genauso wie Fotografieren und Filmen. Videospiele sind in der italienischen Schweiz häufiger als in der deutschen Schweiz. Im Gesamttest unterscheiden sich die Landesteile nicht in der Nutzung von Videospielen. Das gleiche gilt für Bücher, Tablet und Handy. Es ist ein leichter Trend erkennbar, dass in der deutschen Schweiz mehr traditionelle Nutzungsweisen wie Fotografieren oder Fernsehen angesagt sind. Hingegen ist die italienische Schweiz am progressivsten. Geringe Nutzung: Zeitschrift/Magazin im Internet und auf Papier, Zeitung auf Papier, Zeitung im Internet, Hörspiel, Kino, DVD, Smartwatch Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 11
Ein Takt dazwischen: Musik Musik nimmt hier eine gewisse Sonderstellung ein, da sie zum einen nicht zu den Medien gezählt wird und zum anderen davon unabhängig besteht, so ist singen ohne Verwendung von Medien möglich. Und die Musik ging vom Plattenspieler über die CD hin zum Download und Streaming. 1999 betrug der Umsatz 25.2 Milliarden Dollar von physischen Tonträgern (wozu auch CDs gezählt werden, die ebenfalls digital sind), 2018 nur noch 4.7 Milliarden, während das Streaming von 2005 erstmals mit 100 Millionen nun auf 8.9 Milliarden steht. Beide fallen bzw. steigen linear an. Downloads stiegen bis 2012 an, fallen nun wieder. Insgesamt erreicht der Umsatz des globalen Musikmarktes nur vierfünftel desjenigen vor der Jahrtausendwende (IFPI, 2019). Die populärsten Videos bei YouTube sind Musikvideos. Von den 149 Videos, die auf YouTube mehr als eine Milliarde Aufrufe hatten, sind nur zehn keine Musikvideos (Wikipedia, Stand 3.6.2019). Ein Radio ist vor allem in der deutschen Schweiz vorhanden, der eigene Besitz liegt dort mehr als doppelt so hoch (Tab. 2) wie in der französischen Schweiz und in der italienischen Schweiz. Eine Stereoanlage besitzen Kinder eher in der deutschen Schweiz selbst, während diese öfters im Haushalt in der französischen Schweiz vorhanden ist. Mp3Player gibt es in der deutschen Schweiz signifikant öfter im eigenen Besitz, während dieser in der französischen Schweiz überhaupt nicht vorhanden ist und in der italienischen Schweiz nur im Haushalt. Ein eigenes Musicstreamingabo wie Spotify oder Apple Music ist in der deutschen Schweiz übervertreten, überhaupt kein solches Abo ist in der französischen Schweiz signifikant häufiger. Ein Musicstreamingabo ist in der deutschen Schweiz und in der italienischen Schweiz (nichtsignifikant) häufiger im eigenen Besitz, was eigentlich auch Sinn macht. Tabelle 2: Vorhandensein von Musik abspielenden Geräten sowie von Musicstreaming als eigener Besitz und im Haushalt verfügbar nach Landesteilen deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz Haushalt Eigener Haushalt Eigener Haushalt Eigener Besitz Besitz Besitz Radio 40.4% 43.2% 42.3% 14.6% 36.4% 18.2% Mp3Player 15.4% 37.8% 16.5% 23.6% 28.1% 26.6% HiFi Stereo 26.0% 29.5% 39.2% 14.4% 26.2% 16.9% Plattenspieler 21.8% 0.7% 15.3% 2.4% 15.2% 1.5% Musicstreamingabo 27.1% 28.6% 20.3% 12.7% 19.7% 24.2% Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 12
Ein Schritt nach vorne: Computer Der Computer leitete eine Revolution ein und legte den Grundstein für die Digitalisierung. Computer gab es früher nur in Betrieben, das Aufkommen des Personal Computers war der nächste Schritt, bis hin zum Laptop und Tablet, ein erster Schritt zur mobilen Anwendung und Miniaturisierung. Darin ist das Handy vorerst der letzte Schritt, denn dieses ist leistungsfähiger als früher ein ganzes Rechenzentrum. 2011 überholte der Verkauf von Smartphones denjenigen von Computern weltweit, wobei danach der PC-Verkauf nur noch leicht anstieg, während der Smartphoneverkauf in die Höhe schoss (Booton, 2016). Vorteile von Computern sind der grössere Bildschirm und die grössere Tastatur, was für Personen mit Behinderung die Bedienung erleichtert oder erst möglich macht. Bestimmte Anwendungen wie Games oder aktiv einen selbstgedrehten Film editieren ist nur am Computer möglich. 161 Kinder haben einen eigenen Computer, weitere 143 finden einen Computer im Haushalt vor und nur 33 Kinder haben gar keinen Zugang zu einem Computer. Die Landesteile unterscheiden sich darin nicht. Gleiches in etwas geringerem Umfang gilt für den Besitz eines Tablets: 146 Kinder haben ein eigenes Tablet, weitere 116 finden ein Tablet im Haushalt vor und bei 69 Kindern ist gar kein Tablet vorhanden. Dagegen ist ein Internetzugang sehr stark und überzufällig davon abhängig, in welchem Landesteil man lebt: in der italienischen Schweiz fehlt ein Internetzugang signifikant häufiger, 22.7% der Kinder haben überhaupt keinen zur Verfügung, der Anteil in der deutschen Schweiz (3.4%) und in der französischen Schweiz (9.5%) liegt deutlich tiefer, wobei in der deutschen Schweiz deutlich mehr Kinder einen eigenen Internetanschluss haben. Im Unterricht sollten Laptops und Tablets verstärkt eingesetzt werden, weil diese für viele Kinder mit Behinderungen leichter handhabbar sind und bei diesen Anwendungen wie der Einsatz komplexerer Videogames überhaupt erst möglich sind. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 13
Ein Schritt zurück: Zeitungen, Zeitschriften, Bücher Der Medienbegriff an sich hat sich gewandelt, von der Zeit, als es nur Printmedien gab, bis Radio, Kino und Fernsehen die audiovisuellen Medien begründeten. Bei den Printmedien kann von dem ersten Massenmedium gesprochen werden, das zudem dauerhafter war als das gesprochene Wort und verbreitet werden konnte. Hier soll ein spezieller Blick auf die Printmedien geworfen werden, Zeitschriften, Zeitungen und Bücher, die freilich alle ihren Platz im Internet fanden oder in elektronischer Form. Dennoch konnten E-Books nicht den Rückgang bei den gedruckten Zeitungen oder Büchern kompensieren. Die Entwicklung des weltweiten Buchmarktes ist allerdings sehr uneinheitlich: während in Deutschland oder der Schweiz weniger Bücher gelesen werden, werden in anderen Ländern wie Irland oder den USA mehr Bücher gelesen. Ausserdem sagen Verkaufszahlen von Büchern nichts aus, denn Bücher kann man sich ausleihen, von Bibliotheken, Freunden, der Familie. Und in der MUSE-Stichprobe zählt in die Bibliothek gehen zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen und hängt mit Bücherlesen zusammen, allerdings nicht sehr stark. In 83 Haushalten gibt es ein Abonnement einer Tageszeitung, 21 Kinder geben an, selbst eines zu besitzen. In der deutschen Schweiz ist signifikant häufiger ein Abo im Haushalt vorhanden, in der italienischen Schweiz ist signifikant häufiger gar keines vorhanden. Noch stärker sind die Unterschiede hinsichtlich des Abos einer Zeitschrift: 10 Kinder besitzen ein eigenes Abo, bei 69 Kindern ist ein solches im Haushalt vorhanden. Dies erstaunt nur wenig, da Zeitschriften spezieller auf die Interessen der Kinder und Jugendlichen zugeschnitten sind. In der französischen Schweiz fehlt dies häufiger, in der deutschen Schweiz ist es signifikant häufiger vorhanden. Tabelle 1: beliebteste Buchgattungen nach Landesteilen Position deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz 1. Comic Comic Fantasy 2. Fantasy Bilderbuch Comic 3. Sachbuch Sachbuch Thriller 4. Tierbuch Fantasy Horror 5. Krimi Drama Krimi Comics sind die beliebtesten Bücher, gefolgt von Fantasy (Tab. 1). Erfreulicherweise sind in der deutschen Schweiz und der französischen Schweiz Sachbücher beliebt, wenn auch erstaunt, dass Bilderbücher in der französischen Schweiz an zweiter Stelle stehen. In der italienischen Schweiz lieben sie es mit Thriller, Horror und Krimi aufregend und nervenkitzelnd. Harry Potter und Gregs Tagebuch sind die populärsten Bücher mit 32 respektive 28 Nennungen. Alle anderen Bücher werden weniger als zehnmal genannt, am ehesten noch Dragon Ball, Geronimo Stilton oder Asterix und Obelix. Im Sinn der Stärkung des Offline-Verhaltens sind Bücher auf Papier zu betonen, die positive Auswirkungen haben auf Freude, Interaktionen (Strouse & Ganea, 2017), auf schulische Leistungen (Whitten, Labby & Sullivan, 2016). Diese sollen weitgehend auf einfacher Sprache basieren oder z.B. in Brailleschrift verfügbar sein. Ebenfalls sollen verstärkt Comics eingesetzt werden, die durch die Kombination von Bildern und reduziertem Text einfacher verständlich sein sollten. Gleichfalls können E-Books zum Einsatz kommen, die bei Kindern mit logopädischen Problemen bessere Resultate zeigen als Bücher auf Papier (Rvachew, Rees, Carolan & Nadig, 2019). Bei der Buchauswahl sollte Kindern ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Zeitungen und Zeitschriften sollen im Unterricht eingesetzt, analysiert und verglichen werden, z.B. zu Online Veröffentlichungen. Das Handy – unsere dritte Hand oder der neue Teddy Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 14
Während früher Telefone stationär waren, und man nur durch Funkgeräte ausser Haus sich verständigen konnte, brachte das Handy, das beide Geräte verband, enorme Fortschritte. Anfänglich nur zum Telefonieren gut, kann es jetzt fast alles wie ein Laptop. Das Handy ist heute nicht mehr wegzudenken, seine Handlichkeit und sein Leistungsvermögen sind unübertrefflich. In unseren Breitengraden beträgt die Geräteverfügbarkeit bei Jugendlichen 100% in der JAMES-Studie (Suter et al., 2018) und 99% in der JIM-Studie (Feierabend et al., 2018) In MUSE haben 81.9% ein eigenes Handy, bei 14.3% ist eines im Haushalt vorhanden und bei 3.8% fehlt ein Handy ganz. Das Handy ist das am meisten verfügbare Gerät. Dies ist allerdings nach Landesteilen sehr unterschiedlich. In der französischen Schweiz ist es signifikant seltener, dass Kinder ein Smartphone besitzen und signifikant häufiger, dass überhaupt kein Handy im Haushalt vorhanden ist. In der italienischen Schweiz gibt es keinen Haushalt ohne Handy und 62 von 66 Kindern haben ein eigenes Handy. Dies ist zu 90.8% internetfähig, während das in der französischen Schweiz und der deutschen Schweiz nur bei 84.6% der Fall ist. Was das verfügbare Datenvolumen anbelangt, haben in der deutschen Schweiz deutlich weniger Jugendliche ein unlimitiertes Abo (29.0%), in der französischen Schweiz deutlich mehr (46.3%). Die italienische Schweiz liegt mit 38.9% dazwischen, die Gesamttests werden nicht signifikant. Die Jugendlichen geben an, das Handy wochentags durchschnittlich 6.2 Stunden zu gebrauchen, und am Wochenende sind es 7.4 Stunden. Diese Werte liegen höher als jene der JAMES-Studie, obwohl bereits ihre Werte als überschätzt angesehen wurden. Da das Handy ein ständiger Begleiter ist und auch immer wieder zur Hand genommen werden kann, dürften diese Werte nicht so weit von der Realität entfernt sein, ausserhalb der Schulzeit bleibt noch genügend Zeit. Ferner ist es so, dass die Kinder aus Sonderschulen in der Regel einen weiteren Schulweg haben (Sonderschulen gibt es nicht in jeder Gemeinde), meist dabei den öffentlichen Verkehr benutzen statt zu Fuss zu gehen und dabei allein sind anstatt mit den Nachbarskindern zur Schule zu gehen. Dies alles trägt dazu bei, dass auf dem Schulweg Kinder aus Sonderschulen intensiver das Handy nutzen als Kinder aus Regelschulen. Dafür spricht, dass sich die Landesteile nicht unterscheiden. Und Handynutzungsapps wie Quality Time, Forest, AppDetox, Space, oder Offtime erfassen oftmals mehr Zeit als man tatsächlich verbringt, weil die Apps auf dem Handy im Hintergrund arbeiten. Musik hören, Uhr und bilaterale Messengerchats sind die häufigsten Handynutzungen (Abb. 3), gefolgt von Surfen und Videos schauen. In diesen häufigen Nutzungen unterscheiden sich die Landesteile nicht. Im SMS unterscheidet sich die deutsche Schweiz von der französischen Schweiz, in Pushnachrichten von den beiden anderen Landesteilen und im Fernsehen und Fotografieren von der italienischen Schweiz. Bis auf Fotografieren sind die anderen drei Nutzungen signifikant. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 15
Abbildung 3: Durchschnittliche Dauer der häufigsten Handynutzungen, der Messengernutzung und jener Handynutzungen, in denen sich die Landesteile signifikant unterscheiden (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz). 7 6 5 4 3 2 1 DeuSch SuiRom SviIta Hinsichtlich Apps ist die Rangfolge in allen drei Landesteilen auf den ersten drei Plätzen gleich (Tab. 3). Apps für Musik und Suchmaschinen folgen in zwei Landesteilen auf den nächsten Plätzen. Es zeigt sich ebenfalls, dass Fernsehen von Kindern bevorzugt auf dem Handy geschaut wird (wo sie ungestörter und weniger beobachtet schauen können). Tabelle 3: Beliebteste App-Gattungen nach Landesteil Position deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz 1. Social Media Social Media Social Media 2. Fernsehen Fernsehen Fernsehen 3. Game Game Game 4. Musik Musik Suchmaschinen 5. Einkaufen Suchmaschinen Sport Werden die einzelnen Apps betrachtet, wird Instagram 137mal genannt, WhatsApp 136mal, YouTube 105mal, Snapchat 90mal und mit Abstand dahinter Facebook mit 22 sowie Google mit 21 Nennungen. Eine nach Landesteilen unterschiedliche Nennung zeigt sich bei Google, Facebook und WhatsApp, die jeweils in der italienischen Schweiz überzufällig häufig genannt werden. WhatsApp ist in der französischen Schweiz signifikant untervertreten, Facebook gleichermassen in der deutschen Schweiz. Dafür wird Snapchat häufiger in der französischen Schweiz genannt. Dass wir mit anderen verbunden sein wollen und wissen möchten, was unsere Freunde tun und lassen, ist eine grundlegende menschliche Eigenschaft. Diese wird durch das Handy und dessen Apps überall und jederzeit möglich. Daraus haben sich zwei Phänomene entwickelt, die als Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 16
problematisch anzusehen sind: zum einen FOMO (Fear of missing out) als die Angst, etwas zu verpassen, wenn man nicht permanent online ist und Messages checkt, was dann zu unangenehmen sozialen Konsequenzen führen könnte, wie Beleidigungen oder Beschimpfungen. Nomophobie (No mobile Phone Phobie) geht noch weiter: es ist die Angst, sein Handy nicht dabei zu haben oder dass dies weder geladen ist noch Internetverbindung hat. Da dies ein relativ neues Forschungsfeld ist, wurde nur eine kurze FOMO-Skala eingesetzt (Abb. 4). In dieser gibt es keine Unterschiede zwischen den Landesteilen. 31 Kinder überschreiten den kritischen Wert, bei dem von negativen Auswirkungen auszugehen ist. In der französischen Schweiz sind diese leicht übervertreten. Abbildung 4: Mittelwerte der FOMO-Skala nach Landesteilen (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz) SviIta SuiRom DeuSch 4 9 14 19 24 Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 17
Videogames: kindgerechte Freude am Spielen? Ein Merkmal der Kindheit ist die Freude am Spielen, aber ebenso bei Erwachsenen sind Spiele beliebt. Mittlerweile hat das Spielen in den Computergames seinen Ausdruck gefunden. Zuerst nur offline auf dem PC verfügbar und meist allein spielend, werden jetzt Spiele vor allem online und mit anderen zusammen genutzt. Obwohl mittlerweile die Umsätze der Gameindustrie grösser sind als diejenigen der Filmindustrie (LPE, 2018), hat selbst der Umsatz von Offlinespielen zugenommen (Birkner, 2017). Eine feste Spielkonsole haben 154 Kinder, im Haushalt verfügbar ist eine bei 108 Jugendlichen und bei 73 Jugendlichen ist keine feste Konsole verfügbar. Eine eigene portable Konsole besitzen 143 Jugendliche, im Haushalt finden 59 Jugendliche eine solche vor und 139 Jugendliche haben keine verfügbar. Ein Game-Streaming-Abo ist in 48 Haushalten vorhanden, 39 Jugendliche besitzen selbst eines. Die Landesteile unterscheiden sich darin nicht. Tabelle 4: Beliebteste Videogames nach Landesteilen Position deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz 1. Firstpersonshooter Thirdpersonshooter Firstpersonshooter 2. Thirdpersonshooter Sport Thirdpersonshooter 3. Sport Firstpersonshooter Sport 4. Sandbox Auto Action 5. Auto Action Minigame Die Egoshooter gehören in allen drei Landesteilen zu den beliebtesten Videogames, gefolgt von Sportgames (Tab. 4). Autospiele und Actionspiele sind in zwei Landesteilen in den Top 5. Die Beliebtheit von Egoshootern ist nicht abhängig vom Landesteil und Alter, bei Thirdpersonshootern geben Jungen diese häufiger an als Mädchen. Grand Theft Auto (GTA) 5 ist mit 72 Nennungen von den Videospielen am beliebtesten, Fortnite hatte 65, FiFA 52, Call of Duty 37 und Minecraft 35 Nennungen. 235 Jugendliche machten Angaben zum liebsten Videospiel (=67.0%). Die Nennung von GTA und Call of Duty zeigt bereits, dass nicht altersgemässe Videospiele populär sind, beide sind erst ab 18 Jahren freigegeben, jene, die Call of Duty angeben, sind alle jünger, 23 sind 15 und 16 Jahre alt; bei GTA sind 54 zwischen 13 und 16 Jahre alt, ein Jugendlicher ist 18 Jahre alt. Fortnite ist zwar in der Schweiz ab 12 Jahren freigegeben, in Deutschland allerdings erst ab 16 Jahren. 69.9% in der deutschen Schweiz geben an, dass sie schon einmal ein Videospiel spielten, für das sie zu jung waren. In der französischen Schweiz sind es 54.9%, in der italienischen Schweiz 60.6%, ein signifikanter Unterschied (insgesamt 62%). Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 18
Abbildung 5: Durchschnittliche Dauer von Videospielen an Werktagen und am Wochenende nach Landesteilen (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz). 12 10 8 Anzahl Stunden 6 4 2 0 DeuSch SuiRom SviIta Werktag Wochenende Die deutsche Schweiz unterscheidet sich sowohl bezüglich Wochentag und Wochenende in der durchschnittlichen Videogamenutzung von der italienischen Schweiz (Abb. 5). Obwohl die Nutzungsdauer wochentags niedriger ist, scheint diese mit 4 Stunden täglich verhältnismässig hoch. Diese Zahl ist aber denkbar, da viele Spiele (z.B. die kurzen und einfachen Minigames) auf dem Handy verfügbar und damit immer greifbar sind. Ob Jugendliche die Videospiele allein spielen, mit anderen in einem Zimmer oder mit anderen Online gamen, unterscheidet sich nicht nach Landesteilen. Allein gamen kommt am häufigsten vor, eine Skaleneinheit mehr als mit anderen im Raum gamen. Der Einsatz von Videospielen im Unterricht kann durchaus vorteilhaft sein, wegen der Motivation und auch wegen kognitiver Effekte wie Konzentration und Aufmerksamkeit (Bediou et al., 2018; Nuyens et al., 2019; Stanmore et al., 2017). Es müssten dazu viel mehr non-serious games entwickelt werden, die bezugnehmen auf Lerninhalte. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 19
Bewegte und starre Bilder: Filme, Fotos und Kino Von den technischen Entwicklungen der medienfähigen Geräte im 19. Jahrhundert stand 1841 die Entwicklung der Kamera am Anfang und der Film 1896 am Ende – dazwischen kamen 1861 der Fernsprecher und 1877 der Phonograph. Fotokamera und Filmkamera machen die Realität sichtbar, bilden sie ab, das erste in starren, das zweite in bewegten Bildern, wobei Filme in der Regel 24 Bilder/Sekunde zeigen. Während Kino bei Jugendlichen in der Popularität gesunken ist, streamen sie heute Filme im Internet. Dagegen werden sehr viel mehr Fotos geschossen, was mit dem Handy einfach ist. Instagram, der Onlinedienst zum Teilen von Fotos und Videos, ist der beliebteste unter den Social Media. Auf Netflix Filme und Serien schauen hat enorm an Popularität gewonnen. Und der Umsatz von physischen Bildträgern (DVD, Blu-ray) hat sich von 2014 bis 2018 weltweit quasi halbiert, während der Umsatz von Filmen im Netz sich fast verdreifacht hat (MPAA, 2019). Tabelle 5: Besitz von Abspielgeräten für Filme, von Kameras und von Streaming Abos nach Landesteilen deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz Haushalt Eigener Haushalt Eigener Haushalt Eigener Besitz Besitz Besitz DVD-Player 47.9% 16.7% 55.8% 16.7% 60.9% 12.5% Blu-Ray-Player 38.2% 11.8% 31.7% 13.0% 33.3% 6.1% DVD Rekorder 44.1% 20.7% 50.4% 13.8% 37.9% 15.2% Digitalvideokamera 32.9% 20.5% 21.2% 5.1% 27.7% 10.8% Digitalfotokamera 44.8% 29.0% 48.4% 19.4% 31.8% 22.7% Filmstreaming- 36.2% 20.6% 37.9% 17.7% 24.2% 12.1% Abonnement Eine Digitalvideokamera besitzen Jugendliche in der deutschen Schweiz häufiger, in der französischen Schweiz seltener (Tab. 5). Keine digitale Fotokamera zu besitzen ist in der italienischen Schweiz häufiger. Keine Unterschiede gibt es in der Verfügbarkeit von Geräten, die fast ausschliesslich dazu da sind, Filme anzuschauen. Eine digitale Fotokamera wird von allen Geräten am häufigsten von den Jugendlichen selbst besessen, selbst wenn es hier nicht einmal jeden dritten Jugendlichen trifft. Eine digitale Videokamera und ein Blu-ray Player ist noch nicht einmal in jedem zweiten Haushalt verfügbar. Sonst liegen die Besitzverhältnisse zwischen 10% und 20%. Allerdings ist es heute so, dass man Filme auf dem Computer oder dem Handy anschauen kann oder im Internet streamen. Tabelle 6: Beliebteste Filmgattungen nach Landesteilen Position deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz 1. Science-Fiction Science-Fiction Drama 2. Animation Animation Superheld 3. Komödie Fantasy Science-Fiction 4. Drama Action Komödie 5. Horror Horror/Superheld Fantasy Science-Fiction und Animationsfilme sind in der deutschen Schweiz und in der französischen Schweiz gleichermassen beliebt (Tab. 6). Interessant ist, dass in der italienischen Schweiz das Drama beliebtestes Genre ist und Animation nicht unter den Top 5 auftaucht. Hingegen sind die Superheldenfilme, die generell zu den erfolgreichsten im Filmbusiness zählen, in der italienischen Schweiz sehr populär, in der französischen Schweiz teilen sie sich den fünften Platz mit Horrorfilmen, in der deutschen Schweiz tauchen sie noch nicht einmal unter den ersten 5 auf. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 20
Werden die beliebtesten Filme angeschaut, sind die Fast and Furious-Filme am populärsten, dicht gefolgt von den Harry Potter-Filmen, Star wars, der Jurrasic Park-Filmreihe und Transformers-Reihe, also alles Filme mit etlichen Sequels. Insgesamt ist die Auswahl der genannten Filme sehr heterogen, weshalb die absoluten Zahlen relativ tief sind, die Lieblingsfilmreihe wird nur von 11.9% der Antwortenden gewählt. 108 Jugendliche machten überhaupt keine Angaben zu einem Lieblingsfilm. Filme sind im Kino entstanden, ein Ort, der gerade auch von Menschen mit Behinderung aufgesucht werden sollte, um dort mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Dass das funktioniert, bewies das FASEA-Projekt (Hättich & Schweizer, 2020). Gefragt, mit wem und wo sie Filme schauen, wird häufiger allein Film geschaut mit einem Mittelwert von 4.12 als mit anderen Personen im selben Raum (M=3.71) und mit anderen im Kino Filme schauen (M=2.72). Mit anderen ins Kino gehen findet also nur einmal im Monat statt. Unterschiede darin nach Landesteilen bestehen nicht. Die Landesteile unterscheiden sich, wie lange die Jugendlichen am Wochenende Filme schauen, was in der deutschen Schweiz mit 5.97 Stunden gegenüber der französischen Schweiz (M=3.93) und gegenüber der italienischen Schweiz (M=3.21) höher liegt. Keine Differenz gibt es hinsichtlich wochentags Filme schauen, mit Mittelwerten von 4.14 deutsche Schweiz; 3.20 französische Schweiz und italienische Schweiz von 2.95. Ähnlich wie bei den Videogames mag das hoch erscheinen, doch Videogames und Filme zählen zu den häufigsten Handynutzungen. Filmchen auf YouTube dürften dazu gezählt werden. Wenn Sex und Gewalt zum Reiz oder zur Herausforderung werden Die Mehrheit der Jugendlichen schaut Filme, für die sie zu jung waren. In der deutschen Schweiz sind es 76.1%, in der französischen Schweiz 58.3% und in der italienischen Schweiz 63.6%, insgesamt 66.6%. Das ergibt einen hoch signifikanten Effekt, in der deutschen Schweiz deutlich höher, in der französischen Schweiz deutlich tiefer. Die Adoleszenz ist eine Zeit des Erkundens, des Ausprobierens, des Vorwagens. Dazu gehören insbesondere die tabuisierten oder für sie verbotenen Bereiche der Sexualität und von Gewalt. Im Internet sind solche Bereiche praktisch frei zugänglich, ohne jegliche Schranken und zudem kostenlos, das AAA-Prinzip erfüllend (Accessibility, Affordability, Anonymity). Dies gilt insbesondere für Pornographie, die bei uns keinerlei Zensur unterliegen, während gewaltverherrlichende Webseiten zumindest bei weitem nicht so populär sind und z.B. von YouTube auch zensiert werden. Abbildung 6 zeigt, wie das in MUSE genutzt wird Den grössten Unterschied gibt es ums Schauen brutaler Filme, was in der deutschen Schweiz überdurchschnittlich und in den anderen beiden Landesteilen unterdurchschnittlich erfolgt. Das gleiche Ergebnis, etwas weniger stark ausgeprägt, zeigt sich hinsichtlich des Schauens von Pornos. Etwas weniger ausgeprägt sind die Unterschiede hinsichtlich des Verschickens brutaler Videos und von Pornos, wobei die deutsche Schweiz über den vom Zufall her zu erwartenden Werten liegt, während nur die französische Schweiz unterdurchschnittlich ist. Hinsichtlich Sexting haben zwar mehr als ein Viertel der Jugendlichen bereits erotische Fotos und Videos bekommen, aber hier gibt es keinerlei Unterschiede zwischen den Landesteilen wie auch bei dem Versenden erotischer Fotos oder Videos. Ebenfalls gibt es beim Filmen gestellter oder echter Schlägereien keine Unterschiede. Die Annahme, dass dies vom Geschlecht abhängt, scheint berechtigt. Doch nur das Schauen brutaler Videos und von Pornos machen Jungen häufiger, während Mädchen öfter erotische Fotos versenden. Alle anderen Vergleiche in Abbildung 6 sind nichtsignifikant hinsichtlich des Geschlechts. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 21
Abbildung 6: Prozentanteil der Jugendlichen, die audiovisuell Sex und Gewalt konsumieren, verschicken, bekommen oder filmen, nach Landesteilen (DeuSch=deutsche Schweiz; SuiRom= französische Schweiz; SviIta=italienische Schweiz). Filmen echter Schlägerei Filmen gestellter Schlägerei erotische Fotos/Videos bekommen erotische Fotos/Videos verschicken Pornos verschicken Pornos schauen Brutale Videos verschicken Brutale Videos schauen 0.00% 10.00% 20.00% 30.00% 40.00% 50.00% 60.00% 70.00% 80.00% SviIta SuiRom DeuSch Von allen besprochenen Medien haben Filme den höchsten Unterhaltungswert und bieten einen guten Zugang zu anderen Kulturen. Sie sind ferner ein komplexes Medium, dessen Einsatz im Unterricht zu historischen, literarischen, naturwissenschaftlichen oder geographischen Themen empfehlenswert ist. Visuelle Darstellungen sind für Kinder mit Behinderung einfacher zu verstehen. Andererseits muss der Umgang mit Gewalt und Sexualität geübt und vor allem enttabuisiert werden, insbesondere auch, um Gefährdungen, denen Kinder mit Behinderung verstärkt ausgesetzt sind, nebst den zu befürchtenden schwereren Folgen, zu verhindern. Hier braucht es eine umfassende und intensive, auch rechtliche Beratung in der Schule. Mit einer Ausnahme gibt es keinerlei Hinweise, dass Filmeschauen sich zu einer Sucht entwickeln kann. Diese Ausnahme ist die Sucht nach Online Pornographie, die sich in Filmen ausdrückt. Allerdings geht es bei Pornofilmen genau wie bei den YouTube-Filmchen in den allermeisten Fällen nicht um Filme im ästhetischen oder filmbildnerischen Sinn an sich. Ungeachtet dessen kommt Online-Pornographiesucht selbst bei jüngeren Kindern vor: in der Studie von Mardhatillah (2017) mit 12-18jährigen am häufigsten bei der jüngsten Altersgruppe, während bei Morelli et al. (2017) bei 13-20jährigen das Alter unkorreliert war mit Online- Pornographiesucht. Beide Untersuchungen geben allerdings keine altersspezifische Prävalenz der Abhängigkeiten an. Und generell sollte das Augenmerk statt auf Pornographie mehr auf Sexting, Sextorsion und Cybergrooming gelegt werden, die nachweislich negative Folgen für Jugendliche haben (Gassô, Klettke, Agustina & Montiel, 2019). Und dabei sind Jugendliche mit Behinderung eine speziell gefährdete Gruppe für Cybergrooming (Whittle, Hamilton-Giachritsis, Beech & Collings, 2013). Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 22
Fernsehen: out und doch wieder in Lange war das Fernsehen das Massenmedium per se, das Milliarden Menschen in den Bann schlug und in den 1950ziger Jahren die Leute aus den Kinos vertrieb. Ausgehend von damals nur ein oder zwei Sendern können heute hunderte Sender weltweit empfangen werden. Und dies auf dem Computer wie auf dem Handy. Trotzdem hat das Fernsehen im Sinne der «Glotzkiste» an Popularität bei den Jugendlichen eingebüsst, obwohl Netflix mittlerweile unter den 13-24jährigen YouTube als liebstes Medium abgelöst hat (Spangler, 2018), welches jedoch wiederum zu 70% im Fernsehgerät geschaut wird (Kafka, 2018). Denn das Fernsehgerät hat einen viel grösseren Bildschirm als Handy oder Tablet. Sehr populär sind Fernsehserien, die freilich in der heutigen Verfügbarkeit eines stets verfügbaren vielfältigen Programms das Potential haben, eine Abhängigkeit zu entwickeln, welche bisher noch nie hinsichtlich des Fernsehens auftrat und binge-watching genannt wird (Rubenking, Bracken, Sandoval & Rister, 2018; Steiner & Lu, 2019). 102 Kinder besitzen einen eigenen Fernseher, bei 225 finden sie einen bei ihren Eltern vor, und 10 Haushalte verzichten ganz auf einen Fernseher. Landesteile unterscheiden sich nicht. Genauso wie beim kostenpflichtigen Abo-Fernsehen: Dies ist bei 100 Jugendlichen im Haushalt vorhanden, 22 weisen ein eigenes Abo vor. Das Gegenteil trifft zu bei der Streaming-Box, die seltener in der italienischen Schweiz vorhanden ist, während sie in der französischen Schweiz häufiger in Haushalten vorzufinden ist. 43 haben eine eigene Streaming-Box, bei 139 Kindern ist eine im Haushalt vorhanden, 148 verfügen über keine Streaming-Box. Tabelle 7: Beliebteste Fernsehgenres nach Landesteilen (deutsche Schweiz: 3. Rang doppelt besetzt, da gleich viele Nennungen, deswegen kein vierter Rang) Position deutsche Schweiz französische Schweiz italienische Schweiz 1. Anime Reality TV Anime 2. Krimi Anime Krimi 3. Scripted reality/ Reality TV Drama Reality TV 4. Krimi Komödie 5. Drama Sitcom Shows Animationsfilme führen die Top 5 in der italienischen Schweiz und in der deutschen Schweiz an, in der französischen Schweiz sind sie auf dem zweiten Platz (Tab. 7), Reality TV führt dort die Rangliste an. Diese sowie Krimis sind in allen Landesteilen populär. In der deutschen Schweiz und der italienischen Schweiz wird die allgemeine Angabe eines Fernsehsenders ebenfalls bei den beliebtesten Fernsehsendungen erwähnt. Da diese wenig über den Inhalt sagen, sind sie in Tabelle 7 nicht berücksichtigt. Da jeder Landesteil seine eigenen Fernsehsendungen hat, und selbst amerikanische Serien nicht überall laufen, gibt es trotz zeitversetztem Fernsehen kaum einen Konsens über die liebsten Fernsehsendungen. Einzig folgende Sendungen werden überhaupt mindestens zehnmal genannt: Les Anges (19 Nennungen), Walking Dead (13 Nennungen) und Family Guy (10 Nennungen). 107 (=30.5%) Jugendliche nennen keine Lieblingssendung. Fernsehen kann alles bieten, von Unterhaltung bis zur Wissensvermittlung. Aber alles ist im Internet genauso und vielfältiger verfügbar. Im Unterricht kann ein Einsatz dennoch vorteilhaft sein, wenn es um spezifische Sendungen geht oder den Kindern Alternativen aufzeigen. Problematisch ist hier die Abhängigkeit von Serien, die aber gerade für Jugendliche mit Behinderung in der Rezeption Vorteile bieten, da sie weniger lang dauern, weniger dicht inszeniert sind, sich mehr Zeit für die Plotentwicklung nehmen und mehr in die Tiefe gehen. Achim Hättich/ MUSE-Bericht/ Dezember 2019 23
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