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WISSENSCHAFT Originalarbeit Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking Eine Replikationsstudie Harald Dreßing, Peter Gass, Katharina Schultz, Christine Kuehner D er Begriff „Stalking“ wurde in den 1990er Jahren Zusammenfassung in den USA für ein komplexes Muster von Ver- haltensweisen geprägt. Wörtlich übersetzt heißt Hintergrund: Die erste auf einer Bevölkerungsstichprobe beruhende epidemiologi- Stalking „auf die Pirsch gehen“. Erst ab Anfang der sche Studie zu Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking in Deutschland wurde von 2000er Jahre wurde Stalking auch in Deutschland als den Autoren 2003 durchgeführt. Mit demselben Studiendesign wurde die Untersu- relevantes Problem für das Gesundheitswesen wahrge- chung 2018 wiederholt, um mögliche Veränderungen in der Häufigkeit von Stalking nommen. Im Jahr 2007 hat auch der Gesetzgeber Rege- und assoziierten psychischen Beeinträchtigungen bei Stalkingbetroffenen einzu- lungsbedarf gesehen; seitdem können Stalker gemäß schätzen. Nach Kenntnis der Autoren handelt es sich dabei international um die § 238 StGB („Nachstellung“) auch strafrechtlich ver- erste Replikationsstudie dieser Art. folgt werden. Ärzte und Psychologen sind beim Thema Methode: Aus der Einwohnermeldedatei der Stadt Mannheim wurden 1 000 Frauen Stalking in vielfacher Hinsicht gefordert – zum Bei- und 1 000 Männer zufällig ausgewählt. Diesen wurde ein umfangreicher Fragebo- spiel in der Beratung und Behandlung von Stalkingop- gen zum Thema Stalking sowie der WHO-5 Well-Being Index und der Gesundheits- fern sowie in der Diagnostik und Therapie von Stalkern fragebogen für Patienten (PHQ-D) zugesandt. (1). Von hoher Bedeutung ist die medizinisch-psycho- logische Expertise auch bei der Risikoeinschätzung Ergebnisse: In den Mannheimer Stichproben (2003: N = 675; 2018: N = 444) lag die von Stalkingfällen hinsichtlich einer gewalttätigen Es- Lebenszeitprävalenz für das Ereignis, als Opfer von Stalking betroffen zu sein, 2003 kalation. Bei Tötungsdelikten des Intimpartners ist der bei 11,6 % (95-%-Konfidenzintervall: [9,2; 14,4]) und 2018 bei 10,8 % [8,1; 13,7]. spätere Täter im Vorfeld nämlich nicht selten durch Stalkingopfer zeigten zu beiden Erhebungszeitpunkten im Vergleich zu nichtbetrof- Stalking des Tatopfers auffällig geworden (nach [2] in fenen Personen der Allgemeinbevölkerung ein statistisch signifikant niedrigeres psy- > 70 %), und das Risiko für Homozide im Stalkingkon- chisches Wohlbefinden (WHO-5-Summenwert 2003: 11,2 [9,7; 12,6] versus 15,5 text ist insbesondere bei zurückgewiesenen („rejected“) [15,1; 16,0], WHO-5-Summenwert 2018: 11,8 [10,1; 13,6] versus 14,5 [13,9; 15,0]). Stalkern akzentuiert (3). Zu bedenken ist auch, dass Ein deutlich höherer Anteil der Stalkingopfer erfüllte auch die Syndromkriterien für Ärzte und Psychologen selbst häufiger als die Durch- mindestens eine psychische Störung (PHQ-D 2003: 50,0 % versus 22,5 %; Odds Ratio [OR]: 3,5 [2,1; 5,6], PHQ-D 2018: 46,5 % versus 24,4 %; OR: 2,7 [1,4; 5,1]). schnittsbevölkerung in ihrem beruflichen Kontext Op- Weiterhin besteht Unzufriedenheit oder auch Unkenntnis über polizeiliche und fer von Stalkern werden können und über entsprechen- rechtliche Möglichkeiten. de Kompetenzen verfügen sollten, um in solchen Situa- tionen professionell zu reagieren (4). Schlussfolgerung: Stalking stellt nach wie vor ein erhebliches und ernst zu nehmen- des Problem dar. Ärzte und Psychologen müssen mit der Thematik vertraut sein, Epidemiologische Befunde wenn Betroffene um ärztliche und psychologische Hilfe bitten. Aufgrund unterschiedlicher Definitionen, Stichproben und Erhebungsmethoden und eines nicht unerheblichen Zitierweise Dunkelfelds variieren die Angaben zur Prävalenz von Dreßing H, Gass P, Schultz K, Kuehner C: The prevalence and effects Stalking erheblich (5). Übereinstimmend berichten je- of stalking—a replication study. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 347–53. doch alle epidemiologischen Studien, dass Stalking ein DOI: 10.3238/arztebl.2020.0347 weit verbreitetes Phänomen ist und Frauen wesentlich häufiger als Männer von Stalking betroffen sind (5–10; Tabelle 1). Ein besonderes Problem stellen auch ge- walttätige Verhaltensweisen im Kontext von Stalking dar (11). Ergebnisse einer systematischen Literatur- übersicht legen nahe, dass die Lebenszeitprävalenz für Stalking in einer Spanne zwischen 8 und 25 Prozent liegt (12). Für Deutschland wurde in einer neueren re- präsentativen Dunkelfeldstudie an 16- bis 40-Jährigen eine Stalkingprävalenz von 15 % ermittelt (13). Die erste auf einer Bevölkerungsstichprobe basie- renden Studie zur Stalkingprävalenz in Deutschland Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim, wurde von den Autoren dieses Artikels im Jahr 2003 Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg: Prof. Dr. med. Harald Dreßing, Prof. Dr. med. Peter Gass, Katharina Schultz, durchgeführt. Dabei fand sich eine Lebenszeitpräva- Prof. Dr. Dipl.-Psych. Christine Kuehner lenz von 11,6 % [9,2; 14,4] bei 18- bis 65-Jährigen (14). 272 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020
WISSENSCHAFT Mögliche gesundheitliche Folgen von Stalking Stalking stellt für viele Betroffene eine potenziell trau- Der Klinische Aspekt matische Erfahrung dar. Das Risiko einer psychischen Erkrankung ist bei Stalkingbetroffenen erhöht (15). Stalking ist ein weit verbreitetes Problem. Da Stalkingbetroffene ein erhöhtes Risiko Mehrere Studien berichten über eine hohe Prävalenz für psychische und körperliche Erkrankungen haben und sich mit unspezifischen depressiver Störungen und posttraumatischer Belas- Beschwerden beim Arzt vorstellen können, sollte bei der biografischen Anamnese tungsstörungen, wobei hier keine generellen Aussagen grundsätzlich an die Möglichkeit von Stalking gedacht werden. Sofern sich heraus- zu Zusammenhängen mit Art und Dauer des Stalking stellt, dass ein Stalkingfall vorliegt, sollte sich der Arzt nicht auf die Behandlung so- getroffen werden (16–20). Häufiger kommt es bei matischer oder psychischer Symptome beschränken, sondern sich als Teil eines Stalking auch zu eskalierenden Verläufen mit sexueller komplexen Hilfesystems sehen. Betroffene sollten über die Möglichkeit informiert und körperlicher Gewalt; in seltenen Fällen ist Stalking werden, sich bei der Polizei beraten zu lassen und gegebenenfalls auch eine Anzei- auch ein Risikofaktor für Tötungsdelikte (21). Die öko- ge zu erstatten. In vielen Regionen Deutschlands gibt es bei der Polizei hierfür spe- nomischen Folgekosten von Stalking sind erheblich, zialisierte Abteilungen, die sich mit Beratung und Prävention befassen. Ärzte sollten wenn man den Verlust an Produktivität durch Krank- Betroffene auch darauf hinweisen, dass es sinnvoll sein kann, sich bei einem Anwalt schreibungen, Behandlungskosten im Gesundheitssys- über die rechtlichen Möglichkeiten beraten zu lassen, wie man gegen den Stalker tem und Kosten im Justizsystem heranzieht (22). Zu vorgehen kann. beachten ist jedoch, dass in den angeführten Studien Bei der Betreuung von Stalkingbetroffenen ist zu beachten, dass grundsätzlich Assoziationen, aber keine Kausalitäten gezeigt wurden, an eine gewaltsame Eskalation zu denken ist und eine dynamische Risikoeinschät- während Folgekostenberechnungen auf der Annahme zung vorgenommen werden muss. Wesentliche Risikofaktoren sind: Konkrete Sui- eines kausalen Zusammenhangs beruhen. zidpläne des Stalkers, konkrete Tötungsfantasien, „last resort thinking“ („Wenn ich sie nicht haben kann, soll auch kein anderer sie haben.“), psychopathische Persön- Ziel der vorliegenden Untersuchung lichkeitsmerkmale des Stalkers, frühere Gewalthandlungen des Stalkers, Beschädi- In der vorliegenden Arbeit werden Prävalenz und Aus- gung des Eigentums des Opfers, Zugang zu Waffen, physische Annäherung („zur wirkungen von Stalking in einer deutschen Bevölke- Rede stellen“, ins Haus eindringen), Impulsivität, geringe Frustrationstoleranz und rungsstichprobe im Jahr 2018 mit Ergebnissen aus dem Substanzmissbrauch. Die Risikoeinschätzung muss fortwährend überprüft werden, Jahr 2003 verglichen. Nach Kenntnis der Autoren gibt da sich die Risikofaktoren dynamisch verändern können. Eine Zunahme des Risikos es in der internationalen Literatur bisher keine Studie, einer gewaltsamen Eskalation kann zum Beispiel vorliegen, wenn einem Stalker die diese Aspekte über ein längeres zeitliches Intervall vom Gericht ein Annäherungsverbot zugestellt wird oder ihm vom Familiengericht mit identischem Studiendesign untersucht hat. Erkennt- der Umgang mit gemeinsamen Kindern untersagt wird. In solchen Situationen sind nisse über den zeitlichen Verlauf sind unter anderem für gegebenenfalls konkrete Schutzmaßnahmen für die Opfer einzuleiten, zum Beispiel die Beurteilung der Wirksamkeit von Maßnahmen, die eine Begleitung durch vertraute Personen. in den letzten Jahren auch in Deutschland zunehmend zur Bekämpfung von Stalking etabliert wurden, von großer Bedeutung. Folgende Fragen waren von beson- derem Interesse: ● Zeigt sich eine Veränderung in der Häufigkeit von heitsfragebogen für Patienten (PHQ-D, Patient Health Stalking in den vergangenen 15 Jahren? So wird gegen Questionnaire) (26, 27) zugeschickt. Eine ausführliche Stalker inzwischen verschärft mit polizeilichen und Beschreibung der Methode findet sich im eMethoden- strafrechtlichen Mitteln vorgegangen, es gibt mittler- teil. In dieser Arbeit wird Stalking dann angenommen, weile aber auch neue Stalkingmethoden – etwa über so- wenn es zu multiplen Episoden von Belästigung oder ziale Medien. unerwünschten Kontaktaufnahmen mit multiplen Ver- ● Ist die gesundheitliche Verfassung von Stalkingbe- haltensweisen kam, die über mindestens zwei Wochen troffenen 2018 besser als 2003? Inzwischen gibt es anhielten und die beim Opfer Angst oder Furcht auslös- mehr Beratungs- und Behandlungsstellen, die mit der ten. Problematik vertraut sind, sodass eine adäquatere Be- handlung mit längerfristiger positiver Wirkung auf die Ergebnisse Betroffenen angenommen werden könnte. Wesentliche Ergebnisse zu den Vergleichen aus den Er- ● Werden die zwischenzeitlich eingeführten rechtli- hebungen der Jahre 2003 und 2018 sind in Tabelle 2 chen Möglichkeiten gegen Stalker von den Stalkingbe- dargestellt. troffenen als ausreichend empfunden? Nach Bereinigung um Doppelziehungen oder Un- zustellbarkeit wurden 2003 insgesamt 1 985 und 2018 Material und Methodik insgesamt 1 930 erreichbare Personen angeschrieben. Im Oktober 2018 wurden aus der Einwohnermeldedatei Die Rücklaufquote im Jahr 2018 war mit 23,0 % deut- der Stadt Mannheim jeweils 1 000 Frauen und 1 000 lich niedriger als im Jahr 2003 (34,2 %). Bezüglich Männer im Alter von 18–65 Jahren mit deutscher der Repräsentativität der Stichproben ergab sich 2018 Staatsangehörigkeit zufällig ausgewählt. Diesen Perso- kein statistisch signifikanter Unterschied in der pro- nen wurde zusammen mit einem Begleitbrief, in dem zentualen Altersverteilung der Bevölkerung Mann- das Ziel der Studie erklärt wurde, ein umfangreicher heims und der Untersuchungsstichprobe der Jahrgän- Fragebogen zum Thema Stalking (23) sowie der ge 1953–2000. Ähnlich wie 2003 (58,9 %) waren WHO-5 Well-Being Index (24, 25) und der Gesund- auch 2018 Frauen in der Befragungsstichprobe gegen- Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020 273
WISSENSCHAFT TABELLE 1 Epidemiologische Studien Autor Jahr der Land N Gesamtprävalenz Stalkingprävalenz Stalkingprävalenz Publikation bei Frauen bei Männern Tjaden, Thoenness (6) 1997 USA 16 000 8% 12 % 4% Budd, Mattinson (7) 2000 England 16 % 7% Purcell et al. (8) 2002 Australien 1 844 12,8 % 17,5 % 7,2 % Basile et al. (10) 2006 USA 9 684 4,5 % 7% 2% (95-%-KI [2,77; 4,90]) Breiding et al. (9) 2014 USA 12 727 15,2 % [13,9; 16,6] 5,7 % [4,7; 6,8] Dreßing et al. (14) 2005 Deutschland 679 11,6 % [9,2; 14,4] 17,5 % [13,8; 21,2] 3,7 % [1,5; 6,2] Dreßing et al. (diese Studie) 2020 Deutschland 444 10,8 % [8,1; 13,7] 14,4 % [10,1; 18,7] 5,1 % [1,9; 9,0] 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall KASTEN länger an; 2003 berichtete dies ein knappes Viertel. Von den Betroffenen wurden vielfältige Methoden der Ver- Anti-Stalkingregeln folgung und Belästigung angegeben. Im Durchschnitt waren sie zu beiden Erhebungszeitpunkten circa fünf 1. Nur einmal, dafür aber unmissverständlich erklären, dass kein Kontakt verschiedenen Stalkingmethoden ausgesetzt (Grafik). gewünscht wird. Die Relevanz der hier erfassten Stalkingverhaltens- 2. Weitere Kontaktangebote absolut ignorieren. weisen wird durch den Befund unterstrichen, dass 2003 in 54 % der Fälle explizite Drohungen ausgesprochen 3. Öffentlichkeit herstellen, das heißt, Nachbarn, Kollegen und Freunde wurden, 2018 in 66 %. Der Gesamtprozentsatz körper- informieren. licher und/oder sexueller Gewaltanwendung ist für bei- 4. Alle Vorkommnisse in einem Stalkingtagebuch dokumentieren. de Erhebungszeitpunkte mit jeweils mehr als 50 % ähn- lich (Tabelle 2). 5. SMS und E-Mails nicht löschen, da sie Beweise sind. In beiden Erhebungen macht das sogenannte 6. Bei Telefonterror die alte Telefonnummer nicht abmelden, sondern damit die (Ex-)Partnerstalking den Hauptanteil aller Stalkingfälle Stalkinganrufe auf einem Anrufbeantworter aufzeichnen. Gespräche unter aus (2003: 32,1 %, 2018: 45,8 %). Am zweithäufigsten einer Geheimnummer entgegennehmen. rekrutierten sich die Stalker aus der Gruppe der Be- 7. Geschenke des Stalkers nicht zurückschicken, sondern asservieren. Das kannten oder Freunde des Opfers (2003: 20,5 % [11,8; Zurückschicken stellt bereits eine Kontaktaufnahme dar. 29,9]; 2018: 20,8 % [10,0; 34,0]). Seltener sind die Stalker Arbeitskollegen (2003: 3,8 % [0; 8,4]; 2018: 8. Frühzeitig Kontakt mit der Polizei aufnehmen. 4,2 % [0; 10,0]) oder Familienmitglieder (2003: 3,8 % 9. Frühzeitig rechtlichen Rat bei einem spezialisierten Rechtsanwalt einholen. [0; 9,0]; 2018: 4,2 % [0; 10,5]). Darüber hinaus fand Stalking in Einzelfällen auch zum Beispiel in professio- nellen Kontexten statt. Zur selbstbeurteilten Einschätzung der Folgen des Stalking wurden die Betroffenen nach sozialen, psy- über ihrem Anteil in der Bevölkerung etwas überre- chischen und medizinischen Auswirkungen befragt. präsentiert (64,1 %). Durchschnittsalter und Ge- Die Mehrzahl der Betroffenen berichtete neben Angst schlechterverhältnis der beiden Stichproben unter- über weitere psychische und körperliche Symptome als schieden sich nicht statistisch signifikant. direkt empfundene Folge des Stalking, zum Beispiel 2003 erfüllten 78 Personen (11,6 %) die in beiden verstärkte Unruhe (2003: 56,4 %; 2018: 60,4 %), Untersuchungen zu Grunde gelegten Stalkingkriterien, Schlafstörungen (2003: 41 %; 2018: 39,6 %) und De- Die für das Jahr 2018 ermittelte Quote unterschied sich pression (2003: 28,2 %; 2018: 22,9 %). 2018 gaben nicht statistisch signifikant (48 Personen, 10,8 %). 27,7 % (2003: 18,4 %) der Betroffenen an, dass sie we- Unter den Stalkingbetroffenen fand sich für beide gen der Auswirkungen des Stalking auf ihre Gesundheit Erhebungen ein deutliches Überwiegen von Frauen; die vom Arzt krankgeschrieben worden seien. entsprechenden Anteile unterschieden sich nicht statis- Nur 20,5 % der Betroffenen erstatteten im Jahr 2003 tisch signifikant. Dagegen waren in beiden Erhebungen eine Anzeige bei der Polizei; diese Quote hat sich bis nach Auskunft der Betroffenen die Stalker in mehr als 2018 nicht erhöht (19,1 %). Dagegen suchten 2018 im- 80 % der Fälle männlich. Zur Dauer des Stalking gab merhin 34,8 % der Betroffenen therapeutische Hilfe im Jahr 2018 mehr als ein Drittel der Stalk- (2003: 27,0 %). Die rechtlichen Möglichkeiten, gegen ingbetroffenen einen Zeitraum von einem Jahr oder Stalker vorzugehen, wurden 2018 von 52,1 % der Be- 274 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020
WISSENSCHAFT TABELLE 2 Vergleich der Stalking-Umfragen 2003 und 2018 2003 2018 1 1 N* (% oder MW [95-%-KI]) N* (% oder MW [95-%-KI]) Teststatistik (df) p-Wert Rücklauf gesamt 679*2 (34,2 % [32,2; 36,3]) 444 (23,0 % [21,1; 24,7]) Chi2 = 60,02 (1) < 0,001 Geschlecht weiblich 392 (58,9 % [55,2; 62,9]) 278 (64,1 % [59,4; 68,9]) Chi2 = 2,88 (1) 0,090 Alter 42,5 [41,6; 43,6] 42,8 [41,5; 44,0] t = 0,33 (1 074) 0,744 Stalkingbetroffene 78 (11,6 % [9,2; 14,4]) 48 (10,8 % [8,1; 13,7]) Chi2 = 0,15 (1) 0,700 2 Geschlecht der Stalkingbetroffenen Chi = 0,36 (1) 0,549 weiblich 68 (87,2 % [79,5; 94,4]) 40 (83,3 % [71,4; 93,5]) männlich 10 (12,8 % [6,3; 21,4]) 8 (16,7 % [7,1; 27,9]) Geschlecht der Stalker Chi2 = 0,05 (1) 0,825 männlich 65 (85,5 % [77,3; 93,2]) 40 (87,0 % [76,4; 95,8]) weiblich 11 (14,5 % [6,9; 22,1]) 6 (13,0 % [4,3; 24,0]) Dauer des Stalking mindestens 1 Jahr 19 (24,4 % [15,0; 34,3]) 17 (35,4 % [21,6; 50,0]) Chi2 = 1,78 (1) 0,182 2 Frequenz des Stalking Chi = 3,44 (2) 0,179 mehrmals pro Monat oder weniger 31 (40,3 % [29,1; 51,5]) 11 (23,9 % [11,9; 36,6]) mehrmals pro Woche 27 (35,1 % [25,0; 45,5]) 20 (43,5 % [29,8; 58,3]) täglich/mehrmals täglich 19 (24,7 % [15,7; 34,2]) 15 (32,6 % [19,0; 47,5]) durchschnittliche Anzahl der Stalkingmethoden 5,0 [4,4; 5,6] 5,4 [4,6; 6,3] t = 0,82 (124) 0,412 Drohungen 27 (54,0 % [40,8; 68,9]) 31 (66,0 % [52,0; 78,2]) Chi2 = 1,44 (1) 0,230 2 körperliche und/oder sexuelle Gewalt 30 (38,5 % [27,3; 50,0]) 21 (43,8 % [29,8; 58,3]) Chi = 0,03 (1) 0,874 Stalker ist bekannt 59 (75,6 % [66,7; 84,8]) 44 (93,6 % [85,1; 100]) Chi2 = 6,54 (1) 0,011 2 Stalking durch Ex-Partner 25 (32,1 % [21,7; 42,9]) 22 (45,8 % [32,4; 60,4]) Chi = 2,41 (1) 0,120 Anzeige erstattet 16 (20,5 % [11,8; 29,5]) 9 (19,1 % [7,9; 31,8]) Chi2 = 0,03 (1) 0,854 2 professionelle Hilfe in Anspruch genommen 20 (27,0 % [17,2; 37,5]) 16 (34,8 % [20,5; 49,1]) Chi = 0,81 (1) 0,367 Krankschreibung infolge von Stalking 14 (18,4 % [10,1; 28,1]) 13 (27,7 % [15,2; 41,5]) Chi2 = 1,45 (1) 0,229 selbstberichtete gesundheitliche Einschränkungen Unruhe 44 (56,4 % [45,9; 67,2]) 29 (60,4 % [45,2; 74,5]) Chi2 = 0,20 (1) 0,658 Schlafstörungen 32 (41,0 % [30,2; 52,5]) 19 (39,6 % [26,0; 53,5]) Chi2 = 0,03 (1) 0,873 Depressivität 22 (28,2 % [18,3; 38,3]) 11 (22,9 % [11,1; 35,5]) Chi2 = 0,43 (1) 0,512 rechtliche und polizeiliche Möglichkeiten nicht beurteilbar 41 (53,2 % [41,1; 63,6]) 23 (47,9 % [33,3; 61,7]) Chi2 = 1,058 (2) 0,589 nicht ausreichend 35 (45,5 % [34,9; 57,4]) 25 (52,1 % [38,3; 66,7]) ausreichend 1 (1,3 % [0,0; 4,3]) 0 (0,0 %) WHO-5-Summenwert*3 77 (11,2 [9,7; 12,5]) 45 (11,8 [10,1; 13,4]) F = 0,01 (1,113) 0,931 PHQ-D-Angstscore*3 76 (5,4 [4,4; 6,3]) 42 (5,2 [3,8; 6,7]) F = 0,01 (1,113) 0,935 3 PHQ-D-Depressionsscore* 74 (7,8 [6,4; 9,4]) 43 (7,7 [6,1; 9,5]) F = 0,04 (1,112) 0,850 *1 teilweise reduziertes N aufgrund von fehlenden Werten *2 einschließlich 4 Fragebögen mit offensichtlich psychotischen Inhalten, die aus den weiteren Analysen ausgeschlossen wurden (siehe [14]) *3 Ergebnisse sind adjustiert für Alter, Geschlecht und Schulbildungsniveau (< Fachhochschulreife versus ≥ Fachhochschulreife). 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; df, degrees of freedom; MW, Mittelwert; PHQ-D, Patient Health Questionnaire (Gesundheitsfragebogen für Patienten); WHO-5, WHO-5 Fragebogen zum Wohlbefinden n = 15 (2003) und n = 70 (2018) Adressen waren doppelt gezogen worden oder Fragebögen waren wegen unbekannter Adresse nicht zustellbar. Sie sind bei der Berechnung der Rücklaufquote nicht berücksichtigt. troffenen als nicht ausreichend eingeschätzt (2003: ziodemografischer Variablen (PHQ-D, alle p-Werte 45,5 %). Auffällig ist auch der nach wie vor hohe Anteil ≤ 0,001 [Tabelle 3]). Auch auf Diagnosenebene anhand von Betroffenen, die offensichtlich keine ausreichen- des PHQ-D unterschieden sich Stalkingbetroffene und den Kenntnisse über die rechtlichen Möglichkeiten ha- Nichtbetroffene zu beiden Erhebungszeitpunkten. 2003 ben (2003: 53,2 %, 2018: 47,9 %). erfüllten 50,0 % der Betroffenen gegenüber 22,5 % der Bezüglich der aktuellen psychischen Befindlichkeit Nichtbetroffenen die Kriterien für mindestens eine zeigten Stalkingbetroffene zu beiden Befragungszeit- Syndromdiagnose; 2018 waren es 46,5 % versus punkten ein statistisch signifikant niedrigeres Wohlbe- 24,4 % (Tabelle 3). Dagegen unterschieden sich Stalk- finden (WHO-5) sowie statistisch signifikant höhere ingbetroffene 2003 und 2018 nicht statistisch signifi- Angst- und Depressionswerte, auch nach Kontrolle so- kant bezüglich ihres psychischen Befindens (Tabelle 2). Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020 275
WISSENSCHAFT GRAFIK sert? Inwieweit empfinden Betroffene die aktuellen rechtlichen und polizeilichen Möglichkeiten als aus- reichend? sonstiges Zunächst aber ist auf die folgenden Limitationen falscche Informationen im Internet der Studie hinzuweisen: Die Rücklaufquote zu bei- Kontaktaufnahme über Internet den Erhebungszeitpunkten ist für Studien mit ver- Faxe 2003 gleichbarer Methodik zwar zufriedenstellend, sie war Be- bzw. Abbestellungen 2018 jedoch 2018 noch einmal deutlich niedriger als 2003 und spiegelt damit einen allgemeinen internationalen Eindringen in die Wohnung Trend zum Rückgang von Response-Raten in sozial- Beschädigung von Eigentum wissenschaftlichen Studien wider (28). Bezüglich der Verfolgen mit Auto Altersverteilung handelte es sich bei beiden Umfra- E-Mails gen um weitgehend repräsentative Stichproben; aller- dings nahmen in beiden Befragungen mehr Frauen Nachrichten teil. Als weitere Limitation gilt, dass die Bevölke- wortloses Dasitzen rungsstichprobe in einer mittelgroßen westdeutschen Briefe Stadt gezogen wurde, was ebenso wie die geringe unerwünschte Geschenke Rücklaufquote die Generalisierbarkeit der Befunde Nachlaufen einschränkt. Jedoch zeigen die ermittelten Prävalenz- raten eine gute Übereinstimmung mit internationalen SMS Befunden. Zudem erlaubt der querschnittliche Cha- Fragen im Umfeld rakter der Erhebung keine kausalen Aussagen zu Fol- Kontaktaufnahme über Dritte gen des Stalking auf die psychische Gesundheit. So vor der Haustür Stehen ist nicht auszuschließen, dass zumindest ein Teil der identifizierten Stalkingbetroffenen bereits vor dem Herumtreiben Ereignis psychisch belastet war. Menschen mit psy- Telefonanrufe chischen Belastungen haben jedoch ein erhöhtes Ri- 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 siko, Opfer von Stalking zu werden (29). Zudem Prozent kann für diese Menschen die Schwelle niedriger sein, Ereignisse als bedrohlich wahrzunehmen und mit Berichtete Stalkingmethoden Angst darauf zu reagieren. Klare Aussagen erlauben Falsche Informationen und Kontaktaufnahme über das Internet wurden nur 2018 erfragt. hier nur Längsschnittstudien, die untersuchen kön- nen, inwieweit das Risiko für psychische Störungen bei initial unbeeinträchtigten Personen durch Stal- kingerfahrung steigt. Eine solche Langzeitstudie von Zusatzananalysen zeigten, dass höhere Stalkingdau- Diette et al. (30) integrierte Datensätze von Mädchen er und -häufigkeit unabhängig voneinander mit höhe- und Frauen aus drei großen nationalen Surveys. Die ren PHQ-Depressionsscores assoziiert waren (p-Wer- Autoren zeigten, dass eine Stalkingviktimisierung ab te ≤ 0,05 [eKasten]). 18 Jahren das Risiko für spätere psychische Störun- gen um den Faktor 2,7–3,9 erhöhte. Unsere Studie Diskussion teilt den Nachteil querschnittlicher Erhebung von Die vorliegende Studie ist nach Kenntnis der Autoren Stalkingerfahrung und psychischem Befinden dage- die erste bevölkerungsbezogene Replikationsstudie gen mit der weitaus größten Zahl vorliegender Studi- zu Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking. Mit en. Longitudinalstudien erfordern jedoch sehr große demselben Studiendesign wurde die Thematik in den Datensätze, um die Inzidenz psychischer Störungen Jahren 2003 (14) und 2018 untersucht, sodass mögli- prospektiv verfolgen zu können. Dies geschieht dann che Veränderungen beschrieben werden können. aber notwendigerweise unter Verzicht auf eine ge- Nach 2003 ist die Sensibilität für die Thematik deut- naue Analyse von Stalkingcharakteristika und Reak- lich angestiegen. Änderungen im Umgang mit dem tionen der Betroffenen, wie dies in der vorliegenden Thema Stalking haben sich zum Beispiel bei der Po- Studie möglich war. lizei und der Justiz ergeben, im Jahr 2007 wurde ein Die Ergebnisse unserer Replikationsstudie stützen eigener Straftatbestand in das Strafgesetzbuch einge- die Annahme, dass Stalking in Deutschland nach wie führt, und es wurden auch spezialisierte Beratungs- vor ein relevantes Problem darstellt. In der aktuellen stellen für Stalkingbetroffene eröffnet. Stichprobe 2018 beträgt die Lebenszeitprävalenz Mit der vorliegenden Replikationsstudie sollten 10,8 %, ganz ähnlich zu der 2003 ermittelten Präva- Fragen, die sich aus wissenschaftlicher und versor- lenz von 11,6 %. Die Häufigkeit von Stalking hat im gungspraktischer Sicht ergeben, beantwortet werden: Verlauf von 15 Jahren also kaum abgenommen, ob- Hat sich die Häufigkeit von Stalking in den vergan- wohl gegen Stalker mittlerweile verschärft mit poli- genen 15 Jahren verändert? Hat sich die gesundheitli- zeilichen und strafrechtlichen Mitteln vorgegangen che Verfassung von Stalkingbetroffenenen verbes- werden kann. Auch die Geschlechtsverteilung von 276 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020
WISSENSCHAFT TABELLE 3 Psychische Beeinträchtigungen bei Stalkingopfern und Nichtbetroffenen (2003 und 2018) 2003 2018 1 1 N* (% oder MW [95-%-KI]) Teststatistik (df) p-Wert N* (% oder MW [95-%-KI]) Teststatistik (df) p-Wert WHO-5-Summenwert < 13 Chi2 = 28,90 (1) < 0,001 Chi2 = 7,89 (1) 0,005 Stalkingopfer 44 (57,1 % [46,8; 67,5]) 24 (53,3 % [37,8; 66,7]) Nichtbetroffene 158 (27,1 % [23,2; 30,7]) 122 (32,3 % [27,5; 36,8]) PHQ-D Chi2 = 26,55 (1) < 0,001 Chi2 = 9,54 (1) 0,002 mindestens eine Syndrom- diagnose nach DSM-IV Stalkingopfer 38 (50,0 % [39,5; 60,5]) 20 (46,5 % [32,6; 60,5]) Nichtbetroffene 127 (22,5 % [19,1; 26,2]) 88 (24,4 % [20,0; 29,4]) WHO-5-Summenwert*2 F = 31,5 (1,627) < 0,001 F = 10,4 (1,398) 0,001 Stalkingopfer 77 (11,2 [9,7; 12,5]) 45 (11,8 [10,1; 13,4]) Nichtbetroffene 557 (15,5 [15,1; 16,0]) 360 (14,5 [13,9; 15,1]) PHQ-D-Summenwert F = 30,4 (1,628) < 0,001 F = 12,4 (1,400) < 0,001 Angstsymptome*2 Stalkingopfer 76 (5,4 [4,4; 6,3]) 42 (5,2 [3,8; 6,7]) Nichtbetroffene 557 (2,7 [2,4; 3,0]) 363 (2,6 [2,2; 3,1]) PHQ-D-Summenwert F = 40,7 (1,597) < 0,001 F = 14,9 (1,402) < 0,001 Depressionssymptome*2 Stalkingopfer 74 (7,8 [6,4; 9,4]) 43 (7,7 [6,1; 9,5]) Nichtbetroffene 528 (3,9 [3,5; 4,3]) 364 (4,7 [4,2; 5,2]) *1 teilweise reduziertes N aufgrund von fehlenden Werten *2 Ergebnisse sind adjustiert für Alter, Geschlecht und Schulbildung (< Fachhochschulreife versus ≥ Fachhochschulreife). 95-%-KI, 95-%-Konfidenzintervall; df, degrees of freedom; DSM-IV, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; MW, Mittelwert; PHQ-D, Patient Health Questionnaire (Gesundheitsfragebogen für Patienten); WHO-5, WHO-5-Fragebogen zum Wohlbefinden Tätern und Opfern ist nach wie vor weitgehend iden- (2018) erhöht. Die Betroffenen aus 2003 und 2018 tisch und das sogenannte (Ex-)Partnerstalking stellt unterschieden sich dagegen nicht in den entsprechen- das Hauptproblem dar. Für eine denkbare Zunahme den Outcome-Maßen. Schweremerkmale des Stalking der Prävalenz aufgrund einer verstärkten Präsenz des wie Frequenz und Dauer scheinen insbesondere mit Themas in den Medien fanden sich keine Hinweise, erhöhter Depressivität bei den Betroffenen einherzu- was dafür spricht, dass Stalking – wie andere krimi- gehen. Eine Verbesserung dieser Situation lässt sich nelle Delikte auch – mit einer recht stabilen Präva- anhand der vorliegenden Ergebnisse somit nicht fest- lenz vorkommt. stellen, und unsere Daten bestätigen weiterhin die Die Stalkingbetroffenen waren einer Vielzahl von Ergebnisse internationaler Studien zur erhöhten Präva- unterschiedlichen Stalkingverhaltensweisen ausge- lenz psychischer Störungen bei Stalkingbetroffenen setzt. Im Durchschnitt setzten die Stalker zu beiden (16–19). Trotz einer Zunahme von Beratungs- und Ergebungszeitpunkten etwa fünf unterschiedliche Behandlungsstellen ergibt sich hier also die Notwen- Methoden unerwünschter Kontaktaufnahmen ein. digkeit einer optimierten Versorgung. Die zwischen- Bei der Erhebung 2018 wurde das Cyberstalking, al- zeitlich eingeführten rechtlichen Möglichkeiten gegen so unerwünschte Kontaktaufnahmen über soziale Stalker werden im Jahr 2018 von etwas mehr als Medien, als Stalkingmethode neu aufgenommen. Cy- der Hälfte der Betroffenen (2003: 45,5 %) als nicht berstalking führte jedoch nicht zu einer Zunahme der ausreichend eingeschätzt. Auffällig ist auch der nach Gesamtprävalenz von Stalkingopfern zwischen 2003 wie vor hohe Anteil von Betroffenen, der offensicht- und 2018. Bei allen Betroffenen war Cyberstalking lich keine ausreichenden Kenntnisse über die rechtli- eine zusätzliche Methode, die neben anderen Metho- chen Möglichkeiten hat (53,2 % in 2003; 47,9 % in den vom Stalker eingesetzt wurde. 2018). Sowohl 2003 als auch 2018 zeigten Stalkingbe- Zusammenfassend kann man festhalten, dass sich troffene gravierende psychische Beeinträchtigungen beim Thema Stalking nach wie vor ein hoher Bera- gegenüber Nichtbetroffenen. Dies zeigte sich in bei- tungs- und Informationsbedarf für die Betroffenen den Erhebungen in signifikant schlechteren Befind- zeigt. Die rechtlichen Möglichkeiten gegen Stalker lichkeits-, Angst- und Depressionswerten (WHO-5, scheinen aus Sicht der Betroffenen nach wie vor un- PHQ-D). Zudem war die Chance, die Kriterien einer zureichend. Ob sich durch die Reform des psychischen Syndromdiagnose nach PHQ-D zu er- § 238 StGB künftig eine Besserung ergeben wird, füllen, bei Betroffenen gegenüber Nichtbetroffenen bleibt abzuwarten; entscheidend ist hier sicherlich um den Faktor 3,5 (2003) beziehungsweise 2,7 auch die Umsetzung in der Rechtspraxis. Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020 277
WISSENSCHAFT Bei der Betreuung und Behandlung von Stalkingbetroffenen Kernaussagen sind die im Kasten dargestellten Anti-Stalkingregeln zu beach- ten, die für alle Konstellationen gültig sind. Für eine intensi- ● Die Ergebnisse der vorliegenden Replikationsstudie (Vergleich von Erhe- vierte Betreuung kann zum Beispiel das von Gallas et al. veröf- bungen aus den Jahren 2003 und 2018) weisen darauf hin, dass Stalk- fentlichte Manual genutzt werden (34). ing weiterhin ein weit verbreitetes Phänomen ist. ● Trotz höherer Sensibilität für das Thema und zwischenzeitlicher Einfüh- Finanzierung Die Studie wurde vom Weissen Ring gefördert. rung eines neuen Straftatbestands hat sich die Stalkingprävalenz in den letzten 15 Jahren nicht verändert. Interessenkonflikt Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. ● Stalkingopfer zeigen zu beiden Erhebungszeitpunkten im Vergleich zu Manuskriptdaten nichtbetroffenen Personen der Allgemeinbevölkerung ein statistisch sig- eingereicht: 15. 11. 2019, revidierte Fassung angenommen: 11. 02. 2020 nifikant schlechteres psychisches Wohlbefinden. Anschrift für die Verfasser ● Ein deutlich höherer Prozentsatz der Stalkingopfer erfüllt die Syndrom- Prof. Dr. med. Harald Dreßing Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim kriterien für mindestens eine psychische Störung. Ärzte und Psycholo- Universität Heidelberg, J 5 gen sollten mit der Stalkingproblematik vertraut sein, um Betroffenen 68159 Mannheim harald.dressing@zi-mannheim.de adäquat zu helfen und in Situationen professionell reagieren zu können, in denen Gefahr besteht, dass sie selbst Opfer von Stalking werden. Zitierweise Dreßing H, Gass P, Schultz K, Kuehner C: The prevalence and effects of stalking—a replication study. Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 347–53. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0347 Ärzte und Psychologen sollten mit den klinischen Aspekten ►Die englische Version des Artikels ist online abrufbar unter: von Stalking und der Risikoeinschätzung vertraut sein (siehe www.aerzteblatt-international.de „Der Klinische Aspekt“). Bei der Betreuung von Stalkingbe- Zusatzmaterial Literatur im Internet: troffenen ist zu beachten, dass grundsätzlich an eine gewaltsa- www.aerzteblatt.de/pp/lit0620 oder über QR-Code me Eskalation zu denken ist und eine dynamische Risikoein- eMethodenteil, eKasten und eTabellen: schätzung vorzunehmen ist (31–33). www.aerzteblatt.de/20m0347 oder über QR-Code REFERIERT Suchtkranke Anonyme Alkoholiker wirksamer als Therapien Die Anonymen Alkoholiker, eine weltweit agie- Ende befähigt, andere Menschen vom Alko- laut Humphreys vor allem darauf zurückzufüh- rende Selbsthilfebewegung mit kulturellen holkonsum zu befreien. Viele Psychothera- ren, dass die Teilnehmer der AA-Gruppen da- Wurzeln in den USA, sind nach einer Meta- peuten, die bei der kognitiven Verhaltensthe- zu motiviert werden, nach dem Abschluss des analyse in der Cochrane Library häufiger in rapie ebenfalls einen Weg von einer Erkennt- 12-Schritte-Programms weiter an den Treffen der Lage, Menschen mit einer Alkoholabhän- nis der Ursachen hin zu Techniken der Alko- teilzunehmen. So war der Vorteil in den Absti- gigkeit vom Trinken abzuhalten als professio- holvermeidung anbieten, dürften die AA nicht nenztagen in den ersten 12 Monaten noch re- nelle Psychotherapien. Die Alkoholsucht wird als wissenschaftlich begründete Therapie be- lativ gering. Nach 24 Monaten und nach 36 – nach einer etwaigen Entgiftung unter ärztli- trachten. Ein wesentlicher Unterschied zwi- Monaten gelang es den Teilnehmern der AA- cher Aufsicht – in der Regel von Psychothera- schen beiden Welten besteht darin, dass die Gruppen deutlich häufiger, auf den Alkohol- peuten behandelt, die verschiedene Behand- AA-Gruppen häufig über viele Jahre eine konsum zu verzichten, als die Teilnehmer der lungsstrategien entwickelt haben. Außerhalb Gemeinschaft schaffen, deren Mitglieder sich Psychotherapie, deren Wirkung offenbar im- der Medizin gibt es Selbsthilfegruppen, die gegenseitig unterstützen, während eine pro- mer weiter verblasste. den Betroffenen Unterstützung anbieten. Die fessionelle Psychotherapie nach einer be- Da die AA keine hauptberuflichen Thera- vermutlich älteste Laienorganisation sind die grenzten Zahl von therapeutischen Sitzungen peuten beschäftigen, sind die Kosten gering. 1935 von einem Arzt und seinem alkoholkran- vorüber ist. Nach den jetzt von einem Team Dies wirkt sich auch auf die Studien zur ken Patienten in Akron/Ohio gegründeten „Al- um Keith Humphreys von der Stanford Uni- Kosten-Effektivität aus, die laut der Meta- coholics Anonymous“, die heute als AA in 180 versität in Palo Alto vorgestellten Auswertung analyse alle zugunsten des 12-Schritte-Pro- Ländern aktiv sind und mehr als 118 000 von 27 Studien mit 10 565 Teilnehmern könn- gramms ausfielen. Humphreys kommt zu Gruppen betreiben. te das 12-Schritte-Programm der AA-Gruppen dem Ergebnis, dass pro Patient etwa 10.000 Das Konzept der AA ist ein religiös moti- am Ende die besseren Ergebnisse erzielen. US-Dollar pro Jahr gespart würden. rme viertes 12-Schritte-Programm, in dem der Nach einem Jahr waren 42 % der Teilnehmer Betroffene nach dem Anerkennen seiner Hilf- der AA abstinent, während es nach einer Psy- Kelly JF, Humphreys K, Ferri M: Alcoholics Anonymous and other 12step programs for alcohol use disorder – losigkeit mit göttlicher Hilfe langsam zur „spiri- chotherapie (etwa der kognitiven Verhaltens- Cochrane Systematic Review. 11. März 2020. https://doi. tuellen Erweckung“ geführt wird, die ihn am therapie) nur etwa 35 % waren. Der Effekt war org/10.1002/14651858.CD012880.pub2. 278 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020
WISSENSCHAFT Zusatzmaterial zu: Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking Eine Replikationsstudie Harald Dreßing, Peter Gass, Katharina Schultz, Christine Kuehner Dtsch Arztebl Int 2020; 117: 347–53. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0347 eMETHODENTEIL Material und Methodik Die im Oktober 2018 angeschriebenen Personen wurden gebeten, die aus- gefüllten Unterlagen in einem beiliegenden frankierten Rückumschlag anonymisiert zurückzusenden. Vierzehn Tage später erfolgte ein einmali- ges Erinnerungsschreiben. Der eingesetzte Stalkingfragebogen (23) enthält soziodemografische Items sowie 51 Items zu Erlebnissen von Bedrohung, Verfolgung und Be- lästigung. Befragte, die zumindest von einer Form der Bedrohung, Verfol- gung oder Belästigung betroffen waren, wurden gebeten, zusätzliche Fra- gen zur Dauer, Art und Häufigkeit dieser Erlebnisse sowie zur persönlichen Beziehung zum Verfolger, zu dessen vermuteten Motiven sowie zu eigenen Reaktionen auf diese Verhaltensweisen und möglichen medizinischen oder psychologischen Folgen zu beantworten. Weiterhin wurde der WHO-5 Well-Being Index eingesetzt, eine Skala zur Einschätzung des psychischen Wohlbefindens, die sich in epidemiologischen Studien auch als Screening- Instrument zur Depressionsdiagnostik bewährt hat (24, 25). Der Fragebo- gen besteht aus 5 sechsstufigen Items. Die Spanne des Summenwerts liegt zwischen 0 und 25. Zur Erfassung der aktuellen psychiatrischen Morbidität diente der Ge- sundheitsfragebogen für Patienten (PHQ-D [26, 27]). Der PHQ-D ermög- licht die Erstellung von DSM-IV-Syndromdiagnosen (DSM-IV, Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) für die häufigsten psychischen Störungen (Major Depressives Syndrom, andere depressive Syndrome, Pa- niksyndrom, andere Angstsyndrome, Essstörungen, Alkoholsyndrom). Durch Summierung diagnosenspezifischer Symptome lassen sich zudem PHQ-D-Summenscores für depressive Symptome und Angstsymptome be- rechnen. Internationale Studien bescheinigen dem PHQ-D gute Reliabilität und diagnostische Validität (27). Unsere Stalkingdefinition beinhaltete, dass ● multiple Episoden von Belästigung vorliegen mussten, die ● über mindestens zwei Wochen anhielten ● multiple Stalkingverhaltensweisen beinhalteten und ● beim Opfer Angst oder Furcht auslösten. Damit orientierten wir uns an den Kriterien unserer Studie von 2003 und internationalen Arbeiten (5–7). Gruppenunterschiede zwischen der 2003er- und 2018er-Stichprobe wurden mittels Pearsons Chi2-Test im Falle katego- rialer und mittels t-Test im Falle kontinuierlich verteilter Variablen geprüft. Bezüglich der Symptomskalen wurden Gruppenvergleiche (Stalkingbetrof- fene 2003 versus 2018, Betroffene versus Nichtbetroffene 2003 und 2018) anhand von Kovarianzanalysen berechnet, in denen neben dem jeweils in- teressierenden Gruppenfaktor die Kovariaten Geschlecht, Alter und Schul- bildungsniveau eingingen, um für deren Effekt zu kontrollieren. Der Ein- fluss von Schweremerkmalen des Stalking auf das Ausmaß psychischer Beeinträchtigung bei Stalkingbetroffenen (Zusatzanalyse im eKasten) wur- de anhand von linearen Regressionen geprüft. Alle Analysen wurden mit SPSS Version 24 für Windows (SPSS Inc., Chicago, IL) durchgeführt. Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020 9
WISSENSCHAFT eKASTEN Zusatzanalyse Neben den im Haupttext dargestellten Ergebnissen wurde in einer Zusatzanalyse untersucht, inwieweit bestimmte Schwe- reindikatoren des Stalking, wie Dauer und Häufigkeit, sowie das Vorliegen von Gewalthandlungen Auswirkungen auf das aktuelle psychische Befinden der Stalkingopfer zeigen. Zu diesem Zweck wurden getrennte lineare Regressionen mit den abhängigen Variablen WHO-5-Summenwert, PHQ- Summenwert Angst und PHQ-Summenwert Depression gerechnet. Als unabhängige Variablen gingen in diese Modelle gleichzeitig Dauer und Häufigkeit sowie das Vorliegen von Gewalthandlungen ein. Um eine Inflationierung von Einzeltests zu vermeiden, wurde hier die Gesamtstichprobe aus 2003 und 2018 herangezogen, und es wurden Wechselwirkungen zwischen den Gruppen der von Stalking Betroffenen beziehungsweise der nicht von Stalking Betroffenen mit verschiede- nen unabhängigen Variablen untersucht, um zu prüfen, ob sich der Zusammenhang zwischen Merkmalen des Stalking und Symptomwerten für beide Gruppen unterscheidet. Bei nichtsignifikantem Interaktionsterm wurde dieser wieder aus dem Modell entfernt, und die entsprechenden Haupteffekte wurden interpretiert. In keinem der analysierten Modelle wurden die jeweiligen Interaktionsterme statistisch signifikant, das heißt, die Zusam- menhänge stellen sich ähnlich für 2003 und 2018 dar. Ebenso wurden die beiden Haupteffekt-Modelle für den WHO- 5-Summenwert (F[3,115] = 1,47; p = 0,227) und den PHQ-D-Angstscore (F[3,115] = 2,55; p = 0,059) nicht statistisch signifi- kant, wohingegen das Modell für den PHQ-Depressionsscore statistisch signifikant war (F[3,114] = 4,08; p = 0,009). Die eTabellen 1–3 zeigen die entsprechenden Haupteffekte der untersuchten Variablen auf die drei Symptomskalen. eTABELLE 1 Assoziation von Stalkingmerkmalen mit dem WHO-5-Summenscore „psychisches Wohlbefinden“ Modell B Standardfehler Beta t p-Wert Dauer des Stalking − 0,29 0,85 − 0,03 − 0,34 0,732 Häufigkeit des Stalking − 0,47 0,41 − 0,11 − 1,17 0,247 Gewalthandlungen − 1,58 1,20 − 0,13 − 1,32 0,190 eTABELLE 2 Assoziation von Stalkingmerkmalen mit dem PHQ-D-Angstscore Modell B Standardfehler Beta t p-Wert Dauer des Stalking 0,25 0,63 0,04 0,39 0,697 Häufigkeit des Stalking 0,59 0,30 0,18 1,93 0,056 Gewalthandlungen 1,23 0,90 0,13 1,37 0,172 eTABELLE 3 Assoziation von Stalkingmerkmalen mit dem PHQ-D-Depressionsscore Modell B Standardfehler Beta t p-Wert Dauer des Stalking 1,69 0,85 0,18 1,98 0,050 Häufigkeit des Stalking 0,94 0,41 0,21 2,29 0,024 Gewalthandlungen 0,95 1,21 0,07 0,78 0,435 Daraus geht hervor, dass eine spezifische Assoziation zwischen Dauer und Häufigkeit des Stalking und der Ausprägung aktueller Depressivität besteht, wobei längere Dauer und häufigere Kontaktaufnahme durch den Stalker unabhängig voneinander mit höherer Depressivität einhergehen, wohingegen das Vorliegen von Gewalthandlungen keinen zusätzli- chen relevanten Varianzanteil der Depressivität erklärt. Patient Health Questionnaire, deutsche Fassung; WHO-5, WHO-5 Well-Being Index 10 Deutsches Ärzteblatt | PP | Heft 6 | Juni 2020
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