Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
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INHALT Health University 5 Bildung, Forschung und Versorgung zusammenführen 8 Best Practice: Universität Linköping Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Ausbildung 10 Über den Tellerrand des eigenen Berufs blicken Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis 13 Teamwork im Dienste der Patienten Angewandtes Lernen in der Versorgungspraxis 16 Lernen in der Praxis für die Praxis Gesundheitsförderung und Prävention 18 «Ohne Prävention wäre unsere Spezies längst ausgestorben» Interdisziplinäre Forschung 22 Online-Hilfe bei schwierigen Entscheidungen Interprofessionelle Weiterbildung 24 Gemeinsam gegen Schmerz 25 Interprofessionelle Weiterbildungsangebote Agenda 26 Veranstaltungen und Publikationen – Titelbild: Umwelteinflüsse, gesellschaftliche Entwicklungen, individuelles Verhalten: eine Vielzahl von Faktoren strapazieren unsere Gesundheit. IMPRESSUM Kontakt Gestaltung Korrektorat Auflage ZHAW Zürcher Hochschule Driven GmbH, Zürich Ingrid Essig, Winterthur 5500 für Angewandte Wissenschaften www.driven.ch Departement Gesundheit Fotos Erscheinungsweise Technikumstrasse 71 Druck John Canciani (S. 3), Keiko Saile 2-mal jährlich 8401 Winterthur Ziegler Druck- und Verlags-AG, (S. 11, 19, 20), Beat Glogger (S. 23), Abonnieren Sie unseren kommunikation.gesundheit@zhaw.ch Winterthur Urs Siegenthaler (S. 25) E-Newsletter mit einem E-Mail an: www.zhaw.ch /gesundheit www.zieglerdruck.ch kommunikation.gesundheit@ zhaw.ch Illustrationen ISSN 2296-1631 Konzeption und Redaktion Lithografie Nadja Stohler, Dissoid AG Kommunikationsstelle Mediafabrik AG, Zürich Departement Gesundheit www.mediafabrik.ch
EDITORIAL 3 Ein Leitmodell, um Herausforderungen im Gesundheitswesen anzupacken Fast Food und Alkohol, Reizüberflutung und ständige Verfügbarkeit, Frankenstärke und Immo- bilienblase, Verkehrsüberlastung und Umweltkatastrophen, Eheprobleme und Sorgenkinder – die Liste liesse sich beliebig erweitern. Die Faktoren, die unsere physische und psychische Gesundheit beeinflussen, sind zahllos. Gleichzeitig machen die demografischen, epidemiologi- schen, ökonomischen und technologischen Entwicklungen unserer Zeit Versorgungsaufgaben im Gesundheitsbereich zunehmend komplexer. Um diesen multiplen Einflüssen und Anforderungen ganzheitlich zu begegnen, braucht es in- tegrierte Versorgungsmodelle und eine starke Zusammenarbeit zwischen allen Gesundheits- berufen. Nicht bloss in der klinischen Praxis, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung, in der Forschung und Entwicklung. Hier sind wir als Fachhochschule gefordert. Für eine Bildungsinstitution wie die unsrige bietet sich das Modell der Health University als Kompass an. Wir möchten Ihnen die Idee in diesem «Bulletin» näherbringen, auf einzelne typische Merkmale der Hochschulform genauer eingehen und sie mit der aktuellen Praxis an unserem Departement verbinden. Vom 10. bis 11. September 2015 findet in unserem Haus zudem eine Dreiländertagung Deutschland – Österreich – Schweiz zum selben Thema statt. Wir würden uns freuen, Sie bei dieser Gelegenheit bei uns zu begrüssen, um das Modell der Health University im Austausch mit Ihnen zu vertiefen. Eine kurzweilige Lektüre wünscht Peter C. Meyer Direktor Departement Gesundheit
An der Health University lernen Studie- rende verschiedener gesundheits relevanter Berufe unter einem Dach und über die Disziplingrenzen hinweg.
HEALTH UNIVERSITY 5 Bildung, Forschung und Versorgung zusammenführen Von Claudia Hoffman Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern, Gesundheitsförderung statt Reparaturmedizin müssten die Fachleute verschiedener Richtungen Die Universität Linköping gilt als Musterbeispiel einer enger als bisher zusammenarbeiten – nicht erst im sogenannten Health University (siehe Grafik Seite 8 – 9). Beruf, sondern bereits in der Ausbildung. Einen «Diese verstand sich bei ihrer Gründung als Gegenent- vielversprechenden Ansatz dazu bietet das Modell wurf zur klassischen Schulmedizin», sagt Beat Sottas, der Health University, das auch am Departement Soziologe und Co-Autor der Publikation «Health Uni- Gesundheit als Vorbild dient. versities – Konzept, Relevanz und Best Practice», wel- che die ZHAW im Jahr 2013 herausgegeben hat. Der Wer sich an der Universität Linköping in Schweden für Grundgedanke dieses Typs von Bildungsinstitution ist ein Studium im Bereich Gesundheit einschreibt, lernt nicht neu, sondern entwickelte sich bereits in den anders als an den meisten anderen Hochschulen. Denn 1970 er-Jahren. «Damals begann sich die Erkenntnis in Linköping wird nicht nur im jeweiligen Fach, son- durchzusetzen, dass die Medizin nicht mehr den Be- dern über die Berufsgrenzen hinweg unterrichtet: Stu- dürfnissen der Menschen entsprach, insbesondere in dierende so unterschiedlicher Fachrichtungen wie Me- den Industrienationen», sagt Sottas. Die Lebens dizin, Pflege, Ergo- und Physiotherapie, Logopädie und gewohnheiten änderten sich. Immer häufiger traten medizinischer Biologie ler- Zivilisationskrankheiten wie nen während der Ausbildung Diabetes oder Herz-Kreis- immer wieder miteinander. «Es hat sich gezeigt, dass ein Berufs- lauf-Leiden auf. Das belaste- Sie bearbeiten gemeinsam te nicht nur die Menschen Fallstudien, kümmern sich stand allein die Probleme der moder- selbst, sondern auch die als gemischte Gruppe um ei- nen Gesellschaft nicht lösen kann.» Wirtschaft – und rief damit nen Patienten und lösen Pro- die Organisation für wirt- bleme anhand von konkreten schaftliche Zusammenarbeit Beispielen. Und vor allem lernen sie, mit Fachleuten und Entwicklung (OECD) auf den Plan. Denn gemäss aus den jeweils anderen Gesundheitsberufen zusam- deren Motto «Health = Wealth» ist eine gesunde Bevöl- menzuarbeiten. kerung die Grundlage für den Wohlstand eines Landes.
6 HEALTH UNIVERSITY Die OECD setzte sich dafür ein, anstelle der bisher erklärt Beat Sottas. Deshalb arbeitet eine Health Uni- vorherrschenden «Reparaturmedizin» Gesundheits- versity eng mit allen im Gesundheitsbereich wichtigen förderung und Prävention in den Fokus zu rücken. Aus- Akteuren der Region zusammen. Gleichzeitig versteht serdem sollten verschiedene sie sich als Forschungsein- Akteure im Gesundheitssys- richtung, die praxisrelevan- tem wie Ärzte, Physiothera- te Projekte über Instituts- «Das Leitbild der Health University peuten und Pflegepersonen und Berufsgrenzen hinweg stärker zusammenarbeiten. ist heute noch genauso aktuell wie bearbeitet. «Auch wenn die- Denn: «Es hatte sich gezeigt, vor 30 Jahren.» se Leitlinien bereits vor 30 dass ein Berufsstand allein Jahren entwickelt wurden, die Probleme der modernen sind sie heute noch genauso Gesellschaft nicht lösen kann», so Sottas. Doch die Um- aktuell wie damals», sagt Beat Sottas. Denn die struk- setzung des neuen Konzepts für das Gesundheitswesen turellen Probleme im Gesundheitswesen bestehen nach war schwierig. Es fehlte an bedarfsgerecht ausgebilde- wie vor, auch in der Schweiz. Das zeigt unter anderem ten Fachleuten. der vom Bundesrat verabschiedete Bericht «Gesund- Eine Lösung sah die OECD in den Health Universi- heit 2020», der die Prioritäten der Schweizer Gesund- ties, von denen die ersten Ende der 1960 er-Jahre ent- heitspolitik für die nächsten Jahre festlegt. Der standen waren, vor allem in schwach entwickelten Bericht bemängelt, dass sich die Leistungserbringer Regionen. Dazu gehörten unter anderen die 1968 ge- untereinander nicht ausreichend abstimmten, was oft gründete Universität Tromsø in Nordnorwegen, die zu Doppelspurigkeiten führe. Zudem stehe die Akutbe- 1969 gegründete Ben-Gurion University in Be’er Sheva handlung zu stark im Vordergrund. Zukünftig müsse in der israelischen Negev-Wüste und die renommierte man sich mehr darauf konzentrieren, Krankheiten vor- McMaster University in Kanada. Diese Institutionen zubeugen und chronisch kranke und alte Menschen zu wurden mit dem Ziel aufgebaut, Fachleute auszubilden, begleiten und zu beraten. Für diese Aufgaben brauche welche die medizinische Grundversorgung der Men- es qualifiziertes Fachpersonal – und eine entsprechende schen sicherstellen und so die wirtschaftliche Entwick- Strategie für dessen Ausbildung. lung in der Region fördern. Basierend auf den Erfah- rungen dieser Pioniere definierten Experten an einer Departement Gesundheit: eine Health University? OECD-Konferenz im Jahr 1975, welche Merkmale eine Das bestätigt auch Peter C. Meyer, Direktor des Depar- Health University aufweisen sollte. tements Gesundheit der ZHAW. «Nur wenn wir die Ge- sundheitsberufe besser vernetzen, lässt sich eine opti- Auf die Bedürfnisse ausgerichtet male Versorgung der Bevölkerung gewährleisten», Zu den Kriterien gehört, dass alle Fachrichtungen zu sagt er. Welche Schritte dafür nötig wären, hat Meyer gesundheitsrelevanten Fragen unter einem Dach ver- gemeinsam mit Beat Sottas und Thomas Bucher, dem eint sind – und zwar nicht bloss Gesundheitsdisziplinen Leiter der Fachstelle Evaluation am Departement Ge- im engeren Sinne wie Medizin oder Pflege, sondern sundheit, im «Winterthurer Manifest» formuliert (sie- auch Berufe wie Städte- und Verkehrsplaner, Architek- he Box). Unter dem Motto «Gesundheitsversorgung tinnen, Soziologinnen oder Ökonomen. Unter dem breit durch Bildung sichern» werden darin Elemente der verstandenen Gesundheitsbegriff, der darin zum Aus- Health University aufgegriffen, die als Leitlinie druck kommt, tragen auch für eine zukünftige Gesund- sie zu Gesundheit und Wohl- heitsausbildung dienen kön- ergehen der Bevölkerung bei. «Nur wenn wir die Gesundheitsberufe nen. Meyers Vision ist es, Die Ausbildung an der Health das Department Gesundheit University findet in und mit besser vernetzen, können wir eine stärker in Richtung einer der Praxis statt, wobei in optimale Versorgung gewährleisten.» Health University zu entwi- professionsübergreifenden ckeln. «In einigen Bereichen Lernmodulen Studierende sind wir bereits auf gutem aller Fachrichtungen gemeinsam unterrichtet werden. Weg», ist er überzeugt. Um die Ausbildung in der Die hier vermittelten Lerninhalte orientieren sich Praxis zu verankern und regional auszurichten, arbei- stark an den Bedürfnissen der Bevölkerung der je tet das Department Gesundheit schon heute eng mit weiligen Region. «Nicht Spitzenmedizin, sondern die dem Kantonsspital Winterthur zusammen. Dort absol- medizinische Grundversorgung hat oberste Priorität», vieren die Studierenden Praktika, die im Bachelor-
HEALTH UNIVERSITY 7 studium eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus Gesundheit werden allerdings keine Mediziner ausge- ist der Aufbau eines Ambulatoriums geplant, das vor- bildet. Für Peter C. Meyer ist eine räumliche Einheit aussichtlich in fünf Jahren eröffnet wird. Es wird zu aber keine notwendige Voraussetzung für eine ver- Ausbildungszwecken dienen und eng mit der hausärzt- stärkte Zusammenarbeit. Es gehe auch nicht darum, lichen Versorgung in Winterthur verbunden sein. «Auf das Modell der Health University eins zu eins zu über- diese Weise können unsere Studierenden ihre Ausbil- nehmen. Ohnehin erfüllt von den Gesundheitsuniver dung verstärkt in der Praxis und mit reellen Patienten sitäten, welche die ZHAW in ihrer Publikation unter- absolvieren», sagt Meyer. sucht hat, keine alle Kriterien gleichzeitig. Dies auch, Was die Ausbildung über Berufsgrenzen hinweg be- weil in jeder Region andere Bedürfnisse vorherrschen. trifft, so findet ein Teil davon bereits heute in gemein Während die ersten Health Universities in den abgele- samen Lerneinheiten statt. Unter anderem besuchen genen Regionen Norwegens und Israels aus einer Ver- angehende Hebammen sowie Studierende der Ergo- sorgungsnotlage heraus entstanden sind, präsentiert und Physiotherapie sowie der Pflege gemeinsam Module sich die Ausgangslage in der Schweiz völlig anders. wie Gesundheitsförderung und Prävention, Wissen- «Wir haben eine gute Gesundheitsversorgung», sagt schaftskommunikation oder Herausfordernde Berufs- Meyer. Die Idee sei daher nicht, dass das Departement praxis und Kooperation. «Dadurch werden die Grenzen Gesundheit für die gesamte Versorgung zuständig sein zwischen den fachlich getrennten Studiengängen ein sollte. Natürlich müssten Privatpraxen und unabhängi- stückweit aufgebrochen und die Studierenden lernen, ge Spitäler auch weiterhin bestehen bleiben. Meyer zusammenzuarbeiten», sagt Departementsleiter Peter geht es vor allem um eine stärkere Vernetzung über C. Meyer. Für die Zukunft gibt es ausserdem Pläne, be- die Berufsgrenzen hinweg: «Alle müssen an einem stimmte Unterrichtseinheiten gemeinsam mit Medizin- Strang ziehen.» Das Modell der Health University bie- studierenden der Universität Zürich durchzuführen. te sich dafür als Leitbild an, da es diese Idee schon in der Ausbildung der künftigen Gesundheitsfachleute Public Health im Fokus kultiviere. Wie wichtig das ist, betont auch Beat Sottas: Eine stärkere Ausrichtung auf Public Health und Vor- «Wenn man nicht vom ersten Tag an lernt, miteinander sorge strebt das Departement Gesundheit mit dem zu reden, kann man es auch später im Beruf nicht.» neuen Bachelorstudiengang «Gesundheitsförderung und Prävention» an, der ab Herbst 2016 erstmals mit 60 Studienplätzen startet. Die Ausbildung wird zusam- men mit den ZHAW-Departementen für Angewandte Psychologie und Soziale Arbeit angeboten. In der Forschung und Entwicklung weist das Depar- tement Gesundheit bereits heute Züge einer Health «Winterthurer Manifest» und University auf. Dieser Bereich arbeitet zunehmend in- Dreiländertagung terprofessionell und ist eng mit der Praxis verbunden. Eine intensive Kooperation wird nicht nur in gemein Um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, ist eine engere Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Berufsgruppen im samen Projekten der fünf Forschungsstellen im Haus Gesundheitsbereich nötig. Doch wie können Hochschulen ihre gepflegt, sondern darüber hinaus auch mit anderen Absolventinnen und Absolventen besser auf die ihnen bevor Departementen der ZHAW. Ein Beispiel dafür ist ein stehende Aufgabe vorbereiten? Mit dieser Frage werden sich bereits abgeschlossenes Projekt der Forschungsstelle Gesundheitsexperten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz an der Dreiländertagung «Health Universities: Bildung Pflegewissenschaft: Ein Team untersuchte die Sprach- und Versorgung zusammenführen» beschäftigen. Diese findet am barrieren in der Spitex und kooperierte dazu mit 10. und 11. September 2015 am Department für Gesundheit der Forschenden des Departements für Angewandte Lin- ZHAW in Winterthur statt. Als Diskussionsgrundlage dient das guistik. In einem aktuellen Projekt arbeiten die Pflege- «Winterthurer Manifest», das von den drei Trägervereinen der Tagung ausgearbeitet wurde: dem Verein Hochschulen für Gesund- wissenschaftler mit dem Winterthurer Ärztenetzwerk heit, dem Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe und dem Wintimed zusammen, um den Einsatz von Advanced Verein zur Förderung der Wissenschaften in den Gesundheitsbe- Practice Nurses (APN) in der Betreuung chronisch rufen. Im Manifest sind konkrete Ziele für Hochschulen und Poli- kranker Menschen zu prüfen. tik festgehalten, unter anderem eine stärkere Verzahnung der Ausbildungsorte, berufsübergreifendes Lernen und eine engere Und dennoch: Die Kriterien einer Health University Vernetzung von Forschung und Praxis. Das gesamte Manifest sind nicht in allen Bereichen erfüllt. Gemäss Definition finden Sie unter: www.zhaw.ch /gesundheit /dreilaendertagung der OECD müssten alle gesundheitsrelevanten Beru- fe unter einem Dach vereint sein. Am Departement
Gesundheitsrelevante Studiengänge vereint Interprofessionelles Lernen Die Gesundheitsfakultät in Linköping bildet Studieren- In den Grundausbildungen sind zwölf Wochen für das de in folgenden Bereichen aus: Medizin, Pflege, Ergothe- Lernen über die Disziplingrenzen hinweg reserviert – rapie, Physiotherapie, Logopädie, medizinische Biologie, gegliedert in drei Module. Zuerst entwickeln die Stu- biomedizinische Analytik, Biomedizin, Ergotherapie, dierenden eine gemeinsame Wertebasis. Im zweiten Public Health, Hebammenkunde und Medical Educa- Modul finden sie ihre berufliche Identität und erwer- tion. Zudem bietet sie Weiterbildungen wie Primär ben zugleich komplementäre Kompetenzen, indem sie versorgung durch Pflegende an. In der Idealvorstellung üben, mit anderen Berufsgruppen zu kommunizieren. wären an einer Health University viele weitere Diszipli- Gegen Ende der Ausbildung sind sie zwei Wochen auf nen angesiedelt, die irgendwie das Wohlergehen der einer Bettenstation des Universitätsspitals, wo sie in Menschen beeinflussen: von den Ernährungswissen- gemischten Teams Patienten versorgen. Fachpersonen schaften bis zur Städte- und Verkehrsplanung. verschiedener Berufsrichtungen leiten sie dabei an.
Die Idee der Health University basiert auf vier Säulen (siehe unten). Die Ge- sundheitsfakultät im südschwedischen Linköping wird seit Herbst 1986 nach diesen Prinzipien geführt. Heute sind dort rund 27 000 Studierende einge- schrieben. Problemorientiertes Lernen In der Praxis für die Region Studierende lernen in Lernkontexten und in Interakti- Dadurch, dass ein beträchtlicher Teil der Ausbildung on mit Mitstudierenden des eigenen Fachs und anderer in Linköping praxisorientiert auf speziellen Abteil Studienrichtungen. Die Hauptverantwortung für den ungen stattfindet, erhält das Studium schon zu einem Lernprozess liegt dabei bei ihnen selbst. Die konkreten frühen Zeitpunkt hohe praktische Bedeutung und Lernmethoden und die Curricula wurden deshalb im- bleibt kein theoretischer Vorgang. Umgekehrt wird die mer wieder evaluiert, unter Einbezug von Studieren- Health University das medizinische Versorgungszent- den und Fakultätsmitgliedern kritisch diskutiert und rum für die Menschen in der Region. Sie setzt so das basierend auf den neusten Erkenntnissen kontinuier- Model der integrierten, interprofessionellen Versor- lich weiterentwickelt. Genauso wie die Ausbildung er- gung in die Praxis um und übernimmt damit die Ver- folgt später auch die Forschung problemorientiert und antwortung für die Grundversorgung im Gesundheits- in interprofessionell zusammengesetzten Teams. system einer bestimmten Region.
10 INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT IN DER AUSBILDUNG Über den Tellerrand des eigenen Berufs blicken Von Rita Ziegler Eine schwierige Patientensituation, eine verzweifelte und ist Schauspieler, die beiden jungen Frauen studie- Ehefrau und unterschiedliche Einschätzungen zu ren am Departement Gesundheit. Sie haben sich für Krankheitsverlauf und Behandlungszielen: In einem den Kurs «Krise & Coping» eingeschrieben. In Impro- interprofessionellen Modul bereiten sich angehende visationsübungen mit Schauspielern reflektieren sie Hebammen, Pflegefachleute, Ergo- und Physiothera- an diesem Nachmittag, wie sie sich in herausfordern- peuten am Departement Gesundheit auf die gemein- den Berufssituationen verhalten, und erproben mögli- same Arbeit im Praxisalltag vor. che Vorgehensweisen. Ihre Mitstudierenden sitzen im Halbkreis um die Szene herum, beobachten, kommen- Richard Aschwanden ist ausser sich: «Ich will jetzt tieren, geben Hinweise und bieten Handlungsalterna- endlich diesen Chirurgen sehen, sonst gehe ich an die tiven an, wenn die beiden Frauen vor dem Patienten- Medien. Meine Zukunft ist ruiniert.» Vor seinem Spital- bett nicht mehr weiter wissen. «Setz dich doch einmal bett stehen zwei junge Frauen, eine Pflegefachfrau und hin und gib Herrn Aschwanden drei Minuten Zeit, sei- eine Physiotherapeutin. Eigentlich sind sie gekommen, nen Frust rauszulassen, ohne dass du ihn zu beschwich- um den jungen Spitzensportler, der nach einer schwe- tigen versuchst oder dich rechtfertigst», schlägt ren Knieverletzung operiert wurde, zu mobilisieren. jemand aus der Runde vor. Einatmen, ausatmen. Stattdessen lassen sie nun seine Schimpftiraden über Nächster Versuch. sich ergehen. «Jetzt werden mir wieder zwei Anfänge- Zu wissen, dass in den Spitalbetten an diesem Nach- rinnen geschickt. Haben Sie überhaupt eine Ahnung mittag bloss Schauspieler liegen, sieht Katharina von dem, was Sie hier ma- Rüdisüli, Studentin im Ba- chen? Wahrscheinlich ver- chelorstudiengang Pflege, als stehen Sie mich gar nicht. Chance: «Ich kann verschie- «Wir möchten bei den Studierenden Arbeiten ja kaum Schweizer dene Handlungen ausprobie- hier im Haus.» Das geduldi- das Interesse an den anderen Berufs- ren und die Reaktionen dar- ge Zureden von Seiten der gruppen wecken und sie auf die auf beobachten, ohne dass ich Frauen hilft nichts. Für Herr spätere Zusammenarbeit vorbereiten.» dabei etwas riskiere.» Gleich- Aschwanden steht fest: Der zeitig erfährt die 22-Jährige, Chirurg hat gepfuscht, das wie ihre Kolleginnen und Therapieteam ist inkompetent, die Pflege liegt unter Kollegen aus den Studiengängen Hebamme, Physio dem Standard. Die Physiotherapeutin wirft ihrer Kolle- therapie und Ergotherapie die inszenierten Situationen gin aus der Pflege einen hilfesuchenden Blick zu und beurteilen und wo sie anders handeln würden. murmelt: «Warst du schon in einer ähnlichen Lage? Wie Diesen Blick über den Tellerrand des eigenen Be- findet man Zugang zu so jemandem?» rufs zu fördern, ist Ziel des vierwöchigen Moduls «Herausfordernde Berufspraxis und Kooperation», Try and error das sämtliche Studierenden am Departement Gesund- Es ist eine vertrackte Situation, wie sie im klinischen heit im fünften Semester besuchen. Sie können sich Alltag vorkommt. Einziger Unterschied: Richard wahlweise in drei von vier Themen vertiefen: Bera- Aschwanden heisst im richtigen Leben Urs Humbel tung, interprofessionelle Zusammenarbeit, Diversity
INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT 11 IN DER AUSBILDUNG In Improvisationsübungen mit Schauspielern reflektieren die Studierenden, wie sie sich in herausfordernden Berufssituationen verhalten können. – Management oder eben Krise & Coping. In den Kur- Geschichten, die unter die Haut gehen sen arbeiten die angehenden Ergo- und Physiothera- In den Fallbeispielen, mit denen sich die Studierenden peuten, Pflegefachleute und Hebammen gemeinsam auseinandersetzen, geht es ans Eingemachte – und die an Fallbeispielen und Fragestellungen, in die mehrere Situationen sind keineswegs immer gespielt. Da ist bei- Berufsgruppen involviert sind. «Damit möchten wir spielsweise Franca Weibel, die in einer Podiumsdiskus- bei den Studierenden das Interesse an den anderen sion von ihrer 36-jährigen Tochter erzählt. Mit 17 er- Berufsgruppen wecken und sie auf die spätere Zu- hielt diese die Diagnose Schizophrenie, brachte in den sammenarbeit vorbereiten», erklärt die Modulverant- folgenden Jahren zahlreiche Klinikaufenthalte hinter wortliche Stephanie Rösner. «Sie sollen lernen, beruf- sich und versuchte Ende 2014 zum wiederholten Mal, liche Schnittstellen sinnvoll zu gestalten.» sich das Leben zu nehmen. Die Mutter schildert ihre Die Arbeit mit den praxisnahen Beispielen findet Verzweiflung, berichtet von Konflikten mit Ärzten und Anklang. «Die Kurswochen sind das Beste, was ich in Therapeuten oder von Missverständnissen mit dem der interprofessionellen Lehre bisher besucht habe», Pflegepersonal. Sie erwähnt aber auch, was ihr in den sagt Physiotherapiestudentin Ramona Schoch. «Es ist Krisen geholfen hat, dass sie über all die Jahre robuster spannend zu sehen, wie die anderen Berufsleute an ein geworden sei und gelernt habe, die eigenen Bedürfnis- Problem herangehen, wer welche Fragen stellt und se nicht zu vergessen. Zu Beginn der Veranstaltung wessen Prioritäten wo liegen.» Hebammenstudentin tippt da und dort noch jemand auf seinem Handy herum. Stephanie Sprenger schätzt die Gelegenheiten, um Nach dreissig Minuten sind die Nebengeräusche ver- über Berufsklischees nachzudenken: «Denn sie können stummt, kaum ein Räuspern ist zu vernehmen. Die eine erfolgreiche Zusammenarbeit stark behindern.» Geschichten, die Franca Weibel und ihre Diskussions
12 INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT IN DER AUSBILDUNG partner erzählen, lassen niemanden im Saal unberührt. Berufskulturen und Charaktere aufeinander.» Die Kurs- Podiumsdiskussionen, Übungen, Workshops mit exter- teilnehmer sind mitten im Thema: Diversity Manage- nen Gästen und Präsentationen: Das Programm und ment steht auf dem Programm. die Unterrichtsformen sind vielseitig, «personell und Gesundheitsfachleute sind ständig mit Menschen organisatorisch aber auch sehr aufwändig», betont aus anderen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen Stephanie Rösner. Welchen Stellenwert die interprofes- Wertvorstellungen in Kontakt – seien es nun Patienten, sionelle Zusammenarbeit in der Praxis hat, erfahren Angehörige oder Arbeitskollegen. Sie müssen gemein- die Studierenden in Institutionen, die sie in Gruppen sam zur jeweils bestmöglichen Lösung für den Patien- besuchen – darunter eine Rehaklinik, ein Wohnhaus, ein ten kommen und dies oft blitzschnell – gerade wenn Kinderspital und eine Geburtsabteilung. es um Leben und Tod geht. Samuel van den Bergh, Die zukünftigen Hebammen, Pflegefachleute, Physio- Professor für interkulturelles Management, ist es des- und Ergotherapeuten entdecken so bereits im Studium halb ein Anliegen, dass die Studierenden während sei- Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiede- ner Kurswoche das Bewusstsein für die eigenen Ver- nen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Sie können haltensmuster und Werte schärfen. Denn dies ist die Selbst- und Fremdbilder gegeneinander abwägen und Voraussetzung, um die Perspektive zu wechseln und abgleichen. «Dadurch festigen sie einerseits ihre Be- sich in die Rolle anderer hineinzuversetzen – zum Bei- rufsidentität und erkennen andererseits, was eine gute spiel in diejenige von Richard Aschwanden, der seine interprofessionelle Zusammenarbeit möglich macht», Zukunftsvision als Spitzensportler zerrinnen sieht und sagt Stephanie Rösner. «Indem sie sich mit anderen Be- darauf mit Aggressionen reagiert. rufsgruppen auseinandersetzen, lernen sie, ihre eigene berufsspezifische Weltsicht genau zu beschreiben, zu reflektieren und sie zu erweitern.» Nach welchen Regeln spielen wir? Interprofessionelle Lehre Zwei Wochen später. Montagmorgen. Die Studierenden üben in Vierergruppen ein Kartenspiel ein. Auf die Ein- Nebst dem berufsspezifischen Unterricht besuchen die angehen- den Hebammen, Pflegefachleute, Physio- und Ergotherapeutinnen wärmphase folgt ein Wettkampf, während dem sich die und -therapeuten am Departement Gesundheit interprofessionelle Gruppen immer wieder neu mischen. Die Zusatzregel: Module, in denen sie von-, mit- und übereinander lernen. Die Es darf nicht mehr gesprochen werden. Die ersten Mi- Studierenden eignen sich einerseits Kompetenzen an, die für die nuten geht alles gut. Dann schüttelt ein junger Mann Ausübung aller Gesundheitsberufe gleichermassen notwendig sind, zum Beispiel mit Forschungsliteratur umzugehen oder mitten im Raum plötzlich vehement den Kopf und weist situationsgerecht zu kommunizieren. Andererseits lernen sie, über genervt auf die Karte, die er eben gespielt hat. Sein Ge- die Berufsgrenzen hinauszudenken und mit den anderen Berufs- genüber zuckt mit den Schultern und hebt beschwichti- gruppen zielführend zusammenzuarbeiten. gend die Hände. Auch am übernächsten Tisch herrscht Verwirrung. Eine Spielerin nutzt das unsichere Kichern ihres Gegenübers aus, um den Stich selbstgewiss auf ihren Haufen zu legen. Obwohl nach wie vor nicht ge- Winter School am sprochen werden darf, schwillt die Geräuschkulisse an. Departement Gesundheit Nach zehn Minuten bricht Dozent Samuel van den Bergh den Wettkampf schmunzelnd ab. Einige Teilnehmerin- Die Themenwochen des Moduls «Herausfordernde Berufspraxis und Kooperation» sind Kernstück der Winter School der Departe- nen haben inzwischen Verdacht geschöpft. «Wir haben mente Gesundheit und Soziale Arbeit. Bachelorstudierende und unterschiedliche Spielregeln erhalten», ruft jemand in Dozierende der ZHAW sowie von Partnerhochschulen aus dem In- den Saal. Nun fällt auch bei den Letzten der Groschen: und Ausland erhalten die Gelegenheit, gemeinsam über Chancen daher die Missverständnisse. In der Diskussion, die nun und Hürden, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der berufsübergreifenden Zusammenarbeit zu diskutieren. Gleichzei- folgt, sollen die Studierenden das Erlebte auf die He tig üben sie sich darin, mit herausfordernden interprofessionellen rausforderungen in den Gesundheitsberufen ummün- Situationen souverän umzugehen. Die Winter School findet jährlich zen. Analogien finden sich schnell: Eine angehende im Januar statt und richtet sich an Studierende und Dozierende Hebamme erzählt von Missverständnissen, die sie im der Studienrichtungen Ergotherapie, Hebamme, Pflege, Physio therapie und Soziale Arbeit. An der ersten Durchführung 2015 nah- Kontakt mit Frauen aus anderen Kulturkreisen erlebte. men über 75 Studierende und 18 Dozierende aus 11 verschiedenen Eine Kollegin ergänzt: «Situationen wie eben hatte ich Ländern teil. www.zhaw.ch /gesundheit / international im letzten Praktikum, etwa in der Zusammenarbeit mit Ärzten. Da stossen manchmal ziemlich verschiedene
INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT 13 IN DER AUSBILDUNG Teamwork im Dienste der Patienten Aufgezeichnet von Rita Ziegler Das Konzept der Health University sieht vor, dass Handlungen wieder zu planen, auszuführen und zu kon- sich Studierende in unterschiedlichen Gesundheits- trollieren. Dabei motivieren ihn alltägliche Arbeitsab- berufen bereits während der Ausbildung in der Zu- läufe – etwa das Ausräumen der Abwaschmaschine –, sammenarbeit üben. Sie wappnen sich damit für die bei denen er seine Fortschritte beobachten kann. Nach klinische Praxis. Doch wo liegen die Schnittstellen wie vor Mühe bereiten ihm das Rechnen und das Spre- im praktischen Alltag? Drei Fallbeispiele aus unter- chen. Wieder und wieder sucht er in der Logopädie nach schiedlichen Blickwinkeln. dem passenden Wort. Etwas später beginnt die orthopädische und hand- Fall 1: Schritt für Schritt zurück in den Alltag – chirurgische Rehabilitation. Ein Fachgremium küm- Behandlungsprozess in der Rehaklinik Bellikon mert sich um die Unfallfolgen am Bewegungsapparat. Spätabends im Mai. Frontalkollision auf der Axen Für Beat Gerber bedeutet dies: raus aus dem Rollstuhl strasse. Töfffahrer Beat Gerber * ist schwer verletzt und aufrecht gehen. Ein ambitiöses Ziel, das eine kom- und nicht ansprechbar. Minuten später ist die Ambu- plexe Prothese voraussetzt und damit Know-how, lanz vor Ort und bringt den 22-Jährigen ins Univer Erfahrung und handwerkliches Geschick bei den Ortho- sitätsspital Zürich. Auf der Unfallchirurgie werden pädietechnikern. Und trotzdem: Das neue Bein will seine Verletzungen behandelt. Es folgt ein Aufenthalt nicht auf Anhieb passen, gross ist die Enttäuschung. auf der Intensiv- und später auf der Bettenstation. Das Gesprächs- und Musiktherapie helfen Beat Gerber, in- linke Bein muss amputiert werden, der rechte Arm ist nerlich wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und gelähmt. Vom Schädel-Hirn-Trauma erholt er sich nur dann kommt irgendwann auch das ersehnte Erfolgs langsam. erlebnis: Mit einem computergesteuerten Kniegelenk, Nach sechs Wochen ist der junge Mann medizinisch jeder Menge technischer Feinabstimmung und viel so stabil, dass er in die Rehaklinik Bellikon überführt Ausdauer beim Üben kann der junge Mann endlich werden kann. Hier liegt er vorerst auf der Intermediate wieder gehen – und ein gutes Jahr nach seinem Unfall Care Station, wo die medizinische Pflege nahtlos weiter- sogar wieder Autofahren. geführt wird. Nach Diagnose und Eintrittsbefund legt Inzwischen hat auch die arbeitsorientierte Rehabili- ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Therapeuten, tation begonnen, die den jungen Mann mit berufsbezo- Psychosomatikspezialisten und Pflegfachpersonen ge- genem Training fit fürs Erwerbsleben machen soll. In meinsam die Massnahmen Gesprächen mit dem Fach- für die neurologische Früh mann für berufliche Einglie- rehabilitation fest. Anhand derung und mithilfe prakti- Ein Team aus Ärzten, Therapeuten, international etablierter In scher Tests findet er heraus, strumente messen sie, ob die Psychosomatikspezialisten und welche neuen Stellen für ihn definierten Ziele erreicht wer- Pflegfachpersonen legt die Mass in Frage kommen. Begleitet den. In der Physiotherapie nahmen für die neurologische Früh und beraten wird er in die- lernt Beat Gerber, sich wie- rehabilitation fest. sem Prozess von einem Case der selbständig fortzubewe- Manager der Unfallversiche- gen – vorerst im Rollstuhl. rung. Beat Gerber gewinnt Parallel dazu steigert er in der medizinischen Trainings- mehr und mehr Sicherheit, beginnt nun auch, sich zu therapie seine körperliche Leistungsfähigkeit. In der bewerben, und wird bald schon für ein erstes Vorstel- Ergotherapie fordert er sein Hirn heraus und trainiert, lungsgespräch eingeladen.
14 INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT IN DER AUSBILDUNG Fall 2: Ressourcen stärken und im Alltag nutzen – Mina Suter eine Betätigungsanalyse durch, um ihre Ergotherapie in der Integrierten Psychiatrie Hauptschwierigkeiten im Alltag zu erkennen. Ihre Dia- Winterthur – Zürcher Unterland gnose hält sie wiederum im KIS fest: Die Seniorin zeigt Die 70-jährige Mina Suter * leidet an einer schweren ein eingeschränktes Sozialverhalten und mangelndes Depression. Der Alltag zu Hause überfordert sie, wes- Selbstwertgefühl, was sie hindert, ihre Ressourcen zu halb ihr Hausarzt sie an die Integrierte Psychiatrie nutzen. Gemeinsam mit der Patientin ermittelt die Er- Winterthur überweist. Dort analysiert das zuständige gotherapeutin deren Interessen und sucht nach Mög- Kernteam – die für den Fall lichkeiten, diese in einem verantwortliche Ärztin und Gruppensetting auszuleben. die Bezugsperson Pflege – So lernt Mina Sutter, ihre Fä- Über das Klinikinformationssystem die Situation und legt mit der higkeiten zu erkennen, zu Patientin übergeordnete Be- sind Ziele und Massnahmen für alle nutzen und kleine Erfolge handlungsziele fest. Die dar- Fachpersonen zugänglich. zu feiern. Zugleich kann sie aus abgeleiteten Ziele und an ihrem Sozialverhalten ar Massnahmen der Pflege, der beiten. Ihre Beobachtungen Psycho-, Bewegungs- und Physiotherapie sowie des bringt die Ergotherapeutin nach knapp einer Woche in Sozialdienstes werden im elektronischen Klinikinfor- den ersten interdisziplinären Rapport ein, zu dem sich mationssystem (KIS) dokumentiert und sind so für alle alle beteiligten Fachpersonen treffen. Gemeinsam beteiligten Fachleute zugänglich. Mit einer ärztlichen überprüfen sie den Behandlungsverlauf und passen Verordnung über das KIS beginnt der Fall auch für die Massnahmen an. Zwei Wochen nach Eintritt folgt eine Ergotherapeutin. Ihr Auftrag lautet, die Ressourcen ausführliche Fallbesprechung, in der die verschiedenen der Betroffenen zu stärken. Die Sozialkompetenz zu Disziplinen auch Mina Suters Austritt koordinieren. In verbessern und eine Tagesstruktur aufzubauen, sind der abschliessenden Beurteilung des Falls wird die Be- weitere interdisziplinäre Ziele, die es anzupacken gilt. handlung von jeder involvierten Fachperson evaluiert In einem ersten Schritt führt die Ergotherapeutin mit und für den Hausarzt dokumentiert. Fall 3: Schwieriger Start ins Mutterdasein – Um ein aufwändiges Verfahren zu vermeiden, bittet die Hebammenbetreuung im Wochenbett Fürsorgebehörde die Hebamme, mit der Betreuung Maria Horvat * wird aus dem Spital entlassen. Vier Tage über die regulären zehn Tage hinaus fortzufahren und nach der Entbindung und ein Monat, nachdem sie zu ih- dabei zu prüfen, ob das Baby vernachlässigt werde. Für rem Mann in die Schweiz gezogen ist. Eine Pflegefach- die Hebamme wird beim nächsten Besuch klar: Die frau kontaktiert die freischaffende Hebamme, die Mut- Mutter hat den Zigarettenkonsum drastisch gesenkt, ter und Kind zu Hause betreuen soll, und gibt ihren das Neugeborene leidet an Entzugserscheinungen: da- Zweifeln Ausdruck, dass die junge Frau der neuen her das Weinen. Sicherheitshalber veranlasst sie einen Rolle gewachsen sei. Sie hal- Termin beim Kinderarzt. Die te nichts aus, rauche ständig Schwägerin ist bei den Tref- und kümmere sich kaum um fen nun nicht mehr dabei. Von der Mütterberatung erfährt die das Baby. Bei den ersten Maria Horvat taut merklich Besuchen der Hebamme ist Hebamme, dass eine Gefährdungs- auf, ist im Umgang mit ihrem die Schwester des Ehemanns meldung eingegangen ist. Baby aber sehr unsicher. als Übersetzerin anwesend. Die Hebamme zeigt ihr die Das Verhältnis zwischen den richtigen Handgriffe beim Schwägerinnen ist wenig vertraut. Maria Horvat wirkt Wickeln und erklärt ihr, wie sie auf die Weinkrämpfe blockiert, überfordert und einsam. Ihr Mann, der schon reagieren kann, ohne dem Säugling stets das Fläsch- länger in der Schweiz lebt, ist kaum zu Hause. Dafür chen zu geben. Sie machen gemeinsam einen Spazier- reist die Mutter der 22-Jährigen an – auch sie starke gang, für Maria Horvat eine neue Erfahrung. Schritt Raucherin – und übernimmt die Versorgung des Enkels. für Schritt gewinnt sie Sicherheit, Selbstvertrauen und Die Hebamme versucht, Maria Horvat zu überzeugen, Freude an ihrer Mutterrolle. Die Hebamme meldet ihre mit dem Rauchen aufzuhören. Über die Mütterberatung Beobachtungen regelmässig an die Mütterberatung zu- erfährt sie wenig später, dass bei der Gemeinde eine rück. Im Schlussbericht an die Fürsorgebehörde ein Gefährdungsmeldung eingegangen ist. Nachbarn haben Monat nach der Geburt kann sie eine überaus positive sich beschwert, dass der Säugling Tag und Nacht schreie. Entwicklung schildern. * alle Namen geändert
Wie die Ausbildung erfolgt später auch die Forschung an der Health University problemorientiert und in interprofessio- nell zusammengesetzten Teams.
16 ANGEWANDTES LERNEN IN DER VERSORGUNGSPRAXIS Lernen in der Praxis für die Praxis Von Santina Russo Am ZHAW-Departement Gesundheit müssen sich Phase in der Ausbildung», sagt auch Barbara Laube, angehende Physiotherapeutinnen und -therapeuten Leiterin der Praktika im Bachelorstudiengang Physio- schon während des Bachelorstudiums in mehrwöchi- therapie. Sie und ihr siebenköpfiges Team kümmern gen Praktika beweisen. So finden sie in die Rolle, sich jährlich um 600 Praktikumsplätze in 80 Akutspitä- die sie später im interprofessionellen Umfeld des lern, Pflegezentren und Rehabilitationskliniken in der Gesundheitswesens übernehmen werden. gesamten Deutschschweiz. Dieser Praxisbezug ist am Departement Gesundheit ein essenzieller Bestandteil Theoretisch wusste sie, was zu tun war. Livia Kunz der Ausbildung. Nach dem Prinzip der Health Uni kannte die medizinischen Grundlagen, die Untersu- versity sollen die Studierenden dabei nicht nur ihr chungstechniken, die Behandlungsmethoden. Diese Fachwissen vertiefen, sondern zugleich ihre Rolle als hatte sich die angehende Physiotherapeutin während Physiotherapeuten in einem interprofessionellen Ge- der ersten drei Semester ihres Studiums nicht nur aus sundheitsteam finden. Büchern, sondern auch im praktischen Unterricht mit ihren Studienkolleginnen und -kollegen am Departe- Möglichst rasch in die Selbständigkeit ment Gesundheit der ZHAW angeeignet. Paarweise Dazu stehen im Bachelorstudium während des vierten hatte man geübt, das Zusammenspiel von Knochen, und fünften Semesters jeweils drei 12-wöchige Prakti- Gelenken und Muskeln im ka in unterschiedlichen Insti- menschlichen Körper erkun- tutionen auf dem Programm. det. Dennoch war die damals Die Zuteilung der Prakti- «Erst bei der Untersuchung der 22-jährige Bachelorstuden- kumsplätze nehmen die Ver- tin vor ihrem ersten Prakti- Patienten merkt man, wie es antwortlichen der ZHAW vor. kum in der Universitätskli- sich anfühlt, wenn etwas nicht in Gewisse regionale Wünsche nik Balgrist «sehr nervös», Ordnung ist.» werden aber berücksichtigt. wie sie sagt. Kein Wunder: «Wir achten darauf, dass die Zum ersten Mal sollte sie Studierenden möglichst viele selbständig Patienten behandeln – eine grosse Verant- klinische Fachbereiche und ein breites Spektrum an Pa- wortung, mit der die junge Frau erst umzugehen ler- tienten kennenlernen», erklärt Barbara Laube. Dies ist nen musste. «Das erste Praktikum ist die kritische wichtig. Denn: «Erst bei der Untersuchung der Patienten
ANGEWANDTES LERNEN IN DER 17 VERSORGUNGSPRAXIS merkt man, wie es sich anfühlt, wenn etwas nicht in sich in Spitälern und Kliniken ebenfalls um die Patienten Ordnung ist», erzählt Studentin Livia Kunz. Beispiels- kümmern: die Ärzteschaft, Pflegefachpersonen und weise wenn ein Knie nur beschränkt beweglich ist.» In manchmal auch Ergotherapeuten. In diesem interpro- den Praktika sind die Studierenden zudem psycholo- fessionellen Umfeld lernen die angehenden Physiothera- gisch gefordert – besonders peuten bereits während der bei Patienten mit chroni- Ausbildung, mit anderen Be- schen Schmerzen. Die Auszu- rufsgruppen zusammenzuar- «Nach den Praktika kommen die bildenden sehen sich dann beiten. Zudem müssen sich Menschen gegenüber, die auf- Studierenden reifer und auch ernster die Studierenden an jedem grund ihrer Schmerzen er- an die Hochschule zurück.» Praktikumsplatz von neuem schöpft sind – manchmal so- in ein Team, ein Kommunika- gar depressiv; Menschen, die tionssystem und eine Unter- grosse Hoffnungen in ihre Therapeuten setzen und nehmenskultur einfügen. Diese Erfahrungen prägen. erwarten, dass diese sie heilen. «Dass man manchen Das sei sogar sichtbar, sagt Praktikumsleiterin Barbara aber nicht helfen kann, musste ich zuerst akzeptieren Laube: «Nach den Praktika kommen die Studierenden lernen», sagt Livia Kunz. reifer und auch ernster an die Hochschule zurück.» Und mit einem Selbstverständnis von sich als Physiothera- Realistische Berufsumgebung peutinnen und -therapeuten, das ihnen zuvor nicht eigen Unterstützung erhalten die angehenden Physiothera- war. Nicht zu unterschätzen ist überdies das Netzwerk, peuten während der Praktika von ihren Ausbildnern das sich die Studierenden durch die Praktika aufbauen: vor Ort. Sie lernen aber auch sehr schnell, selbständig Nicht wenige finden später eine Arbeitsstelle an einem zu arbeiten. Bereits ab der ersten Woche behandeln ihrer früheren Praktikumsplätze. Das erhofft sich auch die Praktikantinnen und Praktikanten Patienten ohne Livia Kunz – die Uniklinik Balgrist, wo sie bei Manuel permanente Begleitung, wie Manuel Bischofberger, Bischofberger ihr erstes Praktikum absolvierte, ist ihr Ausbildungsleiter an der Universitätsklinik Balgrist, zukünftiger Wunscharbeitsplatz. erzählt. Er selber tauscht sich wie alle Ausbildner re- gelmässig mit den ZHAW-Dozierenden im Team Prak- tikum aus und besucht einmal im Jahr einen Weiter bildungsanlass an der Fachhochschule. Rund zehn Prozent seiner Arbeitszeit sind für die Ausbildung der Studierenden reserviert. Im Praktikum erleben die Studierenden auch, was es bedeutet, unter stetem Zeitdruck zu stehen. «Eine knappe halbe Stunde Zeit haben Physiotherapeuten üblicherweise, um die Ursachen für ein Problem zu finden und eine geeignete Behandlungsstrategie zu ent- wickeln», sagt Bischofberger. Dies gilt auch für die Praktikanten. Deshalb müssen sie lernen, welche der Lernen in der Projektwerkstatt vielen Untersuchungs- und Behandlungstechniken, die sie im Unterricht kennengelernt haben, in der Praxis Der Bachelorstudiengang Ergotherapie führt seit zwei Jahren das Praxismodul «Projektwerkstatt: Betätigung ermöglichen» durch. am schnellsten zum Ziel führen. «Dieses sogenannte Studierende im dritten Semester setzen während acht Wochen Pro- Clinical Reasoning eignen sich die Studentinnen und jekte mit Klienten um, in denen es um die Betätigung als zentrales Studenten am besten in der Praxis an», so Ausbildner Element der Ergotherapie geht. Sie üben zum Beispiel mit Asylan- Manuel Bischofberger. tinnen das Fahrradfahren oder führen übergewichtige Kinder und Jugendliche in die elektronische Schatzsuche Geocaching ein. Pro Woche stehen den Studierenden eineinhalb Tage zur Verfügung, Selbstbewusstsein im Beruf um die Projekte zu planen und durchzuführen. Fachleute aus Die grösste Herausforderung aber stelle nicht die Be- Praxisinstitutionen und Dozierende der ZHAW beraten sie und handlung der Patienten an sich dar, sagt die Studentin leiten sie fachlich an. Nebst Kenntnissen im Projektmanagement gewinnen die Studierenden Erfahrungen im direkten Kontakt Livia Kunz, sondern das «Drumherum». Plötzlich sind da mit Klienten. Dabei üben sie, ihren Behandlungsansatz und ihre Schläuche, Katheter – viele Patienten haben nicht nur Therapieabsichten zu erklären und zu begründen. eine Diagnose, sondern mehrere gleichzeitig. Auf alles gilt es zu achten. So auch auf die anderen Fachleute, die
18 GESUNDHEITSFÖRDERUNG UND PRÄVENTION «Ohne Prävention wäre unsere Spezies längst ausgestorben» Von Rita Ziegler Health Universities sollen sich nicht nur mit kurativer Wenn der Vorsorgegedanke so tief in uns verankert ist, Medizin befassen, sondern auch der Gesundheits- sind wir dann nicht fähig, als Individuen eigenverant- vorsorge einen hohen Stellenwert einräumen. Da wortlich für unsere Gesundheit zu sorgen? rüber war man sich in den Diskussionen zum neuen Moderne Gesundheitsförderung und Prävention funk- Leitmodell Health University Mitte der 1970-Jahre tionieren in meinen Augen wie Konsumentenschutz: einig. Über 40 Jahre später startet in der Schweiz Das Individuum erhält die nötigen Informationen, um der erste Bachelorstudiengang in Gesundheits eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Und förderung und Prävention. es kann in einem Umfeld leben, das ihm hilft, gesund zu bleiben. Sauberes Wasser etwa ist heute selbstver- Tipps zur ergonomischen Arbeitshaltung von der Be- ständlich. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Frage, ob triebsphysiotherapeutin – Hinweise zu Kalorien und es in Basel eine Kanalisation braucht, aber umstritten. Nährstoffen auf der Verpackung des Mittagsmenüs – Genauso verhielt es sich noch vor wenigen Jahren mit Plakatwände, die den Neujahrsvorsatz wieder ins Ge- dem Rauchen in öffentlichen Räumen. Im Einzelfall dächtnis rufen: Gesundheits- müssen wir stets abwägen: förderung und Prävention Bis wohin reicht die indi sind in unterschiedlichsten «Gesundheit ist kein Gut, das man per viduelle Freiheit und wo Lebenswelten gegenwärtig. beginnt die gesamtgesell- Präventionsmediziner Tho- se über alles andere setzen sollte.» schaftliche Perspektive? Die mas Steffen sieht darin kein komplexe Gesellschaft, in grundsätzlich neues Phäno- der wir leben, fordert eine men. «Gesundheitsvorsorge ist ein urmenschliches gewisse Regulation. Diese sollen wir aber auch kritisch Verhalten», ist er überzeugt. Verhältnismässig jung sei hinterfragen. Dabei scheint mir ein Punkt entschei- allerdings die Professionalisierung des Themas. dend: Gesundheit ist kein Gut, das man per se über alles andere setzen sollte. Thomas Steffen, inwiefern hat der Steinzeitmensch Prävention betrieben? Weil etwas gesund ist, ist es nicht zwingend auch gut? Thomas Steffen: Schon der Neandertaler hat beim Genau. Gesundheit ist bloss die Grundlage dafür, dass Griff ins Feuer gemerkt, dass es weh tut, und dabei ge- wir Menschen uns entfalten und ein sinnvolles, befrie- lernt: Vor dem direkten Kontakt mit Feuer muss ich digendes Leben führen können. Sich zu kasteien, um mich schützen. Über die Sommermonate hat er Vorräte gesund zu bleiben, ist kontraproduktiv. Ich persönlich angelegt, um im Winter nicht an Nahrungsengpässen treibe zum Beispiel kaum Sport. Ich spaziere gerne zu leiden. Dieses vorsorgende Verhalten lässt sich auf und viel, aber sobald dies als Wandern bezeichnet alle möglichen Lebenssituationen und Epochen über- wird, löscht es mir ab. Gesundheitsförderung und Prä- tragen. Ohne Prävention wäre unsere Spezies längst vention soll uns Gesundheitsressourcen aufzeigen. Die ausgestorben. Das schnelle Lernen aus bedrohlichen Entscheidung, welche ich davon in meinen Rucksack Situationen hat uns über die Jahrtausende gerettet. Es packe, liegt jedoch bei mir. Wichtig ist, dass mich der ist eines der zeitlosen Grundmuster, das uns als Men- Rucksack auf meinem Weg unterstützt. Seine Last darf schen möglicherweise ausmacht. mich nicht erdrücken.
GESUNDHEITSFÖRDERUNG UND 19 PRÄVENTION Und doch geht mit dem Präventionsgedanken auch eine Verpflichtung einher: sich aktiv um Gesundheit zu bemühen. Wie gehen wir in Zukunft mit einem starken Raucher um, der mit Lungenkrebs im Spital liegt? Eine Entsolidarisierung – zum Beispiel in unserem Krankenkassensystem – wäre aus meiner Sicht der fal- sche Weg. Wenn ich in meiner Laufbahn als Präventiv- mediziner etwas gelernt habe, dann dass Freiheit und Selbstbestimmung relativ sind. Manchmal verleiten mich meine Lebensumstände zu einem Verhalten, das ich zwar als selbstbestimmt erlebe, das sich meinem freien Willen aber weitgehend entzieht. Das lässt sich etwa bei Süchtigen oder bei Menschen mit extremem Übergewicht beobachten. Deshalb ist es immens wich- tig, dass wir Bilder vermeiden, die zu einer gesell- schaftlichen Ausgrenzung führen. Wir können den Bo- gen auch überspannen. Wir können mit all unseren guten Absichten im schlechtesten Fall sogar neuen Thomas Steffen Schaden erzeugen. Thomas Steffen ist Facharzt FMH für Prävention und Gesund- heitswesen, Kantonsarzt und Leiter der Abteilung Präventiv- und Wie begegnen Sie dieser Gefahr? Sozialmedizin des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt. Er Im Kanton Basel-Stadt sprechen wir mit Jugendlichen wirkte als Beirat für den neuen Bachelorstudiengang Gesundheits- heute beispielsweise nicht mehr über Übergewicht, förderung und Prävention am ZHAW-Departement Gesundheit. sondern über Körperbilder. Denn Untergewicht kann genauso problematisch sein. Körperbilder können sich im Laufe der Zeit ändern. Wir möchten den Jugend lichen vermitteln, wie sie ihr Selbstvertrauen stärken und mit sich selbst zufrieden sein können. Es bringt nichts, fixe Bilder zu transportieren, die ein Teil von ih- nen sowieso nie erreichen wird. Es gibt diese Tendenz, Also gab es bereits im Industriezeitalter Präventions- Präventionsthemen mit Wertungen, Normen und Moral massnahmen für ausgewählte Zielgruppen. Dennoch zu verknüpfen – davor müssen wir uns in Acht nehmen. etablierte sich der Ansatz bei uns erst mit der Aids- Problematik der 1980 er-Jahre richtig. Weshalb? Woher kommt diese Moralisierungstendenz? Das ist nicht ganz korrekt. Anfang des 20 Jahrhunderts Ein Grund liegt vielleicht im 19. Jahrhundert, als die gab es im deutschsprachigen Raum bereits das Kon- Industriearbeiter kurz nach Zahltag jeweils ihr ganzes zept der Sozialhygiene, das viele moderne Elemente Geld vertranken. Das führte zur Verelendung der enthielt. Ziel war es, die sozialen Bedingungen zu ver- Familien, hatte aber auch ökonomische Folgen, weil an bessern, um damit die Gesundheit zu fördern. Im Zuge den darauffolgenden Tagen die Maschinen stillstanden. der Bewegung entstanden etwa Schulhausküchen und Die Industriebesitzer wollten dem Treiben ein Ende öffentliche Badeanstalten. Leider wurde die Bewegung setzen und griffen dazu auf die einzige etablierte später von der Nazi-Ideologie instrumentalisiert. Mit Struktur zurück: die Dorfpfarrer. Diese begannen, am Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Volksgesundheit Ende des Gottesdienstes Alkoholprävention zu betrei- zum Tabu, da sie sofort Assoziationen zur Rassenhygi- ben, wohl nicht ohne die Moralkeule zu schwingen. Das ene weckte. Die Santé Public in Frankreich und die muss relativ wirksam gewesen sein, führte mitunter Public Health im angelsächsischen Raum haben aus aber auch zu dieser Verbindung von Gesundheits den Ideen der Sozialhygiene gelernt und sich nach dem vorsorge und Moral, die tief in unser kollektives Be- Krieg Schritt für Schritt weiterentwickelt. Im deutsch- wusstsein eingedrungen ist. Ich merke das auf Parties: sprachigen Raum sind wir erst mit der Aids-Prävention Wenn ich sage, dass ich Präventivmediziner bin, begin- wieder in eine lineare Entwicklung eingestiegen. Die nen mir meine Gesprächspartner unaufgefordert zu Problematik spiegelt sich in den Begrifflichkeiten: Bis beteuern, wie wenig sie üblicherweise trinken. Dabei heute existiert keine adäquate deutsche Übersetzung interessiert mich das in jenen Momenten gar nicht. für Public Health.
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