Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015

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Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
N°11 MAI 2015

          BULLETIN
  DAS MAGAZIN DES ZHAW-DEPARTEMENTS GESUNDHEIT

                  THEMENHEFT

Health University
Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
INHALT

         Health University

 5       Bildung, Forschung und Versorgung zusammenführen

 8       Best Practice: Universität Linköping

         Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Ausbildung

10		     Über den Tellerrand des eigenen Berufs blicken

         Interprofessionelle Zusammenarbeit in der Praxis

13		     Teamwork im Dienste der Patienten

         Angewandtes Lernen in der Versorgungspraxis

16		     Lernen in der Praxis für die Praxis

         Gesundheitsförderung und Prävention

18		     «Ohne Prävention wäre unsere Spezies längst ausgestorben»

         Interdisziplinäre Forschung

22       Online-Hilfe bei schwierigen Entscheidungen

         Interprofessionelle Weiterbildung

24       Gemeinsam gegen Schmerz

25       Interprofessionelle Weiterbildungsangebote

         Agenda

26       Veranstaltungen und Publikationen

–
Titelbild: Umwelteinflüsse, gesellschaftliche Entwicklungen, individuelles Verhalten:
eine Vielzahl von Faktoren strapazieren unsere Gesundheit.

IMPRESSUM

Kontakt                                 Gestaltung                              Korrektorat                              Auflage
ZHAW Zürcher Hochschule                 Driven GmbH, Zürich                     Ingrid Essig, Winterthur                 5500
für Angewandte Wissenschaften           www.driven.ch
Departement Gesundheit                                                          Fotos                                    Erscheinungsweise
Technikumstrasse 71                     Druck                                   John Canciani (S. 3), Keiko Saile        2-mal jährlich
8401 Winterthur                         Ziegler Druck- und Verlags-AG,          (S. 11, 19, 20), Beat Glogger (S. 23),   Abonnieren Sie unseren
kommunikation.gesundheit@zhaw.ch        Winterthur                              Urs Siegenthaler (S. 25)                 E-Newsletter mit einem E-Mail an:
www.zhaw.ch /gesundheit                 www.zieglerdruck.ch                                                              kommunikation.gesundheit@ zhaw.ch
                                                                                Illustrationen                           ISSN 2296-1631
Konzeption und Redaktion                Lithografie                             Nadja Stohler, Dissoid AG
Kommunikationsstelle                    Mediafabrik AG, Zürich
Departement Gesundheit                  www.mediafabrik.ch
Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
EDITORIAL                                               3

Ein Leitmodell, um Herausforderungen
  im Gesundheitswesen anzupacken

Fast Food und Alkohol, Reizüberflutung und ständige Verfügbarkeit, Frankenstärke und Immo-
bilienblase, Verkehrsüberlastung und Umweltkatastrophen, Eheprobleme und Sorgenkinder –
die Liste liesse sich beliebig erweitern. Die Faktoren, die unsere physische und psychische
Gesundheit beeinflussen, sind zahllos. Gleichzeitig machen die demografischen, epidemiologi-
schen, ökonomischen und technologischen Entwicklungen unserer Zeit Versorgungsaufgaben
im Gesundheitsbereich zunehmend komplexer.

Um diesen multiplen Einflüssen und Anforderungen ganzheitlich zu begegnen, braucht es in-
tegrierte Versorgungsmodelle und eine starke Zusammenarbeit zwischen allen Gesundheits-
berufen. Nicht bloss in der klinischen Praxis, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung, in
der Forschung und Entwicklung. Hier sind wir als Fachhochschule gefordert.

Für eine Bildungsinstitution wie die unsrige bietet sich das Modell der Health University als
Kompass an. Wir möchten Ihnen die Idee in diesem «Bulletin» näherbringen, auf einzelne
typische Merkmale der Hochschulform genauer eingehen und sie mit der aktuellen Praxis an
unserem Departement verbinden. Vom 10. bis 11. September 2015 findet in unserem Haus
zudem eine Dreiländertagung Deutschland – Österreich – Schweiz zum selben Thema statt.
Wir würden uns freuen, Sie bei dieser Gelegenheit bei uns zu begrüssen, um das Modell der
Health University im Austausch mit Ihnen zu vertiefen.

                             Eine kurzweilige Lektüre wünscht

                                      Peter C. Meyer
                             Direktor Departement Gesundheit
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An der Health University lernen Studie-
rende verschiedener gesundheits­
relevanter Berufe unter einem Dach und
über die Disziplingrenzen hinweg.
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    Bildung, Forschung und
  Versorgung zusammenführen

                                             Von Claudia Hoffman

Um die Gesundheitsversorgung zu verbessern,              Gesundheitsförderung statt Reparaturmedizin
müssten die Fachleute verschiedener Richtungen          Die Universität Linköping gilt als Musterbeispiel einer
enger als bisher zusammenarbeiten – nicht erst im       sogenannten Health University (siehe Grafik Seite 8 – 9).
Beruf, sondern bereits in der Ausbildung. Einen         «Diese verstand sich bei ihrer Gründung als Gegenent-
vielversprechenden Ansatz dazu bietet das Modell        wurf zur klassischen Schulmedizin», sagt Beat Sottas,
der Health University, das auch am Departement          Soziologe und Co-Autor der Publikation «Health Uni-
Gesundheit als Vorbild dient.                           versities – Konzept, Relevanz und Best Practice», wel-
                                                        che die ZHAW im Jahr 2013 herausgegeben hat. Der
Wer sich an der Universität Linköping in Schweden für Grundgedanke dieses Typs von Bildungsinstitution ist
ein Studium im Bereich Gesundheit einschreibt, lernt nicht neu, sondern entwickelte sich bereits in den
anders als an den meisten anderen Hochschulen. Denn 1970 er-Jahren. «Damals begann sich die Erkenntnis
in Linköping wird nicht nur im jeweiligen Fach, son- durchzusetzen, dass die Medizin nicht mehr den Be-
dern über die Berufsgrenzen hinweg unterrichtet: Stu- dürfnissen der Menschen entsprach, insbesondere in
dierende so unterschiedlicher Fachrichtungen wie Me- den Industrienationen», sagt Sottas. Die Lebens­
dizin, Pflege, Ergo- und Physiotherapie, Logopädie und gewohnheiten änderten sich. Immer häufiger traten
medizinischer Biologie ler-                                                       Zivilisationskrankheiten wie
nen während der Ausbildung                                                        Diabetes oder Herz-Kreis-
immer wieder miteinander.
                                «Es hat sich gezeigt, dass ein Berufs- lauf-Leiden auf. Das belaste-
Sie bearbeiten gemeinsam                                                          te nicht nur die Menschen
Fallstudien, kümmern sich
                                stand   allein die  Probleme    der  moder-       selbst, sondern auch die
als gemischte Gruppe um ei- nen Gesellschaft nicht lösen kann.»                   Wirtschaft – und rief damit
nen Patienten und lösen Pro-                                                      die Organisation für wirt-
bleme anhand von konkreten                                                        schaftliche Zusammenarbeit
Beispielen. Und vor allem lernen sie, mit Fachleuten und Entwicklung (OECD) auf den Plan. Denn gemäss
aus den jeweils anderen Gesundheitsberufen zusam- deren Motto «Health = Wealth» ist eine gesunde Bevöl-
menzuarbeiten.                                          kerung die Grundlage für den Wohlstand eines Landes.
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Die OECD setzte sich dafür ein, anstelle der bisher erklärt Beat Sottas. Deshalb arbeitet eine Health Uni-
vorherrschenden «Reparaturmedizin» Gesundheits- versity eng mit allen im Gesundheitsbereich wichtigen
förderung und Prävention in den Fokus zu rücken. Aus- Akteuren der Region zusammen. Gleichzeitig versteht
serdem sollten verschiedene                                                       sie sich als Forschungsein-
Akteure im Gesundheitssys-                                                        richtung, die praxisrelevan-
tem wie Ärzte, Physiothera-                                                       te Projekte über Instituts-
                                 «Das Leitbild der Health University
peuten und Pflegepersonen                                                         und Berufsgrenzen hinweg
stärker zusammenarbeiten.
                                 ist heute noch genauso aktuell wie               bearbeitet. «Auch wenn die-
Denn: «Es hatte sich gezeigt, vor 30 Jahren.»                                     se Leitlinien bereits vor 30
dass ein Berufsstand allein                                                       Jahren entwickelt wurden,
die Probleme der modernen                                                         sind sie heute noch genauso
Gesellschaft nicht lösen kann», so Sottas. Doch die Um- aktuell wie damals», sagt Beat Sottas. Denn die struk-
setzung des neuen Konzepts für das Gesundheitswesen turellen Probleme im Gesundheitswesen bestehen nach
war schwierig. Es fehlte an bedarfsgerecht ausgebilde- wie vor, auch in der Schweiz. Das zeigt unter anderem
ten Fachleuten.                                         der vom Bundesrat verabschiedete Bericht «Gesund-
   Eine Lösung sah die OECD in den Health Universi- heit 2020», der die Prioritäten der Schweizer Gesund-
ties, von denen die ersten Ende der 1960 er-Jahre ent- heitspolitik für die nächsten Jahre festlegt. Der
standen waren, vor allem in schwach entwickelten Bericht bemängelt, dass sich die Leistungserbringer
Regionen. Dazu gehörten unter anderen die 1968 ge- untereinander nicht ausreichend abstimmten, was oft
gründete Universität Tromsø in Nordnorwegen, die zu Doppelspurigkeiten führe. Zudem stehe die Akutbe-
1969 gegründete Ben-Gurion University in Be’er Sheva handlung zu stark im Vordergrund. Zukünftig müsse
in der israelischen Negev-Wüste und die renommierte man sich mehr darauf konzentrieren, Krankheiten vor-
McMaster University in Kanada. Diese Institutionen zubeugen und chronisch kranke und alte Menschen zu
wurden mit dem Ziel aufgebaut, Fachleute auszu­bilden, begleiten und zu beraten. Für diese Aufgaben brauche
welche die medizinische Grundversorgung der Men- es qualifiziertes Fachpersonal – und eine entsprechende
schen sicherstellen und so die wirtschaftliche Entwick- Strategie für dessen Ausbildung.
lung in der Region fördern. Basierend auf den Erfah-
rungen dieser Pioniere definierten Experten an einer Departement Gesundheit: eine Health University?
OECD-Konferenz im Jahr 1975, welche Merkmale eine Das bestätigt auch Peter C. Meyer, Direktor des Depar-
Health University aufweisen sollte.                     tements Gesundheit der ZHAW. «Nur wenn wir die Ge-
                                                        sundheitsberufe besser vernetzen, lässt sich eine opti-
Auf die Bedürfnisse ausgerichtet                        male Versorgung der Bevölkerung gewährleisten»,
Zu den Kriterien gehört, dass alle Fachrichtungen zu sagt er. Welche Schritte dafür nötig wären, hat Meyer
gesundheitsrelevanten Fragen unter einem Dach ver- gemeinsam mit Beat Sottas und Thomas Bucher, dem
eint sind – und zwar nicht bloss Gesundheitsdisziplinen Leiter der Fachstelle Evaluation am Departement Ge-
im engeren Sinne wie Medizin oder Pflege, sondern sundheit, im «Winterthurer Manifest» formuliert (sie-
auch Berufe wie Städte- und Verkehrsplaner, Architek- he Box). Unter dem Motto «Gesundheitsversorgung
tinnen, Soziologinnen oder Ökonomen. Unter dem breit durch Bildung sichern» werden darin Elemente der
verstandenen Gesundheitsbegriff, der darin zum Aus- Health University aufgegriffen, die als Leitlinie
druck kommt, tragen auch                                                          für eine zukünftige Gesund-
sie zu Gesundheit und Wohl-                                                       heitsausbildung dienen kön-
ergehen der Bevölkerung bei.
                                 «Nur wenn wir die Gesundheitsberufe nen. Meyers Vision ist es,
Die Ausbildung an der Health                                                      das Department Gesundheit
University findet in und mit
                                 besser vernetzen, können wir eine                stärker in Richtung einer
der Praxis statt, wobei in optimale Versorgung gewährleisten.»                    Health University zu entwi-
professionsübergreifenden                                                         ckeln. «In einigen Bereichen
Lernmodulen       Studierende                                                     sind wir bereits auf gutem
aller Fachrichtungen gemeinsam unterrichtet werden. Weg», ist er überzeugt. Um die Ausbildung in der
Die hier vermittelten Lerninhalte orientieren sich Praxis zu verankern und regional auszurichten, arbei-
stark an den Bedürfnissen der Bevölkerung der je­ tet das Department Gesundheit schon heute eng mit
weiligen Region. «Nicht Spitzenmedizin, sondern die dem Kantonsspital Winterthur zusammen. Dort absol-
medizinische Grundversorgung hat oberste Priorität», vieren die Studierenden Praktika, die im Bachelor-
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studium eine wichtige Rolle spielen. Darüber hinaus         Gesundheit werden allerdings keine Mediziner ausge-
ist der Aufbau eines Ambulatoriums geplant, das vor-        bildet. Für Peter C. Meyer ist eine räumliche Einheit
aussichtlich in fünf Jahren eröffnet wird. Es wird zu       aber keine notwendige Voraussetzung für eine ver-
Ausbildungszwecken dienen und eng mit der hausärzt-         stärkte Zusammenarbeit. Es gehe auch nicht darum,
lichen Versorgung in Winterthur verbunden sein. «Auf        das Modell der Health University eins zu eins zu über-
diese Weise können unsere Studierenden ihre Ausbil-         nehmen. Ohnehin erfüllt von den Gesundheitsuniver­
dung verstärkt in der Praxis und mit reellen Patienten      sitäten, welche die ZHAW in ihrer Publikation unter-
absolvieren», sagt Meyer.                                   sucht hat, keine alle Kriterien gleichzeitig. Dies auch,
    Was die Ausbildung über Berufsgrenzen hinweg be-        weil in jeder Region andere Bedürfnisse vorherrschen.
trifft, so findet ein Teil davon bereits heute in gemein­   Während die ersten Health Universities in den abgele-
samen Lerneinheiten statt. Unter anderem besuchen           genen Regionen Norwegens und Israels aus einer Ver-
angehende Hebammen sowie Studierende der Ergo-              sorgungsnotlage heraus entstanden sind, präsentiert
und Physiotherapie sowie der Pflege gemeinsam Module        sich die Ausgangslage in der Schweiz völlig anders.
wie Gesundheitsförderung und Prävention, Wissen-            «Wir haben eine gute Gesundheitsversorgung», sagt
schaftskommunikation oder Herausfordernde Berufs-           Meyer. Die Idee sei daher nicht, dass das Departement
praxis und Kooperation. «Dadurch werden die Grenzen         Gesundheit für die gesamte Versorgung zuständig sein
zwischen den fachlich getrennten Studiengängen ein          sollte. Natürlich müssten Privatpraxen und unabhängi-
stückweit aufgebrochen und die Studierenden lernen,         ge Spitäler auch weiterhin bestehen bleiben. Meyer
zusammenzuarbeiten», sagt Departementsleiter Peter          geht es vor allem um eine stärkere Vernetzung über
C. Meyer. Für die Zukunft gibt es ausserdem Pläne, be-      die Berufsgrenzen hinweg: «Alle müssen an einem
stimmte Unterrichtseinheiten gemeinsam mit Medizin-         Strang ziehen.» Das Modell der Health University bie-
studierenden der Universität Zürich durchzuführen.          te sich dafür als Leitbild an, da es diese Idee schon in
                                                            der Ausbildung der künftigen Gesundheitsfachleute
Public Health im Fokus                                      kultiviere. Wie wichtig das ist, betont auch Beat Sottas:
Eine stärkere Ausrichtung auf Public Health und Vor-        «Wenn man nicht vom ersten Tag an lernt, miteinander
sorge strebt das Departement Gesundheit mit dem             zu reden, kann man es auch später im Beruf nicht.»
neuen Bachelorstudiengang «Gesundheitsförderung
und Prävention» an, der ab Herbst 2016 erstmals mit
60 Studienplätzen startet. Die Ausbildung wird zusam-
men mit den ZHAW-Departementen für Angewandte
Psychologie und Soziale Arbeit angeboten.
   In der Forschung und Entwicklung weist das Depar-
tement Gesundheit bereits heute Züge einer Health                     «Winterthurer Manifest» und
University auf. Dieser Bereich arbeitet zunehmend in-                      Dreiländertagung
terprofessionell und ist eng mit der Praxis verbunden.
Eine intensive Kooperation wird nicht nur in gemein­        Um die Versorgung der Bevölkerung zu verbessern, ist eine engere
                                                            Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Berufsgruppen im
samen Projekten der fünf Forschungsstellen im Haus
                                                            Gesundheitsbereich nötig. Doch wie können Hochschulen ihre
gepflegt, sondern darüber hinaus auch mit anderen           Absolventinnen und Absolventen besser auf die ihnen bevor­
Departementen der ZHAW. Ein Beispiel dafür ist ein          stehende Aufgabe vorbereiten? Mit dieser Frage werden sich
bereits abgeschlossenes Projekt der Forschungsstelle        Gesundheitsexperten aus Deutschland, Österreich und der
                                                            Schweiz an der Dreiländertagung «Health Universities: Bildung
Pflegewissenschaft: Ein Team untersuchte die Sprach-
                                                            und Versorgung zusammenführen» beschäftigen. Diese findet am
barrieren in der Spitex und kooperierte dazu mit            10. und 11. September 2015 am Department für Gesundheit der
Forschenden des Departements für Angewandte Lin-            ZHAW in Winterthur statt. Als Diskussionsgrundlage dient das
guistik. In einem aktuellen Projekt arbeiten die Pflege-    «Winterthurer Manifest», das von den drei Trägervereinen der
                                                            Tagung ausgearbeitet wurde: dem Verein Hochschulen für Gesund-
wissenschaftler mit dem Winterthurer Ärztenetzwerk
                                                            heit, dem Hochschulverbund Gesundheitsfachberufe und dem
Wintimed zusammen, um den Einsatz von Advanced              Verein zur Förderung der Wissenschaften in den Gesundheitsbe-
Practice Nurses (APN) in der Betreuung chronisch            rufen. Im Manifest sind konkrete Ziele für Hochschulen und Poli-
kranker Menschen zu prüfen.                                 tik festgehalten, unter anderem eine stärkere Verzahnung der
                                                            Ausbildungsorte, berufsübergreifendes Lernen und eine engere
   Und dennoch: Die Kriterien einer Health University
                                                            Vernetzung von Forschung und Praxis. Das gesamte Manifest
sind nicht in allen Bereichen erfüllt. Gemäss Definition    finden Sie unter: www.zhaw.ch /gesundheit /dreilaendertagung
der OECD müssten alle gesundheitsrelevanten Beru-
fe unter einem Dach vereint sein. Am Departement
Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
Gesundheitsrelevante Studiengänge vereint                  Interprofessionelles Lernen
Die Gesundheitsfakultät in Linköping bildet Studieren-     In den Grundausbildungen sind zwölf Wochen für das
de in folgenden Bereichen aus: Medizin, Pflege, Ergothe-   Lernen über die Disziplingrenzen hinweg reserviert –
rapie, Physiotherapie, Logopädie, medizinische Biologie,   gegliedert in drei Module. Zuerst entwickeln die Stu-
biomedizinische Analytik, Biomedizin, Ergotherapie,        dierenden eine gemeinsame Wertebasis. Im zweiten
Public Health, Hebammenkunde und Medical Educa-            Modul finden sie ihre berufliche Identität und erwer-
tion. Zudem bietet sie Weiterbildungen wie Primär­         ben zugleich komplementäre Kompetenzen, indem sie
versorgung durch Pflegende an. In der Idealvorstellung     üben, mit anderen Berufsgruppen zu kommunizieren.
wären an einer Health University viele weitere Diszipli-   Gegen Ende der Ausbildung sind sie zwei Wochen auf
nen angesiedelt, die irgendwie das Wohlergehen der         einer Bettenstation des Universitätsspitals, wo sie in
Menschen beeinflussen: von den Ernährungswissen-           gemischten Teams Patienten versorgen. Fachpersonen
schaften bis zur Städte- und Verkehrsplanung.              verschiedener Berufsrichtungen leiten sie dabei an.
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Die Idee der Health University basiert
                                                                auf vier Säulen (siehe unten). Die Ge-
                                                                sundheitsfakultät im südschwedischen
                                                                Linköping wird seit Herbst 1986 nach
                                                                diesen Prinzipien geführt. Heute sind
                                                                dort rund 27 000 Studierende einge-
                                                                schrieben.

Problemorientiertes Lernen                                In der Praxis für die Region
Studierende lernen in Lernkontexten und in Interakti-     Dadurch, dass ein beträchtlicher Teil der Ausbildung
on mit Mitstudierenden des eigenen Fachs und anderer      in Linköping praxisorientiert auf speziellen Abteil­
Studienrichtungen. Die Hauptverantwortung für den         ungen stattfindet, erhält das Studium schon zu einem
Lernprozess liegt dabei bei ihnen selbst. Die konkreten   frühen Zeitpunkt hohe praktische Bedeutung und
Lernmethoden und die Curricula wurden deshalb im-         bleibt kein theoretischer Vorgang. Umgekehrt wird die
mer wieder evaluiert, unter Einbezug von Studieren-       Health University das medizinische Versorgungszent-
den und Fakultätsmitgliedern kritisch diskutiert und      rum für die Menschen in der Region. Sie setzt so das
basierend auf den neusten Erkenntnissen kontinuier-       Model der integrierten, interprofessionellen Versor-
lich weiterentwickelt. Genauso wie die Ausbildung er-     gung in die Praxis um und übernimmt damit die Ver-
folgt später auch die Forschung problemorientiert und     antwortung für die Grundversorgung im Gesundheits-
in interprofessionell zusammengesetzten Teams.            system einer bestimmten Region.
Health University - BULLETIN N 11 MAI 2015
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                                          IN DER AUSBILDUNG

            Über den Tellerrand des
            eigenen Berufs blicken

                                                Von Rita Ziegler

Eine schwierige Patientensituation, eine verzweifelte    und ist Schauspieler, die beiden jungen Frauen studie-
Ehefrau und unterschiedliche Einschätzungen zu           ren am Departement Gesundheit. Sie haben sich für
Krankheitsverlauf und Behandlungszielen: In einem        den Kurs «Krise & Coping» eingeschrieben. In Impro-
interprofessionellen Modul bereiten sich angehende       visationsübungen mit Schauspielern reflektieren sie
Hebammen, Pflegefachleute, Ergo- und Physiothera-        an diesem Nachmittag, wie sie sich in herausfordern-
peuten am Departement Gesundheit auf die gemein-         den Berufssituationen verhalten, und erproben mögli-
same Arbeit im Praxisalltag vor.                         che Vorgehensweisen. Ihre Mitstudierenden sitzen im
                                                         Halbkreis um die Szene herum, beobachten, kommen-
Richard Aschwanden ist ausser sich: «Ich will jetzt tieren, geben Hinweise und bieten Handlungsalterna-
endlich diesen Chirurgen sehen, sonst gehe ich an die tiven an, wenn die beiden Frauen vor dem Patienten-
Medien. Meine Zukunft ist ruiniert.» Vor seinem Spital- bett nicht mehr weiter wissen. «Setz dich doch einmal
bett stehen zwei junge Frauen, eine Pflegefachfrau und hin und gib Herrn Aschwanden drei Minuten Zeit, sei-
eine Physiotherapeutin. Eigentlich sind sie gekommen, nen Frust rauszulassen, ohne dass du ihn zu beschwich-
um den jungen Spitzensportler, der nach einer schwe- tigen versuchst oder dich rechtfertigst», schlägt
ren Knieverletzung operiert wurde, zu mobilisieren. jemand aus der Runde vor. Einatmen, ausatmen.
Stattdessen lassen sie nun seine Schimpftiraden über Nächster Versuch.
sich ergehen. «Jetzt werden mir wieder zwei Anfänge-        Zu wissen, dass in den Spitalbetten an diesem Nach-
rinnen geschickt. Haben Sie überhaupt eine Ahnung mittag bloss Schauspieler liegen, sieht Katharina
von dem, was Sie hier ma-                                                           Rüdisüli, Studentin im Ba-
chen? Wahrscheinlich ver-                                                           chelorstudiengang Pflege, als
stehen Sie mich gar nicht.                                                          Chance: «Ich kann verschie-
                                «Wir möchten bei den Studierenden
Arbeiten ja kaum Schweizer                                                          dene Handlungen ausprobie-
hier im Haus.» Das geduldi-
                                das   Interesse    an den anderen    Berufs-        ren und die Reaktionen dar-
ge Zureden von Seiten der gruppen wecken und sie auf die                            auf beobachten, ohne dass ich
Frauen hilft nichts. Für Herr spätere Zusammenarbeit vorbereiten.»                  dabei etwas riskiere.» Gleich-
Aschwanden steht fest: Der                                                          zeitig erfährt die 22-Jährige,
Chirurg hat gepfuscht, das                                                          wie ihre Kolleginnen und
Therapieteam ist inkompetent, die Pflege liegt unter Kollegen aus den Studiengängen Hebamme, Physio­
dem Standard. Die Physiotherapeutin wirft ihrer Kolle- therapie und Ergotherapie die inszenierten Situationen
gin aus der Pflege einen hilfesuchenden Blick zu und beurteilen und wo sie anders handeln würden.
murmelt: «Warst du schon in einer ähnlichen Lage? Wie       Diesen Blick über den Tellerrand des eigenen Be-
findet man Zugang zu so jemandem?»                       rufs zu fördern, ist Ziel des vierwöchigen Moduls
                                                         «Herausfordernde Berufspraxis und Kooperation»,
Try and error                                            das sämtliche Studierenden am Departement Gesund-
Es ist eine vertrackte Situation, wie sie im klinischen heit im fünften Semester besuchen. Sie können sich
Alltag vorkommt. Einziger Unterschied: Richard wahlweise in drei von vier Themen vertiefen: Bera-
Aschwanden heisst im richtigen Leben Urs Humbel tung, interprofessionelle Zusammenarbeit, Diversity
INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT                                                        11
                                              IN DER AUSBILDUNG

In Improvisationsübungen mit Schauspielern reflektieren die Studierenden, wie sie sich in herausfordernden Berufssituationen
verhalten können.
–

Management oder eben Krise & Coping. In den Kur-                  Geschichten, die unter die Haut gehen
sen arbeiten die angehenden Ergo- und Physiothera-                In den Fallbeispielen, mit denen sich die Studierenden
peuten, Pflegefachleute und Hebammen gemeinsam                    auseinandersetzen, geht es ans Eingemachte – und die
an Fallbeispielen und Fragestellungen, in die mehrere             Situationen sind keineswegs immer gespielt. Da ist bei-
Berufsgruppen involviert sind. «Damit möchten wir                 spielsweise Franca Weibel, die in einer Podiumsdiskus-
bei den Studierenden das Interesse an den anderen                 sion von ihrer 36-jährigen Tochter erzählt. Mit 17 er-
Berufsgruppen wecken und sie auf die spätere Zu-                  hielt diese die Diagnose Schizophrenie, brachte in den
sammenarbeit vorbereiten», erklärt die Modulverant-               folgenden Jahren zahlreiche Klinikaufenthalte hinter
wortliche Stephanie Rösner. «Sie sollen lernen, beruf-            sich und versuchte Ende 2014 zum wiederholten Mal,
liche Schnittstellen sinnvoll zu gestalten.»                      sich das Leben zu nehmen. Die Mutter schildert ihre
   Die Arbeit mit den praxisnahen Beispielen findet               Verzweiflung, berichtet von Konflikten mit Ärzten und
Anklang. «Die Kurswochen sind das Beste, was ich in               Therapeuten oder von Missverständnissen mit dem
der interprofessionellen Lehre bisher besucht habe»,              Pflegepersonal. Sie erwähnt aber auch, was ihr in den
sagt Physiotherapiestudentin Ramona Schoch. «Es ist               Krisen geholfen hat, dass sie über all die Jahre robuster
spannend zu sehen, wie die anderen Berufsleute an ein             geworden sei und gelernt habe, die eigenen Bedürfnis-
Problem herangehen, wer welche Fragen stellt und                  se nicht zu vergessen. Zu Beginn der Veranstaltung
wessen Prioritäten wo liegen.» Hebammenstudentin                  tippt da und dort noch jemand auf seinem Handy herum.
Stephanie Sprenger schätzt die Gelegenheiten, um                  Nach dreissig Minuten sind die Nebengeräusche ver-
über Berufsklischees nachzudenken: «Denn sie können               stummt, kaum ein Räuspern ist zu vernehmen. Die
eine erfolgreiche Zusammenarbeit stark behindern.»                Geschichten, die Franca Weibel und ihre Diskussions­
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                                           IN DER AUSBILDUNG

partner erzählen, lassen niemanden im Saal unberührt.       Berufskulturen und Charaktere aufeinander.» Die Kurs-
Podiumsdiskussionen, Übungen, Workshops mit exter-          teilnehmer sind mitten im Thema: Diversity Manage-
nen Gästen und Präsentationen: Das Programm und             ment steht auf dem Programm.
die Unterrichtsformen sind vielseitig, «personell und           Gesundheitsfachleute sind ständig mit Menschen
organisatorisch aber auch sehr aufwändig», betont           aus anderen Kulturkreisen und mit unterschiedlichen
Stephanie Rösner. Welchen Stellenwert die interprofes-      Wertvorstellungen in Kontakt – seien es nun Patienten,
sionelle Zusammenarbeit in der Praxis hat, erfahren         Angehörige oder Arbeitskollegen. Sie müssen gemein-
die Studierenden in Institutionen, die sie in Gruppen       sam zur jeweils bestmöglichen Lösung für den Patien-
besuchen – darunter eine Rehaklinik, ein Wohnhaus, ein      ten kommen und dies oft blitzschnell – gerade wenn
Kinderspital und eine Geburtsabteilung.                     es um Leben und Tod geht. Samuel van den Bergh,
   Die zukünftigen Hebammen, Pflegefachleute, Physio-       Professor für interkulturelles Management, ist es des-
und Ergotherapeuten entdecken so bereits im Studium         halb ein Anliegen, dass die Studierenden während sei-
Unterschiede und Gemeinsamkeiten der verschiede-            ner Kurswoche das Bewusstsein für die eigenen Ver-
nen Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Sie können           haltensmuster und Werte schärfen. Denn dies ist die
Selbst- und Fremdbilder gegeneinander abwägen und           Voraussetzung, um die Perspektive zu wechseln und
abgleichen. «Dadurch festigen sie einerseits ihre Be-       sich in die Rolle anderer hineinzuversetzen – zum Bei-
rufsidentität und erkennen andererseits, was eine gute      spiel in diejenige von Richard Aschwanden, der seine
interprofessionelle Zusammenarbeit möglich macht»,          Zukunftsvision als Spitzensportler zerrinnen sieht und
sagt Stephanie Rösner. «Indem sie sich mit anderen Be-      darauf mit Aggressionen reagiert.
rufsgruppen auseinandersetzen, lernen sie, ihre eigene
berufsspezifische Weltsicht genau zu beschreiben, zu
reflektieren und sie zu erweitern.»

Nach welchen Regeln spielen wir?                                         Interprofessionelle Lehre
Zwei Wochen später. Montagmorgen. Die Studierenden
üben in Vierergruppen ein Kartenspiel ein. Auf die Ein-     Nebst dem berufsspezifischen Unterricht besuchen die angehen-
                                                            den Hebammen, Pflegefachleute, Physio- und Ergotherapeutinnen
wärmphase folgt ein Wettkampf, während dem sich die         und -therapeuten am Departement Gesundheit interprofessionelle
Gruppen immer wieder neu mischen. Die Zusatzregel:          Module, in denen sie von-, mit- und übereinander lernen. Die
Es darf nicht mehr gesprochen werden. Die ersten Mi-        Studierenden eignen sich einerseits Kompetenzen an, die für die
nuten geht alles gut. Dann schüttelt ein junger Mann        Ausübung aller Gesundheitsberufe gleichermassen notwendig
                                                            sind, zum Beispiel mit Forschungsliteratur umzugehen oder
mitten im Raum plötzlich vehement den Kopf und weist        situationsgerecht zu kommunizieren. Andererseits lernen sie, über
genervt auf die Karte, die er eben gespielt hat. Sein Ge-   die Berufsgrenzen hinauszudenken und mit den anderen Berufs-
genüber zuckt mit den Schultern und hebt beschwichti-       gruppen zielführend zusammenzuarbeiten.
gend die Hände. Auch am übernächsten Tisch herrscht
Verwirrung. Eine Spielerin nutzt das unsichere Kichern
ihres Gegenübers aus, um den Stich selbstgewiss auf
ihren Haufen zu legen. Obwohl nach wie vor nicht ge-                        Winter School am
sprochen werden darf, schwillt die Geräuschkulisse an.                   Departement Gesundheit
Nach zehn Minuten bricht Dozent Samuel van den Bergh
den Wettkampf schmunzelnd ab. Einige Teilnehmerin-          Die Themenwochen des Moduls «Herausfordernde Berufspraxis
                                                            und Kooperation» sind Kernstück der Winter School der Departe-
nen haben inzwischen Verdacht geschöpft. «Wir haben
                                                            mente Gesundheit und Soziale Arbeit. Bachelorstudierende und
unterschiedliche Spielregeln erhalten», ruft jemand in      Dozierende der ZHAW sowie von Partnerhochschulen aus dem In-
den Saal. Nun fällt auch bei den Letzten der Groschen:      und Ausland erhalten die Gelegenheit, gemeinsam über Chancen
daher die Missverständnisse. In der Diskussion, die nun     und Hürden, über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der
                                                            berufsübergreifenden Zusammenarbeit zu diskutieren. Gleichzei-
folgt, sollen die Studierenden das Erlebte auf die He­
                                                            tig üben sie sich darin, mit herausfordernden interprofessionellen
rausforderungen in den Gesundheitsberufen ummün-            Situationen souverän umzugehen. Die Winter School findet jährlich
zen. Analogien finden sich schnell: Eine angehende          im Januar statt und richtet sich an Studierende und Dozierende
Hebamme erzählt von Missverständnissen, die sie im          der Studienrichtungen Ergotherapie, Hebamme, Pflege, Physio­
                                                            therapie und Soziale Arbeit. An der ersten Durchführung 2015 nah-
Kontakt mit Frauen aus anderen Kulturkreisen erlebte.
                                                            men über 75 Studierende und 18 Dozierende aus 11 verschiedenen
Eine Kollegin ergänzt: «Situationen wie eben hatte ich      Ländern teil. www.zhaw.ch /gesundheit / international
im letzten Praktikum, etwa in der Zusammenarbeit mit
Ärzten. Da stossen manchmal ziemlich verschiedene
INTERPROFESSIONELLE ZUSAMMENARBEIT                                            13
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                Teamwork im Dienste
                   der Patienten
                                        Aufgezeichnet von Rita Ziegler

Das Konzept der Health University sieht vor, dass         Handlungen wieder zu planen, auszuführen und zu kon-
sich Studierende in unterschiedlichen Gesundheits-        trollieren. Dabei motivieren ihn alltägliche Arbeitsab-
berufen bereits während der Ausbildung in der Zu-         läufe – etwa das Ausräumen der Abwaschmaschine –,
sammenarbeit üben. Sie wappnen sich damit für die         bei denen er seine Fortschritte beobachten kann. Nach
klinische Praxis. Doch wo liegen die Schnittstellen       wie vor Mühe bereiten ihm das Rechnen und das Spre-
im praktischen Alltag? Drei Fallbeispiele aus unter-      chen. Wieder und wieder sucht er in der Logopädie nach
schiedlichen Blickwinkeln.                                dem passenden Wort.
                                                             Etwas später beginnt die orthopädische und hand-
Fall 1: Schritt für Schritt zurück in den Alltag –        chirurgische Rehabilitation. Ein Fachgremium küm-
Behandlungsprozess in der Rehaklinik Bellikon             mert sich um die Unfallfolgen am Bewegungsapparat.
Spätabends im Mai. Frontalkollision auf der Axen­ Für Beat Gerber bedeutet dies: raus aus dem Rollstuhl
strasse. Töfffahrer Beat Gerber  * ist schwer verletzt und aufrecht gehen. Ein ambitiöses Ziel, das eine kom-
und nicht ansprechbar. Minuten später ist die Ambu- plexe Prothese voraussetzt und damit Know-how,
lanz vor Ort und bringt den 22-Jährigen ins Univer­ Erfahrung und handwerkliches Geschick bei den Ortho-
sitätsspital Zürich. Auf der Unfallchirurgie werden pädietechnikern. Und trotzdem: Das neue Bein will
seine Verletzungen behandelt. Es folgt ein Aufenthalt nicht auf Anhieb passen, gross ist die Enttäuschung.
auf der Intensiv- und später auf der Bettenstation. Das Gesprächs- und Musiktherapie helfen Beat Gerber, in-
linke Bein muss amputiert werden, der rechte Arm ist nerlich wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und
gelähmt. Vom Schädel-Hirn-Trauma erholt er sich nur dann kommt irgendwann auch das ersehnte Erfolgs­
langsam.                                                  erlebnis: Mit einem computergesteuerten Kniegelenk,
   Nach sechs Wochen ist der junge Mann medizinisch jeder Menge technischer Feinabstimmung und viel
so stabil, dass er in die Rehaklinik Bellikon überführt Ausdauer beim Üben kann der junge Mann endlich
werden kann. Hier liegt er vorerst auf der Intermediate wieder gehen – und ein gutes Jahr nach seinem Unfall
Care Station, wo die medizinische Pflege nahtlos weiter- sogar wieder Autofahren.
geführt wird. Nach Diagnose und Eintrittsbefund legt         Inzwischen hat auch die arbeitsorientierte Rehabili-
ein interdisziplinäres Team aus Ärzten, Therapeuten, tation begonnen, die den jungen Mann mit berufsbezo-
Psychosomatikspezialisten und Pflegfachpersonen ge- genem Training fit fürs Erwerbsleben machen soll. In
meinsam die Massnahmen                                                              Gesprächen mit dem Fach-
für die neurologische Früh­                                                         mann für berufliche Einglie-
rehabilitation fest. Anhand                                                         derung und mithilfe prakti-
                                  Ein Team aus Ärzten, Therapeuten,
international etablierter In­                                                       scher Tests findet er heraus,
strumente messen sie, ob die
                                  Psychosomatikspezialisten und                     welche neuen Stellen für ihn
definierten Ziele erreicht wer- Pflegfachpersonen legt die Mass­                    in Frage kommen. Begleitet
den. In der Physiotherapie        nahmen     für  die neurologische     Früh­       und beraten wird er in die-
lernt Beat Gerber, sich wie- rehabilitation fest.                                   sem Prozess von einem Case
der selbständig fortzubewe-                                                         Manager der Unfallversiche-
gen – vorerst im Rollstuhl.                                                         rung. Beat Gerber gewinnt
Parallel dazu steigert er in der medizinischen Trainings- mehr und mehr Sicherheit, beginnt nun auch, sich zu
therapie seine körperliche Leistungsfähigkeit. In der bewerben, und wird bald schon für ein erstes Vorstel-
Ergotherapie fordert er sein Hirn heraus und trainiert, lungsgespräch eingeladen.
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                                          IN DER AUSBILDUNG

Fall 2: Ressourcen stärken und im Alltag nutzen –        Mina Suter eine Betätigungsanalyse durch, um ihre
Ergotherapie in der Integrierten Psychiatrie             Hauptschwierigkeiten im Alltag zu erkennen. Ihre Dia-
Winterthur – Zürcher Unterland                           gnose hält sie wiederum im KIS fest: Die Seniorin zeigt
Die 70-jährige Mina Suter  * leidet an einer schweren ein eingeschränktes Sozialverhalten und mangelndes
Depression. Der Alltag zu Hause überfordert sie, wes- Selbstwertgefühl, was sie hindert, ihre Ressourcen zu
halb ihr Hausarzt sie an die Integrierte Psychiatrie nutzen. Gemeinsam mit der Patientin ermittelt die Er-
Winterthur überweist. Dort analysiert das zuständige gotherapeutin deren Interessen und sucht nach Mög-
Kernteam – die für den Fall                                                       lichkeiten, diese in einem
verantwortliche Ärztin und                                                        Gruppensetting auszuleben.
die Bezugsperson Pflege –                                                         So lernt Mina Sutter, ihre Fä-
                                 Über das Klinikinformationssystem
die Situation und legt mit der                                                    higkeiten zu erkennen, zu
Patientin übergeordnete Be-
                                 sind Ziele und Massnahmen für alle               nutzen und kleine Erfolge
handlungsziele fest. Die dar- Fachpersonen zugänglich.                            zu feiern. Zugleich kann sie
aus abgeleiteten Ziele und                                                        an ihrem Sozialverhalten ar­
Massnahmen der Pflege, der                                                        beiten. Ihre Beobachtungen
Psycho-, Bewegungs- und Physiotherapie sowie des bringt die Ergotherapeutin nach knapp einer Woche in
Sozialdienstes werden im elektronischen Klinikinfor- den ersten interdisziplinären Rapport ein, zu dem sich
mationssystem (KIS) dokumentiert und sind so für alle alle beteiligten Fachpersonen treffen. Gemeinsam
beteiligten Fachleute zugänglich. Mit einer ärztlichen überprüfen sie den Behandlungsverlauf und passen
Verordnung über das KIS beginnt der Fall auch für die Massnahmen an. Zwei Wochen nach Eintritt folgt eine
Ergotherapeutin. Ihr Auftrag lautet, die Ressourcen ausführliche Fallbesprechung, in der die verschiedenen
der Betroffenen zu stärken. Die Sozialkompetenz zu Disziplinen auch Mina Suters Austritt koordinieren. In
verbessern und eine Tagesstruktur aufzubauen, sind der abschliessenden Beurteilung des Falls wird die Be-
weitere interdisziplinäre Ziele, die es anzupacken gilt. handlung von jeder involvierten Fachperson evaluiert
In einem ersten Schritt führt die Ergotherapeutin mit und für den Hausarzt dokumentiert.

Fall 3: Schwieriger Start ins Mutterdasein –             Um ein aufwändiges Verfahren zu vermeiden, bittet die
Hebammenbetreuung im Wochenbett                          Fürsorgebehörde die Hebamme, mit der Betreuung
Maria Horvat  * wird aus dem Spital entlassen. Vier Tage über die regulären zehn Tage hinaus fortzufahren und
nach der Entbindung und ein Monat, nachdem sie zu ih- dabei zu prüfen, ob das Baby vernachlässigt werde. Für
rem Mann in die Schweiz gezogen ist. Eine Pflegefach- die Hebamme wird beim nächsten Besuch klar: Die
frau kontaktiert die freischaffende Hebamme, die Mut- Mutter hat den Zigarettenkonsum drastisch gesenkt,
ter und Kind zu Hause betreuen soll, und gibt ihren das Neugeborene leidet an Entzugserscheinungen: da-
Zweifeln Ausdruck, dass die junge Frau der neuen her das Weinen. Sicherheitshalber veranlasst sie einen
Rolle gewachsen sei. Sie hal-                                                     Termin beim Kinderarzt. Die
te nichts aus, rauche ständig                                                     Schwägerin ist bei den Tref-
und kümmere sich kaum um                                                          fen nun nicht mehr dabei.
                                 Von der Mütterberatung erfährt die
das Baby. Bei den ersten                                                          Maria Horvat taut merklich
Besuchen der Hebamme ist
                                 Hebamme, dass eine Gefährdungs-                  auf, ist im Umgang mit ihrem
die Schwester des Ehemanns meldung eingegangen ist.                               Baby aber sehr unsicher.
als Übersetzerin anwesend.                                                        Die Hebamme zeigt ihr die
Das Verhältnis zwischen den                                                       richtigen Handgriffe beim
Schwägerinnen ist wenig vertraut. Maria Horvat wirkt Wickeln und erklärt ihr, wie sie auf die Weinkrämpfe
blockiert, überfordert und einsam. Ihr Mann, der schon reagieren kann, ohne dem Säugling stets das Fläsch-
länger in der Schweiz lebt, ist kaum zu Hause. Dafür chen zu geben. Sie machen gemeinsam einen Spazier-
reist die Mutter der 22-Jährigen an – auch sie starke gang, für Maria Horvat eine neue Erfahrung. Schritt
Raucherin – und übernimmt die Versorgung des Enkels. für Schritt gewinnt sie Sicherheit, Selbstvertrauen und
Die Hebamme versucht, Maria Horvat zu überzeugen, Freude an ihrer Mutterrolle. Die Hebamme meldet ihre
mit dem Rauchen aufzuhören. Über die Mütterberatung Beobachtungen regelmässig an die Mütterberatung zu-
erfährt sie wenig später, dass bei der Gemeinde eine rück. Im Schlussbericht an die Fürsorgebehörde ein
Gefährdungsmeldung eingegangen ist. Nachbarn haben Monat nach der Geburt kann sie eine überaus positive
sich beschwert, dass der Säugling Tag und Nacht schreie. Entwicklung schildern.              *  alle Namen geändert
Wie die Ausbildung erfolgt später auch
die Forschung an der Health University
problemorientiert und in interprofessio-
nell zusammengesetzten Teams.
16                                    ANGEWANDTES LERNEN IN DER
                                         VERSORGUNGSPRAXIS

                  Lernen in der Praxis
                     für die Praxis

                                             Von Santina Russo

Am ZHAW-Departement Gesundheit müssen sich             Phase in der Ausbildung», sagt auch Barbara Laube,
angehende Physiotherapeutinnen und -therapeuten        Leiterin der Praktika im Bachelorstudiengang Physio-
schon während des Bachelorstudiums in mehrwöchi-       therapie. Sie und ihr sieben­köpfiges Team kümmern
gen Praktika beweisen. So finden sie in die Rolle,     sich jährlich um 600 Praktikumsplätze in 80 Akutspitä-
die sie später im inter­professionellen Umfeld des     lern, Pflegezentren und Rehabilitationskliniken in der
Gesundheitswesens übernehmen werden.                   gesamten Deutschschweiz. Dieser Praxisbezug ist am
                                                       Departement Gesundheit ein essenzieller Bestandteil
Theoretisch wusste sie, was zu tun war. Livia Kunz     der Ausbildung. Nach dem Prinzip der Health Uni­
kannte die medizinischen Grundlagen, die Untersu-      versity sollen die Studierenden dabei nicht nur ihr
chungstechniken, die Behandlungsmethoden. Diese        Fachwissen vertiefen, sondern zugleich ihre Rolle als
hatte sich die angehende Physiotherapeutin während     Physiotherapeuten in einem interprofessionellen Ge-
der ersten drei Semester ihres Studiums nicht nur aus  sundheitsteam finden.
Büchern, sondern auch im praktischen Unterricht mit
ihren Studienkolleginnen und -kollegen am Departe- Möglichst rasch in die Selbständigkeit
ment Gesundheit der ZHAW angeeignet. Paarweise Dazu stehen im Bachelorstudium während des vierten
hatte man geübt, das Zusammenspiel von Knochen, und fünften Semesters jeweils drei 12-wöchige Prakti-
Gelenken und Muskeln im                                                        ka in unterschiedlichen Insti-
menschlichen Körper erkun-                                                     tutionen auf dem Programm.
det. Dennoch war die damals                                                    Die Zuteilung der Prakti-
                               «Erst bei der Untersuchung der
22-jährige Bachelorstuden-                                                     kumsplätze nehmen die Ver-
tin vor ihrem ersten Prakti-
                               Patienten merkt man, wie es                     antwortlichen der ZHAW vor.
kum in der Universitätskli-    sich  anfühlt,  wenn   etwas   nicht  in        Gewisse regionale Wünsche
nik Balgrist «sehr nervös», Ordnung ist.»                                      werden aber berücksichtigt.
wie sie sagt. Kein Wunder:                                                     «Wir achten darauf, dass die
Zum ersten Mal sollte sie                                                      Studierenden möglichst viele
selbständig Patienten behandeln – eine grosse Verant- klinische Fachbereiche und ein breites Spektrum an Pa-
wortung, mit der die junge Frau erst umzugehen ler- tienten kennenlernen», erklärt Barbara Laube. Dies ist
nen musste. «Das erste Praktikum ist die kritische wichtig. Denn: «Erst bei der Untersuchung der Patienten
ANGEWANDTES LERNEN IN DER                                                       17
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merkt man, wie es sich anfühlt, wenn etwas nicht in sich in Spitälern und Kliniken ebenfalls um die Patienten
Ordnung ist», erzählt Studentin Livia Kunz. Beispiels- kümmern: die Ärzteschaft, Pflegefachpersonen und
weise wenn ein Knie nur beschränkt beweglich ist.» In manchmal auch Ergotherapeuten. In diesem interpro-
den Praktika sind die Studierenden zudem psycholo- fessionellen Umfeld lernen die angehenden Physiothera-
gisch gefordert – besonders                                                           peuten bereits während der
bei Patienten mit chroni-                                                             Ausbildung, mit anderen Be-
schen Schmerzen. Die Auszu-                                                           rufsgruppen zusammenzuar-
                                «Nach den Praktika kommen die
bildenden sehen sich dann                                                             beiten. Zudem müssen sich
Menschen gegenüber, die auf-
                                Studierenden reifer und auch ernster die Studierenden an jedem
grund ihrer Schmerzen er- an die Hochschule zurück.»                                  Praktikumsplatz von neuem
schöpft sind – manchmal so-                                                           in ein Team, ein Kommunika-
gar depressiv; Menschen, die                                                          tionssystem und eine Unter-
grosse Hoffnungen in ihre Therapeuten setzen und nehmenskultur einfügen. Diese Erfahrungen prägen.
erwarten, dass diese sie heilen. «Dass man manchen Das sei sogar sichtbar, sagt Praktikumsleiterin Barbara
aber nicht helfen kann, musste ich zuerst akzeptieren Laube: «Nach den Praktika kommen die Studierenden
lernen», sagt Livia Kunz.                               reifer und auch ernster an die Hochschule zurück.» Und
                                                        mit einem Selbstverständnis von sich als Physiothera-
Realistische Berufsumgebung                             peutinnen und -therapeuten, das ihnen zuvor nicht eigen
Unterstützung erhalten die angehenden Physiothera- war. Nicht zu unterschätzen ist überdies das Netzwerk,
peuten während der Praktika von ihren Ausbildnern das sich die Studierenden durch die Praktika aufbauen:
vor Ort. Sie lernen aber auch sehr schnell, selbständig Nicht wenige finden später eine Arbeitsstelle an einem
zu arbeiten. Bereits ab der ersten Woche behandeln ihrer früheren Praktikumsplätze. Das erhofft sich auch
die Praktikantinnen und Praktikanten Patienten ohne Livia Kunz – die Uniklinik Balgrist, wo sie bei Manuel
permanente Begleitung, wie Manuel Bischofberger, Bischofberger ihr erstes Praktikum absolvierte, ist ihr
Ausbildungsleiter an der Universitätsklinik Balgrist, zukünftiger Wunscharbeitsplatz.
erzählt. Er selber tauscht sich wie alle Ausbildner re-
gelmässig mit den ZHAW-Dozierenden im Team Prak-
tikum aus und besucht einmal im Jahr einen Weiter­
bildungsanlass an der Fachhochschule. Rund zehn
Prozent seiner Arbeitszeit sind für die Ausbildung der
Studierenden reserviert.
   Im Praktikum erleben die Studierenden auch, was
es bedeutet, unter stetem Zeitdruck zu stehen. «Eine
knappe halbe Stunde Zeit haben Physiotherapeuten
üblicherweise, um die Ursachen für ein Problem zu
finden und eine geeignete Behandlungsstrategie zu ent-
wickeln», sagt Bischofberger. Dies gilt auch für die
Praktikanten. Deshalb müssen sie lernen, welche der              Lernen in der Projektwerkstatt
vielen Untersuchungs- und Behandlungstechniken, die
sie im Unterricht kennengelernt haben, in der Praxis Der Bachelorstudiengang Ergotherapie führt seit zwei Jahren das
                                                        Praxismodul «Projektwerkstatt: Betätigung ermöglichen» durch.
am schnellsten zum Ziel führen. «Dieses sogenannte Studierende im dritten Semester setzen während acht Wochen Pro-
Clinical Reasoning eignen sich die Studentinnen und jekte mit Klienten um, in denen es um die Betätigung als zentrales
Studenten am besten in der Praxis an», so Ausbildner Element der Ergotherapie geht. Sie üben zum Beispiel mit Asylan-
Manuel Bischofberger.                                   tinnen das Fahrradfahren oder führen übergewichtige Kinder und
                                                            Jugendliche in die elektronische Schatzsuche Geocaching ein. Pro
                                                            Woche stehen den Studierenden eineinhalb Tage zur Verfügung,
Selbstbewusstsein im Beruf                                  um die Projekte zu planen und durchzuführen. Fachleute aus
Die grösste Herausforderung aber stelle nicht die Be-       Praxis­institutionen und Dozierende der ZHAW beraten sie und
handlung der Patienten an sich dar, sagt die Studentin      leiten sie fachlich an. Nebst Kenntnissen im Projektmanagement
                                                            gewinnen die Studierenden Erfahrungen im direkten Kontakt
Livia Kunz, sondern das «Drumherum». Plötzlich sind da      mit Klienten. Dabei üben sie, ihren Behandlungsansatz und ihre
Schläuche, Katheter – viele Patienten haben nicht nur       Therapieabsichten zu erklären und zu begründen.
eine Diagnose, sondern mehrere gleichzeitig. Auf alles
gilt es zu achten. So auch auf die anderen Fachleute, die
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                                              PRÄVENTION

 «Ohne Prävention wäre unsere
  Spezies längst ausgestorben»

                                                Von Rita Ziegler

Health Universities sollen sich nicht nur mit kurativer Wenn der Vorsorgegedanke so tief in uns verankert ist,
Medizin befassen, sondern auch der Gesundheits-         sind wir dann nicht fähig, als Individuen eigenverant-
vorsorge einen hohen Stellenwert einräumen. Da­         wortlich für unsere Gesundheit zu sorgen?
rüber war man sich in den Diskussionen zum neuen        Moderne Gesundheitsförderung und Prävention funk-
Leitmodell Health University Mitte der 1970-Jahre       tionieren in meinen Augen wie Konsumentenschutz:
einig. Über 40 Jahre später startet in der Schweiz      Das Individuum erhält die nötigen Informationen, um
der erste Bachelorstudiengang in Gesundheits­           eigenverantwortlich Entscheidungen zu treffen. Und
förderung und Prävention.                               es kann in einem Umfeld leben, das ihm hilft, gesund
                                                        zu bleiben. Sauberes Wasser etwa ist heute selbstver-
Tipps zur ergonomischen Arbeitshaltung von der Be- ständlich. Mitte des 19. Jahrhunderts war die Frage, ob
triebsphysiotherapeutin – Hinweise zu Kalorien und es in Basel eine Kanalisation braucht, aber umstritten.
Nährstoffen auf der Verpackung des Mittagsmenüs – Genauso verhielt es sich noch vor wenigen Jahren mit
Plakatwände, die den Neujahrsvorsatz wieder ins Ge- dem Rauchen in öffentlichen Räumen. Im Einzelfall
dächtnis rufen: Gesundheits-                                                        müssen wir stets abwägen:
förderung und Prävention                                                            Bis wohin reicht die indi­
sind in unterschiedlichsten
                                «Gesundheit ist kein Gut, das man per viduelle Freiheit und wo
Lebenswelten gegenwärtig.                                                           beginnt die gesamtgesell-
Präventionsmediziner Tho-
                                se über alles andere setzen sollte.»                schaftliche Perspektive? Die
mas Steffen sieht darin kein                                                        komplexe Gesellschaft, in
grundsätzlich neues Phäno-                                                          der wir leben, fordert eine
men. «Gesundheitsvorsorge ist ein urmenschliches gewisse Regulation. Diese sollen wir aber auch kritisch
Verhalten», ist er überzeugt. Verhältnismässig jung sei hinterfragen. Dabei scheint mir ein Punkt entschei-
allerdings die Professionalisierung des Themas.         dend: Gesundheit ist kein Gut, das man per se über
                                                        alles andere setzen sollte.
Thomas Steffen, inwiefern hat der Steinzeitmensch
Prävention betrieben?                                   Weil etwas gesund ist, ist es nicht zwingend auch gut?
Thomas Steffen: Schon der Neandertaler hat beim Genau. Gesundheit ist bloss die Grundlage dafür, dass
Griff ins Feuer gemerkt, dass es weh tut, und dabei ge- wir Menschen uns entfalten und ein sinnvolles, befrie-
lernt: Vor dem direkten Kontakt mit Feuer muss ich digendes Leben führen können. Sich zu kasteien, um
mich schützen. Über die Sommermonate hat er Vorräte gesund zu bleiben, ist kontraproduktiv. Ich persönlich
angelegt, um im Winter nicht an Nahrungsengpässen treibe zum Beispiel kaum Sport. Ich spaziere gerne
zu leiden. Dieses vorsorgende Verhalten lässt sich auf und viel, aber sobald dies als Wandern bezeichnet
alle möglichen Lebenssituationen und Epochen über- wird, löscht es mir ab. Gesundheitsförderung und Prä-
tragen. Ohne Prävention wäre unsere Spezies längst vention soll uns Gesundheitsressourcen aufzeigen. Die
ausgestorben. Das schnelle Lernen aus bedrohlichen Entscheidung, welche ich davon in meinen Rucksack
Situationen hat uns über die Jahrtausende gerettet. Es packe, liegt jedoch bei mir. Wichtig ist, dass mich der
ist eines der zeitlosen Grundmuster, das uns als Men- Rucksack auf meinem Weg unterstützt. Seine Last darf
schen möglicherweise ausmacht.                          mich nicht erdrücken.
GESUNDHEITSFÖRDERUNG UND                                                         19
                                                 PRÄVENTION

Und doch geht mit dem Präventionsgedanken auch
eine Verpflichtung einher: sich aktiv um Gesundheit zu
bemühen. Wie gehen wir in Zukunft mit einem starken
Raucher um, der mit Lungenkrebs im Spital liegt?
Eine Entsolidarisierung – zum Beispiel in unserem
Krankenkassensystem – wäre aus meiner Sicht der fal-
sche Weg. Wenn ich in meiner Laufbahn als Präventiv-
mediziner etwas gelernt habe, dann dass Freiheit und
Selbstbestimmung relativ sind. Manchmal verleiten
mich meine Lebensumstände zu einem Verhalten, das
ich zwar als selbstbestimmt erlebe, das sich meinem
freien Willen aber weitgehend entzieht. Das lässt sich
etwa bei Süchtigen oder bei Menschen mit extremem
Übergewicht beobachten. Deshalb ist es immens wich-
tig, dass wir Bilder vermeiden, die zu einer gesell-
schaftlichen Ausgrenzung führen. Wir können den Bo-
gen auch überspannen. Wir können mit all unseren
guten Absichten im schlechtesten Fall sogar neuen                                 Thomas Steffen
Schaden erzeugen.
                                                              Thomas Steffen ist Facharzt FMH für Prävention und Gesund-
                                                              heitswesen, Kantonsarzt und Leiter der Abteilung Präventiv- und
Wie begegnen Sie dieser Gefahr?                               Sozialmedizin des Gesundheitsdepartements Basel-Stadt. Er
Im Kanton Basel-Stadt sprechen wir mit Jugendlichen           wirkte als Beirat für den neuen Bachelorstudiengang Gesundheits-
heute beispielsweise nicht mehr über Übergewicht,             förderung und Prävention am ZHAW-Departement Gesundheit.
sondern über Körperbilder. Denn Untergewicht kann
genauso problematisch sein. Körperbilder können sich
im Laufe der Zeit ändern. Wir möchten den Jugend­
lichen vermitteln, wie sie ihr Selbstvertrauen stärken
und mit sich selbst zufrieden sein können. Es bringt
nichts, fixe Bilder zu transportieren, die ein Teil von ih-
nen sowieso nie erreichen wird. Es gibt diese Tendenz,        Also gab es bereits im Industriezeitalter Präventions-
Präventionsthemen mit Wertungen, Normen und Moral             massnahmen für ausgewählte Zielgruppen. Dennoch
zu verknüpfen – davor müssen wir uns in Acht nehmen.          etablierte sich der Ansatz bei uns erst mit der Aids-
                                                              Problematik der 1980 er-Jahre richtig. Weshalb?
Woher kommt diese Moralisierungstendenz?                      Das ist nicht ganz korrekt. Anfang des 20 Jahrhunderts
Ein Grund liegt vielleicht im 19. Jahrhundert, als die        gab es im deutschsprachigen Raum bereits das Kon-
Industriearbeiter kurz nach Zahltag jeweils ihr ganzes        zept der Sozialhygiene, das viele moderne Elemente
Geld vertranken. Das führte zur Verelendung der               enthielt. Ziel war es, die sozialen Bedingungen zu ver-
Familien, hatte aber auch ökonomische Folgen, weil an         bessern, um damit die Gesundheit zu fördern. Im Zuge
den darauffolgenden Tagen die Maschinen stillstanden.         der Bewegung entstanden etwa Schulhausküchen und
Die Industriebesitzer wollten dem Treiben ein Ende            öffentliche Badeanstalten. Leider wurde die Bewegung
setzen und griffen dazu auf die einzige etablierte            später von der Nazi-Ideologie instrumentalisiert. Mit
Struktur zurück: die Dorfpfarrer. Diese begannen, am          Ende des Zweiten Weltkriegs wird die Volksgesundheit
Ende des Gottesdienstes Alkoholprävention zu betrei-          zum Tabu, da sie sofort Assoziationen zur Rassenhygi-
ben, wohl nicht ohne die Moralkeule zu schwingen. Das         ene weckte. Die Santé Public in Frankreich und die
muss relativ wirksam gewesen sein, führte mitunter            Public Health im angelsächsischen Raum haben aus
aber auch zu dieser Verbindung von Gesundheits­               den Ideen der Sozialhygiene gelernt und sich nach dem
vorsorge und Moral, die tief in unser kollektives Be-         Krieg Schritt für Schritt weiterentwickelt. Im deutsch-
wusstsein eingedrungen ist. Ich merke das auf Parties:        sprachigen Raum sind wir erst mit der Aids-Prävention
Wenn ich sage, dass ich Präventivmediziner bin, begin-        wieder in eine lineare Entwicklung eingestiegen. Die
nen mir meine Gesprächspartner unaufgefordert zu              Problematik spiegelt sich in den Begrifflichkeiten: Bis
be­teuern, wie wenig sie üblicherweise trinken. Dabei         heute existiert keine adäquate deutsche Übersetzung
interessiert mich das in jenen Momenten gar nicht.            für Public Health.
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