HEIMATBLÄTTER OSTTIROLER - Lebenshilfe Tirol
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER Heimatkundliche Beilage des „Osttiroler Bote“ 50 Jahre Lebenshilfe in Osttirol NUMMER 9-10/2021 89. JAHRGANG Rudolf Ingruber Ein Blick in den Rückspiegel und durch das Zielfernrohr 1952 wurde in Lienz die erste Sonder- direktor Viktor Leibetseder gewiss, „be- der Lebenshilfe in Osttirol und forderte schule ins Leben gerufen, zehn Jahre spä- reits im Säuglingsalter einsetzen, das Spiel- auch, „den Kontakt mit dem Elternhaus ter gab es bereits 16 Klassen für „lernbe- kind-, Schulkind- und Pubertandenalter nicht abbrechen zu lassen, da diese Kom- hinderte“ und zwei Klassen für „schwerst- einschließen und im Erwachsenenalter ponente einen wesentlichen Bestandteil behinderte“ Schülerinnen und Schüler im fortgesetzt werden. Vordringliche Aufgaben jeder heilpädagogischen Maßnahme dar- ganzen Bezirk. Eine statistische Hoch- zur Verwirklichung dieser Vorhaben sind stellt“. Ein schon damals ins Auge gefass- rechnung ergab damals einen „erschre- die Errichtung einer zentralen Anstalt in tes „Behindertenzentrum“ sollte daher ckend hohen Prozentsatz“ an Kindern, die Lienz mit Internat, Sonderkindergarten, auch Eltern zur Verfügung stehen, „welche den zu erwartenden Ausbildungsanforde- ausgebauter Sonderschule für Schwerstbe- sich in Erziehungsproblemen hier Rat aus rungen der Zukunft nicht mehr gewachsen hinderte und einer Geschützten Werkstätte berufenem Munde holen können“. Zieht sein würden. Um diesen Schwierigkeiten für Schulentlassene.“ 1 man die weiteren Differenzierungen und auch im Bezirk Lienz zu begegnen, sollte Mit diesen Worten formulierte Leibets- Entwicklungen gesamtgesellschaftlicher die Begleitung von Menschen mit Behin- eder in seinem am 4. Mai 1971 gehaltenen Erfordernisse sowie die Veränderung der derungen, so war sich der Sonderschul- Referat zugleich den Gründungsgedanken Begrifflichkeit ab, bleibt das Ansinnen bis Blick in die Messinggasse nach Westen, links die beiden alten Sartorihäuser, 1977. Foto: Lebenshilfe
2 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER NUMMER 9-10/2021 Anlässlich der Gründungsversammlung der Sektion Osttirol – der landesweit ersten die- ses Vereins – am 9. November 1971 über- nahm Bezirkshauptmann Dr. Othmar Dob- lander die Obmannschaft, seine beiden Stellvertreter waren Prim. Dr. Arthur Egle und der damalige Matreier Dekan Josef Holaus. Viktor Leibetseder wurde zum geschäftsführenden Obmann gewählt. Im Rahmen dieser Veranstaltung sprach Prim. Univ.-Doz. Dr. Andreas Rett zum Thema „Das entwicklungsbehinderte Kind. Ein medizinisches, pädagogisches und mensch- liches Problem“. Dass man damals allge- mein fast ausschließlich noch ersteres im Visier hatte, verdeutlichte der starke Über- hang von Ärzten im Auditorium.3 Das Verständnis von Bildung und Qua- lifizierung als Angebote an Menschen mit Behinderung wurde hauptsächlich in der Diskussion um das „Kerngeschäft“ der Lebenshilfe Tirol thematisiert. Von Beginn an lassen sich dabei zwei Hauptströmun- gen unterscheiden, die bis in die Gegen- wart wirksam sind, ihren Gestaltwandel aber vor allem im Kontext eines veränder- Die Männer der ersten Stunde: Anton Wurzer, Viktor Leibetseder, Walter Lang, Rudolf ten Menschenbildes sowie durch die Ladinig, Reinhold Stocker und Hansjörg Temmel. Foto: Lebenshilfe Variationsbreite in der Auslegung des Tiro- ler Rehabilitationsgesetzes erfahren haben. heute ausgesprochen modern. Eine Rück- fangs ohne Licht, Wasser und Heizung. Die eine ist in der Erinnerung des Son- schau auf das fünfzigjährige Wirken der Dafür mit Perspektive. Es blieb ihnen das derschullehrers Karl Winkler als Triebfe- Lebenshilfe Tirol im Bezirk Lienz muss Pflegeheim oder die Anstalt erspart. In den der zur Gründung der Lebenshilfe Tirol sich deshalb auf dieser Grundlage auch der 1960er-Jahren setzte ein allgemeiner Wan- 1963 zusammengefasst: „Ich konnte und Vorausschau auf künftige Herausforde- del von Werten ein. Die politische und wollte mich nicht damit abfinden, dass ich rungen stellen. soziale Sensibilisierung der Gesellschaft 8 - 10 Jahre lang junge Menschen in der wuchs, und immer mehr gesellschaftliche Schule lehre, erziehe und unterrichte, die Die erste Sektion des Landesver- Akteure stellten sich die Frage, welchen dann in menschenunwürdiger Weise hinter bandes der Lebenshilfe Tirol Platz und welche Rolle Menschen mit den Mauern einer Anstalt bis zu ihrem 1963 gründeten engagierte Sonder- Behinderungen in der Gesellschaft ein- Lebensende verschwinden und dahin- schullehrer der Daniel-Sailer-Schule in nehmen sollten. 1970 – nach sieben Jahren vegetieren müssen.“ 4 Es ging um die Innsbruck den Verein Lebenshilfe Tirol, in Kellerdasein – wurde die erste Arbeits- Erhaltung und Absicherung während der einer Zeit, in der es noch keine eigene und Wohneinrichtung am Stadtrand von Schulzeit erzielter Lernerfolge und damit Behindertengesetzgebung gab. In der von Innsbruck bezogen.2 im Grunde um eine Verlängerung der ihnen eingerichteten Werkstätte im Keller Für die Pioniere in Lienz stand von An- schulischen Bildung. der Schule wurden Menschen mit Behin- fang an fest, ihr Engagement der Lebens- Dagegen fasste acht Jahre später Viktor derungen mangels Alternativen nach ihrer hilfe Tirol anzuschließen, dabei aber auch Leibetseder für Osttirol bereits eine Art ge- Schulzeit gefördert und unterstützt. An- ein autonomes Profil entwickeln zu müssen. schützte Werkstätte mit arbeitstherapeuti- schem Angebot und vor allem Verdienst- möglichkeiten ins Auge. Für die Personal- entwicklung bedeutete dies, dass man je nach Angebotsschwerpunkt entweder Son- derpädagogen oder Handwerker mit der Leitung einer Einrichtung (Werkstätte, Tagesheimstätte) betraute. Dass es dabei noch keine Festlegungen gab, belegt bei- spielsweise die Abfolge: Handwerker – Sonderpädagoge – Handwerker zwischen 1972 und 1976 in der Werkstätte in Lienz. Es ist allerdings festzuhalten, dass in den beiden Anfangsjahrzehnten die Oberhoheit über die inhaltliche Ausrichtung in den Händen der Sektionsobleute lag, die zum großen Teil Sonderschullehrer waren. Großzügige Unterstützung durch die Bevölkerung Fast genau zum ersten Jahrestag der Gründungsversammlung, am 23. Novem- ber 1972, wurde in den Räumlichkeiten des Franziskanerklosters in Lienz die erste Arbeitseinrichtung eröffnet.5 Die damals noch gebrauchte Bezeichnung „geschützte Werkstätte“ war aber irreführend, da sie kollektivvertragliche Löhne für die dort Im Jahr 1972 wurde im Franziskanerkloster in Lienz die erste Werkstätte eingerichtet. Arbeitenden nicht erwirtschaften konnte. Foto: Lebenshilfe Der Appell an die heimischen Wirtschafts-
NUMMER 9-10/2021 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER 3 900 Besucher im Lienzer Stadtsaal beim Benefizkonzert zugunsten der Lebenshilfe im März 1977. Foto: Lebenshilfe betriebe, die Werkstätte mit „Arbeiten, die und wäre auf eine weitere und völlig un- glieder – mehr als ein Fünftel im ganzen an den einzelnen Angestellten wegen ihrer notwendige Grenze zwischen Menschen Land, in den 1990er-Jahren waren es dann Eintönigkeit oft große psychische Anforde- mit und ohne Behinderung gestoßen. über 2.000 – und für das vergangene Jahr rungen stellen“, zu beauftragen, erwies Umso dankbarer war man deshalb für die auf ein Spendenaufkommen von 73.000 sich verständlicherweise in mehrfacher finanzielle Unterstützung durch heimische Schilling verweisen.6 Die Spendenbereit- Hinsicht als heikles Signal. Die Absichts- Betriebe und die Osttiroler Bevölkerung. schaft in Osttirol war von Anfang an vor- erklärung, fünf begleiteten Personen den Bereits im April 1973 konnte Dipl.-Vw. bildlich, doch sie wurde auch kritisiert: Ein Weg in ein „normales“ Berufsleben zu Reinhold Stocker als Finanzreferent der Lienzer Mitglied des Zentralausschusses ebnen, hätte schnell ad absurdum geführt Lebenshilfe in Osttirol auf über 400 Mit- der Österreichischen Hochschülerschaft hatte der Lebenshilfe Osttirol eine Näh- maschine übergeben, im Beisein des Lienzer Bürgermeisters, des Bezirks- hauptmannes und des Werkstättenleiters. Die Szene inspirierte nicht nur eine im fol- genden Jahr aufgeführte Groteske an den Frankfurter Städtischen Bühnen, sie fand ebenso Eingang in die Fachliteratur.7 Gegenstand der Satire war nicht so sehr die Spende an sich, als vielmehr die In- szenierung ihres Motivs, aus dem der Wohltäter „die ihm geschenkten Geistes- kräfte und Möglichkeiten in den Dienst der Schwachen zu stellen“ bereit war.8 Man soll als christlich sozialisierter Bürger sein Licht eben nicht unter den Scheffel stellen und Wucher mit seinen Talenten betreiben. Ende Juni bewarb der Lionsclub Lienz einen Flohmarkt, dessen Erlös der Lebens- hilfe für die Anschaffung eines Kleinbus- ses zugutekommen sollte. Die an den Zu- bringerdienst geknüpften Anliegen haben bis heute an Brisanz nichts verloren, wohl eher noch zugelegt: „Eine Reihe von Jugendlichen bekämen dadurch die Mög- Mit dem Erlös aus dem Flohmarkt wurde 1973 der erste Bus angekauft. lichkeit, nicht untätig daheim bleiben zu Foto: Lebenshilfe müssen oder weit entfernt untergebracht
4 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER NUMMER 9-10/2021 zu der am 16. April im Rahmen der ORF- Sendereihe „teleobjektiv“ ausgestrahlten Reportage über das „Behindertenproblem in Osttirol“. Die Regie führte der Inns- brucker Komponist, Filmemacher und Schauspieler Bert Breit, „mit jenem ge- wissen Verzicht auf Distanz, den auch die Mitarbeiter der Lebenshilfe leisten, wenn sie die Behinderten nicht der gesetzlichen Obhut überlassen“.11 Damit war u. a. die Nervenheilanstalt in Hall gemeint. Die amtlichen Reaktionen blieben nicht aus. In einem Schreiben an den Chefredakteur Claus Gatterer konnte die Lebenshilfe Ost- tirol von Gesprächen mit der Versicherung der Bauern berichten und von der für Herbst geplanten Inbetriebnahme eines Sonderkindergartens für Schwerstbehin- derte in Lienz durch die Caritas.12 Die viel- fältigen Anforderungen an das Bauvor- haben des Behindertenzentrums waren damit teilweise entflochten. Und es wurde ein zweiter Bus angeschafft.13 Frau Gertraud Anderlik, eine Enkelin Das alte Sartorihaus, Messinggasse 15, vor dem Abbruch 1977. Foto: Lebenshilfe von Karl Michael Sartori, 1872–1881 Bür- germeister von Lienz, hatte eines der im zu werden, sondern im Bezirk einer Be- ling in Aussicht gestellt, sobald dafür kon- Familienbesitz stehenden Häuser in der schäftigung nachgehen zu können, aus- krete Investitionspläne vorlägen. Kaum ein Messinggasse testamentarisch wohltätigen gebildet zu werden, um sich schließlich Jahr später wurden in der Werkstätte be- Zwecken gewidmet. 1976 übergab die selbst etwas verdienen zu können, ver- reits 13 Personen begleitet, zwei davon Stadt Lienz die Liegenschaft an die Le- sichert und damit pensionsanspruchs- hatten eine Beschäftigung in der Taxi- benshilfe, die schon im darauffolgenden berechtigt zu sein“ (Fettgedrucktes im funkzentrale gefunden.10 Jahr mit den Bauarbeiten begann.14 Eine maschinschriftlichen Original dieses Auf- Reihe von Veranstaltungen, deren Erlös in rufs unterstrichen).9 Aus den erhofften „Erst ein aufgeregter Künstler das Baubudget floss, fand statt: Ein 100.000 Schilling wurden 240.000 und der musste kommen … Volksmusikkonzert vor 900 Zuhörern im Lebenshilfe nicht nur ein Bus übergeben, … um Landesmeinung und Landesämter Lienzer Stadtsaal – die im Anschluss pro- sondern auch die übrigen 130.000 Schil- zu mobilisieren.“ So lautete eine TV-Kritik duzierten Tonträger wurden von der Das neu errichtete „Sozialzentrum“ der Lebenshilfe in Lienz, 1979. Foto: Lebenshilfe
NUMMER 9-10/2021 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER 5 stellvertretend für das Misstrauen, das es gegenüber dem Vorhaben eben auch gab, einen im „Osttiroler Bote“ abgedruckten Leserbrief zu zitieren, in dem ein besorg- ter Nachbar der Stadtgemeinde Lienz fol- genden „Vorschlag zur Güte“ unterbreitet: „Das Haus in der Messinggasse könnte zu einem Quartier für Delogierungen ausge- baut werden, da auch der Abbruch Geld kostet. Sollte sich meine Anregung nicht durchsetzen, schlage ich vor, das Nacht- lokal zu verlegen und die Messinggasse in ‚Behindertengasse‘ umzubenennen.“ 17 Wenngleich der Arzt Prof. Rett die Zu- kunft noch immer durch die medizinische Brille sah, hat sein Ausblick auch nach 40 Jahren nichts von seiner Aktualität ein- gebüßt und ist bis heute und weit darüber hinaus eine Aufforderung an die Gesell- schaft: „Denn der Behinderte selbst wird heute älter, er wird zum erwachsenen und auch zum alten Menschen mit allen neuen und alten Problemen.“ 18 In dem auf die jüngere Vergangenheit gerichteten Rück- spiegel erschien dieser Gedanke tatsäch- lich neu, seine unmissverständliche Aus- Hoher Besuch zur Einweihung des Sozialzentrums am 17. April 1982: Bundespräsident formulierung ist aber eines der dringend- Dr. Rudolf Kirchschläger und Landeshauptmann Eduard Wallnöfer; links im Bild sten Gebote unserer Gegenwart! Die Ferdinand Wieser. Foto: Lebenshilfe Lebenshilfe Tirol wird, gerade im Bezirk Lienz mit seiner überdurchschnittlich Lebenshilfe verkauft – eine Modenschau, hohen Lebenserwartung, künftige Schwer- ein weiterer Flohmarkt, der diesmal punkte auch durch angemessene Angebote 400.000 Schilling einbrachte, und eine an ältere Menschen setzen müssen. Zaubershow, bei der auch der spätere Direktor des Bundesamts für Verfas- Ein alter Mensch ist ein Kind sungsschutz und Terrorismusbekämpfung, mit Vergangenheit Peter Gridling, auftrat.15 „Heute bin ich ein älteres Weibele“, Das Sozialzentrum in Lienz: schlägt Romana Bodner die Brücke zur Gegenwart – über eine zeitliche Distanz, eine beherzte Tat und ein die fast genauso lang ist wie die Ge- vorsichtiger Blick in die Zukunft schichte der Lebenshilfe in Osttirol. „Da- Zehn Jahre nach der erstmaligen For- mals musste ich jeden Tag früh aufstehen mulierung des Gründungsgedankens war und nach Lienz fahren, zu den Patern, das „Sozialzentrum“ in der Messinggasse denn da war die Lebenshilfe im ersten weitgehend fertiggestellt und, nach der Stock. Ich musste das tun, was mir ange- vorübergehenden Unterbringung der sagt wurde, ich habe für eine Lienzer Werkstätte in der ehemaligen Sonder- Gärtnerei Körbe geflochten. Heute arbeite schule beim Friedhof, bezogen. Der Fest- ich in Sillian. Ich werde gefragt, mache akt zur Einweihung des neuen Gebäudes Dinge, die mir Spaß machen, und man fand im Beisein von Bundespräsident Dr. Univ.-Prof. Dr. Andreas Rett. hört mir zu. Ich arbeite für eine Firma und Rudolf Kirchschläger und Landeshaupt- Foto: Lebenshilfe für Gemeinden.“ mann Eduard Wallnöfer am 17. April 1982 statt – am Namenstag des Staatsoberhaup- tes, des geschäftsführenden Obmanns Rudolf Ladinig und des Werkstättenleiters Rudolf Ingruber. Den Festvortrag hatte am Vorabend wiederum Univ.-Prof. Andreas Rett zum Thema „Behindertenbetreuung gestern, heute, morgen“ gehalten. „Ich finde, dass Osttirol und dass die Menschen dieses Landes ein Beispiel gegeben haben, das sich andere durchaus nicht hinter den Spiegel stecken sollten“, lobte er die Kon- zeption des Hauses als „mitten im Leben gelegener Punkt, von dem Kristallisati- onsphänomene nach allen Seiten ausgehen können.“ 16 Besonders stolz war man auf die ver- kehrsmäßig günstige Lage – der Lions Club hatte im Vorjahr den bereits vierten Kleinbus gespendet – mitten im Stadtge- biet, die eine „dauernde Begegnung der Öffentlichkeit“ – nein, nicht etwa mit Menschen, sondern „mit dem Behinder- tenproblem“ gewährleisten sollte. Ein Gebot historischer Wahrhaftigkeit ist es, Das Sozialzentrum der Lebenshilfe Osttirol von der Gartenseite. Foto: Lebenshilfe
6 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER NUMMER 9-10/2021 den thematisiert, für die man vor der Pen- sionierung entweder zu wenig Zeit findet, oder die erst mit dem Älterwerden an Interesse gewinnen: Zeit für andere zu haben, spazieren, auf die Gesundheit ach- ten, länger schlafen oder die Pflege von Sozialkontakten. Arbeits- und Lebensge- staltung und die dafür nötige Begleitung hängen nicht nur von persönlichen Nei- gungen und Interessen, sondern eben auch den Bedingungen ab, die das jeweilige Lebensalter einfordert.19 Menschen mit Behinderung, Lernschwierigkeiten oder besonderen Bedürfnissen? Die Frage betrifft zunächst die Schwie- rigkeiten, das einem durchschnittlichen Staatsbürger zugemutete Curriculum bis zum Erwachsenenalter – frühkindliche Entwicklung, Erziehung, Kindergarten, Schule und Ausbildung – im geforderten Tempo zu absolvieren. Für jedes Stadium gibt es eine mehr oder weniger genau fest- gelegte Benchmark: Das Kind lernt zwi- schen acht und zwanzig Monaten Laufen, Romana Bodner (2. v. r.), 1982. Foto: Lebenshilfe beginnt mit etwa zwei Jahren zu sprechen, erreicht die Volksschulreife mit sechs und Im Jahr 2000 wurde unter dem etwas mannigfache Gelegenheit zur Begegnung sollte spätestens nach neun Schulstufen die sperrigen Arbeitstitel „Gemeinwesenorien- mit anderen Menschen. Einmal im Monat Grundrechnungsarten beherrschen, sinn- tiertes Integrationsprojekt“ ein Arbeits- trifft sie sich auch mit Kolleginnen zu erfassend zu lesen imstande und vorberei- standort in Sillian eröffnet. Die Pflege der Kaffeehausbesuchen, Kirchgängen mit tet auf weiterführende Schulen oder ver- Außenanlagen der Volksschule und des anschließendem Frühschoppen oder auch schiedene Ausbildungen sein. Es ist kein Friedhofs in Strassen bieten Frau Bodner nur zum Gedankenaustausch. Dinge wer- Zufall, dass das Ende der „Ausbildungs- Ro- pflicht“ mit dem Beginn des Erwachse- mana nenalters korreliert, in dem ein Mensch in Bod- der Lage sein sollte, seinen Lebensunter- ner, halt zu verdienen und selbst die Verant- Anne- wortung für die Befriedigung seiner Be- lies dürfnisse zu übernehmen. Troyer, Nicht nur die Curricula selbst, sondern Mari- auch ihre Inhalte und Maßstäbe beruhen anna jedoch auf einer gesellschaftlichen Über- Mayr einkunft, die aber durchaus nicht unver- und änderlich sein müssen. Gewohnheiten und Bern- Konventionen sind in der Regel willkürlich hard und nicht wesensnotwendig, im Gegenteil: Senf- Wenn sie das Wesen, dem sie entsprechen ter, sollten, zu weit verfehlen, verkommen sie 2018. zum Klischee. Trotzdem sind sie die Lehr- und Lerninhalte unserer Gesellschaft, und ihre mangelnde Aneignung wird – unge- achtet durchaus verschiedener Ursachen – als „Lernschwierigkeit“ tituliert. Curricu- lum heißt, übersetzt, „Wettlauf“, und wer nicht schritthalten kann, gilt als „behin- dert“. Insofern könnte man Curriculum auch mit „Hindernislauf“ übersetzen. Bedürfnisse stellen, aus ökonomischer Sicht, den Ausgangspunkt des Wirtschaf- tens dar. Wenn zusätzlich zum Bedürfnis auch Kaufkraft vorhanden ist, entsteht Be- darf, der am Markt als Nachfrage wirksam wird. Aus dieser Definition würde folgen, dass z. B. ein „sonderpädagogischer För- derbedarf“ dem Bedürfnis des Schülers entspringt, im Curriculum mitzuhalten, und die Mittel verfügbar sind, dieses Be- dürfnis auch zu bedienen. Marktwirt- schaftliche Mechanismen jedoch sind im staatlichen Schulsystem allenfalls rudi- mentär ausgeprägt: „Anlässlich der Fest- Foto: stellung des sonderpädagogischen För- Le- derbedarfs sowie beim Übertritt in eine bens- Sekundärschule berät die Bildungsdirek- hilfe tion die Erziehungsberechtigten über die
NUMMER 9-10/2021 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER 7 bestehenden Fördermöglichkeiten, den Erwerbstätigkeit und/oder Unternehmens- jeweils zweckmäßigsten Schulbesuch und gründung sind im Zusammenhang mit Men- informiert diese, an welcher nächstgelege- schen mit Behinderungen dort aber nicht nen Schule dem sonderpädagogischen För- explizit in Erwägung gezogen. derbedarf entsprochen werden kann.“ 20 Mit der Erfüllung der Schul- und Aus- Osttirol 2025 bildungspflicht endet zunächst auch der „Man muss eben auch Neues ausprobie- Förderbedarf, und nicht alle Personen ren“, schlägt Thomas Baumgartner vor, der haben das anvisierte Ziel dann erreicht. gern seiner Arbeit in der Kunstwerkstatt Vielfach wurde in Einrichtungen der Be- nachgeht, weil er diese ausschließlich selbst hindertenhilfe hauptsächlich auf die Be- bestimmt und gestaltet: „Ich kann hier das friedigung von Bedürfnissen Wert gelegt, machen, was mich fasziniert!“ Mit der die in der „Maslow’schen Pyramide“ 21 die nötigen Begleitung könnte er sich gut vor- unteren beiden Etagen besetzen: Essen, stellen, als „Neuer Unternehmer“ in der Trinken, Schlafen, Hygiene, Gesundheit, Kreativwirtschaft Fuß zu fassen. Seit 2017 ein Dach über dem Kopf, Sicherheit und steht Baumgartner als Regionalsprecher für die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Das die Belange seiner Kolleginnen und Kolle- Angebot spiegelte etliche Inhalte des ge- gen an den mittlerweile sechs Arbeits- Das Regierungsübereinkommen bekennt standorten in Osttirol gegenüber Einrich- setzlichen Auftrags an Eltern, obwohl es sich zum Abbau der Bürokratie. sich in der Regel an Erwachsene richtete, tungsleitung, Regionalleitung und Ge- Foto: Gerwin Farcher schäftsführung der Lebenshilfe Tirol ein. wider: „Die Pflege des minderjährigen Kindes umfasst besonders die Wahr- durch Arbeit zu verdienen, die in einem of- „Menschen mit einer Beeinträchtigung nehmung des körperlichen Wohles und der fenen, integrativen und für Menschen mit haben die gleichen Rechte wie alle anderen. Gesundheit sowie die unmittelbare Auf- Behinderungen zugänglichen Arbeitsmarkt Das heißt, von zuhause ausziehen zu dür- sicht …“ (§ 146 ABGB), zu dem ein er- und Arbeitsumfeld frei gewählt oder ange- fen, essen und trinken, was man will oder zieherischer Auftrag hinzukam. nommen wird“, beschrieben. „Auch Men- die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel schen mit besonderem Unterstützungsbe- zu erlernen. Und seinen Beruf frei zu wäh- Vom Kopf auf die Füße – darf soll ermöglicht werden, auf dem all- len. Verbietet man ihnen das, sind sie nicht und umgekehrt gemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Dies behindert, sondern sie werden behindert.“ Es stellt sich am Ende heraus, dass die ist möglich, wenn man ihre individuellen „Die Lebenshilfe in Osttirol hat kein be- Zuschreibungen „Lernschwierigkeiten“ Bedürfnisse an Unterstützung konsequent sonderes Problem. Innovation ist ein lust- und „besondere Bedürfnisse“ nichts ande- in den Mittelpunkt stellt und ihnen die voller Vorgang und kommt genau zum res als die negative und die positive Möglichkeiten für die Teilhabe am Ar- richtigen Zeitpunkt“, ermutigte der Kom- Sprachkonvention für ein und denselben beitsleben unter Beachtung ihres Wunsch- munikationsberater, Politologe und Chef- Sachverhalt sind und keinen Ausweg aus und Wahlrechts schafft.“ 22 redakteur von Dolomitenstadt.at Gerhard der Euphemismus-Tretmühle öffnen. Die Das Recht auf freie Berufswahl schließt Pirkner die Teilnehmer und Teilnehmerin- Spitze der Maslow‘schen Bedürfnishierar- aus, dass jemand gezwungen werden kann, nen der beiden Workshops zur Stärkung chie zu erreichen, wird durch die Men- einer Arbeit nachzugehen, die er ablehnt. der Identität der Lebenshilfe in Osttirol. schenrechtskonvention und die Behinder- Schließlich fordert Artikel 23 für gleiche Der Prozess „Osttirol 2025“ wurde seit tenrechtskonvention jedem Menschen Arbeit auch gleichen Lohn. Während die Juni 2021 durch die Identitätsentwicklerin ohne Vorbehalt zugetraut. Das Fürsorge- Forderung von Behindertenverbänden nach Sylvia Moser-Trebo begleitet. Pirkner, der modell und dessen Institutionen allein „Lohn/Gehalt statt Taschengeld“ in erster als Gesprächspartner zu beiden Veranstal- können diesem Anspruch jedoch nicht ge- Linie auf unselbstständige Beschäftigungs- tungen eingeladen war, sah allerdings auch nügen. Die Theorie Abraham Maslows be- verhältnisse abhebt, umfasst dieses die Verantwortung von Politik und Gesell- sagt, dass die unteren Stufen der Hierar- „Wunsch- und Wahlrecht“ nach Artikel 27, schaft: „In der Raumplanung und in der chie Bedürfnisse umfassen, deren Nicht- Absatz 1, Buchstabe e explizit auch die För- Errichtung von Wohnraum wird kaum auf erfüllung einen Mangel bewirkt, deren derung selbstständiger Beschäftigung. Das Durchmischung im Sinne von Inklusion Befriedigung aber erst die Bildung und die Regierungsübereinkommen 2020–2024 be- Rücksicht genommen.“ Der physischen Erfüllung von Wachstumsbedürfnissen kennt sich zu einer Beschäftigungsoffen- und soziologischen Ankunft ihrer Klien- wie Status und Anerkennung, Wertschät- sive, zur Evaluierung der Fördermittel und tinnen und Klienten mitten in der Osttiro- zung, Selbstverwirklichung und Transzen- zum Abbau der Zugangshürden bzw. Büro- ler Gesellschaft wird die verstärkte An- denz möglich macht. kratie. Die Möglichkeiten zu selbstständiger strengung aller Akteure der Lebenshilfe in Dass es auch umgekehrt geht und dass man mit Selbstverwirklichung und Selbst- transzendenz seinen Lebensunterhalt ver- dienen und so auch basale Bedürfnisse be- friedigen kann, beweisen Kunst- und Kul- turschaffende sowie Freiberufler, die auf der Grundlage ihrer Begabung einer nicht entfremdeten Arbeit nachgehen. Talent ist eine Möglichkeit, eine Disposition, die man bei sich oder bei anderen erkennt. Diese Möglichkeit bleibt jedoch ohne Gegenstand, solange es keinen Bezugs- rahmen, kein Anwendungsgebiet dafür gibt. Aufgabe der Assistenz durch die Le- benshilfe wird es nun sein, solche Anwen- dungsgebiete zu schaffen, auch solche, die wirtschaftlich nicht verwertbar sind. Das erfordert Offenheit, Beobachtung und Reflexion, Erkunden, Probieren und: die Bereitschaft, sich überraschen zu lassen! In der von Österreich 2008 unterzeich- neten Behindertenrechtskonvention wird Der Vorstand der Bezirksstelle Lienz heute: Paula Lobenwein, Reinhold Stocker, Hannes das Menschenrecht auf Arbeit als „Recht Lercher, Inge Hanser, Josefa Ebenberger (v. l.); nicht im Bild Andreas Riedler. auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt Foto: Helmut Niederwieser
8 OSTTIROLER HEIMATBLÄTTER NUMMER 9-10/2021 Diskussions- lounge „Osttirol 2025“. V. l.: Gerhard Pirkner, Susanne Rogl, Sylvia Moser- Trebo, Thomas Baumgartner und Regional- leiter Thomas Niederwieser. Foto: Helmut Niederwieser Anmerkungen: 1 Osttiroler Bote, 26. Jg., Nr. 19/1971 (13. Mai), S. 32. 2 Lebenshilfe im Zeitraffer URL: https://lebenshilfe. tirol/geschichte/ (aufgerufen am 29. November 2021). 3 Osttiroler Bote, 26. Jg., Nr. 46/1971 (18. November), S. 16. 4 Geschichte des Vereines Lebenshilfe Tirol, URL: https://lebenshilfe.tsn.at/content/geschichte-des-ver- eines-lebenshilfe-tirol (aufgerufen am 29. November 2021). 5 Osttiroler Bote, 27. Jg., Nr. 48/1972 (30. November), S. 16. 6 Tiroler Tageszeitung, 13. April 1973. 7 Ernst KLEE, Behindert. Über die Enteignung von Körper und Bewußtsein, Frankfurt a. M. 1980; URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/klee-behindert. html#idm1164 (aufgerufen am 29. November 2021). 8 Osttiroler Bote, 32. Jg., Nr. 40/1977 (6. Oktober), S. 12. 9 Postwurf der Lebenshilfe Osttirol im Juni 1973. 10 Osttiroler Bote, 29. Jg., Nr. 42/1974 (23. Mai), S. 13. 11 Tageszeitung Die Presse, 18. April 1975. 12 Schreiben der Lebenshilfe, Sektion Osttirol an Chef- redakteur Dr. Claus Gatterer vom 7. Juli 1975. 13 Osttiroler Bote, 30. Jg., Nr. 42/1975 (16. Oktober), S. 4. 14 Osttiroler Bote, 31. Jg. Nr. 48/1976 (2. Dezember), Auch Obfrau Inge Hanser engagiert sich für „Osttirol 2025“. Foto: Helmut Niederwieser S. 10. 15 Osttiroler Bote, 32. Jg., Nr. 43/1977 (27. Oktober), S. 28. Osttirol gelten – auch im Sinne einer schaften Osttirols höchst praktisches und 16 Osttiroler Bote, 37. Jg., Nr. 45/1982 (11. November), „advokatorischen Assistenz“ und mit dem entsprechend gefeiertes Transportmittel 17 S. 36. Gespür für die jeweiligen Adressaten.23 zwischen Arbeit und Wohnen gedacht, ist Osttiroler Bote, 32. Jg., Nr. 48/1977 (1. Dezember), S. 22. Mit der fortschreitenden Digitalisierung längst zum Klischee der der Institutionali- 18 Osttiroler Bote, 37. Jg., Nr. 46/1982 (18. November), werden sich Arbeit, öffentlicher und pri- sierung von Menschen geworden, deren 19 S. 22. vater Raum ohnehin neu definieren. Es Unabhängigkeit und Selbstständigkeit Osttiroler Bote, 73. Jg., Nr. 20/2018 (17. Mai), S. 36-37. geht nicht mehr darum, die Schienen, die durch den – freiwilligen oder auch unfrei- 20 URL: https://www.bmbwf.gv.at/Themen/schule/be- vor 50 Jahren gelegt worden sind, weiter- willigen – Verzicht auf Alternativen nicht ratung/schulinfo/sonderpaedagogischer_fb.html zubauen, sondern grundlegend neue gerade gefördert wird. Nicht zuletzt aus (aufgerufen am 29. November 2021). 21 Die Bedürfnispyramide von Maslow verstehen und Weichen zu stellen – auch im verkehrs- Klimaschutzgründen soll sein inflationärer anwenden URL: https://www.scribbr.de/modelle- technischen Sinn: Der „Lebenshilfe-Bus“, Einsatz in spätestens ein paar Jahren end- konzepte/beduerfnispyramide-maslow/ (aufgerufen ursprünglich als für die verzweigten Tal- gültig der Vergangenheit angehören. am 30. November 2021). 22 UN-Behindertenrechtskonvention. Arbeit und Be- schäftigung, URL: https://www.behindertenrechts- konvention.info/arbeit-und-beschaeftigung-3921/ (aufgerufen am 1. Dezember 2021). 23 Georg FEUSER, Advokatorische Assistenz für Men- schen mit Autismus-Syndrom und/oder geistiger Be- hinderung. Widerspruch oder Chance? URL: http://bidok.uibk.ac.at/library/feuser-advokat.html (aufgerufen am 30. November 2021). IMPRESSUM DER OHBL.: Redaktion: Univ.-Doz. Dr. Meinrad Pizzinini. Für den Inhalt der Beiträge sind die Autoren verantwortlich. Anschrift des Autors dieser Nummer: Mag. Rudolf Ingruber, A-9900 Lienz, Ruefen- feldweg 2 b. Manuskripte für die „Osttiroler Heimat- blätter“ sind einzusenden an die Redaktion des „Osttiroler Bote“ oder an Dr. Meinrad Pizzinini, A-6176 Völs, Albertistraße 2 a; E-Mail: meinrad. Das Recht, alternative Verkehrsmittel zu nutzen, wird aus Klimaschutzgründen zur Pflicht! pizzinini@chello.at.
Sie können auch lesen