Herausforderungen des Sozialstaats im sozialen Wandel
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Zeitschrift für Gemeinschaftskunde, Geschichte und Wirtschaft 75–2018 Herausforderungen des Sozialstaats im sozialen Wandel www.lpb-bw.de due75_cover.indd 2 10.04.18 10:24
Heft 75-2018, 1. Quartal, 35. Jahrgang Thema im Folgeheft: »Deutschland & Europa« wird von der Aktuelle Aufgaben Landeszentrale für politische Bildung staatlicher Baden-Württemberg herausgegeben. Wirtschaftspolitik Direktor der Landeszentrale Lothar Frick Chefredaktion Jürgen Kalb, juergen.kalb@lpb.bwl.de Redaktionsassistenz Verena Richter-Demel, verena.demel@lpb.bwl.de Beirat Günter Gerstberger, im Ruhestand, Robert Bosch Stiftung GmbH, Stuttgart, Renzo Costantino, Ministerialrat, Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Prof. Dr. emer. Lothar Burchardt, Universität Konstanz Dietrich Rolbetzki, Oberstudienrat i. R., Filderstadt Lothar Schaechterle, Professor i. R. Staatliches Seminar für Didaktik und Lehrerbildung Esslingen Dr. Beate Rosenzweig, Universität Freiburg und Studienhaus Wiesneck »Hinweisschild für die Fußgängerunterführung an der U-Bahn-Station‚ Bären- Dr. Georg Weinmann, Studiendirektor, schanze‘. Nürnberg, 15.01.2017« © picture alliance/Geisler-Fotopress Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium Wertheim Lothar Frick, Direktor der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Jürgen Kalb, Studiendirektor, Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg Anschrift der Redaktion Lautenschlagerstraße 20, 70173 Stuttgart Telefon: 07 11/16 40 99-21 oder -43 Fax: 07 11/16 40 99-77 Gestaltung Titel VH-7 Medienküche GmbH, Stuttgart Gestaltung Innenteil Schwabenverlag AG Senefelderstraße 12, 73760 Ostfildern-Ruit Telefon: 07 11/44 06-0, Fax: 07 11/44 06-1 79 Druck Neue Süddeutsche Verlagsdruckerei, Ulm 89079 Ulm »Deutschland & Europa« erscheint zweimal im Jahr. Preis der Einzelnummer: 3,00 EUR Jahresbezugspreis: 6,00 EUR Namentlich gezeichnete Beiträge geben nicht die Meinung des Herausgebers und der Redak- tion wieder. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Nachdruck oder Vervielfältigung auf elek- tronischen Datenträgern sowie Einspeisung in Datennetze nur mit Genehmigung der Redaktion. Titelfoto: dpa, picture alliance, Geisler-Foto- press, 2017 Auflage dieses Heftes: 16.000 Exemplare Redaktionsschluss: 13.4.2018 ISSN 1864-2942 Das komplette Heft finden Sie zum Downloaden als PDF-Datei unter www.deutschlandundeuropa.de due75_cover.indd 3 10.04.18 10:24
Inhalt Inhalt Herausforderungen des Sozialstaats im sozialen Wandel Vorwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Geleitwort des Ministeriums ............................................. 2 1. Der deutsche Sozialstaat – ein Modell sozialer Gerechtigkeit und Mobilität? Jürgen Kalb. 3 2. Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa Rolf Kleimann. . . . . . . . . . 8 3. Armut im deutschen Sozialstaat Dorothee Spannagel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4. Krise der Sozialsysteme – Konzepte für die Zukunft Thomas Ebert . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 5. Bedingungsloses Grundeinkommen – Rezept für einen modernen Sozialstaat? Luke Haywood . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 6. Bildung und sozialer Aufstieg Steffen Hillmert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 7. Bildungsgerechtigkeit in Deutschland Christina Anger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 8. Sozialstaat und Sozialpolitik in den Reformstaaten Ostmitteleuropas Mathias v. Hofen . . . 72 1 DEUTSCHLAND & EUROPA INTERN D&E-Autorinnen und Autoren – Heft 75 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 D&E Heft 75 · 2018 Inhalt due75_inhalt.indd 1 10.04.18 10:13
Vorwort des Geleitwort des Herausgebers Ministeriums Der soziale Status eines Menschen hängt noch stärker von dem Wie entwickeln sich die Strukturen unserer Gesellschaft? Die Vor- seiner Vorfahren ab als bislang angenommen. Dies unterstreicht stellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gehen weit erneut eine neue Studie der Arbeitsmarktforscher Sebastian auseinander. Das gilt insbesondere für moderne Gesellschaften Braun vom Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) und Jan Stuhler wie Deutschland. von der Universität Madrid, die in der Märzausgabe des »Econo- mic Journal« erschienen ist. Der Schluss der Forscher: Die soziale Erst jüngst entspann sich zum Beispiel eine gesellschaftliche Dis- Mobilität in Deutschland ist deutlich geringer als bislang ange- kussion darüber, ob die nach dem Arbeitslosengeld II garantier- nommen. ten Leistungen ein Leben in Armut bedeuten oder ob sie dazu beitragen, Armut in Deutschland zu vermeiden. OECD-Studien belegen seit langem, dass insbesondere Kinder aus Migrantenfamilien und aus einkommensschwachen Schich- Die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« thematisiert ten weniger am sozialen Aufstieg in Deutschland teilhaben als die vielfältigen »Herausforderungen des Sozialstaats« und be- Kinder zum Beispiel aus Akademikerfamilien. leuchtet dabei multiperspektivisch die verschiedenen Definitio- nen von Armut und vor allem die sich daraus ergebenden Konse- Über Jahrzehnte haben wir in der Bundesrepublik Deutschland quenzen. Ein vergleichender Blick in mittelosteuropäische die Erfahrung machen können, wie sehr es sich lohnt, auf die ei- Staaten verweist auf die dort diskutierten Themen und bereits gene Bildung und die Ausbildung der Kinder den größten Wert zu realisierte gesellschaftspolitische Reformen. legen. Mehr Bildung, mehr Einsatz gerade in jungen Jahren führ- ten in der Regel zu sozialem Aufstieg – das war ein Versprechen, Aktuell stellen der demografische Wandel, die Globalisierung und das die Gesellschaft wie Kitt zusammenhielt, und das an die die Digitalisierung der Arbeitswelt den Sozialstaat vor bisher nächste Generation weitergegeben wurde. Es sicherte nicht zu- nicht gekannte Herausforderungen. Soll und muss der Sozial- letzt die Legitimation der Demokratie in der Bundesrepublik staat, wie wir ihn seit den Aufbaujahren nach dem Zweiten Welt- Deutschland. krieg kennen, umgebaut, eingeschränkt oder ausgebaut werden? Europaweit wird inzwischen diskutiert, ob ein »bedingungsloses Können wir uns hohe Ausgaben für Bildung und Soziales auch in Grundeinkommen« die bisherigen Sozialleistungen ablösen soll. Zukunft leisten? Der Druck des globalen Wettbewerbs, der demo- Ist das ein zukunftsweisender Ansatz oder führt er in eine Sack- grafische Wandel sowie der mit hoher Dynamik fortschreitende gasse? digitale Wandel von Wirtschaft und Arbeitsmarkt bilden einen Horizont, der enorme Finanzierungsprobleme aufwirft und bei Jenseits aller Kontroversen gibt es einen Konsens im Hinblick auf vielen Menschen Sorgen hervorruft. die zentrale Funktion von Bildung: Sie ist Voraussetzung für ge- 2 sellschaftliche Teilhabe und Wohlstand. Ihr Erfolg wird deshalb Die Diskussion um Armut in Deutschland und den Sinn und Zweck auch daran gemessen, ob es ihr gelingt, das zentrale Versprechen von Sozialleistungen sollte deshalb zuvorderst von der Frage ge- moderner Gesellschaften einzulösen, nämlich mit Bildung sozia- leitet sein, wie das Wohlstandsversprechen der deutschen Gesell- les Auskommen oder gar den sozialen Aufstieg zu erreichen. schaft angesichts dieser Herausforderungen auch künftig einge- löst werden kann. Dabei geht es um mehr als die Höhe der Indem die aktuelle Ausgabe von »Deutschland & Europa« solche jeweiligen staatlichen Zahlungen an Menschen in Not. Es geht Aspekte zusammenführt, trägt sie dazu bei, in Schule und Unter- ebenso um die Teilhabe der Menschen im wirtschaftlichen, gesell- richt den Blick auf drängende gesellschaftliche Zukunftsfragen zu schaftlichen und politischen Alltag, also auch um die Stabilität schärfen und sich konstruktiv mit ihnen auseinanderzusetzen. des demokratischen Gemeinwesens. Lothar Frick Jürgen Kalb Dr. Susanne Eisenmann Direktor LpB Baden-Württemberg, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport der Landeszentrale Chefredakteur von des Landes Baden-Württemberg für politische Bildung »Deutschland & Europa« in Baden-Württemberg Vorwort & Geleit wort D&E Heft 75 · 2018 due75_inhalt.indd 2 10.04.18 10:13
HERAUSFORDERUNGEN DES SOZIALSTAATS IM SOZIALEN WANDEL 1. Der deutsche Sozialstaat - ein Modell sozialer Gerechtigkeit und Mobilität? JÜRGEN KALB D ie Bundesrepublik Deutschland ist nicht nur wirtschaftlich extrem erfolgreich, sondern gilt vielen auch und besonders im Bereich der sozi- alen Absicherung als geradezu vorbildlich. In dem im Jahre 1949 formulierten Grundgesetz, der Ver- fassung der Bunderepublik Deutschland, wird in Artikel 20 bereits vom »demokratischen und sozia- len Bundesstaat« gesprochen, der nach Artikel 79 (3) in seinem Kern sogar nicht veränderbar sei. Trotzdem steht auch der Sozialstaat der Bundesre- publik Deutschland seit einigen Jahren im Fokus der politischen Diskussion. Die durch den verstärk- ten globalen Wettbewerb, eine Arbeitslosenzahl von über fünf Millionen sowie eine stetig steigende Staatsverschuldung angestoßene Reform der »Agenda 2010« der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) machte es sich seit 2003 deshalb zum Ziel, den Sozialstaat durch einen Umbau, den sogenannten aktivierenden Sozial- staat, zu erhalten, aber auch zu reformieren. Seit- her wird über die Auswirkungen dieser Reformen diskutiert, ja gestritten. Kurz gesagt geht es auch aktuell um die Frage: Mehr oder weniger Staat? Mehr Freiheit des Einzelnen oder mehr soziale In- 3 tervention im Sinne der sozialen Gerechtigkeit? Eine weitere zentrale Frage stellt dabei die Frage nach der sozialen Mobilität dar. Inwieweit erlauben und ermöglichen unsere Bildungssysteme den so- zialen Aufstieg aller sozialer Schichten und Milieus Abb. 2 »Das erhabene Aufblühen der deutschen Bildungspolitik ...« oder reproduziert unsere Gesellschaft nicht nur © picture alliance / dieKLEINERT.de / Freimut Wössner überwiegend die tradierten Sozialstrukturen? Zur Entstehung des Sozialstaats in Deutschland Seit den Sozialreformen unter Reichskanzler Otto von Bismarck im Deutschen Kaiserreich (1871–1918) beruht das Sozialsystem in Deutschland im Wesentli- chen auf einem Pflichtversicherungssystem für ab- hängig Beschäftigte, zunächst im Bereich der Ren- ten- und Krankenversicherung, später auch der Arbeitslosenversicherung und zuletzt (seit 1995) der Pflegeversicherung. Traditionell werden dabei die Beiträge zu gleichen Teilen von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern getragen, während z. B. die Unfallversicherung ganz vom Arbeitgeber zu finan- zieren ist. Neben diesem Pflichtversicherungssystem existieren in Deutschland zwei weitere Prinzipien, nämlich das Grundsicherungssystem (Fürsorgeprinzip), das sich aktuell z. B. in der Sozialhilfe und bei Arbeitsfähigen Abb. 1 »Wo zieht man in einem reichen Land die Armutsgrenze? Ist jemand, der Sozialhilfe im Arbeitslosengeld II (Hartz IV) widerspiegelt. Paral- bzw. Hartz IV vom Staat bezieht, arm? Legt man als Schwelle bei 60 Prozent des durchschnittli- lel dazu, im Übrigen ebenfalls aus dem Bismarck-Sys- chen Einkommens zugrunde, so zählen hierzulande fast 13 Prozent der Bevölkerung zur Gruppe tem tradiert, existiert das vor allem für Beamte ge- der Armen. Seit Bildung der neuen Großen Koalition im Jahre 2018 ist diese Diskussion auch in schaffene Versorgungsprinzip, das Beamten einige der Regierungskoalition und im Deutschen Bundestag in vollem Gange.« © dpa / Globus Infografik Sonderrechte bei der Versorgung zubilligt wie z. B. ei- D&E Heft 75 · 2018 D &E- Au torinnen und Au toren due75_inhalt.indd 3 10.04.18 10:13
JÜRGEN KALB ner (höheren) Pension statt einer Rente und Zuschüssen zu Krankenkassenkosten (Bei- hilfe). Zahlreiche weitere staatliche Reformen haben dieses System, das aber als Prinzip nach wie vor besteht, erweitert (Abb 6I). Erst jüngst entspann sich dabei eine politisch-öf- fentliche Debatte, ob die Leistungen der Bun- desagentur für Arbeit im Rahmen des Arbeits- losengeldes II (kurz: Hartz IV) ein Leben in Armut bedeute oder eine »Maßnahme gegen Armut« (Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, CDU) sei. Die Debatte um Alternativen zu Hartz IV ist dabei aktuell in vollem Gange. Auf dem Weg zur Abstiegsgesellschaft? In seiner inzwischen in der fünften Auflage er- schienenen Untersuchung »Die Abstiegsgesell- schaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne« stellt der Ökonom und Soziologe Oli- Abb.4 »Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland im Vergleich« © Statistisches Bundesamt 2017 ver Nachtwey die beachtenswerte These auf, die Bundesrepublik Deutschland habe sich in- zwischen zu einer »Abstiegsgesellschaft« entwickelt. Sei es noch in zahlreiche prekäre Arbeitsverhältnisse und marginale Beschäfti- den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei nahezu allen Ge- gungsverhältnisse (IAbb4I) etabliert wurden. sellschaftsschichten sozial aufwärts gegangen, so nehme heute Zu diskutieren ist sicher, ob dieser »Weg zur Abstiegsgesellschaft« der Unterschied zwischen Reich und Arm dramatisch zu. Verant- tatsächlich ein Prozess ist, der die ganze Gesellschaft umfasst, wortlich dafür macht Nachtwey den infolge der Wirtschaftskrisen oder eher vielmehr zur Ausgrenzung immer größerer Teile der Ge- entstandenen und von ihm so bezeichneten »Postwachstumskapi- sellschaft führte, die sich dann in der Folge enttäuscht zeigten talismus«, der sich im Gegensatz zur vorangegangenen Epoche der oder gar radikalisierten. Das noch Ende des 20.ten Jahrhunderts »sozialen Moderne« vor allem dadurch auszeichne, dass sich nicht geglaubte Aufstiegsversprechen großer Teile der Bevölkerung, nur die Vermögens- und Einkommensungleichheit verschärft habe, mit Hilfe von immer höherer formaler Bildung den sozialen Auf- sondern dass auch die Zahl einfacher und schlecht bezahlter Jobs stieg zu erreichen, scheint im Moment zunehmend einer Desillu- zunehme, auch im hochqualifizierten Segment ein Prekariat ent- sionierung zu unterliegen. 4 standen sei und soziale und solidarische Bindungen verloren gin- gen. Soziale Sicherungssysteme schrumpften und die gesellschaft- In der aktuellen Ausgabe von D&E stellt deshalb der Tübinger So- liche Polarisierung nehme zu. Auch in rechtspopulistischen ziologieprofessor Dr. Steffen Hillmert in seinem Beitrag »Bildung Bewegungen in Europa erkennt Nachtwey einen Beleg dafür, dass und sozialer Aufstieg« die aktuelle Forschungssituation dazu dif- die sozialen Aufstiegsversprechen, die noch bis ins Ende des ferenziert dar. Aufgrund der Frauenemanzipationsbewegung und 20. Jahrhunderts ihre Gültigkeit hatten, heute keine Gültigkeit der zunehmenden Berufstätigkeit von Frauen ist dabei der Inter- mehr beanspruchen könnten. Karrieren seien weniger planbar, generationenvergleich ohnehin schwer zu operationalisieren. Aufstiegschancen beschränkt, soziale Sicherungssysteme porös Deutlich wird jedoch, dass es – statistisch gesehen – deutliche geworden. Die »Agenda 2010« habe im Sinne einer neoliberalen Aufstiegsschranken gibt. Wie immer in D&E schließen sich an die staatlichen Maßnahme die Lohnquote gesenkt (IAbb 3I), indem einzelnen Beiträge dann kontroverse, zumeist publizistische Stim- men zur Thematik an, die in Ergänzung zum jeweiligen Beitrag im Unterricht eine sachori- entierte und wertebasierte Diskussion er- möglichen sollen. Gilt das zentrale Aufstiegs- versprechen demokratischer und marktwirtschaftlich verfasster Gesellschaf- ten also nach wie vor? Oder muss tatsächlich, wie Nachtwey postuliert, heute bereits für große Teile der Bevölkerung von einer »Ab- stiegsgesellschaft« gesprochen werden? Auch der Beitrag von Dr. Christina Anger über die »Bildungsgerechtigkeit in Deutsch- land« untersucht Bildungsbarrieren und Möglichkeiten des sozialen Auf- und Abstiegs im deutschen Bildungssystem. Erst jüngst hatte Christina Anger im Auftrag der Konrad- Adenauer-Stiftung eine umfangreiche empi- rische Untersuchung dazu veröffentlicht. Wiederum zeigen sich in den begleitenden Unterrichtsmaterialien zum jeweiligen Arti- kel, welch unterschiedliche Konsequenzen aus solchen empirischen Untersuchungen gezogen werden können. Das relativ Abb.3 »Entwicklung der Lohnquote in Deutschland« © Statistisches Bundesamt 2017 schlechte Abschneiden deutscher Schülerin- D &E- Au torinnen und Au toren D&E Heft 75 · 2018 due75_inhalt.indd 4 10.04.18 10:13
nen und Schüler bei internationalen Leistungstests hat zudem zu einer intensiven Diskussion im In- und Ausland zum Bildungsstandort Deutschland geführt und den Wettbewerb zwischen den einzelnen Bun- desländern zusätzlich befördert. Die größten Sorgen bereitet dabei allen Beteiligten, dass in Deutschland im internationalen Vergleich insbesondere Kinder aus einkommensschwachen Familien sowie mit Mig- rationshintergrund der soziale Aufstieg statistisch deutlich weniger häufig gelingt als anderswo in den führenden Industriestaaten. Armut in Deutschland? Gewiss ist Armut in Deutschland eine andere Armut als in Indien oder Bangladesh. Arme in Deutschland verhungern nicht, bekommen nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 in seinem Hartz-IV-Urteil ebenso wie Menschen, die arbeitsun- fähig sind, ein »menschenwürdiges Existenzmini- mum« garantiert, dessen Höhe allerdings mit zur aktuellen Debatte um die Frage führte, ob Hartz-IV Abb.6 »Das soziale Netz in Deutschland – in Milliarden Euro« © dpa-Infografik, 2017 nun Armut bedeute oder eine Maßnahme zur Armutsbekämpfung sei. Dr. Dorothee Spannagel hat in ihrem Beitrag: »Armut im deutschen Sozialstaat« ausführlich das Ausmaß und die Risiko- gruppen in Deutschland beschrieben, die von Armut betroffen sind. Der Diplomsoziologe Rolf Kleimann erhellt in seinem Bei- trag »Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Eu- ropa« zudem, wie schwierig es ist, Armut europaweit zu definie- ren. Insbesondere die im Materialteil angehängten publizistischen Stimmen zeigen, welch unterschiedliche Konsequenzen Politiker, aber auch Wissenschaftler aus den jeweils verschiedenen Armuts- definitionen bzw. Armutsbegriffen ableiten. Auch die Diskussion 5 um einen absoluten oder wie immer zu definierenden relativen Armutsbegriff ist in vollem Gange. Unbestreitbar ist, dass sich in Deutschland zusätzlich zu den staatlichen Leistungen regelmäßig 1,5 Millionen Bedürftige von den »Tafeln« unterstützen lassen. Davon sind rund 23 Prozent Kin- der und Jugendliche, 53 Prozent Erwachsene im erwerbsfähigen Alter (vor allem ALG-II- bzw. Sozialgeldempfänger und Migranten), 23 Prozent Rentner und 19 Prozent Alleinerziehende (vgl. www. tafel.de). In Deutschland gibt es derzeit 934 Tafeln mit 2.100 Tafel- Läden. Etwa 60 Prozent der Tafeln sind Projekte in freier Träger- schaft verschiedener gemeinnütziger Organisationen und rund 40 Prozent sind eingetragene Vereine. Bundesweit engagieren sich dabei ca. 60.000 Helferinnen und Helfer ehrenamtlich – und das in einem der reichsten Länder der Erde und obwohl das deut- sche Sozialsystem (IAbb. 6I) jährlich bereits Milliarden kostet. Alternativen zum derzeitigen Sozialsystem Seit Jahren wird über Alternativen zum aktuellen Sozialsystem mit seinen tragenden Säulen und Finanzierungsankern (IAbb. 5I) dis- kutiert. So wirbt z. B. der Karlsruher Drogeriemarktgründer Götz Werner bereits seit 1982 für die Idee des »Bedingungslosen Grundeinkommens«. Der Ökonom Luke Haywood, PhD, be- schreibt in seinem Beitrag »Bedingungsloses Grundeinkommen – Rezept für einen modernen Sozialstaat?« Für und Wider dieses Konzepts, das das bisherige Sozialsystem mit all seinen Nuancen ersetzen soll und insbesondere auch eine überbordende Bürokra- tie und Kontrolle ablösen könne. Im Materialteil kommen dazu insbesondere die unterschiedlichen Stimmen von Professor Dr. Thomas Straubhaar, Professor für Internationale Wirtschaftsbe- ziehungen an der Universität Hamburg, und dem Politologen und Abb.5 »Wer finanziert den Sozialstaat?« © dpa / Globus Infografik Armutsforscher Christoph Butterwegge, emeritierter Professor D&E Heft 75 · 2018 D &E- Au torinnen und Au toren due75_inhalt.indd 5 10.04.18 10:13
JÜRGEN KALB der Vierte für Niedriglohn. Über eine Million Hartz-IV-Bezieher sind erwerbstätig, können jedoch entweder nicht Vollzeit arbeiten oder verdienen so wenig, dass sie trotz Arbeit auf Hartz IV angewiesen sind. Nur wenigen ist bekannt, dass von den 4,3 Millionen Hartz- IV-Beziehern nur 1,6 Millionen tatsächlich ar- beitslos sind. Über eine Million Menschen beziehen inzwischen neben ihrer geringen Rente die Altersgrundsicherung. Nicht im Blick sind offensichtlich auch die rund 250 000 Menschen, die in Pflegeeinrichtungen oder Behinderteneinrichtungen von laufen- der Hilfe zum Lebensunterhalt durch die So- zialämter leben. (vgl. Schneider, Paritätischer Wohlfahrtsverband) Der Vorsitzende von Bündnis 90/ Die Grünen Habeck spricht zudem davon, dass dieses System durch seine Kontrollen und dessen Zwang, auch Arbeitsstellen unter der eigent- lichen Qualifikation anzunehmen, nicht nur die versteckte Armut, sondern auch »Abhän- gigkeit und Scham« befördert habe. Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, hat dazu jüngst das soge- Abb.7 »Sozialschutz in der Europäischen Union: 3,9 Billionen Euro gab die EU im Jahr 2014 für Famili- enleistungen, Gesundheitsversorgung und andere Bereiche im Sozialschutz aus. 40 Prozent der Sozial- nannte »solidarische Grundeinkommen« in schutzausgaben stammten aus staatlichen Zuweisungen aus Steuereinnahmen, 54 Prozent aus Sozial- die Debatte geworfen. Er versteht darunter beiträgen. « © dpa Infografik Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor, in dem ein Mindestlohn von derzeit 8,84 Euro je Stunde gezahlt wird. Als Beispiel für solch ge- für Politikwissenschaft am Institut für vergleichende Bildungsfor- förderte Tätigkeiten nennt z. B. das Deutsche Institut für Wirt- schung und Sozialwissenschaften an der Humanwissenschaftli- schaftsforschung (DIW) Betreuung von Älteren, Hausunterhalt, chen Fakultät der Universität zu Köln, zu Wort. Babysitting, Einkaufsdienste für Menschen mit Behinderung, Auch der Diplomvolkswirt und langjährige Rentenexperte der Flüchtlingshilfe oder Ernährungsberatung. Diese solidarische SPD-Bundestagsfraktion, von 1998–2000 Abteilungsleiter im Grundsicherung stehe nun aber nur jenen zu, die auch arbeitswil- 6 Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Dr. Thomas Ebert, lig seien. Der Arbeits-und Sozialminister, Hubertus Heil, SPD, ver- kritisiert in seinem Beitrag »Krise der Sozialsysteme – Konzepte sprach daraufhin, intensiv über Alternativen zu Hartz IV nachzu- für die Zukunft« diese radikale, eher aus dem neoliberalen Lager denken, währen der Finanzminister Olaf Scholz, gleichfalls SPD, stammende Alternative. Allerdings spricht Ebert gleichfalls dem betonte, er wolle lieber am Prinzip der Hartz-Reformen festhal- derzeitigen, auf regulären Arbeitsverhältnissen basierenden Sys- ten. tem die Zukunftsfähigkeit ab. Insbesondere durch die Zunahme Der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Hand- atypischer Beschäftigungsverhältnisse, aber auch die demografi- werks, Holger Schwancke, betonte: »Es kann kaum im Interesse eines schen Prozesse und die Digitalisierung der Wirtschaft, Wirtschaft staatlichen Arbeitsmarktprogramms liegen, einen Verdrängungswettbe- 4.0, sei z. B. Altersarmut eine bedrohliche Folge. werb in Gang zu setzen, der Arbeitsplätze gefährdet.« Genau dieser Auch hier werden im Materialteil wieder Alternativen dokumen- drohe aber mit diesen staatlich finanzierten Arbeitsplätzen. Der tiert, um eine kontroverse Diskussion im Unterricht zu ermögli- Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer sprach gar in Bezug auf diesen chen. Ähnlich wie Dorothee Spannagel von der Hans-Böckler-Stif- »sozialen Arbeitsmarkt« von einem »Irrweg«. Die Unionsparteien tung vertritt auch Thomas Ebert eine Ausweitung sozialstaatlicher schlossen sich dem im Wesentlichen an. Leistungen vor allem für jene, die eben nicht von lebenslangen Während Die Linke parteiintern noch insbesondere über ihr Ver- sozialpflichtigen Beschäftigungsverhältnissen ausgehen können. hältnis zum »Bedingungslosen Grundeinkommen« diskutiert und Finanziert sollte dies über eine Bindung der Sozialleistungen an dazu einen Mitgliederentscheid plant, äußerte sich Habeck, Par- den produktivitätsfortschritt (IAbb. 8I) sowie eine stärkere Be- teivorsitzender von Bündnis 90/ Die Grünen, dezidiert kritisch steuerung der Einkommen- und Vermögen der Gewinner des öko- insbesondere zum solidarischen Grundeinkommen, wie es Müller nomischen und sozialen Wandels schließlich belege die Entwick- vorgeschlagen hat, betont aber die Notwendigkeit einer neuen lung des Gini-Koefizienten, d. h. einem statistischen Ma0 zur Garantiesicherung, »die in allen Lebenslagen Schutz bietet. Am ein- Ungleichverteilung von Einkommen, das Auseinanderdriften der fachsten ist das in den Lebensphasen, in denen wir nicht in Konkurrenz zur Einkommensentwicklung. Erwerbsarbeit stehen, im Alter über eine Garantierente, während der Bil- dung, wenn Kinder klein sind.« (Tagesspiegel) Solidarisches Grundeinkommen Sozialkürzungen in Mittelosteuropa Die »Agenda 2010« war innerhalb der SPD von Anfang an umstrit- ten. Hartz IV, d. h. das Arbeitslosengeld II, das nach einem Jahr Mathias v. Hofen, Politologe und Publizist aus München, stellt Arbeitslosigkeit die staatliche Unterstützung auf das vormalige zum Abschluss in seinem Beitrag: »Sozialstaat und Sozialpolitik Sozialhilfeniveau drückt, dominiert dabei nur die öffentliche De- in den Reformstaaten Ostmitteleuropas« schließlich die Ent- batte. In deutlichem Umfang sind nämlich z. B. auch die prekären wicklung des Sozialstaats in den Transformationsgesellschaften Arbeitsverhältnisse gestiegen, was die Erfolgsbilanz des Anwach- Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn vor. Über alle Regie- sens von Beschäftigung (IAbb 9I) wieder deutlich relativiert. Nach rungskoalitionen hinweg scheinen diese Nachbarstaaten und EU- gewerkschaftsnahen Schätzungen arbeitet heute bereits fast je- Mitglieder deutliche Kürzungen bei den sozialstaatlichen Leis- D &E- Au torinnen und Au toren D&E Heft 75 · 2018 due75_inhalt.indd 6 10.04.18 10:14
tungen als unumkehrbar, ja als »alternativlos« zu betrachten. In gleichem Atemzug verfol- gen sie wirtschaftspolitisch eine Strategie der »flat tax«, vor allem bei den Unterneh- menssteuern, was in seinen Auswirkungen auf den Zusammenhalt in diesen Gesell- schaften, auf die Auswirkungen auf die Bil- dungssystem, das Wiedererstarken des Nati- onalismus und Migrationsströme noch unabsehbar scheint. Dies wird in dieser Radi- kalität in Deutschland bisher nicht diskutiert. Krise und Zukunft des Sozialstaats Wird tatsächlich auf dem »Altar der Haus- haltskonsolidierung der bewährte Wohl- fahrtsstaat« geopfert, wie Butterwegge be- hauptet? Die Herausforderungen an den Sozialstaat im sozialen Wandel sind enorm: demografische Entwicklung, Digitalisierung, verschärfter internationaler Wettbewerb, Abb.9 »Entwicklung der Arbeitsplätze in Deutschland« © dpa/ Globus Infografik, 2018 Staatsverschuldung – um nur einige zu nen- nen. Die Diskussion darüber tut Not, auch und insbesondere an den Schulen und weite- ren Bildungseinrichtungen. möglichkeit und -förderung jener Teile der Bevölkerung, die man- Es geht inzwischen um die Zukunftsfähigkeit der Bundesrepublik cherorts als »Globalisierungsverlierer« tituliert werden. Die sozi- Deutschland im internationalen Konkurrenzkampf sowie um den ale Symmetrie eines Landes wie der Bundesrepublik Deutschland Zusammenhalt in der Gesellschaft. Es geht um menschenwürdige ist dabei keine Selbstverständlichkeit. Gerade die Integration Beschäftigung und auch und nicht zuletzt um die Partizipations- formal bisher geringer qualifizierter Teile der Bevölkerung ist eine enorme und auch finanziell herausfordernde Aufgabe. So gerät neben einer Reform des Sozialstaats in der Bundesrepublik zu- nehmend die Bildungspolitik zu einem wesentlichen Pfeiler des Sozialstaats, um die brach liegenden Ressourcen zu mobilisieren, bestehende Gerechtigkeitslücken zu schließen und damit auch 7 die Legitimierung des demokratischen Staates langfristig zu si- chern. Literaturhinweise Butterwegge, Christoph (2015): Krise und Zukunft des Sozialstaats. www.christophbutterwegge.de/texte/Krise%20und%20Zukunft%20des%20Sozial- staates.pdf Creutzburg, Dietrich (29.3.2018): Hartz-Ideen der SPD verschrecken die Wirtschaft. FAZ Dahm, Jochen, u. a. (2017): Gleichheit! Wirtschaftlich richtig. Politisch notwendig. Sozial gerecht. Berlin. Dietz-Verlag Ebert, Thomas (2015. 2. Auflage): Soziale Gerechtigkeit. Ideen. Geschichte. Kontrover- sen. Bonn (Lizenzausgabe der bpb) Eribon, Didier (2017): Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege. Berlin. edi- tion suhrkamp Habeck, Robert (3.4.2018): Das solidarische Grundeinkommen ist Etikettenschwindel. Tagesspiegel. Habeck ist Vorsitzender der Partei Bündnis 90 / Die Grünen Nachtwey,Oliver (2017, 5. Auflage): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin. edition suhrkamp Prantl, Heribert (18.3.2018): Harum Hartz IV abgewickelt werden muss. Süddeutsche Zeitung Abb.8 »Deutschlands durchschnittlicher Erwerbstätige leisten heute in seiner Reckwitz, Andreas (2017, 2. Auflage): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Struk- Arbeitsstunde doppelt so viel wie noch vor 40 Jahren. Besonders große Fort- turwandel der Moderne. Berlin Suhrkamp schritte in der Produktivität konnten dort gemacht werden, wo durch technischen Fortschritt, den zunehmenden Einsatz von Maschinen und durch optimierte Schneider., Ulrich (22.3.2018): Hartz IV: 416 Euro reichen nicht für die Menschen- Arbeitsabläufe das Ergebnis der Arbeit erheblich gesteigert wurde.« würde. Frankfurter Rundschau. Schneider ist Geschäftsführer des Paritätischen Wohl- © dpa / Globus Infografik 2017 fahrtsverbandes D&E Heft 75 · 2018 D &E- Au torinnen und Au toren due75_inhalt.indd 7 10.04.18 10:14
HERAUSFORDERUNGEN DES SOZIALSTAATS IM SOZIALEN WANDEL 2. Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa ROLF KLEIMANN W ie werden Armut und soziale Aus- grenzung in der Europäischen Union von amtlicher Seite gemessen? Was sind die Datengrundlagen und welche Verfah- ren kommen hierbei zur Anwendung? Der folgende Beitrag beantwortet diese Fra- gen. Dabei werden auch einzelne Kritik- punkte angesprochen. Die Kritik soll dazu dienen, die genannten Verfahren und Vor- gehensweisen besser zu verstehen und zu einer sachgerechten Interpretation der Er- gebnisse führen. Doch zunächst zum politi- schen Hintergrund: Im Sommer 2010 wurde die »Strategie Europa 2020« von den euro- päischen Staats- und Regierungschefs in Kraft gesetzt. Sie ist die Nachfolgerin der auf das Jahr 2010 ausgerichteten Lissabon- Strategie. »Europa 2020« beschreibt die wichtigsten Ansatzpunkte für Beschäfti- gung und intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum in Europa. »Europa 2020« ist auf fünf strategische Oberziele in den Bereichen Beschäftigung, Bildung, 8 Forschung, Umwelt, und soziale Eingliede- rung ausgerichtet. Von diesen Oberzielen Abb. 1 »Immer mehr Armut« © Gerhard Mester, 3.1.2017 haben zwei unmittelbaren Bezug zur Arbeitsmarkt- und Sozi- alpolitik: Bis zum Jahr 2020 soll in der EU die Erwerbstätigen- die Bevölkerung in allen Privathaushalten am Hauptwohnsitz. quote der Männer und Frauen auf 75 Prozent steigen und die Personen, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, gehören Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Men- nicht zur Erhebungsumfang. Auch Untermieter, Gäste, Hausan- schen soll um 20 Millionen reduziert werden. Zur Messung der gestellte und Au-pairs gehören in der Regel nicht zum Haushalt. Gefährdungslagen wurden zusätzlich zur Armutsgefähr- Befragt werden Personen ab ihrem 16. Lebensjahr. Die Hochrech- dungsquote zwei weitere Sozialindikatoren auf der Grundlage nung auf die Gesamtbevölkerung in Deutschland findet anhand von EU-SILC eingeführt: der Anteil der Bevölkerung mit erheb- von Randverteilungen zentraler Merkmale des Mikrozensus statt. licher materieller Deprivation und der Anteil der Personen, Die nachfolgenden Analysen basieren auf den im Oktober 2017 die in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung aktuellen Revisionsständen der Statistik. leben. Die »EU 2020 Indikatoren« – Die Datengrundlage EU-SILC Identifikationsprobleme Die folgenden Ausführungen stellen die Datengrundlage EU-SILC Eine politische Zielvorgabe zur Senkung der Zahl der durch Armut vor und liefern einen kritischen Überblick über die drei genannten und sozialer Ausgrenzung gefährdeten Menschen setzt voraus, sozialen Indikatoren. dass diese Begriffe soweit operationalisiert sind, dass zwischen Seit 2005 werden die »European Union Statistics on Income and »gefährdet« und »nicht gefährdet« bzw. »ausgegrenzt« und »nicht Living Conditions« (kurz: EU-SILC) in den 27 Mitgliedstaaten der ausgegrenzt« unterschieden werden kann. EU und in einigen der Nachbarstaaten erhoben. Der deutsche Ansätze zu einer derartigen Abgrenzung markieren auch den his- Beitrag zu dieser Gemeinschaftsstatistik trägt den Titel »Leben in torischen Beginn der systematischen Armutsforschung gegen Europa«. EU-SILC steht damit in der direkten Nachfolge des Euro- Ende des 19. Jahrhunderts (vgl. Rowntree (1901) und Booth (1889). pean Community Household Panel (ECHP), das in den Jahren 1994 In den Anfangsjahren der Armutsforschung kamen überwiegend bis 2001 in 15 EU-Staaten erhoben wurde. absolute Messkonzepte zum Einsatz. Absolut meint an dieser Die EU-SILC gelten als eine der zentralen Haushaltsbefragungen Stelle, dass unabhängig vom gesellschaftlichen Umfeld Stan- zu den Themenbereichen Einkommen, Lebensbedingungen und dards für eine Mindestversorgung in Bereichen wie Nahrung, Armut der in Europa lebenden Bevölkerung. Die eigentliche Be- Kleidung, Wohnen, Gesundheitspflege und anderen grundlegen- deutung der EU-SILC liegt in den Möglichkeiten eines Vergleichs den Bedarfsgütern festgelegt wurden. Die Grenze zur Armut hin zwischen den europäischen Mitgliedsländern. EU-SILC liefern zu- wurde dann überschritten, wenn die Versorgung in den genann- dem eine Fülle von Kennziffern zu politikrelevanten Fragenstel- ten Lebensbereichen unterhalb einer vorgegebenen Schwelle, lungen. Die statistische Grundgesamtheit der EU-SILC umfasst dem physischen Existenzminimum, lag. Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa D&E Heft 75 · 2018 due75_inhalt.indd 8 10.04.18 10:14
Im Gegensatz dazu setzen die späteren re- lativen Armutsdefinitionen kein Existenz- Die EU 2020 Indikatoren zu Armut und sozialer Ausgrenzung minimum voraus, sondern bestimmten for- male Armutsgrenzen im Verhältnis zum Wohlstandsniveau der jeweiligen Population (Fuchs 1968). Relative Armutsmaße stellen Vereinigungsmenge mithin auf die »übliche« oder »mittlere« Le- bensweise eines Landes als Referenzpunkt 19,7% zur Abbildung eines durchschnittlichen Le- bensstandards ab. Als arm gilt derjenige, „Strenge“ ŵĂƚĞƌŝĞůůĞĞƉƌŝǀĂƟŽŶ dessen Situation einen definierten Mindest- abstand vom gesellschaftlichen Mittelwert Einkommensarmut 3,7% aufweist. Dieser Abstand kann sich als rela- tive Unterversorgung mit Ressourcen, einem 16,5% ^ĐŚŶŝƩŵĞŶŐĞ unterdurchschnittlichen Lebensstandard so- 1,3% wie als mehr oder minder gravierender Ausschluss vom gesellschaftlichen Leben äu- Geringe Erwerbsbeteiligung ßern. Sowohl das Konzept der (Einkommens-) des Haushalts Armutsgefährdung als auch die Materielle Deprivation sind in diesem Sinne relative 6,9% der unter 60-Jährigen Messkonzepte. Aggregationsprobleme Datenbasis: EU-SILC 2016 Der Sozialforschung stehen eine Vielzahl von statistischen Verfahren zur Verfügung, um Aussagen zur Armut oder sozialer Ausgren- Abb. 2 Die »EU 2020 Indikatoren zu Armut und sozialer Ausgrenzung« © Rolf Kleimann, 2018 zung innerhalb einer Population zu treffen. Die einfachste dieser aggregierten Maßzah- len ist die Quote der vom Indikator erfassten, d. h. im vorliegenden Fall deprivierten, Personen. Dies wäre in Äquivalenzgewichtung vorliegendem Fall der EU 2020 Indikatoren … Sollen die Einkommen von Haushalten unterschiedlicher Größen- 1. die Armutsrisikoquote, (Die Begriffe »Armutsgefährdung« und und Altersstruktur verglichen werden, ist eine Gewichtung der »Armutsrisiko« werden hier, wie auch in der Literatur, als Synonyme Einkommen unerlässlich. Im einfachsten Fall könnte das Haus- 9 verstanden. Sie beschreiben denselben Sachverhalt.) haltseinkommen durch die Zahl der Personen, die davon leben 2. die Quote für die erhebliche materielle Deprivation sowie müssen, geteilt werden. Ein derartiges Einkommen pro Kopf 3. die Quote für die geringe Erwerbsbeteiligung der Haushalte. würde jedoch die erheblichen Einsparpotenziale des Zusammen- lebens nicht berücksichtigen. Um dem Rechnung zu tragen, wer- Das Konzept der »EU 2020 Indikatoren« verwendet genau diese den Einkommen mit sogenannten Äquivalenzziffern gewichtet. Quoten und erlaubt es im Weiteren, hierzu unterschiedliche Diese Gewichte leiten sich aus der jeweiligen Haushaltskonstella- Schnittmengen zu bilden, die die Verflechtung der einzelnen tion ab. Deprivationsmerkmale sichtbar machen (vgl. | Abb. 2 |). Die von EUROSTAT – und den meisten anderen Institutionen – ver- wendete neue OECD-Skala gibt der ersten erwachsenen Person ein Gewicht von 1, allen weiteren Haushaltsmitgliedern ab einem Erster Indikator: Armutsgefährdungsquote Alter von 14 Jahren ein Gewicht von 0,5 und jüngeren Personen unter 14 Jahren ein Gewicht von 0,3. Die Bestimmung der Äquiva- Die Armutsgefährdungsquote ist die am häufigsten verwendete lenzeinkommen erfolgt dann durch Division der jeweiligen Haus- Maßzahl zur Messung relativer Einkommensarmut. Sie ist defi- haltseinkommen durch die Summe der Äquivalenzgewichte eines niert als der Anteil der Personen, deren Nettoäquivalenzeinkom- Haushalts. Alle Personen eines Haushalts bekommen den glei- men weniger als 60 Prozent des nationalen Medians eines Mit- chen Einkommenswert zugewiesen. gliedstaates beträgt. Äquivalenzskalen vom Typ der OECD-Skala gehen dabei von zwei Prämissen aus: Zum einen wird unterstellt, das bei einer steigen- den Haushaltsgröße eine Fixkostendegression in der beschriebe- Einkommensbegriff nen Form erfolgt. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass Personen, die in einem Haushalt zusammenleben, durch die ge- Das Nettoäquivalenzeinkommen ist ein personengewichtetes meinsame Nutzung von Wohnung und Haushaltsgegenständen Haushaltsnettoeinkommen. Es ergibt sich aus den individuellen ein gleiches Wohlstandsniveau erreichen. Markteinkommen der Mitglieder eines Haushalts sowie aus priva- Die Bedarfsgewichtung unterstellt den Haushalten wachsende ten und öffentlichen Transferleistungen. EUROSTAT verzichtet Einsparpotenziale mit zunehmender Personenzahl. Zur Höhe die- dabei auf die Verrechnung selbstgenutzten Wohneigentums in ser Bedarfsgewichte gibt es erwartungsgemäß eine lange Diskus- Form hypothetischer Mieteinnahmen. Das Nettoäquivalenzein- sion. Andere Institutionen finden andere Werte als angemessener kommen ist im Feld der Sozialberichterstattung die zentrale und auch die OECD selbst hat ihre Gewichte in der Vergangenheit Messgröße zur Beurteilung der Entwicklung der Einkommen und bereits erheblich modifiziert. Es könnte auch argumentiert wer- ihrer Verteilung. den, dass je nach Analysezweck unterschiedliche Gewichte geeig- net wären. Hinsichtlich besonders hoher Einkommen ist die Idee der Bedarfsgewichtung ohnehin zu hinterfragen, da i. d. R. nur ein Teil des Einkommens in den eigentlichen Bedarf des Haushalts D&E Heft 75 · 2018 Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa due75_inhalt.indd 9 10.04.18 10:14
ROLF KLEIMANN markierten Bereich unterhalb sĞƌƚĞŝůƵŶŐĚĞƐćƋƵŝǀĂůĞŶnjŐĞǁŝĐŚƚĞƚĞŶ:ĂŚƌĞƐŶĞƩŽĞŝŶŬŽŵŵĞŶƐŝŶĞƵƚƐĐŚůĂŶĚϮϬϭϱ der Dichtefunktion entspricht dem Wert der Armutsgefähr- 60% 100% dungsquote. Die Schwellen- Datenbasis: EU-SILC 2016 werte unterscheiden sich ƌŵƵƚƐƌŝƐŝŬŽďĞƌĞŝĐŚ innerhalb der EU aufgrund ;ƵŶƚĞƌŚĂůďǀŽŶϲϬй der unterschiedlichen Wohl- ĚĞƐDĞĚŝĂŶĞŝŶŬŽŵŵĞŶƐ standsniveaus erheblich. Ě͘Ś͘ϭϮ͘ϳϲϱƵƌŽͿ Die Entwicklung 0 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 Abbildung 4 zeigt die Entwick- EĞƩŽćƋƵŝǀĂůĞŶnjĞŝŶŬŽŵŵĞŶƉƌŽ:ĂŚƌ lung der Armutsrisikoquote ϭϮ͘ϳϲϱƵƌŽͲϲϬйĚĞƐDĞĚŝĂŶĞŝŶͲ für die Jahre ab 2007. Ausge- ŬŽŵŵĞŶƐ;ƌŵƵƚƐƌŝƐŝŬŽƐĐŚǁĞůůĞͿ Ϯϰ͘ϬϮϬƵƌŽͲƌŝƚŚŵĞƟƐĐŚĞƐDŝƩĞů wiesen sind immer die Vorjah- ĚĞƐEĞƩŽćƋƵŝǀĂůĞŶnjĞŝŶŬŽŵŵĞŶƐ reswerte. In Deutschland se- hen wir einen ganz allmähli- Ϯϭ͘ϮϳϱƵƌŽͲDĞĚŝĂŶĚĞƐ chen Anstieg der Armutsge- EĞƩŽćƋƵŝǀĂůĞŶnjĞŝŶŬŽŵŵĞŶƐ fährdung von 15 Prozent in 2007 auf 16,5 Prozent bei 2016. Abb. 3 »Verteilung des äquivalenzgewichteten Jahresnettoeinkommens in Deutschland für das Jahr 2015« Frankreich weist eine weitge- © Rolf Kleimann 2018 hend parallele Entwicklung auf, die Werte liegen hier aller- dings zwei Prozentpunkte un- fließt. Auch sind die Bedarfe in verschiedenen Ländern auf Grund terhalb der deutschen Angaben. Im dritten Vergleichsland Spanien unterschiedlicher regionaler Preisniveaus sicherlich unterschied- lag die Armutsgefährdungsquote bereits 2007 bei knapp 20 Prozent lich hoch. und stieg ab 2014 nochmals deutlich auf über 22 Prozent an. Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland einen Platz im Mittelfeld ein (| Abb. 5 |). Mit einer Armutsgefährdungsquote von Schwellenwerte 16,5 Prozent liegt die Bundesrepublik nur 0,8 Prozentpunkt von gewichteten Mittelwert aller hier aufgeführten Länder entfernt. Als armutsgefährdet gilt derjenige, dessen Nettoäquivalenzein- Dass sich Länder wie etwa die Tschechische Republik (ARQ: kommen den vorgegebenen Schwellenwert von 60 Prozent des na- 9,7 Prozent) hier deutlich besser positionieren, liegt an der Höhe tionalen Median unterschreitet. In Abbildung 3 ist dieser Schwel- der nationalen Armutsrisikoschwelle bzw. der jeweiligen nationa- 10 lenwert markiert. Die gefärbte Fläche links davon gibt die len Einkommensverteilung. Die Armutsrisikoschwelle lag in Positionen innerhalb der Einkommensverteilung an, die unterhalb Tschechien 2016 mit 4.703 Euro gerade mal bei einem Drittel des der Armutsgefährdungsschwelle liegen. Der Flächenanteil im deutschen Wertes von 12.765 Euro. Armutsgefährdung in D, F und ES 2007 bis 2016 Kritik am Konzept 25% Der europäische Vergleich der Armutsgefährdung zeigt bereits eine Schwäche des relativen Armutskonzepts. Obwohl hier Län- der mit sehr unterschiedlichen Wohlstandsniveaus verglichen werden, bewegen sich die Armutsrisikoquoten der Länder in ei- 20% nem relativ engen Korridor. Die Rangfolge erlaubt weniger eine Aussage über das Ausmaß nationaler Armut (-sgefährdung), son- dern beschreibt vielmehr die relative Einkommensverteilung im 15% unteren Bereich. Wenn beispielsweise in der Tschechischen Repu- blik die Einkommen nur halb so hoch wären – bei ansonsten iden- tischen Bedingungen, würde das für viele Personen vor Ort bit- 10% tere Armut bedeuten – bliebe die Armutsgefährdungsquote davon unberührt. Das gleiche träfe auch bei einer hypothetischen Verdoppelung der Einkommen zu. Ein weiterer Kritikpunkt gilt der Äquivalenzgewichtung. Konsum- 5% strukturen sind nicht allein von der Haushaltsgröße und einer groben Alterseinteilung (jünger oder älter als 14 Jahre) abhängig, sondern ganz wesentlich von dem jeweiligen Einkommen des 0% Haushalts (vgl. Ebert und Moyes, 2003). Zudem unterscheiden sich 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 die Konsumstrukturen von Haushalten unterschiedlicher Länder Deutschland Frankreich Spanien (vgl Van Praag und van der Staar 1988). Zudem berücksichtigt der rein auf dem Einkommen basierende Armutsrisikoquote: RelaƟver Anteil derjenigen an der GesamtpopulaƟon, deren Indikator nicht die Lebensphase der erfassten Personen. Es macht äquivalenzgewichtetes NeƩoeinkommen unterhalb von 60% des naƟonalen offensichtlich einen großen Unterschied, ob etwa ein Student Einkommensmedians liegt. oder eine Person Mitte 40 über ein Einkommen von weniger als 12.765 Euro p. a. verfügen. Während für den Studenten das knappe Abb. 4 »Armutsgefährdung in Deutschland, Frankreich und Spanien Salär in der Regel nur ein Durchgangsstadium bedeutet und von 2007–2016« © Rolf Kleimann 2018 keiner Seite mit Armut oder gar sozialer Ausgrenzung assoziiert Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa D&E Heft 75 · 2018 due75_inhalt.indd 10 10.04.18 10:14
Armutsgefährdung Staat Quote Rangfolge IS Island (2015) 9,6% 1 CZ Tschechische Republik 9,7% 2 FI Finnland 11,7% 3 DK Dänemark 11,9% 4 NO Norwegen 12,2% 5 SK Slowakei 12,7% 6 IS NL Niederlande 12,8% 7 FR Frankreich 13,7% 8 SI Slowenien 13,9% 9 SE FI AT Österreich 14,1% 10 HU Ungarn 14,4% 11 NO CH Schweiz 14,7% 12 BE Belgien 15,4% 13 UK Vereinigtes Königreich 15,9% 14 EE CY Zypern 16,0% 15 SE Schweden 16,2% 16 LV DK X DE Deutschland 16,5% 17 W LT MT Malta 16,5% 17 LU Luxemburg 16,5% 19 IE IE Irland 16,6% 20 UK NL PL X EU Europäische Union 17,3% 21 W BE DE PL Polen 17,3% 22 LU CZ PT Portugal 18,9% 23 SK HR ĞƩůĂŶĚ 21,9% 28 IT ES Spanien 22,3% 30 PT El BG Bulgarien 22,9% 31 ES RO Rumänien 25,3% 32 RS Serbien 25,4% 33 MT CY Datengrundlage: EU-SILC Berechnungen: IAW Tübingen Abb. 5 »Armutsgefährdung im europäischen Vergleich« © Rolf Kleimann 2018 wird, deutet ein Monatseinkommen von etwa 1.000 Euro bei einer nunmehr über eine reine »Ja/Nein«-Option hinausgehen. Mack Person »im besten Alter« auf eine misslungene Erwerbs-(bio- und Lansley erweitern Townsends Ansatz dahingehend, dass ge- graphie) hin (vgl. Krämer 1997). fragt wurde, ob der Verzicht auf ein Attribut, wie etwa das Auto, 11 aus finanziellen Gründen erfolge oder weil man keine Verwen- dung dafür habe. Diese Technik der Fragestellung, die erst nach Zweiter Indikator: Erhebliche materielle dem Gut oder der Dienstleistung und dann nach den Gründen für Deprivation das mögliche Nichtvorhandensein fragt, findet sich in allen aktu- ellen Befragungen zum Thema wieder. Konzeption In der aktuellen Armutsforschung kommen im Wesentlichen zwei »Erhebliche« materielle Deprivation Konzepte zur Anwendung: Dies ist zum einen der einkommens- (»Severe Material Deprivation«) basierte Ansatz, der Armut als das Unterschreiten einer relativ zum Medianeinkommen der Bevölkerung definierten Einkom- Nach dem EUROSTAT-Konzept liegt eine erhebliche materielle mensgrenze misst, zum anderen die materielle Deprivation, die Deprivation dann vor, wenn mindestens vier der folgenden neun Armut als das unfreiwillige Fehlen wesentlicher Grundgüter und Kriterien erfüllt sind: Dienstleistungen konzeptualisiert. Beide Ansätze interpretieren mithin Armut als das Unterschreiten gesellschaftlicher Standards 1. Finanzielles Problem, die Miete oder Rechnungen für Versorgungs- von Normalität, sei es des Einkommens oder des Bedarfs an be- leistungen rechtzeitig zu bezahlen. stimmten Gütern bzw. von Dienstleistungen. Beide Konzepte ge- 2. Finanzielles Problem, jährlich eine Woche Urlaub woanders als zu hen von einem relativen Verständnis von Armut aus. Hause zu verbringen. Die ersten Ansätze zur Operationalisierung einer »Materiellen De- 3. Finanzielles Problem, jeden zweiten Tag Fleisch, Fisch oder eine privation« stammen von Peter Townsend aus den späten 70er Jah- gleichwertige vegetarische Mahlzeit einnehmen zu können. ren. Townsends damaliger Deprivations-Index verrechnete die 4. Finanzielles Problem, die Wohnung angemessen heizen zu können. vier Attribute Arbeitslosigkeit, fehlender Immobilienbesitz, feh- 5. Fehlen eines Telefons im Haushalt aus finanziellen Gründen. lender Kfz-Besitz und Überbelegung der Wohnung zu einer Kenn- 6. Fehlen eines Farbfernsehgeräts im Haushalt aus finanziellen zahl, deren Höhe den Grad der individuellen Deprivation abbilden Gründen. sollte. Für die Untersuchung »Poverty in the United Kingdom« 7. Fehlen einer Waschmaschine im Haushalt aus finanziellen Gründen. wurde dieser Ansatz deutlich erweitert. Hier wurde entlang von 8. Fehlen eines Pkw im Haushalt aus finanziellen Gründen. elf verschiedenen Dimensionen die Lebensbedingungen der Be- 9. Finanzielles Problem, unerwartete Ausgaben in einer bestimmten fragten mittels einer Itembatterie von 60 Positionen vermessen. Höhe (hier nennt der Interviewer einen länderspezifischen Betrag) War die Auswahl der Items bei Townsend noch eine ad hoc-Set- aus eigenen finanziellen Mitteln bestreiten zu können. zung, so haben sich die Selektionsverfahren für die hier zu ver- wendenden Items seither stetig weiterentwickelt. Das Gleiche gilt Abb. 7 gibt einen Eindruck, wie häufig die Deprivations-items im für die wechselseitige Verrechnung der Komponenten und eine Jahre 2016 in Deutschland genannt wurden. Die unterschiedliche weitergehende Differenzierung der Antwortmöglichkeiten, die Länge der Balkendiagramme deutet bereits die sehr unterschiedli- D&E Heft 75 · 2018 Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa due75_inhalt.indd 11 10.04.18 10:14
ROLF KLEIMANN che Resonanz auf die einzelnen Items an. Te- lefonanschlüsse, Fernsehgeräte und Wasch- ,ćƵĮŐŬĞŝƚ͕ŵŝƚĚĞƌĞŝŶnjĞůŶĞ/ƚĞŵƐnjƵƌĞƐƟŵŵƵŶŐDĂƚĞƌŝĞůůĞƌĞƉƌŝǀĂƟŽŶŝŶĞƵƚƐĐŚůĂŶĚĂƵŌƌĞƚĞŶ͘ maschinen sind zumindest in Deutschland ĞƉƌŝǀĂƟŽŶƐŵĞƌŬŵĂů 2016 njƵŵsĞƌŐůĞŝĐŚ͗ϮϬϭϭ bereits derart selbstverständlich, dass der Anteil der Bevölkerung, der sich derartige Gü- ϭĂ ZƺĐŬƐƚĂŶĚ͗
Η^ƚƌĞŶŐĞΗŵĂƚĞƌŝĞůůĞĞƉƌŝǀĂƟŽŶ Staat QuŽte RangfŽlge SE Schweden 0,8% 1 CH Schweiz 1,4% 2 IS Island (2015) 1,5% 3 LU Luxemburg 1,6% 4 NO EŽƌǁĞŐĞŶ 1,9% 5 FI Finnland 2,2% 6 IS NL Niederlande 2,6% 7 DK Dänemark 2,7% 8 AT Österreich 3,0% 9 SE FI X DE Deutschland 3,7% 10 W MT Malta 4,4% 11 NO FR Frankreich 4,5% 12 EE Estland 4,7% 13 CZ Tschechische Republik 4,8% 14 EE UK Vereinigtes Königreich 5,2% 15 BE Belgien 5,4% 16 LV DK SI ^ůŽǁĞŶŝĞŶ 5,4% 17 LT ES Spanien 5,8% 18 IE Irland 6,6% 19 IE PL WŽůĞŶ 6,7% 20 UK NL PL X EU ƵƌŽƉćŝƐĐŚĞhŶŝŽŶ 7,6% 21 W BE DE SK ^ůŽǁĂŬĞŝ 8,1% 22 LU CZ PT WŽƌƚƵŐĂů 8,3% 23 SK IT Italien 12,0% 24 FR AT HU HR ĞƩůĂŶĚ LT Litauen 13,5% 27 RS CY Zypern 13,6% 28 BG HU Ungarn 16,2% 29 IT RS Serbien 19,5% 30 PT El EL Griechenland 22,4% 31 ES RO Rumänien 23,7% 32 BG Bulgarien 31,9% 33 MT CY Datengrundlage: EU-SILC Berechnungen: IAW Tübingen Abb. 8 »Erhebliche materielle Deprivation im europäischen Vergleich« © Rolf Kleimann 2018 Dritter Indikator: Geringe Erwerbsintensität Kritik der Haushalte Es ist offensichtlich, dass eine nur geringfügige oder keine Er- Konzeption werbstätigkeit nicht unbedingt eine soziale Notlage impliziert. 13 Der Indikator erfasst ja auch Personen, deren finanzielle Lage Das Armutsrisiko von Erwerbstätigen ist grundsätzlich niedriger nicht erfordert, dass sie oder andere Haushaltsmitglieder er- als das der Nichterwerbstätigen. Erwerbstätigkeit kann daher als werbstätig sind. wirkungsvolle Absicherung gegen Armut interpretiert werden. Der Indikator für Personen in Haushalten mit sehr geringer Er- werbsintensität erfasst Personen im erwerbsfähigen Alter, die in Geringe Erwerbsintensität in D, F und ES 2007 bis 2016 Haushalten leben, in denen erwachsene Haushaltsmitglieder im 14% Jahr vor der Erhebung eine Erwerbstätigkeit im Umfang von weni- ger als 20 Prozent ihres gesamten Erwerbspotenzials ausübten; 12% diese Personen sind häufiger von sozialer Ausgrenzung betroffen. Als Personen im erwerbsfähigen Alter gelten Personen im Alter zwischen 18 und 59 Jahren, mit Ausnahme von Schülern und Stu- 10% denten zwischen 18 bis 24 Jahren. Eine Familie mit Kindern, in der beispielweise nur der Ehemann halbtags arbeitet und die Ehefrau 8% keiner Tätigkeit nachgeht, fiele also noch nicht in diesen Perso- nenkreis. 6% Entwicklung 4% Die Liniengraphik in Abbildung 9 zeigt, dass es in Deutschland 2% und Frankreich 2016 zwischen 6 Prozent und 7 Prozent der Bevöl- kerung in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsintensität leben. Die Tendenz seit 2007 ist fallend, in Deutschland waren die Werte 0% in allen Jahren etwas höher. Gänzlich anders ist die Lage in Spa- 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 nien. Hier sehen wir seit 2009 einen rasanten Anstieg dieses Indi- Deutschland Frankreich Spanien kators, von 6 Prozent auf 13 Prozent in 2014. Seit 2015 sinken die Indikatorwerte wieder. Im europäischen Vergleich sehen wir eine Geringe Erwerbsintensität : RelaƟver Anteil derjenigen an der GesamtpopulaƟon, Spannbreite von etwa 4 Prozent (Island, Estland, Schweiz) bis die in Haushalten leben, deren Erwerbsintensität nur 20% oder weniger beträgt. knapp unter 16 Prozent (Serbien) für den Anteil der Personen in Haushalten mit sehr geringer Erwerbsintensität. Der EU-Wert liegt bei knapp 8 Prozent, der Wert für Deutschland liegt etwa ei- Abb. 9 »Geringe Erwerbstätigkeit in Deutschland, Frankreich und Spanien nen Prozentpunkt darunter. 2007–2016« © Rolf Kleimann 2018 D&E Heft 75 · 2018 Die Messung von Armut und sozialer Ausgrenzung in Europa due75_inhalt.indd 13 10.04.18 10:14
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