Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
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Ansprechstellen im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Januar 2022 Ausgabe 90 Schwerpunkt: ZWEI JAHRE PANDEMIE
Liebe Leserinnen und Leser, am 31. Dezember 2020 meldete China eine neue Lungenkrankheit an die WHO, am 07. Januar wurde das Virus identifiziert. Die erste Person außerhalb Chinas wurde am 13. Januar in Taiwan gemeldet. Deutschlands sogenannter „Patient 1“ wurde am 27. Januar identifiziert. Am 30. Januar erklärte die WHO den Ausbruch zur „gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite“. Am 11. Februar erhielt die Erkrankung von der WHO den Namen „Covid-19“ und das Virus den Namen „SARS-CoV-2“. Die ersten Covid-19-Patienten starben Anfang März 2020. Zwei Jahre Pandemie haben alle Menschen herausgefordert, die Mitarbeitenden auf Intensivstationen und in Altenheimen auf besondere Weise. Zur körperlichen Belastung kam vieles andere, darunter die Sorge vor Ansteckung, das Aushalten des einsamen Sterbens oder auch die Wut über Unvernunft. In der Hospiz- und Palliativversorgung hat die Pandemie ebenfalls ihre Spuren hinterlassen. Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe schauen dabei nicht nur auf die belastenden Elemente, sondern auch auf andere Begleiterscheinungen, darauf, wie Herausforderungen gemeistert und neue „Begegnungsräume“ geschaffen werden können. Eine gute Lektüre wünscht Ihnen Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus SCHWERPUNKT ZWEI JAHRE PANDEMIE 4 Reflexion über Sinn und 13 Kein Ende in Sicht – aber mehr Bedeutung des Lebens während Sicherheit im Umgang der Corona-Pandemie Christoph Voegelin, Sabine Löhr, Judith Arndt Büssing Kohlstruck 8 Wie wirkt sich die Corona- 16 Die Coronapandemie als Türöffner Pandemie auf die Belastung Marcel Globisch pflegender Angehöriger aus? Katharina Geschke 19 Digitale Sterbebegleitung in Zeiten der Corona-Pandemie 11 Sterben ohne Abschied Claudia Ohlsen, Roland Repp Anke Sauter 21 Wenn einer von uns geht ... Rabea Brake, Martina Reykowski Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 22 Veranstaltungen 23 Impressum
ZWEI JAHRE PANDEMIE REFLEXION ÜBER SINN UND BEDEUTUNG DES LEBENS WÄHREND DER CORONA-PANDEMIE © Grete Achtermann Ergebnisse einer kontinuierlichen Kohortenstudie ARNDT BÜSSING W ährend der COVID-19-Pandemie Menschen starben in Alten- und Pflegeheimen wurde uns vor Augen geführt, wie sowie Krankenhäusern und Hospiz-Einrichtungen brüchig das als selbstverständlich oft alleine – oder nur mit stark eingeschränkten Genommene ist. Bestimmte Dinge Besuchsmöglichkeiten durch ihre Angehörigen. gehen nicht mehr so wie erhofft, Zukunftspläne Das auf soziale Beziehungen angewiesene Indivi- werden beschnitten, die Vulnerabilität und Endlich- duum, egal in welcher Lebensphase, war auf einmal keit des Lebens wird deutlich – es betrifft auch mich reduziert auf das Wesentliche. (und nicht nur immer die anderen). Auch im eigenen Umfeld verschwanden auf einmal Menschen aus Nach dem ersten Lockdown im März und April 2020 dem Leben – sie waren nicht mehr da, gestorben waren alle erschrocken und atmeten dann in den an einem sich pandemisch verbreitenden Virus, das Sommermonaten erleichtert auf: Es war scheinbar auf einmal das Leben aller bedroht. Viele verloren noch einmal gutgegangen, wir können wieder hin- ihre berufliche Perspektive, manche Infizierte aus in den Sonnenschein und uns umarmen; es leiden an Langzeitfolgen („Long Covid“) — und geht also unbeschwert weiter. – Nein. Denn im andere blieben gänzlich unbeschwert. Herbst 2020 stiegen die Infektionszahlen wieder stark an, sodass im November 2020 ein „Lockdown Zunächst gab es keine Möglichkeit der kurativen light“ beschlossen wurde, der im Dezember 2020 Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Behandlung oder der Impfung, es gab nur die weiter verschärft wurde, und im Januar 2021 dann einfachen Mittel des Abstandhaltens und der ein „harter Lockdown“ erfolgte, der zunächst bis Schutzmasken, der gemeinsamen Rücksichtnahme Februar galt und dann bis März verlängert wurde. und Verantwortungsübernahme – verbunden mit Im März und April 2021 wurden mehrere Einschrän- Einschränkungen der individuellen Freiheit und der kungen aufgehoben, wobei jedoch die Infektions- Teilhabe am öffentlichen Leben, das herunterge- zahlen erneut anstiegen (3. Infektionswelle). In den fahren werden musste, um Risikogruppen zu Sommermonaten 2021 sank die Zahl der Neuinfek- schützen und das Gesundheitssystem zu entlasten. tionen wieder ab; viele konnten sich impfen lassen,
ZWEI JAHRE PANDEMIE 5 und es wurden etliche Einschränkungen aufgeho- jedoch, dass der Anteil derjenigen, die dieses ben. Doch erneut kam die Ernüchterung: Im August (sorgenvolle) Nachdenken über die Lebenszeit und September 2021 stieg die Zahl der Infizierten infolge der Corona-Pandemie aufweisen, doch wieder an, zunächst schwächer, aber dann ab recht hoch ist: Über die gesamte Beobachtungs- Oktober und November steil (und nun betrifft es spanne hinweg machten sich im Mittel 46 % sehr vornehmlich die Gruppe der immer noch Ungeimpf- wohl solche Gedanken, 29 % jedoch nicht und 25 % ten). Mit dem Erschrecken über die hohen Zahlen waren diesbezüglich indifferent. Ebenfalls 46 % Sterbender und Infizierter mit Langzeitfolgen wurde machten sich sehr wohl Gedanken über Sinn und es sehr deutlich: Es kann auch mich und meine Bedeutung ihres Lebens, aber 26 % eben nicht und Familie betreffen. Viele hatten genau diese Angst 28 % waren indifferent. Diese Proportionen verän- und empfanden sich als hilflos; dies betraf sowohl derten sich im Zeitverlauf nur geringfügig; die Personen mit Tumorerkrankungen als ein Beispiel bewusste Reflektion wird nicht intensiver in Abhän- einer vulnerablen Gruppe (Büssing et al., 2020a, gigkeit von der Pandemie-Dynamik, so wie man es 2021a) als auch alle anderen (Büssing et al., 2010b, für die anderen genannten Empfindungen beob- 2021b). Insbesondere mit der zweiten Infektions- achten kann. welle und dem zweiten Lockdown stieg der Anteil derjenigen an, die sich als einsam und sozial iso- liert empfanden und deren Wohlbefinden in Berei- che absank, wie man sie in depressiven Situationen finden kann (Büssing et al., 2021b; Büssing, 2022). Eigentlich hat sich im Lauf der verstärkten Restrik- tionen infolge der Corona-Pandemie für viele eine Situation ergeben, die in Grundzügen (bei aller Unterschiedlichkeit) auch bei Menschen in der palliativen Begleitung gegeben sein kann. „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz“, meinte der biblische Psalmist (Ps 90, 12). Wenn einem die (auch eigene) Vergänglichkeit nahe rückt, wird man dann auch bewusster und wertschätzender in seinen Lebensbezügen – oder macht man weiter wie bisher? Abbildung 1: Verlauf der Zielparameter im Zeitver- lauf der Pandemie (Juni 2020 – nach dem 1. Lock- Gerade mit dem Beginn der deutlicheren Einschrän- down; Juli bis September 2020 – Sommermonate kungen mit der zweiten Infektionswelle und dem 2020; Oktober 2020 bis Januar 2021 – 2. Infektions- zweiten Lockdown stieg die Wahrnehmung an, vom welle; Februar 2021 – Zwischen-Drop; März bis Mai Leben abgeschnitten zu sein und das Empfinden, 2021 – 3. Infektionswelle; Juni bis Juli 2021 – dass die (zuvor oft als selbstverständlich genom- Sommermonate 2021; August bis September 2021 menen) sozialen Kontakte fehlen (Abbildung 1). – Beginn der 4. Infektionswelle). Die Standardab- Beide Empfindungen verloren im weiteren Verlauf weichungen wurden aus Gründen der Übersicht- der Pandemie an Intensität, bleiben jedoch auf ho- lichkeit nicht dargestellt. Teilgenommen haben an hem Niveau. Die Veränderungen im Zeitverlauf sind der anonymen Befragung zum Analysezeitpunkt im Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 für beide Variablen signifikant (p
6 ZWEI JAHRE PANDEMIE Gedanken: Was, wenn es mich auch betrifft? Was Ob ich über diese Dinge nachdenke, macht mich also kann ich, was will ich noch tun? Was ist mir wirklich kaum zufriedener in meinem Leben. Beides hängt wichtig? Wer steht zu mir und ist für mich da, und zwar geringfügig invers miteinander zusammen, wer hält meine Hand, wenn es zu dunkel wird im aber man kann auch zufrieden in seinem Leben Leben? sein, ohne an die Endlichkeit erinnert zu werden und sich die Frage nach Sinn und Bedeutung seines Nach dem ersten Lockdown fiel auf, dass die meis- Lebens zu stellen. Das schließt jedoch nicht aus, ten einerseits ihre sozialen Beziehungen mehr dass es sehr wohl Menschen gibt, die aufgrund sol- wertschätzten und intensiver wahrnahmen, dass cher Reflexionsprozesse zufriedener werden oder sie sich öfter Zeit nahmen, um in die Natur zu gehen häufiger staunend innehalten und Dankbarkeit und sie intensiver wahrzunehmen, und dass sie empfinden. Aber es ist eben kein generelles Muster, bewusste Zeiten der Stille und Besinnung wert- das auf alle zutreffen würde. Betrachtet man jedoch schätzten (Büssing et al., 2020b). Aber mit der Dauer nur diejenigen, die ein hohes Wohlbefinden haben, der Einschränkungen nahmen diese wertschätzenden dann findet sich auch ein moderater Zusammenhang Wahrnehmungen signifikant ab (Büssing et al., zwischen der Reflexion über Sinn und Bedeutung im 2021b). Scheinbar setzte ein Ermüdungseffekt ein. Leben und staunendem Innehalten und Dankbar- Wenn Ausnahmezustände zu lange anhalten und keit (GrAw-7 Score: r=.35, p
ZWEI JAHRE PANDEMIE 7 Gerade Personen mit depressiver Gestimmtheit Literatur empfinden hier nicht mehr entsprechend, während Büssing, A., Hübner, J., Walter, S., Gießler, W., Büntzel, J. Personen, die scheinbar „unbeschadet“ und mit (2020a). Tumor Patients´ Perceived Changes of Specific Attitudes, Perceptions and Behaviors Due to the Corona großer emotionaler Stabilität durch die Krise kom- Pandemic and Its Relation to Reduced Wellbeing, Frontiers in men, eher staunend innehalten und das Besondere Psychiatry 11, 574314. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020. in ihrem Leben mehr dankbar wertschätzen können. 574314. Büssing, A., Recchia, D.R., Hein, R., Dienberg, T. (2020b). Per- ceived Changes of Specific Attitudes, Perceptions and Be- „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen haviors During the Corona Pandemic and Their Relation to wir ein weises Herz“, meinte der Psalmist. Ob wir Wellbeing, Health and Quality of Life Outcomes 18, 374. im Verlauf der Corona-Pandemie tatsächlich weiser https://doi.org/10.1186/s12955-020-01623-6. geworden sind oder nur emotional erschöpfter, ist Büssing, A., Recchia, D.R., Hübner, J., Walter, S., Büntzel, J., (2021a). Tumor Patients’ Fears and Worries and Perceived unklar. Die Sensibilität für staunendes Innehalten Changes of Specific Attitudes, Perceptions and Behaviors und Dankbarkeit als Ausdruck eines wahrnehmen- Due to the COVID 19 Pandemic Are Still Relevant, Journal den Aspektes der Spiritualität (Büssing, 2021d) war of Cancer Research and Clinical Oncology 147, 1673-1683. zumindest in der Anfangsphase der Pandemie https://doi.org/10.1007/s00432-021-03573-y. Büssing, A., Recchia, D.R., Dienberg, T., Surzykiewicz, J., Bau- stärker ausgeprägt und hat mit der Fortdauer der mann, K. (2021b). Dynamics of Perceived Positive Changes Einschränkungen ebenfalls abgenommen (Büssing and Indicators of Wellbeing Within Different Phases of the et al., 2021b). Diese Fähigkeit zur Anrührung durch COVID-19 Pandemic. Frontiers in Psychiatry 12, 685975. das, was einem begegnet, hängt auch mit einer https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.685975. größeren Wahrnehmung für Natur und Stille sowie Büssing, A., Recchia, D.R., Dienberg, T., Surzykiewicz, J., Bau- mann, K. (2021c). Awe/Gratitude as an Experiential Aspect den sozialen Beziehungen zusammen (Büssing et of Spirituality and Its Association to Perceived Positive al., 2021c). Aber allein dadurch steigt nicht unser Changes During the COVID-19 Pandemic. Frontiers in Psy- Wohlbefinden. Vielmehr ist es ein vermittelnder chiatry 12, 642716. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021. Effekt: Natur und Stille genießen zu können, kann 642716. Büssing, A. (2021d) Wondering Awe as a Perceptive Aspect of zu größerem emotionalen Wohlbefinden führen – Spirituality and Its Relation to Indicators of Wellbeing: Fre- und zwar vermittelt durch staunende Ehrfurcht und quency of Perception and Underlying Triggers. Frontiers of Dankbarkeit (Büssing et al., 2021c). Und diese Psychiatry 12, 738770. https://doi.org/10.3389/fpsyg. Fähigkeit, das Besondere im Leben wahrzunehmen 2021.738770. Büssing, A. (2022). Empfundene Einsamkeit und soziale Isola- und ihm Raum zu geben, ist bei Personen, die tion im Verlauf der Corona-Pandemie In: Giebel, A., Hörsch, meditieren und beten sowie bei Frauen generell D., Hofmeister, G., Lilie, U. (Hrsg). Einsamkeit – Gesell- größer (Büssing et al., 2021c; Büssing, 2021d). Diese schaftliche, kirchliche, diakonische Perspektiven. Evange- Fähigkeit schützt nicht vor den Problemen und lische Verlagsanstalt, Leipzig. dunklen Phasen im Leben, aber sie hilft, bewusster hinzuschauen und das Leben in all seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit mehr wertzuschätzen: Mitten im Leben. Univ.-Prof. Dr. med. Arndt Büssing Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping; Universität Witten/Herdecke Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 IUNCTUS – Kompetenzzentrum für Christliche Spiritualität, Philosophisch-Theologische Universität- Universität Witten/Herdecke Gerhard-Kienle-Weg 4 58313 Herdecke
8 ZWEI JAHRE PANDEMIE © Grete Achtermann WIE WIRKT SICH DIE CORONA-PANDEMIE AUF DIE BELASTUNG PFLEGENDER ANGEHÖRIGER AUS? KATHARINA GESCHKE E inzigartige Herausforderungen Wir haben bereits die Auswirkungen der COVID-19- Für pflegende Angehörige bringt die Pandemie auf die Pflegekräfte von Menschen mit Corona-Pandemie seit März 2020 einzig- Demenz und deren Resilienz zusammengefasst artige Herausforderungen mit sich. Insbe- (Geschke, Palm, Fellgiebel & Wuttke-Linnemann, sondere die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung, 2021) und sind zu dem Schluss gekommen, dass wie Kontaktbeschränkungen, Abstandhalten und die Pandemie die Bedeutung der pflegenden Lockdown-Maßnahmen (Schließung von Geschäften Angehörigen für unsere Gesellschaft noch einmal und Einrichtungen des sozialen Lebens) verändern hervorgehoben hat, da viele Probleme der infor- den Alltag und die Tagesabläufe massiv. Es liegt mellen häuslichen Pflege verschärft wurden. Aus auf der Hand, dass dies zahlreiche Konsequenzen diesem Grund sind unseres Erachtens sowohl für jeden Einzelnen hat. kurzfristige als auch langfristige Maßnahmen not- wendig, die darauf abzielen, (a) Umweltressourcen, Die Corona-Pandemie wirkt sich in mehrfacher Hin- (b) soziale Ressourcen und (c) individuelle Ressour- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 sicht auf die Pflegenden aus: Die Pandemie hat den cen zu steigern. pflegenden Angehörigen und den pflegebedürftigen Personen neue Widrigkeiten auferlegt, die die ihnen möglichen Ressourcen reduziert und den Bisherige Datenlage Zugang zu Angeboten und Hilfen erschwert. Hier- Auch aus Deutschland liegen erste empirische durch wird die Resilienz der pflegenden Angehöri- Befunde vor, die die Auswirkungen dieser Stressoren gen weiter herausgefordert und der Stress für diese für pflegende Angehörige darstellen. Zusammenfas- in der Folge zunehmen. send wurde vor allem ein Mangel an professionellen
ZWEI JAHRE PANDEMIE 9 Unterstützungsleistungen (Budnick et al., 2021; Für berufstätige pflegende Angehörige ist die Gosch, Singler, Kwetkat & Heppner, 2020; Roth- Vereinbarkeit von Pflege und Beruf durch die Coro- gang et al., 2020) während des ersten Lockdowns navirus-Pandemie noch schwieriger geworden deutlich (Pflegedienste stellten ihre Versorgung ein (Rothgang et al., 2020). Es kam zu finanziellen oder reduzierten diese, Tagespflegen schlossen, Mehrbelastungen (Budnick et al., 2021; Horn & die 24-Stunden-Pflegekräfte reisten in ihre Heimat Schweppe, 2020). Ein Teil musste wegen der ab oder kehrten von dort nicht zurück, Pflegestütz- Corona-Pandemie kurzfristig Urlaub nehmen, punkte boten keine Hausbesuche an und auch Überstunden abbauen, Minusstunden machen, Ergotherapie und Physiotherapie wurden teilweise sich anderweitig unbezahlt freistellen lassen oder abgesagt), aber auch informelle Hilfe wurde redu- Arbeitszeit reduzieren, um weiterhin pflegen zu ziert (Horn & Schweppe, 2020; Klaus & Ehrlich, können. Nur sehr wenige nahmen die gesetzlich 2021). Hierdurch wurde die Pflege zeitlich aufwändi- vorgesehene kurzfristige Auszeit oder die (Fami- ger (Rothgang et al., 2020) und die Pflegesituation lien-)Pflegezeit in Anspruch (Budnick et al., 2021; hat sich in vielen Fällen insgesamt verschlechtert Rothgang et al., 2020). (Budnick et al., 2021; Horn & Schweppe, 2020). Dies hatte auch negative Auswirkungen auf den Ein großer Teil der pflegenden Angehörigen fühlte Gesundheitszustand der zu pflegenden Person. So sich in der Rolle als Pflegende/Pflegender bei den gaben über die Hälfte der pflegenden Angehörigen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pande- an, dass aufgrund der Corona-Pandemie wichtige mie nicht angemessen berücksichtigt bzw. von der Arzttermine nicht stattgefunden hätten, und knapp Politik alleingelassen (Horn & Schweppe, 2020; ein Drittel gab an, dass auf eigentlich notwendige Rothgang et al., 2020). Krankenhausaufenthalte verzichtet worden sei (Horn & Schweppe, 2020). Zudem wird eine zuneh- mende emotionale Belastung (Budnick et al., 2021; Umfrage zur Situation der pflegenden Horn & Schweppe, 2020) und Überforderung der Angehörigen pflegenden Angehörigen durch die soziale Isola- Diese oben genannten Befunde können wir durch tion, der erhöhte Betreuungs- und Pflegeaufwand, unsere eigene Umfrage nur bestätigen. Zwischen die Ungewissheit der Situation und die Zunahme Oktober 2020 und Januar 2021 befragten wir von psychischen Symptomen beschrieben. pflegende Angehörige mittels eines eigens hierfür zusammengestellten Fragebogens, welcher in Einige gaben eine Zunahme des Gefühls der Hilflo- Arztpraxen und Pflegestützpunkten auslag und sigkeit, der Verzweiflung und von Wut und Ärger in auch online verfügbar war und beworben wurde. der Pflegesituation an (Budnick et al., 2021). Auch Insgesamt haben wir vollständige Daten von 324 emotional belastende Konflikte mit der pflegebe- pflegenden Angehörigen einerseits retrospektiv zu dürftigen Person hätten zugenommen, wohingegen ihrer Situation während des ersten Lockdowns im schöne Momente mit der pflegebedürftigen Person April 2020 und andererseits zu ihrer zum Zeitpunkt abgenommen hätten (Budnick et al., 2021; Horn & der Befragung aktuellen Situation im zweiten Schweppe, 2020). Danach hatten einige Sorge, die Lockdown im Winter 2020/2021. häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen, und nie- manden zu haben, um über Nöte und Sorgen zu Die Pflegesituation veränderte sich bei 78,4 % der sprechen oder um Unterstützung zu bitten. Pflegende Befragten durch die Corona-Pandemie. Dies betraf Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 schätzten hierdurch ihre eigene Gesundheit weniger vor allem die Verfügbarkeit bzw. Inanspruchnahme gut ein als vor der Corona-Pandemie, sie zeigten von Unterstützungsmöglichkeiten: Während des mehr depressive Symptome und fühlten sich ersten Lockdowns pflegten 50,6 % der Befragten einsamer (Klaus & Ehrlich, 2021; Rothgang et al., ohne Hilfe. 60,8 % hätten sich professionelle Hilfen 2020). Dabei waren Frauen von diesen Negativ- gewünscht, aber nicht erhalten. Trends stärker betroffen als Männer (Klaus & Ehrlich, 2021; Rothgang et al., 2020). Die Pflege war zeitlich, psychisch und körperlich überfordernder als zuvor, so dass die eigene
10 ZWEI JAHRE PANDEMIE Gesundheit schlechter eingeschätzt wurde. Werte Zusammenfassung für Stress und Depressivität waren sowohl während Pflegende Angehörige waren während des ersten des ersten als auch zweiten Lockdowns deutlich und zweiten Lockdowns der Corona-Pandemie, erhöht. Soziodemografische und soziale Unterstüt- insbesondere durch den Mangel an Unterstüt- zungsvariablen, wie (Ehe-)Partner, Demenz-Erkran- zungsmöglichkeiten, deutlich belastet. Vor allem kung, keine Berufstätigkeit, Zusammenleben, für berufstätige pflegende Angehörige war es kaum Verzicht auf Hilfe, niedrigeres Einkommen, hohe möglich, Arbeit und Pflege zu vereinbaren. Die bisher Anzahl an Pflegestunden, lange Dauer der Pflege, politisch geschaffenen Angebote (z. B. Familien- niedriges Alter der zu pflegenden Person und des pflegezeit) wurden kaum genutzt. Zukünftig müssen pflegenden Angehörigen, haben in unserer Umfrage passendere Angebote für pflegende Angehörige einen Zusammenhang mit dieser erhöhten Belas- gefunden und ausgebaut werden, um Überlastung, tung gezeigt. Depressivität und Stresserleben vorzubeugen. Fokus: berufstätige pflegende Angehörige Literatur Unter den berufstätigen pflegenden Angehörigen Budnick, A., Hering, C., Eggert, S., Teubner, C., Suhr, R., Kuhl- unserer Umfrage mussten 49,7 % Überstunden und mey, A., Gellert, P. (2021). Informal Caregivers During the COVID-19 Pandemic Perceive Additional Burden: Findings Urlaub für die Pflege eines Angehörigen aufbrau- from an Ad-Hoc Survey in Germany. BMC Health Services chen. 29,2 % mussten eine Arbeitszeitreduzierung Research, 21(1), 353. doi:10.1186/s12913-021-06359-7. in Anspruch nehmen, um die Pflege bewerkstelli- Geschke, K., Palm, S., Fellgiebel, A., Wuttke-Linnemann, A. gen zu können. Weitere 11,7 % der berufstätigen (2021). Resilience in Informal Caregivers of People Living with Dementia in the Face of COVID-19 Pandemic-Related pflegenden Angehörigen waren betroffen von Kurz- Changes to Daily Life. GeroPsych. doi:10.1024/1662- arbeit und 3,5 % von Arbeitslosigkeit. 23,4 % der 9647/a000273. berufstätigen pflegenden Angehörigen berichteten Gosch, M., Singler, K., Kwetkat, A. & Heppner, H. J. (2020). zudem von sonstigen Veränderungen bei ihrer Geriatrie in Zeiten von Corona. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 53(3), 228-232. doi:10.1007/s00391-020- Arbeit. So gaben einige an, die Pflege nur durch 01725-2. Homeoffice und unbezahlten Urlaub bewerkstelligen Horn, V., Schweppe, C. (2020). Häusliche Pflege in Zeiten von zu können, andere hatten ihre Arbeit aufgegeben Covid-19. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für und gekündigt oder eine Frühberentung beantragt. öffentliche und private Fürsorge e. V. (NDV), 10, 449-464. Klaus, D., Ehrlich, U. (2021). Corona-Krise = Krise der Angehö- Nur 4,7 % der berufstätigen pflegenden Angehöri- rigen-Pflege? Zur veränderten Situation und den Gesund- gen haben die (Familien-)Pflegezeit und nur 0,6 % heitsrisiken der informell Unterstützungs- und Pflegeleis- ein zinsloses Darlehen vom Bundesamt für Familien tenden in Zeiten der Pandemie. dza aktuell deutscher al- und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Anspruch terssurvey, 1/2021. 1-24. genommen. 61,4 % der berufstätigen pflegenden Rothgang, H., Wolf-Ostermann, K., Domhoff, D., Friedrich, A., Heinze, F., Heß, M., Seibert, K. (2020). Zur Situation der Angehörigen hatten aber gleichzeitig den Wunsch häuslichen Pflege in Deutschland während der Corona-Pan- nach mehr finanzieller Unterstützung. demie: Ergebnisse einer Online-Befragung von informellen Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter. SOCIUM, Bremen, Germany. Dr. med. Katharina Geschke Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde Geriatrie Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA) Landeskrankenhaus (AöR) Hartmühlenweg 2-4 55122 Mainz Tel.: 01 57 - 80 69 67 59 k.geschke@zpga.landeskrankenhaus.de
ZWEI JAHRE PANDEMIE 11 © istock.com/TomasRagina STERBEN OHNE ABSCHIED ANKE SAUTER E inen lieben Angehörigen zu verlieren, ist Wut, Schuldgefühle, Sehnsucht als normale schwer. Ihn zu verlieren, ohne ihm Bei- Trauerreaktion stand leisten zu können, fast unerträglich. „Diese Hilflosigkeit, das Gefühl, keinen Beistand Die Kontaktbeschränkungen während der leisten zu können, das ist sehr schlimm für die Men- Pandemie verlangen uns allen viel ab, vor allem schen“, hat Sandra Zulauf beobachtet. Die junge aber im Zusammenhang mit schweren Krankheiten, Psychologin arbeitet am Projekt PROGRID, das Sterben und Tod. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Menschen mit anhaltender Trauer helfen will. Wut, Schuldgefühle, überwältigende Sehnsucht – all Ein Sturz in der Wohnung, ein Knochenbruch mit dies sind normale Reaktionen beim Tod eines na- absehbar langwieriger Heilung – sie standen am hestehenden Menschen. Von „lang anhaltender Anfang einer Leidensgeschichte, die mit dem Tod Trauer“ spricht man, wenn Menschen auch viele endete. Wegen der Infektionsgefahr durfte Frau M. Monate nach dem Tod eines Angehörigen noch von wochenlang keinen Besuch empfangen. Das Virus einer extremen Sehnsucht erfüllt sind und nicht fand trotzdem zu ihr: Eine Physiotherapeutin war wahrhaben wollen, dass es ein Abschied für immer es wohl, die COVID in die Klinik brachte. Mehrere war. „Manche Witwen stellen jeden Tag ein Gedeck Patienten erkrankten, auch Frau M. Nach vielen für ihren Mann auf den Tisch, Eltern, die ihr Kind Wochen sahen die beiden Töchter ihre Mutter end- verloren haben, verändern jahrelang nichts im Zim- lich wieder, am Sterbebett. Zu wissen, wie sehr sie mer des verstorbenen Sohnes“, sagt Regina Steil, unter der Einsamkeit gelitten hat, das war fast außerplanmäßige Professorin für Psychologie an ebenso belastend wie der Tod selbst. der Goethe-Universität Frankfurt und Leiterin des Studienzentrums von PROGRID. Aber auch das Aus- In Zeiten der Pandemie ist es besonders hart, blenden von Erinnerungen an den Verstorbenen schwer zu erkranken. Kein Wunder, dass viele Men- könne ein Symptom sein. Die Betroffenen können schen den Weg zum Arzt scheuen aus Angst, im oft kaum ihren Alltag bewältigen. Regina Steil ist Krankenhaus von den Angehörigen abgeschnitten froh, dass die „anhaltende Trauerstörung“ 2018 Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 zu sein. So werden Erkrankungen verschleppt, die von der WHO als psychische Störung ins interna- noch heilbar gewesen wären. Das ist die eine Seite. tionale Diagnosehandbuch aufgenommen wurde. Die andere Seite ist die der Angehörigen, und sie „Es ist ganz normal, wenn Menschen extrem unter ist nicht minder belastend. Das Klinikpersonal gibt dem Verlust eines/einer Angehörigen leiden. Aber zwar sein Bestes, um die Familien auf dem Laufen- wenn dieses Leiden nicht nachlässt, dann kann das den zu halten, ist jedoch selbst oft am Ende der schwerwiegende Folgen haben. Diesen Menschen Kräfte. Der Besuch am Krankenbett ist aber ohne- kann jetzt geholfen werden“, so Steil. hin nicht zu ersetzen.
12 ZWEI JAHRE PANDEMIE Risikofaktoren für anhaltende Trauerstörung PROGRID-Studie zu verhaltenstherapeutischen Etwa 4 Prozent aller Trauernden entwickeln eine Ansätzen solche Trauerstörung. Gibt es Risikofaktoren? „Stu- Die meisten Menschen werden den Verlust auch in dien zeigen: Wenn der Tod unvorhergesehen ein- Pandemiezeiten irgendwie verwinden. Doch was ist tritt, wenn es die „falsche Reihenfolge“ innerhalb mit denen, deren Kummer sich chronifiziert, wie der Generationen ist, wenn es ein gewaltsamer Tod Psychologen sagen? „Mögliche Folgen sind Sub- durch eine dritte Person war – oder der/die Ange- stanzabhängigkeit – also Sucht –, psychosomati- hörige auf der Intensivstation verstorben ist, das sche Krankheiten wie Autoimmunerkrankungen, sind Aspekte, die die Wahrscheinlichkeit für eine aber auch Depressionen mit suizidalem Ausgang“, anhaltende Trauerstörung erhöhen“, sagt Regina zählt Steil auf. Deshalb sei es so wichtig, die Pro- Steil. „Wenn ein alter Vater hochbetagt stirbt nach blematik rechtzeitig zu erkennen. Im von der DFG langer Pflegebedürftigkeit, dann ist das ein eher geförderten Projekt PROGRID, in dem die Goethe- erwartbares Ereignis“, so Steil. Und dennoch gibt Universität mit den Universitäten Eichstätt-Ingol- es auch in solchen Kontexten Fälle, wo die Trauer stadt, Leipzig und Marburg kooperiert, werden zwei alles aufzufressen droht. „Das hängt dann oft auch verhaltenstherapeutische Ansätze miteinander ver- mit der verstorbenen Person zusammen, mit der glichen. Der eine nimmt die lebenspraktische Seite Beziehung“, erklärt die Psychologin. in den Blick: Gemeinsam mit der Patientin/dem Patienten werden Lösungen für Alltagsprobleme Auch die Pandemie erhöht die Wahrscheinlichkeit gesucht. Der andere Ansatz stellt die Beziehung für eine anhaltende Trauerstörung – zum Beispiel zum/zur Verstorbenen ins Zentrum, die Schuldge- aufgrund von Schuldgefühlen. „Ich hätte mich fühle, die Wut, die Sehnsucht. Die Behandlung um- durchsetzen müssen, dass ich bei ihm/ihr sein fasst eine ausführliche Anamnese, rund 20 kann“ – um solche Sätze kreisten die Gedanken. wöchentlich stattfindende Einzeltherapietermine „Bis zum Schluss bei einem/einer Sterbenden zu sowie kurz- und mittelfristige Kontrollen. Finanziert sein, das vermittle ein gutes Gefühl“, so Steil. Aber wird die Therapie bei PROGRID von den Kranken- gerade auch bei COVID-Kranken sei wegen der kassen. Ansteckungsgefahr ein würdiger Abschied kaum realisierbar. So bleibt der Tod oft abstrakt. Und Waren die Kontaktbeschränkungen während der abstrakt bleiben auch die Bewältigungsrituale. Pandemie gerade auch für Altenheime und Kran- „Auf der ganzen Welt bedeutet Trauer, mit anderen kenhäuser zu hart? „Das würde ich so nicht sagen, Menschen zusammenzurücken, auch physisch. es ging ja immer um das Abwägen gesundheitlicher Aber das ist in der Pandemie nur sehr eingeschränkt Gefahren“, überlegt Steil. Jedoch müsse man diese möglich“, sagt Steil. Die Trauerfeier auf dem Friedhof Seite der COVID-Realität genauer betrachten: Gab unterliegt den Abstandsregeln, engste Familienmit- es mehr depressive Erkrankungen? Mehr Suizide? glieder sitzen im Abstand von zwei Metern in der Und auch die Situation der Mitarbeiterinnen und Aussegnungshalle, ohne Körperkontakt. Anschlie- Mitarbeiter an Kliniken müsse näher untersucht ßende Treffen bei Kaffee und Kuchen und Gesprächen werden, sie hänge mit dem Leiden der Angehörigen sind nicht machbar. So fühlen sich die Angehörigen eng zusammen. oft einsamer, als es zu „normalen“ Zeiten der Fall wäre, alleingelassen mit dem Schmerz und den Gedanken, die sich im Kreis drehen. Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Dr. Anke Sauter Referentin für Wissenschaftskommunikation Abteilung PR und Kommunikation © Uwe Dettmar Goethe-Universität Frankfurt sauter@pvw.uni-frankfurt.de
ZWEI JAHRE PANDEMIE 13 KEIN ENDE IN SICHT – © Grete Achtermann ABER MEHR SICHERHEIT IM UMGANG CHRISTOPH VOEGELIN, SABINE LÖHR, JUDITH KOHLSTRUCK E ine vergleichbare Situation hat es seit der oder einer ambulanten Begleitung bedurft hätten, Eröffnung des St. Christopher Hospice im konnte hospizlich-palliative Versorgung im ge- Jahr 1967 nicht gegeben. Entsprechend wünschten bzw. erforderlichen Maße angeboten unvorbereitet traf der Pandemie-Aus- werden. bruch Anfang 2020 die Hospiz- und Palliativ- Einrichtungen und -Verbände, aber leider auch die Im stationären Bereich erfolgten Anmeldungen, Ämter und Ministerien sowie die politischen aber auch Absagen zunehmend sehr kurzfristig. Entscheidungsträger. Planungssicherheit bei den Belegungen war viel- fach nicht gegeben. Die „Aufnahmelisten“ vieler Dreizehn sich teilweise widersprechende Allgemein- Einrichtungen gingen gen Null. verfügungen und Verordnungen der Kommunen, Länder sowie des Bundes – mit bis zu achtzehn Der immer wieder kurzfristig verlängerte Rettungs- Überarbeitungen – entstanden in der Zeit seit den schirm stellte sicher, dass Mindereinnahmen und ersten Erkrankungsfällen. Einzig in der CoronaTest- Mehraufwendungen zumindest in Teilen refinan- QuarantäneVO (Fassung vom 11.10.2021) werden ziert werden konnten. Große Einbußen hat es im im § 5 (Geltungsbereich) und § 10 (Einrichtungen der Bereich der Spenden, einem unverzichtbaren medizinischen Betreuung und der Versorgung am Bestandteil der Finanzierung der Hospize und der Lebensende) Hospize explizit aufgeführt. Hospizarbeit, gegeben. Ursächlich dafür sind u. a. die Absage von Sponsoringveranstaltungen oder Durchführungsbeschränkungen bei Bestattungen. Zu Beginn: Unsicherheit und deutlicher Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Rückgang der Betreuungen Anhaltend berichtet eine größere Anzahl der im Die anfänglichen Unsicherheiten beim Umgang mit HPV NRW organisierten Hospize von einer deut- dem Virus führten in den stationären Hospizen zu lichen Mehrbelastung innerhalb des Teams durch deutlichen Aufnahmerückgängen von bis zu 30 %. die erhöhten Hygienevorschriften, durch Personal- In den Krankenhäusern und im ambulanten Bereich ausfall wegen Krankheit und/oder Quarantäne herrschte große Unsicherheit bezüglich der Auf- sowie aufgrund aufwändigerer Pflege durch Isola- nahmebedingungen und der Besuchsmöglichkei- tionsmaßnahmen. Bei teambildenden Maßnahmen ten. Nicht allen Menschen, die eines Hospizplatzes ist weiterhin Einfallsreichtum gefragt. Gespräche
14 ZWEI JAHRE PANDEMIE demie und auch noch während der ersten Wellen sank die Anzahl der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, teils durch die persönliche Sorge bei bestehen- den Vorerkrankungen oder durch den Umstand, dass der überwiegende Teil zu den Lebensälteren mit dementsprechen- den Risikofaktoren gehört. Bis zu 50 % der © Hospizbewegung Ratingen e.V. Einsatzkräfte fiel in den Hospizeinrichtungen aus. Nicht alle sind mittlerweile wieder aktiv, doch mit den aktuellen Hygienekonzepten konnte eine weitere Abnahme gestoppt werden. Durch Online-Schulungen haben zudem neue ehrenamtlich Tätige den Weg in die Hospizarbeit gefunden. werden aus den Büros ausgelagert und auf Spa- Hospizarbeit mit AHA-L ziergängen geführt. Informationsaustausch und Wirklich schwer ist Hospizarbeit „under cover“. Die überörtliche Treffen erfolgen meist als Videokon- schützende Mund-Nasen-Bedeckung ist Fluch und ferenz. Segen zugleich. Unterstützende Mimik ist gerade in hospizlich-palliativen Begegnungen enorm wichtig. Der ambulante Bereich berichtete uns, dass der Hier muss häufig auf nonverbale Kommunikation Rückgang an Begleitungsanfragen, besonders in zurückgegriffen werden und gerade diese wird mit der ersten Welle, eklatant war, hier sanken die Maske enorm erschwert. Dennoch berichten viele Anfragen teilweise um mehr als zwei Drittel. Insbe- ehrenamtliche Hospizmitarbeiterinnen und -mitar- sondere in Senioreneinrichtungen, wo zeitweilig beiter, dass es ihnen trotz Maske gelingt, in Kontakt nicht einmal Angehörige Zugang hatten, sind viele mit den Patientinnen und Patienten zu gehen – eine Menschen einsam gestorben. Starke Proteste und wunderbare und tröstliche Fähigkeit. später auch die Impfungen haben diesen Zustand abgemildert. Im Laufe der Zeit nahmen die Mitarbeitenden auch positive Entwicklungen wahr. So musste und konnte Heute sind Begleitungen und Angehörigenbesuche gewohntes Handeln überdacht werden. Neue Ideen wieder möglich. Lange Verhandlungen auf Bundes- zur Kontaktaufnahme wurden entwickelt. ebene erreichten, dass auch im am- bulanten Bereich die Förderrichtlinien angepasst wurden und so der Rück- gang aufgefangen werden konnte. Aber hier brauchten die Verantwort- lichen in den Hospizdiensten viel Zu- versicht und Geduld, denn bis diese Einigung vorlag, war das erste Corona- Jahr praktisch um. © Hospizbewegung Ratingen e.V. Und das Ehrenamt? Ein wichtiger Teil sowohl der stationären als auch der ambulanten Hospizarbeit ist das Ehrenamt. Mit Beginn der Pan-
ZWEI JAHRE PANDEMIE 15 Konzepte mussten überarbeitet und diskutiert wer- den, dadurch kam es auch zur (Rück-) Besinnung auf hospizliche Werte bei den Mitarbeitenden. Auch das Erleben vermehrter Solidarität und guter Netz- © Foto-Reckeweg werkzusammenarbeit wurde positiv hervorgehoben. Christoph Voegelin Ein Hospizdienst berichtete gar, dass die ehrenamt- lich Mitarbeitenden sich so gut informiert und einbezogen fühlen wie noch nie. Was bleibt? Nicht zuletzt entwickelte sich eine vorher unmöglich erscheinende selbstverständliche Nutzung von Medien. So gab es nicht nur telefonische, sondern auch Video-Begleitungen, die als sehr unterstüt- zend empfunden wurden. Und wenn Präsenzveran- staltungen nicht stattfinden konnten, waren Video- © Foto-Reckeweg Sabine Löhr konferenzen eine Alternative, von der viele sagen, dass diese auch zukünftig Teil ihres Kommunika- tionskonzepts sein werden. Die bisher gemachten Erfahrungen mit Einschrän- kungen und Regelungen während der Corona- Pandemie dienen als Erfahrungsgrundlage, auf die im aktuell erneut angestiegenen Ausbruchsgesche- hen zurückgegriffen werden kann. Die gelernte Flexibilität und Kreativität in vielen Bereichen der täglichen Hospizarbeit wird sicher auch zukünftig beibehalten werden. Vor allem aber ist zu hoffen, © Foto-Reckeweg dass die Kombination von Erfahrung, ausreichen- Judith Kohlstruck den Schutzmaterialien, steigenden Impfquoten und politischem Willen dazu führen wird, dass es nie wieder zu einer solchen Menge an im Sterben alleingelassener Menschen kommen wird. Hospiz- und PalliativVerband NRW e.V. info@hpv-nrw.de www.hpv-nrw.de Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90
16 ZWEI JAHRE PANDEMIE © istock.com/Juanmonino DIE CORONAPANDEMIE ALS TÜRÖFFNER Neue Begegnungsräume für junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung MARCEL GLOBISCH D ie Coronapandemie steht vor allem für entstanden sind. Ein Wort, das damit eng verknüpft Ängste, Sorgen, Einschränkungen jeg- ist, lautet Digitalisierung. Es ist ein Begriff, der vor licher Art, Einsamkeit oder auch Trauer. der Pandemie in der Hospizarbeit vermutlich eher Trauer um den verlorenen Alltag, Trauer Zurückhaltung als Euphorie auslöste. Vorbehalte um sicher geglaubte Freiheiten oder gar Trauer um waren zum einen mit fehlenden Erfahrungen, bis- geliebte Menschen, die ernsthaft an COVID-19 weilen sogar Ängsten vor den technischen Heraus- erkrankt bzw. im Zusammenhang mit dem Virus forderungen verbunden, zum anderen aber auch gestorben sind. Vor diesem Hintergrund mag die mit den sehr persönlichen Themen der Arbeit be- Überschrift dieses Beitrages zunächst befremdlich gründet. Lebt Kinder- und Jugendhospizarbeit nicht klingen: Die Coronapandemie als Türöffner! Und vor allem von persönlicher Begegnung? Ja, daran ausgerechnet junge Menschen mit lebensverkürzen- hat sich grundsätzlich auch nichts geändert. Und der Erkrankung sollen davon profitiert haben …? Dies doch … Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 bestätigen die Worte von Egzon, einem jungen Mann mit spinaler Muskelatrophie: „Bei allem, was an Corona echt schlecht war, ist das hier was Etablierung digitaler Formate als soziale Orte Gutes!“ (DKHV, 2021: 46) der Begegnung Das Risiko für Familien, in denen ein Kind lebens- Der folgende Beitrag soll daher vom „Guten“, den verkürzend erkrankt ist, soziale Isolation zu erfah- positiven Errungenschaften berichten, die als Ant- ren, ist deutlich erhöht. Sozialkontakte sind nicht wort auf die Pandemie und ihre Herausforderungen selten auf die Kernfamilie beschränkt, schwache
ZWEI JAHRE PANDEMIE 17 oder fehlende Einbindung in ein soziales Netzwerk gefunden zu haben, in dem ich mich ganz offen (Verwandte, Freunde, Nachbarn), das Gefühl des austauschen kann. Auch wenn wir uns noch nicht Alleinseins und der Isolation treten auf (vgl. VK KiJu, so lange kennen, fühlt es sich so an, als würde ich 2018: 11; 31; Herriger, 2014: 61). Umso wichtiger mich mit Freunden unterhalten oder mit guten erschien es daher bereits zu Beginn der Pandemie, Bekannten, mit denen man über ganz viele Dinge den Kontakt zu den Familien und insbesondere reden kann. In besonderer Erinnerung ist mir da auch den jungen Menschen mit lebensverkürzender der Austausch geblieben, bei dem wir über Ängste Erkrankung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern gesprochen haben.“ (DKHV, 2021: 47) Plambeck et wenn möglich, sogar zu intensivieren. Vor diesem al. benennen den Austausch von Erfahrungen und Hintergrund führte der Deutsche Kinderhospizver- Informationen im Gespräch, gegenseitige Unter- ein e. V. (DKHV e. V.) im Mai 2020 drei Onlinebefra- stützung bei der Bewältigung von Problemen, Über- gungen von Familien durch, in denen die jungen windung von Isolation und Einsamkeit sowie Menschen selbst, Eltern mit Kind bzw. Kindern mit Bildung von neuen sozialen Beziehungen, z. B. lebensverkürzender Erkrankung, Eltern mit gestor- durch Organisation von gemeinsamen Aktivitäten benem Kind bzw. gestorbenen Kindern, unter (Plambeck et. al., 2018: 22), als Merkmale gelun- anderem zur eigenen Lebenssituation, zu Verände- gener Selbsthilfeaktivitäten. Die Videokonferenzen rungen aufgrund der Pandemie sowie Wünschen leisten somit im Sinne von Selbsthilfe einen wich- an den DKHV e. V. in dieser besonderen Zeit befragt tigen Beitrag. wurden1. Einer der essenziellen Wünsche, die in allen befragten Gruppen zu 63-93 % ausgedrückt wurden, war die Teilnahme an virtuellen Austausch- Bisherige Erfahrungen und ein Ausblick angeboten im Verein. Dieser Bedarf wurde insbe- Seit März 2020 gab es insgesamt über 100 digitale sondere vor dem Hintergrund deutlich verminderter Gruppenangebote2, an denen ca. 800 Personen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, fehlender teilgenommen haben. Neben den Angeboten für Kontakte und Angst vor Infektionen festgestellt junge Menschen mit lebensverkürzender Erkran- (Weimann, 2021: 43). „In besonderen Zeiten war kung, Eltern sowie Geschwistern gibt es auch es ein besonderer Wunsch und gleichzeitig eine virtuelle Vernetzungstreffen für Mitgliedsorganisa- Herausforderung, an der Seite der Familien zu bleiben. tionen, in denen sich z. B. Koordinationsfachkräfte Der digitale Austausch ist eine Chance, Familien- informieren und austauschen können. Die Zu- mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet gangsbarrieren und der Aufwand für die Teilnahme miteinander in Kontakt zu bringen“, so Hubertus an digitalen Angeboten sind wesentlich geringer. Sieler, Ansprechpartner für Familien im DKHV e. V. Dies sind insbesondere für Familienmitglieder, die (DKHV, 2021: 49) Aufgrund der Rückmeldungen über knappe Zeitressourcen verfügen oder in der wurden, neben den bereits seit Beginn der Pandemie Mobilität eingeschränkt sind, begünstigende durchgeführten digitalen Angeboten für Geschwis- Kriterien. Gleichzeitig können und sollen digitale ter, zielgruppenspezifische virtuelle Formate für Formate nicht umfänglich analoge Veranstaltungen Eltern, deren Kinder lebensverkürzend erkrankt ersetzen. Vielmehr wird es in Zukunft eine Kombi- oder gestorben sind, sowie für die erkrankten nation beider Angebotsformen geben. Digitale jungen Menschen selbst auf den Weg gebracht. Angebote werden somit fester Bestandteil der Insbesondere für die Letztgenannten haben sie Kinder- und Jugendhospizarbeit bleiben. eine enorme Bedeutung. Christian, ein junger Mann Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 mit Muskeldystrophie Duchenne, betont, wie wert- Für die Gruppe junger Menschen, die sich regelmäßig voll der Kontakt untereinander und wie die Gruppe in Videokonferenzen austauschen, waren diese in kurzer Zeit zu einer Gemeinschaft geworden ist: Zusammenkünfte auch eine Brücke zur ersten „Ich schalte mich immer wieder dazu, weil ich das Selbsthilfeklausur für junge Menschen mit lebens- Gefühl habe, hier einen geschützten Bereich 2 Eine Übersicht der aktuellen digitalen Angebote finden sich 1 Umfragezeitraum Mai 2020, Teilnehmende insgesamt: 244 unter: https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/wie-wir- Personen unterstuetzen/digitale-angebote/ Zugriff am 06.12.2021.
ZWEI JAHRE PANDE- Schaffung einer neuen Stelle „Ansprechpartner für junge Menschen mit lebensverkürzender Er- krankung“3 im Verein geschaffen. So ist der Weg geebnet, auf dem analoge sowie digitale Türen of- verkürzender Erkrankung, die Anfang Oktober als fenbleiben und neue aufgestoßen werden können. Begegnungswochenende in Haltern am See statt- fand. Unter Einhaltung strenger Hygienebedingungen kamen für drei Tage 8 junge Menschen und insge- Literatur samt 29 Personen, darunter Pflege- und Assistenz- DKHV e. V. – Deutscher Kinderhospizverein e.V. (2021). Die Chance 2020-21. Schwerpunktthema Spiritualität. kräfte, ehrenamtliche Begleiterinnen und Begleiter Herriger, N. (2014). Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine sowie Leitungen zusammen. Die Veranstaltung war Einführung. 5., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Kohl- innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. Auch des- hammer (Sozialpädagogik). wegen und wegen der sehr guten Rückmeldungen Leinbach, K. (2021). Here we are! Erste Selbsthilfeklausur für ist für das kommende Jahr bereits die nächste junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung. In: DKHV e. V. – Deutscher Kinderhospizverein e.V. (2021): Die Selbsthilfeklausur in Planung. Chance 2020-21. Schwerpunktthema Spiritualität. 28-29. Plambeck, I., Eisenstecken, E., Jakob, K., Unverdorben-Beil, „Die Teilnahme an der Selbsthilfeklausur war für M., Striebel, S. (2018). Kooperation von Fachkräften, alle ein Highlight in der Pandemiezeit. Nach mehr Selbsthilfe und Selbstorganisation. Ein Leitfaden für die Praxis. 1. Auflage. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher (AG SPAK Rat- als einem Jahr, in dem wir uns online getroffen geber, M 330). haben, haben sich alle über ein persönliches Ken- VK KiJu Versorgungskoordination für Familien mit versorgungs- nenlernen gefreut“ (Leinbach, 2021: 29), so Vicci, intensiven Kindern und Jugendlichen. Jahresbericht 2018 – eine junge Frau mit Muskelerkrankung und Teilneh- Auswertungen und Erläuterungen. Weimann, K. (2021). Digitalisierung im DKHV e. V. – schöne merin an der Klausur. Mit Blick auf die digitalen neue Welt oder Hemmnis mit Fallstricken? Überlegungen, Videokonferenzen richtet Vicci den Blick in die erste Schritte und Ausblick. In: DKHV e. V. – Deutscher Kin- Zukunft: „Mir gefällt auch der Blick nach vorn, dass derhospizverein e.V. (2021). Die Chance 2020-21. Schwer- wir auch darüber sprechen, was nach der Corona- punktthema Spiritualität. 22-24. Zeit vielleicht kommt, was Wünsche und Pläne sind. Das ist einfach eine sehr coole und wertvolle Mög- lichkeit, sich auszutauschen“ (DKHV, 2021: 47). So ist zu Zeiten von Kontaktbeschränkungen etwas Marcel Globisch, M. A. Leitung für Inhalte und Entwicklung, gelungen, was zu Beginn der Pandemie schwer Deutscher Kinderhospizverein e. V. vorstellbar war: Neue digitale Wege haben Türen In der Trift 13, 57462 Olpe geöffnet, Lebenswelten von jungen Menschen mit Tel.: 0 27 61 - 9 41 29-36 lebensverkürzender Erkrankung erweitert und Mobil: 01 51 - 46 11 71 65 deutlich gemacht, dass hier enormer Bedarf marcel.globisch@deutscher- besteht. Damit die Bedürfnisse der jungen Men- kinderhospizverein.de www.deutscher- schen noch besser erfasst und mit entsprechenden Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 kinderhospizverein.de Angeboten erfüllt werden können, wurde mithilfe einer Anschubförderung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend die 3 https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/wie-wir- unterstuetzen/ansprechpartnerinnen/ansprechpartner- fuer-junge-menschen-mit-lebensverkuerzender-erkran- kung/ Zugriff am 06.12.2021
ZWEI JAHRE PANDEMIE 19 NIEMAND SOLL ALLEINE STERBEN – DIGITALE STERBEBEGLEITUNG IN ZEITEN © istock.com/pressureUA DER CORONA-PANDEMIE Ein Erfahrungsbericht CLAUDIA OHLSEN UND ROLAND REPP D ie Corona-Pandemie stellt uns nicht nur sames Sterben nicht zulassen dürfen. So entstand in Bezug auf eine mögliche Überlastung zunächst die bloße Idee einer digitalen Sterbebe- des Gesundheitswesens seit fast zwei gleitung, an deren Umsetzung sich schließlich ein Jahren vor immense Herausforderungen. kleines Team aus dem Umfeld des HPVSH mit viel Die Pandemie wirkt sich auch entschieden auf das Pragmatismus, Hoffnung und Hartnäckigkeit machte. soziale Leben aus. Sind die Einschränkungen des Wir generierten Spenden, um Geräte und technische „social distancing“ schon unter regulären Umstän- Infrastruktur zu erwerben, aber auch Knowhow, um den belastend, bedeuten Kontaktbeschränkungen die Geräte einrichten und später einen technischen und Besuchsverbote für schwerstkranke Menschen, Support anbieten zu können. Wir baten die regio- dass diese möglicherweise ohne angemessene nale und überregionale Presse, unser Anliegen in Begleitung versterben müssen. Der Hospiz- und die Fläche zu kommunizieren, und fragten im Palliativverband Schleswig-Holstein e. V. (HPVSH) Institut für Informatik an der Kieler Christian- hat deshalb im Frühjahr 2020, inmitten des ersten Albrechts-Universität zu Kiel nach Unterstützung Lockdowns, mit seiner Landeskoordinierungsstelle und Möglichkeiten der technischen Umsetzung. das Projekt „Niemand soll alleine sterben. Digitale Der Rücklauf war enorm, unser „handgestricktes“ Sterbebegleitung in Zeiten der Corona-Pandemie“ Projekt, aus der Not geboren, erhielt die größtmögliche initiiert – immer mit dem Ziel, die hospizlich-pallia- Hilfe und Solidarität, die man sich in einer solchen tive Begleitung für Menschen mit lebensverkürzenden Krisensituation vorstellen kann. Erkrankungen weiterhin sicherzustellen. Die Tablets wurden durch die Informatiker entspre- chend leicht bedienbar eingerichtet. Der Einfachheit Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Erste Projektschritte halber nutzten wir zunächst die Kommunikations- Wir alle hatten zu Beginn der Pandemie die Bilder App „Zoom“ – seit der Pandemie millionenfach aus dem italienischen Bergamo im Kopf, als genutzt und bewährt. Die Geräte wurden so konfi- Menschen allein und isoliert, ohne Abschied von guriert, dass außer der Zoom-App nichts Störendes ihren Zugehörigen, sterben mussten. Als das Corona- mehr auf den Tablets installiert war. Für die zum Virus einige Zeit später in Schleswig-Holstein Gebrauch notwendigen LTE-Karten konnten wir ankam, war uns als Akteure aus der Hospiz- und einen speziellen Corona-Tarif mit einem großen Palliativversorgung schnell klar, dass wir ein ein- Mobilfunkanbieter aushandeln.
20 ZWEI JAHRE PANDEMIE © Hospiz- und Palliativverband Schleswig-Holstein e.V. und Palliativversorgung in sogenannten Anwender- Treffen miteinander aus – zu Best-Practice, Umgang, Perspektiven, Erfahrungen und Möglichkeiten. Dabei entstand auch der Wunsch nach Verstetigung und Weiterentwicklung einer Form von digitaler Sterbebegleitung. Mit Hilfe weiterer externer Unter- stützer konnten Anfang 2021 einige Lizenzen der leicht zu handhabenden Videokonferenz-Software Eine Idee wird zum Erfolgsmodell in „datVideo“ [Databay, Würselen] erworben werden. schwieriger Zeit Mittels dieser Software können sich Nutzer auch Über eine Rundmail an unsere Mitglieder machten ohne technische Vorerfahrung über einen einfachen wir auf das Projekt aufmerksam und boten unsere Klick im digitalen Raum treffen. In diesem Kontext Unterstützung bei der Umsetzung auf regionaler gibt es sicher noch weitere Anbieter solcher Systeme, Ebene an. Schnell fanden sich Dienste, Einrichtungen hat der Markt doch inzwischen das enorme Poten- und Palliativstationen, die ebenfalls partizipieren tial einfacher Softwaresysteme entdeckt und die wollten, ebenso wie Spender, mit deren Unterstüt- Gruppe weitgehend technik-ferner Menschen und zung wir weitere Geräte erwerben und einrichten deren Kommunikationsbedarfe, vor allem in der konnten. Ein Großspender aus der Wirtschaft Pandemie, erkannt und in den Blick genommen. beispielsweise stellte den stationären Hospizen im Land über 60 Geräte zur Verfügung – und lieferte die passenden W-Lan-Hotspots samt Einbau für die Unser Fazit Einrichtungen gleich mit. So sind es heute weit über Digitaler Kontakt kann persönliche Nähe niemals 300 Endgeräte in den Hospiz- und Palliativeinrich- ersetzen. Jedoch kann dieser als ein gutes Ergän- tungen in Schleswig-Holstein, die über den HPVSH zungsangebot verstanden werden. So können auch beschafft werden konnten. Sicher sind diese etablierte Versorgungsstrukturen Unterstützung gegenwärtig weniger im Einsatz als noch zu Beginn erfahren, wenn medizinische Verantwortung, der Pandemie – wichtig ist jedoch nach wie vor für Kontaktverbote und Zugangsbeschränkungen die Einrichtungen, dass die Tablets im Notfall physische Begleitungen im ambulanten wie im vorhanden sind und jederzeit reaktiviert werden stationären Umfeld untersagen und damit nahezu könnten. Das impliziert auch ein Stück Sicherheit unmöglich machen. Die Tablets im Kontext der in pandemischen Zeiten, weil sich Situationen digitalen Begleitung wurden und werden vor allem jederzeit ändern und umkehren können. immer dann angenommen, wenn Kontakte auf anderem Weg nicht machbar sind oder aber eine weitere Möglichkeit in der Kommunikation darstellen. Perspektiven und Möglichkeiten – Zahlreiche positive Beispiele in der Interaktion zwi- digitale Begleitung als ergänzendes Format schen Begleitenden und Begleiteten belegen dies In regelmäßigen Videokonferenzen tauschten sich eindrücklich. Denn, niemand soll alleine sterben. die am Projekt beteiligten Akteure aus der Hospiz- Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90 Claudia Ohlsen, M. A. Prof. Dr. Roland Repp, Kulturwissenschaftlerin Facharzt für Innere Medizin, Geschäftsführerin Landeskoordi- Hämatologie/Internistische nierungsstelle Hospiz- und Pallia- Onkologie und Palliativmedizin tivarbeit Schleswig-Holstein am Leitung 2. Medizinische Klinik am Hospiz- und Palliativverband Städtischen Krankenhaus, Kiel Schleswig-Holstein e. V. (HPVSH) Vorsitzender des Hospiz- und Burgstr. 2, 24103 Kiel Palliativverbandes Schleswig- Tel.: 04 31 - 90 88 55 11 Holstein e.V. (HPSV) ohlsen@hpvsh.de
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