Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW

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Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
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                         Land NRW zur
                         Palliativversorgung,
                         Hospizarbeit und
                         Angehörigenbegleitung

Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen
Januar 2022 Ausgabe 90

Schwerpunkt:
ZWEI JAHRE PANDEMIE
Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90
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Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
Liebe Leserinnen und Leser,
                                     am 31. Dezember 2020 meldete China eine neue Lungenkrankheit an die WHO, am 07. Januar
                                     wurde das Virus identifiziert. Die erste Person außerhalb Chinas wurde am 13. Januar in Taiwan
                                     gemeldet. Deutschlands sogenannter „Patient 1“ wurde am 27. Januar identifiziert. Am 30. Januar
                                     erklärte die WHO den Ausbruch zur „gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite“.
                                     Am 11. Februar erhielt die Erkrankung von der WHO den Namen „Covid-19“ und das Virus den
                                     Namen „SARS-CoV-2“. Die ersten Covid-19-Patienten starben Anfang März 2020.

                                     Zwei Jahre Pandemie haben alle Menschen herausgefordert, die Mitarbeitenden auf Intensivstationen
                                     und in Altenheimen auf besondere Weise. Zur körperlichen Belastung kam vieles andere, darunter die
                                     Sorge vor Ansteckung, das Aushalten des einsamen Sterbens oder auch die Wut über Unvernunft.

                                     In der Hospiz- und Palliativversorgung hat die Pandemie ebenfalls ihre Spuren hinterlassen.
                                     Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe schauen dabei nicht nur auf die belastenden Elemente,
                                     sondern auch auf andere Begleiterscheinungen, darauf, wie Herausforderungen gemeistert und neue
                                     „Begegnungsräume“ geschaffen werden können.

                                     Eine gute Lektüre wünscht Ihnen
                                                                                                                 Ihre Dr. Gerlinde Dingerkus

                                     SCHWERPUNKT
                                     ZWEI JAHRE PANDEMIE

                                     4 Reflexion über Sinn und                             13 Kein Ende in Sicht – aber mehr
                                       Bedeutung des Lebens während                           Sicherheit im Umgang
                                       der Corona-Pandemie                                     Christoph Voegelin, Sabine Löhr, Judith
                                         Arndt Büssing                                         Kohlstruck

                                     8 Wie wirkt sich die Corona-                          16 Die Coronapandemie als Türöffner
                                       Pandemie auf die Belastung                              Marcel Globisch
                                       pflegender Angehöriger aus?
                                         Katharina Geschke                                 19 Digitale Sterbebegleitung in Zeiten
                                                                                              der Corona-Pandemie
                                     11 Sterben ohne Abschied                                  Claudia Ohlsen, Roland Repp
                                         Anke Sauter
                                                                                           21 Wenn einer von uns geht ...
                                                                                               Rabea Brake, Martina Reykowski
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                                                                                           22 Veranstaltungen

                                                                                           23 Impressum
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ZWEI JAHRE PANDEMIE

                     REFLEXION ÜBER SINN UND BEDEUTUNG DES
                     LEBENS WÄHREND DER CORONA-PANDEMIE
© Grete Achtermann

                     Ergebnisse einer kontinuierlichen Kohortenstudie
                     ARNDT BÜSSING

                     W
                                    ährend der COVID-19-Pandemie             Menschen starben in Alten- und Pflegeheimen
                                    wurde uns vor Augen geführt, wie         sowie Krankenhäusern und Hospiz-Einrichtungen
                                    brüchig das als selbstverständlich       oft alleine – oder nur mit stark eingeschränkten
                                    Genommene ist. Bestimmte Dinge           Besuchsmöglichkeiten durch ihre Angehörigen.
                     gehen nicht mehr so wie erhofft, Zukunftspläne          Das auf soziale Beziehungen angewiesene Indivi-
                     werden beschnitten, die Vulnerabilität und Endlich-     duum, egal in welcher Lebensphase, war auf einmal
                     keit des Lebens wird deutlich – es betrifft auch mich   reduziert auf das Wesentliche.
                     (und nicht nur immer die anderen). Auch im eigenen
                     Umfeld verschwanden auf einmal Menschen aus             Nach dem ersten Lockdown im März und April 2020
                     dem Leben – sie waren nicht mehr da, gestorben          waren alle erschrocken und atmeten dann in den
                     an einem sich pandemisch verbreitenden Virus, das       Sommermonaten erleichtert auf: Es war scheinbar
                     auf einmal das Leben aller bedroht. Viele verloren      noch einmal gutgegangen, wir können wieder hin-
                     ihre berufliche Perspektive, manche Infizierte          aus in den Sonnenschein und uns umarmen; es
                     leiden an Langzeitfolgen („Long Covid“) — und           geht also unbeschwert weiter. – Nein. Denn im
                     andere blieben gänzlich unbeschwert.                    Herbst 2020 stiegen die Infektionszahlen wieder
                                                                             stark an, sodass im November 2020 ein „Lockdown
                     Zunächst gab es keine Möglichkeit der kurativen         light“ beschlossen wurde, der im Dezember 2020
                                                                                                                                    Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                     Behandlung oder der Impfung, es gab nur die             weiter verschärft wurde, und im Januar 2021 dann
                     einfachen Mittel des Abstandhaltens und der             ein „harter Lockdown“ erfolgte, der zunächst bis
                     Schutzmasken, der gemeinsamen Rücksichtnahme            Februar galt und dann bis März verlängert wurde.
                     und Verantwortungsübernahme – verbunden mit             Im März und April 2021 wurden mehrere Einschrän-
                     Einschränkungen der individuellen Freiheit und der      kungen aufgehoben, wobei jedoch die Infektions-
                     Teilhabe am öffentlichen Leben, das herunterge-         zahlen erneut anstiegen (3. Infektionswelle). In den
                     fahren werden musste, um Risikogruppen zu               Sommermonaten 2021 sank die Zahl der Neuinfek-
                     schützen und das Gesundheitssystem zu entlasten.        tionen wieder ab; viele konnten sich impfen lassen,
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                                     und es wurden etliche Einschränkungen aufgeho-             jedoch, dass der Anteil derjenigen, die dieses
                                     ben. Doch erneut kam die Ernüchterung: Im August           (sorgenvolle) Nachdenken über die Lebenszeit
                                     und September 2021 stieg die Zahl der Infizierten          infolge der Corona-Pandemie aufweisen, doch
                                     wieder an, zunächst schwächer, aber dann ab                recht hoch ist: Über die gesamte Beobachtungs-
                                     Oktober und November steil (und nun betrifft es            spanne hinweg machten sich im Mittel 46 % sehr
                                     vornehmlich die Gruppe der immer noch Ungeimpf-            wohl solche Gedanken, 29 % jedoch nicht und 25 %
                                     ten). Mit dem Erschrecken über die hohen Zahlen            waren diesbezüglich indifferent. Ebenfalls 46 %
                                     Sterbender und Infizierter mit Langzeitfolgen wurde        machten sich sehr wohl Gedanken über Sinn und
                                     es sehr deutlich: Es kann auch mich und meine              Bedeutung ihres Lebens, aber 26 % eben nicht und
                                     Familie betreffen. Viele hatten genau diese Angst          28 % waren indifferent. Diese Proportionen verän-
                                     und empfanden sich als hilflos; dies betraf sowohl         derten sich im Zeitverlauf nur geringfügig; die
                                     Personen mit Tumorerkrankungen als ein Beispiel            bewusste Reflektion wird nicht intensiver in Abhän-
                                     einer vulnerablen Gruppe (Büssing et al., 2020a,           gigkeit von der Pandemie-Dynamik, so wie man es
                                     2021a) als auch alle anderen (Büssing et al., 2010b,       für die anderen genannten Empfindungen beob-
                                     2021b). Insbesondere mit der zweiten Infektions-           achten kann.
                                     welle und dem zweiten Lockdown stieg der Anteil
                                     derjenigen an, die sich als einsam und sozial iso-
                                     liert empfanden und deren Wohlbefinden in Berei-
                                     che absank, wie man sie in depressiven Situationen
                                     finden kann (Büssing et al., 2021b; Büssing, 2022).
                                     Eigentlich hat sich im Lauf der verstärkten Restrik-
                                     tionen infolge der Corona-Pandemie für viele eine
                                     Situation ergeben, die in Grundzügen (bei aller
                                     Unterschiedlichkeit) auch bei Menschen in der
                                     palliativen Begleitung gegeben sein kann. „Unsere
                                     Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein
                                     weises Herz“, meinte der biblische Psalmist (Ps 90, 12).
                                     Wenn einem die (auch eigene) Vergänglichkeit
                                     nahe rückt, wird man dann auch bewusster und
                                     wertschätzender in seinen Lebensbezügen – oder
                                     macht man weiter wie bisher?                               Abbildung 1: Verlauf der Zielparameter im Zeitver-
                                                                                                lauf der Pandemie (Juni 2020 – nach dem 1. Lock-
                                     Gerade mit dem Beginn der deutlicheren Einschrän-          down; Juli bis September 2020 – Sommermonate
                                     kungen mit der zweiten Infektionswelle und dem             2020; Oktober 2020 bis Januar 2021 – 2. Infektions-
                                     zweiten Lockdown stieg die Wahrnehmung an, vom             welle; Februar 2021 – Zwischen-Drop; März bis Mai
                                     Leben abgeschnitten zu sein und das Empfinden,             2021 – 3. Infektionswelle; Juni bis Juli 2021 –
                                     dass die (zuvor oft als selbstverständlich genom-          Sommermonate 2021; August bis September 2021
                                     menen) sozialen Kontakte fehlen (Abbildung 1).             – Beginn der 4. Infektionswelle). Die Standardab-
                                     Beide Empfindungen verloren im weiteren Verlauf            weichungen wurden aus Gründen der Übersicht-
                                     der Pandemie an Intensität, bleiben jedoch auf ho-         lichkeit nicht dargestellt. Teilgenommen haben an
                                     hem Niveau. Die Veränderungen im Zeitverlauf sind          der anonymen Befragung zum Analysezeitpunkt im
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                                     für beide Variablen signifikant (p
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6   ZWEI JAHRE PANDEMIE

    Gedanken: Was, wenn es mich auch betrifft? Was          Ob ich über diese Dinge nachdenke, macht mich also
    kann ich, was will ich noch tun? Was ist mir wirklich   kaum zufriedener in meinem Leben. Beides hängt
    wichtig? Wer steht zu mir und ist für mich da, und      zwar geringfügig invers miteinander zusammen,
    wer hält meine Hand, wenn es zu dunkel wird im          aber man kann auch zufrieden in seinem Leben
    Leben?                                                  sein, ohne an die Endlichkeit erinnert zu werden
                                                            und sich die Frage nach Sinn und Bedeutung seines
    Nach dem ersten Lockdown fiel auf, dass die meis-       Lebens zu stellen. Das schließt jedoch nicht aus,
    ten einerseits ihre sozialen Beziehungen mehr           dass es sehr wohl Menschen gibt, die aufgrund sol-
    wertschätzten und intensiver wahrnahmen, dass           cher Reflexionsprozesse zufriedener werden oder
    sie sich öfter Zeit nahmen, um in die Natur zu gehen    häufiger staunend innehalten und Dankbarkeit
    und sie intensiver wahrzunehmen, und dass sie           empfinden. Aber es ist eben kein generelles Muster,
    bewusste Zeiten der Stille und Besinnung wert-          das auf alle zutreffen würde. Betrachtet man jedoch
    schätzten (Büssing et al., 2020b). Aber mit der Dauer   nur diejenigen, die ein hohes Wohlbefinden haben,
    der Einschränkungen nahmen diese wertschätzenden        dann findet sich auch ein moderater Zusammenhang
    Wahrnehmungen signifikant ab (Büssing et al.,           zwischen der Reflexion über Sinn und Bedeutung im
    2021b). Scheinbar setzte ein Ermüdungseffekt ein.       Leben und staunendem Innehalten und Dankbar-
    Wenn Ausnahmezustände zu lange anhalten und             keit (GrAw-7 Score: r=.35, p
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                                     Gerade Personen mit depressiver Gestimmtheit             Literatur
                                     empfinden hier nicht mehr entsprechend, während          Büssing, A., Hübner, J., Walter, S., Gießler, W., Büntzel, J.
                                     Personen, die scheinbar „unbeschadet“ und mit               (2020a). Tumor Patients´ Perceived Changes of Specific
                                                                                                 Attitudes, Perceptions and Behaviors Due to the Corona
                                     großer emotionaler Stabilität durch die Krise kom-          Pandemic and Its Relation to Reduced Wellbeing, Frontiers in
                                     men, eher staunend innehalten und das Besondere             Psychiatry 11, 574314. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.
                                     in ihrem Leben mehr dankbar wertschätzen können.            574314.
                                                                                              Büssing, A., Recchia, D.R., Hein, R., Dienberg, T. (2020b). Per-
                                                                                                 ceived Changes of Specific Attitudes, Perceptions and Be-
                                     „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen            haviors During the Corona Pandemic and Their Relation to
                                     wir ein weises Herz“, meinte der Psalmist. Ob wir           Wellbeing, Health and Quality of Life Outcomes 18, 374.
                                     im Verlauf der Corona-Pandemie tatsächlich weiser           https://doi.org/10.1186/s12955-020-01623-6.
                                     geworden sind oder nur emotional erschöpfter, ist        Büssing, A., Recchia, D.R., Hübner, J., Walter, S., Büntzel, J.,
                                                                                                 (2021a). Tumor Patients’ Fears and Worries and Perceived
                                     unklar. Die Sensibilität für staunendes Innehalten          Changes of Specific Attitudes, Perceptions and Behaviors
                                     und Dankbarkeit als Ausdruck eines wahrnehmen-              Due to the COVID 19 Pandemic Are Still Relevant, Journal
                                     den Aspektes der Spiritualität (Büssing, 2021d) war         of Cancer Research and Clinical Oncology 147, 1673-1683.
                                     zumindest in der Anfangsphase der Pandemie                  https://doi.org/10.1007/s00432-021-03573-y.
                                                                                              Büssing, A., Recchia, D.R., Dienberg, T., Surzykiewicz, J., Bau-
                                     stärker ausgeprägt und hat mit der Fortdauer der
                                                                                                 mann, K. (2021b). Dynamics of Perceived Positive Changes
                                     Einschränkungen ebenfalls abgenommen (Büssing               and Indicators of Wellbeing Within Different Phases of the
                                     et al., 2021b). Diese Fähigkeit zur Anrührung durch         COVID-19 Pandemic. Frontiers in Psychiatry 12, 685975.
                                     das, was einem begegnet, hängt auch mit einer               https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.685975.
                                     größeren Wahrnehmung für Natur und Stille sowie          Büssing, A., Recchia, D.R., Dienberg, T., Surzykiewicz, J., Bau-
                                                                                                 mann, K. (2021c). Awe/Gratitude as an Experiential Aspect
                                     den sozialen Beziehungen zusammen (Büssing et               of Spirituality and Its Association to Perceived Positive
                                     al., 2021c). Aber allein dadurch steigt nicht unser         Changes During the COVID-19 Pandemic. Frontiers in Psy-
                                     Wohlbefinden. Vielmehr ist es ein vermittelnder             chiatry 12, 642716. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2021.
                                     Effekt: Natur und Stille genießen zu können, kann           642716.
                                                                                              Büssing, A. (2021d) Wondering Awe as a Perceptive Aspect of
                                     zu größerem emotionalen Wohlbefinden führen –               Spirituality and Its Relation to Indicators of Wellbeing: Fre-
                                     und zwar vermittelt durch staunende Ehrfurcht und           quency of Perception and Underlying Triggers. Frontiers of
                                     Dankbarkeit (Büssing et al., 2021c). Und diese              Psychiatry 12, 738770. https://doi.org/10.3389/fpsyg.
                                     Fähigkeit, das Besondere im Leben wahrzunehmen              2021.738770.
                                                                                              Büssing, A. (2022). Empfundene Einsamkeit und soziale Isola-
                                     und ihm Raum zu geben, ist bei Personen, die                tion im Verlauf der Corona-Pandemie In: Giebel, A., Hörsch,
                                     meditieren und beten sowie bei Frauen generell              D., Hofmeister, G., Lilie, U. (Hrsg). Einsamkeit – Gesell-
                                     größer (Büssing et al., 2021c; Büssing, 2021d). Diese       schaftliche, kirchliche, diakonische Perspektiven. Evange-
                                     Fähigkeit schützt nicht vor den Problemen und               lische Verlagsanstalt, Leipzig.
                                     dunklen Phasen im Leben, aber sie hilft, bewusster
                                     hinzuschauen und das Leben in all seiner Komplexität
                                     und Widersprüchlichkeit mehr wertzuschätzen:
                                     Mitten im Leben.

                                                                                Univ.-Prof. Dr. med. Arndt Büssing
                                                                                Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping;
                                                                                Universität Witten/Herdecke
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                                                IUNCTUS – Kompetenzzentrum für Christliche
                                                                                Spiritualität, Philosophisch-Theologische Universität-
                                                                                Universität Witten/Herdecke
                                                                                Gerhard-Kienle-Weg 4
                                                                                58313 Herdecke
Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
8   ZWEI JAHRE PANDEMIE
© Grete Achtermann

                         WIE WIRKT SICH DIE CORONA-PANDEMIE
                         AUF DIE BELASTUNG PFLEGENDER
                         ANGEHÖRIGER AUS?
                         KATHARINA GESCHKE

                         E
                                  inzigartige Herausforderungen                Wir haben bereits die Auswirkungen der COVID-19-
                                  Für pflegende Angehörige bringt die          Pandemie auf die Pflegekräfte von Menschen mit
                                  Corona-Pandemie seit März 2020 einzig-       Demenz und deren Resilienz zusammengefasst
                                  artige Herausforderungen mit sich. Insbe-    (Geschke, Palm, Fellgiebel & Wuttke-Linnemann,
                         sondere die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung,         2021) und sind zu dem Schluss gekommen, dass
                         wie Kontaktbeschränkungen, Abstandhalten und          die Pandemie die Bedeutung der pflegenden
                         Lockdown-Maßnahmen (Schließung von Geschäften         Angehörigen für unsere Gesellschaft noch einmal
                         und Einrichtungen des sozialen Lebens) verändern      hervorgehoben hat, da viele Probleme der infor-
                         den Alltag und die Tagesabläufe massiv. Es liegt      mellen häuslichen Pflege verschärft wurden. Aus
                         auf der Hand, dass dies zahlreiche Konsequenzen       diesem Grund sind unseres Erachtens sowohl
                         für jeden Einzelnen hat.                              kurzfristige als auch langfristige Maßnahmen not-
                                                                               wendig, die darauf abzielen, (a) Umweltressourcen,
                         Die Corona-Pandemie wirkt sich in mehrfacher Hin-     (b) soziale Ressourcen und (c) individuelle Ressour-
                                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                         sicht auf die Pflegenden aus: Die Pandemie hat den    cen zu steigern.
                         pflegenden Angehörigen und den pflegebedürftigen
                         Personen neue Widrigkeiten auferlegt, die die
                         ihnen möglichen Ressourcen reduziert und den          Bisherige Datenlage
                         Zugang zu Angeboten und Hilfen erschwert. Hier-       Auch aus Deutschland liegen erste empirische
                         durch wird die Resilienz der pflegenden Angehöri-     Befunde vor, die die Auswirkungen dieser Stressoren
                         gen weiter herausgefordert und der Stress für diese   für pflegende Angehörige darstellen. Zusammenfas-
                         in der Folge zunehmen.                                send wurde vor allem ein Mangel an professionellen
Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
ZWEI JAHRE PANDEMIE                9

                                     Unterstützungsleistungen (Budnick et al., 2021;        Für berufstätige pflegende Angehörige ist die
                                     Gosch, Singler, Kwetkat & Heppner, 2020; Roth-         Vereinbarkeit von Pflege und Beruf durch die Coro-
                                     gang et al., 2020) während des ersten Lockdowns        navirus-Pandemie noch schwieriger geworden
                                     deutlich (Pflegedienste stellten ihre Versorgung ein   (Rothgang et al., 2020). Es kam zu finanziellen
                                     oder reduzierten diese, Tagespflegen schlossen,        Mehrbelastungen (Budnick et al., 2021; Horn &
                                     die 24-Stunden-Pflegekräfte reisten in ihre Heimat     Schweppe, 2020). Ein Teil musste wegen der
                                     ab oder kehrten von dort nicht zurück, Pflegestütz-    Corona-Pandemie kurzfristig Urlaub nehmen,
                                     punkte boten keine Hausbesuche an und auch             Überstunden abbauen, Minusstunden machen,
                                     Ergotherapie und Physiotherapie wurden teilweise       sich anderweitig unbezahlt freistellen lassen oder
                                     abgesagt), aber auch informelle Hilfe wurde redu-      Arbeitszeit reduzieren, um weiterhin pflegen zu
                                     ziert (Horn & Schweppe, 2020; Klaus & Ehrlich,         können. Nur sehr wenige nahmen die gesetzlich
                                     2021). Hierdurch wurde die Pflege zeitlich aufwändi-   vorgesehene kurzfristige Auszeit oder die (Fami-
                                     ger (Rothgang et al., 2020) und die Pflegesituation    lien-)Pflegezeit in Anspruch (Budnick et al., 2021;
                                     hat sich in vielen Fällen insgesamt verschlechtert     Rothgang et al., 2020).
                                     (Budnick et al., 2021; Horn & Schweppe, 2020).
                                     Dies hatte auch negative Auswirkungen auf den          Ein großer Teil der pflegenden Angehörigen fühlte
                                     Gesundheitszustand der zu pflegenden Person. So        sich in der Rolle als Pflegende/Pflegender bei den
                                     gaben über die Hälfte der pflegenden Angehörigen       Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pande-
                                     an, dass aufgrund der Corona-Pandemie wichtige         mie nicht angemessen berücksichtigt bzw. von der
                                     Arzttermine nicht stattgefunden hätten, und knapp      Politik alleingelassen (Horn & Schweppe, 2020;
                                     ein Drittel gab an, dass auf eigentlich notwendige     Rothgang et al., 2020).
                                     Krankenhausaufenthalte verzichtet worden sei
                                     (Horn & Schweppe, 2020). Zudem wird eine zuneh-
                                     mende emotionale Belastung (Budnick et al., 2021;      Umfrage zur Situation der pflegenden
                                     Horn & Schweppe, 2020) und Überforderung der           Angehörigen
                                     pflegenden Angehörigen durch die soziale Isola-        Diese oben genannten Befunde können wir durch
                                     tion, der erhöhte Betreuungs- und Pflegeaufwand,       unsere eigene Umfrage nur bestätigen. Zwischen
                                     die Ungewissheit der Situation und die Zunahme         Oktober 2020 und Januar 2021 befragten wir
                                     von psychischen Symptomen beschrieben.                 pflegende Angehörige mittels eines eigens hierfür
                                                                                            zusammengestellten Fragebogens, welcher in
                                     Einige gaben eine Zunahme des Gefühls der Hilflo-      Arztpraxen und Pflegestützpunkten auslag und
                                     sigkeit, der Verzweiflung und von Wut und Ärger in     auch online verfügbar war und beworben wurde.
                                     der Pflegesituation an (Budnick et al., 2021). Auch    Insgesamt haben wir vollständige Daten von 324
                                     emotional belastende Konflikte mit der pflegebe-       pflegenden Angehörigen einerseits retrospektiv zu
                                     dürftigen Person hätten zugenommen, wohingegen         ihrer Situation während des ersten Lockdowns im
                                     schöne Momente mit der pflegebedürftigen Person        April 2020 und andererseits zu ihrer zum Zeitpunkt
                                     abgenommen hätten (Budnick et al., 2021; Horn &        der Befragung aktuellen Situation im zweiten
                                     Schweppe, 2020). Danach hatten einige Sorge, die       Lockdown im Winter 2020/2021.
                                     häusliche Pflege nicht mehr zu schaffen, und nie-
                                     manden zu haben, um über Nöte und Sorgen zu            Die Pflegesituation veränderte sich bei 78,4 % der
                                     sprechen oder um Unterstützung zu bitten. Pflegende    Befragten durch die Corona-Pandemie. Dies betraf
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                     schätzten hierdurch ihre eigene Gesundheit weniger     vor allem die Verfügbarkeit bzw. Inanspruchnahme
                                     gut ein als vor der Corona-Pandemie, sie zeigten       von Unterstützungsmöglichkeiten: Während des
                                     mehr depressive Symptome und fühlten sich              ersten Lockdowns pflegten 50,6 % der Befragten
                                     einsamer (Klaus & Ehrlich, 2021; Rothgang et al.,      ohne Hilfe. 60,8 % hätten sich professionelle Hilfen
                                     2020). Dabei waren Frauen von diesen Negativ-          gewünscht, aber nicht erhalten.
                                     Trends stärker betroffen als Männer (Klaus &
                                     Ehrlich, 2021; Rothgang et al., 2020).                 Die Pflege war zeitlich, psychisch und körperlich
                                                                                            überfordernder als zuvor, so dass die eigene
Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen - Januar 2022 Ausgabe 90 ZWEI JAHRE PANDEMIE - ALPHA NRW
10   ZWEI JAHRE PANDEMIE

     Gesundheit schlechter eingeschätzt wurde. Werte       Zusammenfassung
     für Stress und Depressivität waren sowohl während     Pflegende Angehörige waren während des ersten
     des ersten als auch zweiten Lockdowns deutlich        und zweiten Lockdowns der Corona-Pandemie,
     erhöht. Soziodemografische und soziale Unterstüt-     insbesondere durch den Mangel an Unterstüt-
     zungsvariablen, wie (Ehe-)Partner, Demenz-Erkran-     zungsmöglichkeiten, deutlich belastet. Vor allem
     kung, keine Berufstätigkeit, Zusammenleben,           für berufstätige pflegende Angehörige war es kaum
     Verzicht auf Hilfe, niedrigeres Einkommen, hohe       möglich, Arbeit und Pflege zu vereinbaren. Die bisher
     Anzahl an Pflegestunden, lange Dauer der Pflege,      politisch geschaffenen Angebote (z. B. Familien-
     niedriges Alter der zu pflegenden Person und des      pflegezeit) wurden kaum genutzt. Zukünftig müssen
     pflegenden Angehörigen, haben in unserer Umfrage      passendere Angebote für pflegende Angehörige
     einen Zusammenhang mit dieser erhöhten Belas-         gefunden und ausgebaut werden, um Überlastung,
     tung gezeigt.                                         Depressivität und Stresserleben vorzubeugen.

     Fokus: berufstätige pflegende Angehörige              Literatur
     Unter den berufstätigen pflegenden Angehörigen        Budnick, A., Hering, C., Eggert, S., Teubner, C., Suhr, R., Kuhl-
     unserer Umfrage mussten 49,7 % Überstunden und           mey, A., Gellert, P. (2021). Informal Caregivers During the
                                                              COVID-19 Pandemic Perceive Additional Burden: Findings
     Urlaub für die Pflege eines Angehörigen aufbrau-         from an Ad-Hoc Survey in Germany. BMC Health Services
     chen. 29,2 % mussten eine Arbeitszeitreduzierung         Research, 21(1), 353. doi:10.1186/s12913-021-06359-7.
     in Anspruch nehmen, um die Pflege bewerkstelli-       Geschke, K., Palm, S., Fellgiebel, A., Wuttke-Linnemann, A.
     gen zu können. Weitere 11,7 % der berufstätigen          (2021). Resilience in Informal Caregivers of People Living
                                                              with Dementia in the Face of COVID-19 Pandemic-Related
     pflegenden Angehörigen waren betroffen von Kurz-         Changes to Daily Life. GeroPsych. doi:10.1024/1662-
     arbeit und 3,5 % von Arbeitslosigkeit. 23,4 % der        9647/a000273.
     berufstätigen pflegenden Angehörigen berichteten      Gosch, M., Singler, K., Kwetkat, A. & Heppner, H. J. (2020).
     zudem von sonstigen Veränderungen bei ihrer              Geriatrie in Zeiten von Corona. Zeitschrift für Gerontologie
                                                              und Geriatrie, 53(3), 228-232. doi:10.1007/s00391-020-
     Arbeit. So gaben einige an, die Pflege nur durch         01725-2.
     Homeoffice und unbezahlten Urlaub bewerkstelligen     Horn, V., Schweppe, C. (2020). Häusliche Pflege in Zeiten von
     zu können, andere hatten ihre Arbeit aufgegeben          Covid-19. Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für
     und gekündigt oder eine Frühberentung beantragt.         öffentliche und private Fürsorge e. V. (NDV), 10, 449-464.
                                                           Klaus, D., Ehrlich, U. (2021). Corona-Krise = Krise der Angehö-
     Nur 4,7 % der berufstätigen pflegenden Angehöri-
                                                              rigen-Pflege? Zur veränderten Situation und den Gesund-
     gen haben die (Familien-)Pflegezeit und nur 0,6 %        heitsrisiken der informell Unterstützungs- und Pflegeleis-
     ein zinsloses Darlehen vom Bundesamt für Familien        tenden in Zeiten der Pandemie. dza aktuell deutscher al-
     und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Anspruch          terssurvey, 1/2021. 1-24.
     genommen. 61,4 % der berufstätigen pflegenden         Rothgang, H., Wolf-Ostermann, K., Domhoff, D., Friedrich, A.,
                                                              Heinze, F., Heß, M., Seibert, K. (2020). Zur Situation der
     Angehörigen hatten aber gleichzeitig den Wunsch          häuslichen Pflege in Deutschland während der Corona-Pan-
     nach mehr finanzieller Unterstützung.                    demie: Ergebnisse einer Online-Befragung von informellen
                                                              Pflegepersonen im erwerbsfähigen Alter. SOCIUM, Bremen,
                                                              Germany.

                                   Dr. med. Katharina Geschke
                                                                                                                               Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                   Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachkunde Geriatrie
                                   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
                                   Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
                                   und
                                   Zentrum für psychische Gesundheit im Alter (ZpGA) Landeskrankenhaus (AöR)
                                   Hartmühlenweg 2-4
                                   55122 Mainz
                                   Tel.: 01 57 - 80 69 67 59
                                   k.geschke@zpga.landeskrankenhaus.de
ZWEI JAHRE PANDEMIE                11
© istock.com/TomasRagina

                                                                STERBEN OHNE ABSCHIED
                                                                ANKE SAUTER

                                                                E
                                                                         inen lieben Angehörigen zu verlieren, ist     Wut, Schuldgefühle, Sehnsucht als normale
                                                                         schwer. Ihn zu verlieren, ohne ihm Bei-       Trauerreaktion
                                                                         stand leisten zu können, fast unerträglich.   „Diese Hilflosigkeit, das Gefühl, keinen Beistand
                                                                         Die Kontaktbeschränkungen während der         leisten zu können, das ist sehr schlimm für die Men-
                                                                Pandemie verlangen uns allen viel ab, vor allem        schen“, hat Sandra Zulauf beobachtet. Die junge
                                                                aber im Zusammenhang mit schweren Krankheiten,         Psychologin arbeitet am Projekt PROGRID, das
                                                                Sterben und Tod. Dies bleibt nicht ohne Folgen.        Menschen mit anhaltender Trauer helfen will. Wut,
                                                                                                                       Schuldgefühle, überwältigende Sehnsucht – all
                                                                Ein Sturz in der Wohnung, ein Knochenbruch mit         dies sind normale Reaktionen beim Tod eines na-
                                                                absehbar langwieriger Heilung – sie standen am         hestehenden Menschen. Von „lang anhaltender
                                                                Anfang einer Leidensgeschichte, die mit dem Tod        Trauer“ spricht man, wenn Menschen auch viele
                                                                endete. Wegen der Infektionsgefahr durfte Frau M.      Monate nach dem Tod eines Angehörigen noch von
                                                                wochenlang keinen Besuch empfangen. Das Virus          einer extremen Sehnsucht erfüllt sind und nicht
                                                                fand trotzdem zu ihr: Eine Physiotherapeutin war       wahrhaben wollen, dass es ein Abschied für immer
                                                                es wohl, die COVID in die Klinik brachte. Mehrere      war. „Manche Witwen stellen jeden Tag ein Gedeck
                                                                Patienten erkrankten, auch Frau M. Nach vielen         für ihren Mann auf den Tisch, Eltern, die ihr Kind
                                                                Wochen sahen die beiden Töchter ihre Mutter end-       verloren haben, verändern jahrelang nichts im Zim-
                                                                lich wieder, am Sterbebett. Zu wissen, wie sehr sie    mer des verstorbenen Sohnes“, sagt Regina Steil,
                                                                unter der Einsamkeit gelitten hat, das war fast        außerplanmäßige Professorin für Psychologie an
                                                                ebenso belastend wie der Tod selbst.                   der Goethe-Universität Frankfurt und Leiterin des
                                                                                                                       Studienzentrums von PROGRID. Aber auch das Aus-
                                                                In Zeiten der Pandemie ist es besonders hart,          blenden von Erinnerungen an den Verstorbenen
                                                                schwer zu erkranken. Kein Wunder, dass viele Men-      könne ein Symptom sein. Die Betroffenen können
                                                                schen den Weg zum Arzt scheuen aus Angst, im           oft kaum ihren Alltag bewältigen. Regina Steil ist
                                                                Krankenhaus von den Angehörigen abgeschnitten          froh, dass die „anhaltende Trauerstörung“ 2018
                           Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                                zu sein. So werden Erkrankungen verschleppt, die       von der WHO als psychische Störung ins interna-
                                                                noch heilbar gewesen wären. Das ist die eine Seite.    tionale Diagnosehandbuch aufgenommen wurde.
                                                                Die andere Seite ist die der Angehörigen, und sie      „Es ist ganz normal, wenn Menschen extrem unter
                                                                ist nicht minder belastend. Das Klinikpersonal gibt    dem Verlust eines/einer Angehörigen leiden. Aber
                                                                zwar sein Bestes, um die Familien auf dem Laufen-      wenn dieses Leiden nicht nachlässt, dann kann das
                                                                den zu halten, ist jedoch selbst oft am Ende der       schwerwiegende Folgen haben. Diesen Menschen
                                                                Kräfte. Der Besuch am Krankenbett ist aber ohne-       kann jetzt geholfen werden“, so Steil.
                                                                hin nicht zu ersetzen.
12   ZWEI JAHRE PANDEMIE

     Risikofaktoren für anhaltende Trauerstörung              PROGRID-Studie zu verhaltenstherapeutischen
     Etwa 4 Prozent aller Trauernden entwickeln eine          Ansätzen
     solche Trauerstörung. Gibt es Risikofaktoren? „Stu-      Die meisten Menschen werden den Verlust auch in
     dien zeigen: Wenn der Tod unvorhergesehen ein-           Pandemiezeiten irgendwie verwinden. Doch was ist
     tritt, wenn es die „falsche Reihenfolge“ innerhalb       mit denen, deren Kummer sich chronifiziert, wie
     der Generationen ist, wenn es ein gewaltsamer Tod        Psychologen sagen? „Mögliche Folgen sind Sub-
     durch eine dritte Person war – oder der/die Ange-        stanzabhängigkeit – also Sucht –, psychosomati-
     hörige auf der Intensivstation verstorben ist, das       sche Krankheiten wie Autoimmunerkrankungen,
     sind Aspekte, die die Wahrscheinlichkeit für eine        aber auch Depressionen mit suizidalem Ausgang“,
     anhaltende Trauerstörung erhöhen“, sagt Regina           zählt Steil auf. Deshalb sei es so wichtig, die Pro-
     Steil. „Wenn ein alter Vater hochbetagt stirbt nach      blematik rechtzeitig zu erkennen. Im von der DFG
     langer Pflegebedürftigkeit, dann ist das ein eher        geförderten Projekt PROGRID, in dem die Goethe-
     erwartbares Ereignis“, so Steil. Und dennoch gibt        Universität mit den Universitäten Eichstätt-Ingol-
     es auch in solchen Kontexten Fälle, wo die Trauer        stadt, Leipzig und Marburg kooperiert, werden zwei
     alles aufzufressen droht. „Das hängt dann oft auch       verhaltenstherapeutische Ansätze miteinander ver-
     mit der verstorbenen Person zusammen, mit der            glichen. Der eine nimmt die lebenspraktische Seite
     Beziehung“, erklärt die Psychologin.                     in den Blick: Gemeinsam mit der Patientin/dem
                                                              Patienten werden Lösungen für Alltagsprobleme
     Auch die Pandemie erhöht die Wahrscheinlichkeit          gesucht. Der andere Ansatz stellt die Beziehung
     für eine anhaltende Trauerstörung – zum Beispiel         zum/zur Verstorbenen ins Zentrum, die Schuldge-
     aufgrund von Schuldgefühlen. „Ich hätte mich             fühle, die Wut, die Sehnsucht. Die Behandlung um-
     durchsetzen müssen, dass ich bei ihm/ihr sein            fasst eine ausführliche Anamnese, rund 20
     kann“ – um solche Sätze kreisten die Gedanken.           wöchentlich stattfindende Einzeltherapietermine
     „Bis zum Schluss bei einem/einer Sterbenden zu           sowie kurz- und mittelfristige Kontrollen. Finanziert
     sein, das vermittle ein gutes Gefühl“, so Steil. Aber    wird die Therapie bei PROGRID von den Kranken-
     gerade auch bei COVID-Kranken sei wegen der              kassen.
     Ansteckungsgefahr ein würdiger Abschied kaum
     realisierbar. So bleibt der Tod oft abstrakt. Und        Waren die Kontaktbeschränkungen während der
     abstrakt bleiben auch die Bewältigungsrituale.           Pandemie gerade auch für Altenheime und Kran-
     „Auf der ganzen Welt bedeutet Trauer, mit anderen        kenhäuser zu hart? „Das würde ich so nicht sagen,
     Menschen zusammenzurücken, auch physisch.                es ging ja immer um das Abwägen gesundheitlicher
     Aber das ist in der Pandemie nur sehr eingeschränkt      Gefahren“, überlegt Steil. Jedoch müsse man diese
     möglich“, sagt Steil. Die Trauerfeier auf dem Friedhof   Seite der COVID-Realität genauer betrachten: Gab
     unterliegt den Abstandsregeln, engste Familienmit-       es mehr depressive Erkrankungen? Mehr Suizide?
     glieder sitzen im Abstand von zwei Metern in der         Und auch die Situation der Mitarbeiterinnen und
     Aussegnungshalle, ohne Körperkontakt. Anschlie-          Mitarbeiter an Kliniken müsse näher untersucht
     ßende Treffen bei Kaffee und Kuchen und Gesprächen       werden, sie hänge mit dem Leiden der Angehörigen
     sind nicht machbar. So fühlen sich die Angehörigen       eng zusammen.
     oft einsamer, als es zu „normalen“ Zeiten der Fall
     wäre, alleingelassen mit dem Schmerz und den
     Gedanken, die sich im Kreis drehen.
                                                                                                                      Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                   Dr. Anke Sauter
                                                   Referentin für Wissenschaftskommunikation
                                                   Abteilung PR und Kommunikation
                            © Uwe Dettmar

                                                   Goethe-Universität Frankfurt
                                                   sauter@pvw.uni-frankfurt.de
ZWEI JAHRE PANDEMIE               13

                                                          KEIN ENDE IN SICHT –
© Grete Achtermann

                                                          ABER MEHR SICHERHEIT IM UMGANG
                                                          CHRISTOPH VOEGELIN, SABINE LÖHR, JUDITH KOHLSTRUCK

                                                          E
                                                                   ine vergleichbare Situation hat es seit der   oder einer ambulanten Begleitung bedurft hätten,
                                                                   Eröffnung des St. Christopher Hospice im      konnte hospizlich-palliative Versorgung im ge-
                                                                   Jahr 1967 nicht gegeben. Entsprechend         wünschten bzw. erforderlichen Maße angeboten
                                                                   unvorbereitet traf der Pandemie-Aus-          werden.
                                                          bruch Anfang 2020 die Hospiz- und Palliativ-
                                                          Einrichtungen und -Verbände, aber leider auch die      Im stationären Bereich erfolgten Anmeldungen,
                                                          Ämter und Ministerien sowie die politischen            aber auch Absagen zunehmend sehr kurzfristig.
                                                          Entscheidungsträger.                                   Planungssicherheit bei den Belegungen war viel-
                                                                                                                 fach nicht gegeben. Die „Aufnahmelisten“ vieler
                                                          Dreizehn sich teilweise widersprechende Allgemein-     Einrichtungen gingen gen Null.
                                                          verfügungen und Verordnungen der Kommunen,
                                                          Länder sowie des Bundes – mit bis zu achtzehn          Der immer wieder kurzfristig verlängerte Rettungs-
                                                          Überarbeitungen – entstanden in der Zeit seit den      schirm stellte sicher, dass Mindereinnahmen und
                                                          ersten Erkrankungsfällen. Einzig in der CoronaTest-    Mehraufwendungen zumindest in Teilen refinan-
                                                          QuarantäneVO (Fassung vom 11.10.2021) werden           ziert werden konnten. Große Einbußen hat es im
                                                          im § 5 (Geltungsbereich) und § 10 (Einrichtungen der   Bereich der Spenden, einem unverzichtbaren
                                                          medizinischen Betreuung und der Versorgung am          Bestandteil der Finanzierung der Hospize und der
                                                          Lebensende) Hospize explizit aufgeführt.               Hospizarbeit, gegeben. Ursächlich dafür sind u. a.
                                                                                                                 die Absage von Sponsoringveranstaltungen oder
                                                                                                                 Durchführungsbeschränkungen bei Bestattungen.
                                                          Zu Beginn: Unsicherheit und deutlicher
                     Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                          Rückgang der Betreuungen                               Anhaltend berichtet eine größere Anzahl der im
                                                          Die anfänglichen Unsicherheiten beim Umgang mit        HPV NRW organisierten Hospize von einer deut-
                                                          dem Virus führten in den stationären Hospizen zu       lichen Mehrbelastung innerhalb des Teams durch
                                                          deutlichen Aufnahmerückgängen von bis zu 30 %.         die erhöhten Hygienevorschriften, durch Personal-
                                                          In den Krankenhäusern und im ambulanten Bereich        ausfall wegen Krankheit und/oder Quarantäne
                                                          herrschte große Unsicherheit bezüglich der Auf-        sowie aufgrund aufwändigerer Pflege durch Isola-
                                                          nahmebedingungen und der Besuchsmöglichkei-            tionsmaßnahmen. Bei teambildenden Maßnahmen
                                                          ten. Nicht allen Menschen, die eines Hospizplatzes     ist weiterhin Einfallsreichtum gefragt. Gespräche
14   ZWEI JAHRE PANDEMIE

                                                                                                                           demie und auch noch während der ersten
                                                                                                                           Wellen sank die Anzahl der ehrenamtlichen
                                                                                                                           Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, teils
                                                                                                                           durch die persönliche Sorge bei bestehen-
                                                                                                                           den Vorerkrankungen oder durch den
                                                                                                                           Umstand, dass der überwiegende Teil zu
                                                                                                                           den Lebensälteren mit dementsprechen-
                                                                                                                           den Risikofaktoren gehört. Bis zu 50 % der
© Hospizbewegung Ratingen e.V.

                                                                                                                           Einsatzkräfte fiel in den Hospizeinrichtungen
                                                                                                                           aus. Nicht alle sind mittlerweile wieder aktiv,
                                                                                                                           doch mit den aktuellen Hygienekonzepten
                                                                                                                           konnte eine weitere Abnahme gestoppt
                                                                                                                           werden. Durch Online-Schulungen haben
                                                                                                                           zudem neue ehrenamtlich Tätige den Weg
                                                                                                                           in die Hospizarbeit gefunden.

                                      werden aus den Büros ausgelagert und auf Spa-                                Hospizarbeit mit AHA-L
                                      ziergängen geführt. Informationsaustausch und                                Wirklich schwer ist Hospizarbeit „under cover“. Die
                                      überörtliche Treffen erfolgen meist als Videokon-                            schützende Mund-Nasen-Bedeckung ist Fluch und
                                      ferenz.                                                                      Segen zugleich. Unterstützende Mimik ist gerade
                                                                                                                   in hospizlich-palliativen Begegnungen enorm wichtig.
                                      Der ambulante Bereich berichtete uns, dass der                               Hier muss häufig auf nonverbale Kommunikation
                                      Rückgang an Begleitungsanfragen, besonders in                                zurückgegriffen werden und gerade diese wird mit
                                      der ersten Welle, eklatant war, hier sanken die                              Maske enorm erschwert. Dennoch berichten viele
                                      Anfragen teilweise um mehr als zwei Drittel. Insbe-                          ehrenamtliche Hospizmitarbeiterinnen und -mitar-
                                      sondere in Senioreneinrichtungen, wo zeitweilig                              beiter, dass es ihnen trotz Maske gelingt, in Kontakt
                                      nicht einmal Angehörige Zugang hatten, sind viele                            mit den Patientinnen und Patienten zu gehen – eine
                                      Menschen einsam gestorben. Starke Proteste und                               wunderbare und tröstliche Fähigkeit.
                                      später auch die Impfungen haben diesen Zustand
                                      abgemildert.                                                                 Im Laufe der Zeit nahmen die Mitarbeitenden auch
                                                                                                                   positive Entwicklungen wahr. So musste und konnte
                                      Heute sind Begleitungen und Angehörigenbesuche                               gewohntes Handeln überdacht werden. Neue Ideen
                                      wieder möglich. Lange Verhandlungen auf Bundes-                              zur Kontaktaufnahme wurden entwickelt.
                                      ebene erreichten, dass auch im am-
                                      bulanten Bereich die Förderrichtlinien
                                      angepasst wurden und so der Rück-
                                      gang aufgefangen werden konnte.
                                      Aber hier brauchten die Verantwort-
                                      lichen in den Hospizdiensten viel Zu-
                                      versicht und Geduld, denn bis diese
                                      Einigung vorlag, war das erste Corona-
                                      Jahr praktisch um.
                                                                                  © Hospizbewegung Ratingen e.V.

                                      Und das Ehrenamt?
                                      Ein wichtiger Teil sowohl der stationären
                                      als auch der ambulanten Hospizarbeit
                                      ist das Ehrenamt. Mit Beginn der Pan-
ZWEI JAHRE PANDEMIE   15

                                     Konzepte mussten überarbeitet und diskutiert wer-
                                     den, dadurch kam es auch zur (Rück-) Besinnung
                                     auf hospizliche Werte bei den Mitarbeitenden. Auch
                                     das Erleben vermehrter Solidarität und guter Netz-

                                                                                            © Foto-Reckeweg
                                     werkzusammenarbeit wurde positiv hervorgehoben.                          Christoph Voegelin
                                     Ein Hospizdienst berichtete gar, dass die ehrenamt-
                                     lich Mitarbeitenden sich so gut informiert und
                                     einbezogen fühlen wie noch nie.

                                     Was bleibt?
                                     Nicht zuletzt entwickelte sich eine vorher unmöglich
                                     erscheinende selbstverständliche Nutzung von
                                     Medien. So gab es nicht nur telefonische, sondern
                                     auch Video-Begleitungen, die als sehr unterstüt-
                                     zend empfunden wurden. Und wenn Präsenzveran-
                                     staltungen nicht stattfinden konnten, waren Video-
                                                                                            © Foto-Reckeweg

                                                                                                              Sabine Löhr
                                     konferenzen eine Alternative, von der viele sagen,
                                     dass diese auch zukünftig Teil ihres Kommunika-
                                     tionskonzepts sein werden.

                                     Die bisher gemachten Erfahrungen mit Einschrän-
                                     kungen und Regelungen während der Corona-
                                     Pandemie dienen als Erfahrungsgrundlage, auf die
                                     im aktuell erneut angestiegenen Ausbruchsgesche-
                                     hen zurückgegriffen werden kann. Die gelernte
                                     Flexibilität und Kreativität in vielen Bereichen der
                                     täglichen Hospizarbeit wird sicher auch zukünftig
                                     beibehalten werden. Vor allem aber ist zu hoffen,
                                                                                            © Foto-Reckeweg

                                     dass die Kombination von Erfahrung, ausreichen-                          Judith Kohlstruck
                                     den Schutzmaterialien, steigenden Impfquoten und
                                     politischem Willen dazu führen wird, dass es nie
                                     wieder zu einer solchen Menge an im Sterben
                                     alleingelassener Menschen kommen wird.

                                               Hospiz- und PalliativVerband NRW e.V.
                                                                     info@hpv-nrw.de
                                                                     www.hpv-nrw.de
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90
16   ZWEI JAHRE PANDEMIE
© istock.com/Juanmonino

                               DIE CORONAPANDEMIE ALS TÜRÖFFNER
                               Neue Begegnungsräume für junge Menschen mit lebensverkürzender
                               Erkrankung
                               MARCEL GLOBISCH

                               D
                                          ie Coronapandemie steht vor allem für       entstanden sind. Ein Wort, das damit eng verknüpft
                                          Ängste, Sorgen, Einschränkungen jeg-        ist, lautet Digitalisierung. Es ist ein Begriff, der vor
                                          licher Art, Einsamkeit oder auch Trauer.    der Pandemie in der Hospizarbeit vermutlich eher
                                          Trauer um den verlorenen Alltag, Trauer     Zurückhaltung als Euphorie auslöste. Vorbehalte
                               um sicher geglaubte Freiheiten oder gar Trauer um      waren zum einen mit fehlenden Erfahrungen, bis-
                               geliebte Menschen, die ernsthaft an COVID-19           weilen sogar Ängsten vor den technischen Heraus-
                               erkrankt bzw. im Zusammenhang mit dem Virus            forderungen verbunden, zum anderen aber auch
                               gestorben sind. Vor diesem Hintergrund mag die         mit den sehr persönlichen Themen der Arbeit be-
                               Überschrift dieses Beitrages zunächst befremdlich      gründet. Lebt Kinder- und Jugendhospizarbeit nicht
                               klingen: Die Coronapandemie als Türöffner! Und         vor allem von persönlicher Begegnung? Ja, daran
                               ausgerechnet junge Menschen mit lebensverkürzen-       hat sich grundsätzlich auch nichts geändert. Und
                               der Erkrankung sollen davon profitiert haben …? Dies   doch …
                                                                                                                                                 Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                               bestätigen die Worte von Egzon, einem jungen
                               Mann mit spinaler Muskelatrophie: „Bei allem, was
                               an Corona echt schlecht war, ist das hier was          Etablierung digitaler Formate als soziale Orte
                               Gutes!“ (DKHV, 2021: 46)                               der Begegnung
                                                                                      Das Risiko für Familien, in denen ein Kind lebens-
                               Der folgende Beitrag soll daher vom „Guten“, den       verkürzend erkrankt ist, soziale Isolation zu erfah-
                               positiven Errungenschaften berichten, die als Ant-     ren, ist deutlich erhöht. Sozialkontakte sind nicht
                               wort auf die Pandemie und ihre Herausforderungen       selten auf die Kernfamilie beschränkt, schwache
ZWEI JAHRE PANDEMIE                     17

                                     oder fehlende Einbindung in ein soziales Netzwerk         gefunden zu haben, in dem ich mich ganz offen
                                     (Verwandte, Freunde, Nachbarn), das Gefühl des            austauschen kann. Auch wenn wir uns noch nicht
                                     Alleinseins und der Isolation treten auf (vgl. VK KiJu,   so lange kennen, fühlt es sich so an, als würde ich
                                     2018: 11; 31; Herriger, 2014: 61). Umso wichtiger         mich mit Freunden unterhalten oder mit guten
                                     erschien es daher bereits zu Beginn der Pandemie,         Bekannten, mit denen man über ganz viele Dinge
                                     den Kontakt zu den Familien und insbesondere              reden kann. In besonderer Erinnerung ist mir da
                                     auch den jungen Menschen mit lebensverkürzender           der Austausch geblieben, bei dem wir über Ängste
                                     Erkrankung nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern          gesprochen haben.“ (DKHV, 2021: 47) Plambeck et
                                     wenn möglich, sogar zu intensivieren. Vor diesem          al. benennen den Austausch von Erfahrungen und
                                     Hintergrund führte der Deutsche Kinderhospizver-          Informationen im Gespräch, gegenseitige Unter-
                                     ein e. V. (DKHV e. V.) im Mai 2020 drei Onlinebefra-      stützung bei der Bewältigung von Problemen, Über-
                                     gungen von Familien durch, in denen die jungen            windung von Isolation und Einsamkeit sowie
                                     Menschen selbst, Eltern mit Kind bzw. Kindern mit         Bildung von neuen sozialen Beziehungen, z. B.
                                     lebensverkürzender Erkrankung, Eltern mit gestor-         durch Organisation von gemeinsamen Aktivitäten
                                     benem Kind bzw. gestorbenen Kindern, unter                (Plambeck et. al., 2018: 22), als Merkmale gelun-
                                     anderem zur eigenen Lebenssituation, zu Verände-          gener Selbsthilfeaktivitäten. Die Videokonferenzen
                                     rungen aufgrund der Pandemie sowie Wünschen               leisten somit im Sinne von Selbsthilfe einen wich-
                                     an den DKHV e. V. in dieser besonderen Zeit befragt       tigen Beitrag.
                                     wurden1. Einer der essenziellen Wünsche, die in
                                     allen befragten Gruppen zu 63-93 % ausgedrückt
                                     wurden, war die Teilnahme an virtuellen Austausch-        Bisherige Erfahrungen und ein Ausblick
                                     angeboten im Verein. Dieser Bedarf wurde insbe-           Seit März 2020 gab es insgesamt über 100 digitale
                                     sondere vor dem Hintergrund deutlich verminderter         Gruppenangebote2, an denen ca. 800 Personen
                                     Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, fehlender           teilgenommen haben. Neben den Angeboten für
                                     Kontakte und Angst vor Infektionen festgestellt           junge Menschen mit lebensverkürzender Erkran-
                                     (Weimann, 2021: 43). „In besonderen Zeiten war            kung, Eltern sowie Geschwistern gibt es auch
                                     es ein besonderer Wunsch und gleichzeitig eine            virtuelle Vernetzungstreffen für Mitgliedsorganisa-
                                     Herausforderung, an der Seite der Familien zu bleiben.    tionen, in denen sich z. B. Koordinationsfachkräfte
                                     Der digitale Austausch ist eine Chance, Familien-         informieren und austauschen können. Die Zu-
                                     mitglieder aus dem gesamten Bundesgebiet                  gangsbarrieren und der Aufwand für die Teilnahme
                                     miteinander in Kontakt zu bringen“, so Hubertus           an digitalen Angeboten sind wesentlich geringer.
                                     Sieler, Ansprechpartner für Familien im DKHV e. V.        Dies sind insbesondere für Familienmitglieder, die
                                     (DKHV, 2021: 49) Aufgrund der Rückmeldungen               über knappe Zeitressourcen verfügen oder in der
                                     wurden, neben den bereits seit Beginn der Pandemie        Mobilität eingeschränkt sind, begünstigende
                                     durchgeführten digitalen Angeboten für Geschwis-          Kriterien. Gleichzeitig können und sollen digitale
                                     ter, zielgruppenspezifische virtuelle Formate für         Formate nicht umfänglich analoge Veranstaltungen
                                     Eltern, deren Kinder lebensverkürzend erkrankt            ersetzen. Vielmehr wird es in Zukunft eine Kombi-
                                     oder gestorben sind, sowie für die erkrankten             nation beider Angebotsformen geben. Digitale
                                     jungen Menschen selbst auf den Weg gebracht.              Angebote werden somit fester Bestandteil der
                                     Insbesondere für die Letztgenannten haben sie             Kinder- und Jugendhospizarbeit bleiben.
                                     eine enorme Bedeutung. Christian, ein junger Mann
Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                     mit Muskeldystrophie Duchenne, betont, wie wert-          Für die Gruppe junger Menschen, die sich regelmäßig
                                     voll der Kontakt untereinander und wie die Gruppe         in Videokonferenzen austauschen, waren diese
                                     in kurzer Zeit zu einer Gemeinschaft geworden ist:        Zusammenkünfte auch eine Brücke zur ersten
                                     „Ich schalte mich immer wieder dazu, weil ich das         Selbsthilfeklausur für junge Menschen mit lebens-
                                     Gefühl habe, hier einen geschützten Bereich
                                                                                               2 Eine Übersicht der aktuellen digitalen Angebote finden sich
                                     1 Umfragezeitraum Mai 2020, Teilnehmende insgesamt: 244     unter: https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/wie-wir-
                                       Personen                                                  unterstuetzen/digitale-angebote/ Zugriff am 06.12.2021.
ZWEI JAHRE PANDE-

                                                                                Schaffung einer neuen
                                                                                Stelle „Ansprechpartner
                                                                                für junge Menschen mit
                                                                                lebensverkürzender Er-
                                                                                krankung“3 im Verein
                                                                                geschaffen. So ist der Weg
                                                         geebnet, auf dem analoge sowie digitale Türen of-
verkürzender Erkrankung, die Anfang Oktober als          fenbleiben und neue aufgestoßen werden können.
Begegnungswochenende in Haltern am See statt-
fand. Unter Einhaltung strenger Hygienebedingungen
kamen für drei Tage 8 junge Menschen und insge-          Literatur
samt 29 Personen, darunter Pflege- und Assistenz-        DKHV e. V. – Deutscher Kinderhospizverein e.V. (2021). Die
                                                             Chance 2020-21. Schwerpunktthema Spiritualität.
kräfte, ehrenamtliche Begleiterinnen und Begleiter
                                                         Herriger, N. (2014). Empowerment in der sozialen Arbeit. Eine
sowie Leitungen zusammen. Die Veranstaltung war              Einführung. 5., erw. und aktualisierte Aufl. Stuttgart: Kohl-
innerhalb kürzester Zeit ausgebucht. Auch des-               hammer (Sozialpädagogik).
wegen und wegen der sehr guten Rückmeldungen             Leinbach, K. (2021). Here we are! Erste Selbsthilfeklausur für
ist für das kommende Jahr bereits die nächste                junge Menschen mit lebensverkürzender Erkrankung. In:
                                                             DKHV e. V. – Deutscher Kinderhospizverein e.V. (2021): Die
Selbsthilfeklausur in Planung.                               Chance 2020-21. Schwerpunktthema Spiritualität. 28-29.
                                                         Plambeck, I., Eisenstecken, E., Jakob, K., Unverdorben-Beil,
„Die Teilnahme an der Selbsthilfeklausur war für             M., Striebel, S. (2018). Kooperation von Fachkräften,
alle ein Highlight in der Pandemiezeit. Nach mehr            Selbsthilfe und Selbstorganisation. Ein Leitfaden für die
                                                             Praxis. 1. Auflage. Neu-Ulm: AG SPAK Bücher (AG SPAK Rat-
als einem Jahr, in dem wir uns online getroffen              geber, M 330).
haben, haben sich alle über ein persönliches Ken-        VK KiJu Versorgungskoordination für Familien mit versorgungs-
nenlernen gefreut“ (Leinbach, 2021: 29), so Vicci,           intensiven Kindern und Jugendlichen. Jahresbericht 2018 –
eine junge Frau mit Muskelerkrankung und Teilneh-            Auswertungen und Erläuterungen.
                                                         Weimann, K. (2021). Digitalisierung im DKHV e. V. – schöne
merin an der Klausur. Mit Blick auf die digitalen            neue Welt oder Hemmnis mit Fallstricken? Überlegungen,
Videokonferenzen richtet Vicci den Blick in die              erste Schritte und Ausblick. In: DKHV e. V. – Deutscher Kin-
Zukunft: „Mir gefällt auch der Blick nach vorn, dass         derhospizverein e.V. (2021). Die Chance 2020-21. Schwer-
wir auch darüber sprechen, was nach der Corona-              punktthema Spiritualität. 22-24.
Zeit vielleicht kommt, was Wünsche und Pläne sind.
Das ist einfach eine sehr coole und wertvolle Mög-
lichkeit, sich auszutauschen“ (DKHV, 2021: 47).

So ist zu Zeiten von Kontaktbeschränkungen etwas                                     Marcel Globisch, M. A.
                                                                                     Leitung für Inhalte und Entwicklung,
gelungen, was zu Beginn der Pandemie schwer                                          Deutscher Kinderhospizverein e. V.
vorstellbar war: Neue digitale Wege haben Türen                                      In der Trift 13, 57462 Olpe
geöffnet, Lebenswelten von jungen Menschen mit                                       Tel.: 0 27 61 - 9 41 29-36
lebensverkürzender Erkrankung erweitert und                                          Mobil: 01 51 - 46 11 71 65
deutlich gemacht, dass hier enormer Bedarf                                           marcel.globisch@deutscher-
besteht. Damit die Bedürfnisse der jungen Men-                                       kinderhospizverein.de
                                                                                     www.deutscher-
schen noch besser erfasst und mit entsprechenden
                                                                                                                             Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                                                     kinderhospizverein.de
Angeboten erfüllt werden können, wurde mithilfe
einer Anschubförderung des Bundesministeriums
für Familien, Senioren, Frauen und Jugend die

3 https://www.deutscher-kinderhospizverein.de/wie-wir-
  unterstuetzen/ansprechpartnerinnen/ansprechpartner-
  fuer-junge-menschen-mit-lebensverkuerzender-erkran-
  kung/ Zugriff am 06.12.2021
ZWEI JAHRE PANDEMIE                  19

                                                               NIEMAND SOLL ALLEINE STERBEN –
                                                               DIGITALE STERBEBEGLEITUNG IN ZEITEN
© istock.com/pressureUA

                                                               DER CORONA-PANDEMIE
                                                               Ein Erfahrungsbericht
                                                               CLAUDIA OHLSEN UND ROLAND REPP

                                                               D
                                                                             ie Corona-Pandemie stellt uns nicht nur    sames Sterben nicht zulassen dürfen. So entstand
                                                                            in Bezug auf eine mögliche Überlastung      zunächst die bloße Idee einer digitalen Sterbebe-
                                                                            des Gesundheitswesens seit fast zwei        gleitung, an deren Umsetzung sich schließlich ein
                                                                            Jahren vor immense Herausforderungen.       kleines Team aus dem Umfeld des HPVSH mit viel
                                                               Die Pandemie wirkt sich auch entschieden auf das         Pragmatismus, Hoffnung und Hartnäckigkeit machte.
                                                               soziale Leben aus. Sind die Einschränkungen des          Wir generierten Spenden, um Geräte und technische
                                                               „social distancing“ schon unter regulären Umstän-        Infrastruktur zu erwerben, aber auch Knowhow, um
                                                               den belastend, bedeuten Kontaktbeschränkungen            die Geräte einrichten und später einen technischen
                                                               und Besuchsverbote für schwerstkranke Menschen,          Support anbieten zu können. Wir baten die regio-
                                                               dass diese möglicherweise ohne angemessene               nale und überregionale Presse, unser Anliegen in
                                                               Begleitung versterben müssen. Der Hospiz- und            die Fläche zu kommunizieren, und fragten im
                                                               Palliativverband Schleswig-Holstein e. V. (HPVSH)        Institut für Informatik an der Kieler Christian-
                                                               hat deshalb im Frühjahr 2020, inmitten des ersten        Albrechts-Universität zu Kiel nach Unterstützung
                                                               Lockdowns, mit seiner Landeskoordinierungsstelle         und Möglichkeiten der technischen Umsetzung.
                                                               das Projekt „Niemand soll alleine sterben. Digitale      Der Rücklauf war enorm, unser „handgestricktes“
                                                               Sterbebegleitung in Zeiten der Corona-Pandemie“          Projekt, aus der Not geboren, erhielt die größtmögliche
                                                               initiiert – immer mit dem Ziel, die hospizlich-pallia-   Hilfe und Solidarität, die man sich in einer solchen
                                                               tive Begleitung für Menschen mit lebensverkürzenden      Krisensituation vorstellen kann.
                                                               Erkrankungen weiterhin sicherzustellen.
                                                                                                                        Die Tablets wurden durch die Informatiker entspre-
                                                                                                                        chend leicht bedienbar eingerichtet. Der Einfachheit
                          Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                               Erste Projektschritte                                    halber nutzten wir zunächst die Kommunikations-
                                                               Wir alle hatten zu Beginn der Pandemie die Bilder        App „Zoom“ – seit der Pandemie millionenfach
                                                               aus dem italienischen Bergamo im Kopf, als               genutzt und bewährt. Die Geräte wurden so konfi-
                                                               Menschen allein und isoliert, ohne Abschied von          guriert, dass außer der Zoom-App nichts Störendes
                                                               ihren Zugehörigen, sterben mussten. Als das Corona-      mehr auf den Tablets installiert war. Für die zum
                                                               Virus einige Zeit später in Schleswig-Holstein           Gebrauch notwendigen LTE-Karten konnten wir
                                                               ankam, war uns als Akteure aus der Hospiz- und           einen speziellen Corona-Tarif mit einem großen
                                                               Palliativversorgung schnell klar, dass wir ein ein-      Mobilfunkanbieter aushandeln.
20                                                              ZWEI JAHRE PANDEMIE
© Hospiz- und Palliativverband Schleswig-Holstein e.V.

                                                                                                                         und Palliativversorgung in sogenannten Anwender-
                                                                                                                         Treffen miteinander aus – zu Best-Practice, Umgang,
                                                                                                                         Perspektiven, Erfahrungen und Möglichkeiten.
                                                                                                                         Dabei entstand auch der Wunsch nach Verstetigung
                                                                                                                         und Weiterentwicklung einer Form von digitaler
                                                                                                                         Sterbebegleitung. Mit Hilfe weiterer externer Unter-
                                                                                                                         stützer konnten Anfang 2021 einige Lizenzen der
                                                                                                                         leicht zu handhabenden Videokonferenz-Software
                                                              Eine Idee wird zum Erfolgsmodell in                        „datVideo“ [Databay, Würselen] erworben werden.
                                                              schwieriger Zeit                                           Mittels dieser Software können sich Nutzer auch
                                                              Über eine Rundmail an unsere Mitglieder machten            ohne technische Vorerfahrung über einen einfachen
                                                              wir auf das Projekt aufmerksam und boten unsere            Klick im digitalen Raum treffen. In diesem Kontext
                                                              Unterstützung bei der Umsetzung auf regionaler             gibt es sicher noch weitere Anbieter solcher Systeme,
                                                              Ebene an. Schnell fanden sich Dienste, Einrichtungen       hat der Markt doch inzwischen das enorme Poten-
                                                              und Palliativstationen, die ebenfalls partizipieren        tial einfacher Softwaresysteme entdeckt und die
                                                              wollten, ebenso wie Spender, mit deren Unterstüt-          Gruppe weitgehend technik-ferner Menschen und
                                                              zung wir weitere Geräte erwerben und einrichten            deren Kommunikationsbedarfe, vor allem in der
                                                              konnten. Ein Großspender aus der Wirtschaft                Pandemie, erkannt und in den Blick genommen.
                                                              beispielsweise stellte den stationären Hospizen im
                                                              Land über 60 Geräte zur Verfügung – und lieferte
                                                              die passenden W-Lan-Hotspots samt Einbau für die           Unser Fazit
                                                              Einrichtungen gleich mit. So sind es heute weit über       Digitaler Kontakt kann persönliche Nähe niemals
                                                              300 Endgeräte in den Hospiz- und Palliativeinrich-         ersetzen. Jedoch kann dieser als ein gutes Ergän-
                                                              tungen in Schleswig-Holstein, die über den HPVSH           zungsangebot verstanden werden. So können auch
                                                              beschafft werden konnten. Sicher sind diese                etablierte Versorgungsstrukturen Unterstützung
                                                              gegenwärtig weniger im Einsatz als noch zu Beginn          erfahren, wenn medizinische Verantwortung,
                                                              der Pandemie – wichtig ist jedoch nach wie vor für         Kontaktverbote und Zugangsbeschränkungen
                                                              die Einrichtungen, dass die Tablets im Notfall             physische Begleitungen im ambulanten wie im
                                                              vorhanden sind und jederzeit reaktiviert werden            stationären Umfeld untersagen und damit nahezu
                                                              könnten. Das impliziert auch ein Stück Sicherheit          unmöglich machen. Die Tablets im Kontext der
                                                              in pandemischen Zeiten, weil sich Situationen              digitalen Begleitung wurden und werden vor allem
                                                              jederzeit ändern und umkehren können.                      immer dann angenommen, wenn Kontakte auf
                                                                                                                         anderem Weg nicht machbar sind oder aber eine
                                                                                                                         weitere Möglichkeit in der Kommunikation darstellen.
                                                              Perspektiven und Möglichkeiten –                           Zahlreiche positive Beispiele in der Interaktion zwi-
                                                              digitale Begleitung als ergänzendes Format                 schen Begleitenden und Begleiteten belegen dies
                                                              In regelmäßigen Videokonferenzen tauschten sich            eindrücklich. Denn, niemand soll alleine sterben.
                                                              die am Projekt beteiligten Akteure aus der Hospiz-
                                                                                                                                                                                    Hospiz-Dialog NRW - Januar 2022/90

                                                                                    Claudia Ohlsen, M. A.                                       Prof. Dr. Roland Repp,
                                                                                    Kulturwissenschaftlerin                                     Facharzt für Innere Medizin,
                                                                                    Geschäftsführerin Landeskoordi-                             Hämatologie/Internistische
                                                                                    nierungsstelle Hospiz- und Pallia-                          Onkologie und Palliativmedizin
                                                                                    tivarbeit Schleswig-Holstein am                             Leitung 2. Medizinische Klinik am
                                                                                    Hospiz- und Palliativverband                                Städtischen Krankenhaus, Kiel
                                                                                    Schleswig-Holstein e. V. (HPVSH)                            Vorsitzender des Hospiz- und
                                                                                    Burgstr. 2, 24103 Kiel                                      Palliativverbandes Schleswig-
                                                                                    Tel.: 04 31 - 90 88 55 11                                   Holstein e.V. (HPSV)
                                                                                    ohlsen@hpvsh.de
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