I studied Archaeology - Now my life is in ruins? - DGUF

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                                                                                            studied    Archaeology
                                                                                                be available              – Now my life is in ruins?
                                                                                                             there: http://www.archaeologische-informationen.de.

                                                                  I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

                                                                                                      Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

                   Zusammenfassung – Vom 1. bis 5. April 2019 fanden in Würzburg die Jahrestagungen des West- und Süddeutschen Verbandes für Al-
                   tertumsforschung e.V. (WSVA) und des Mittel- und Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung e.V. (MOVA) statt. Als Sektion dieser
                   Zusammenkunft veranstaltete das Forum Archäologie in Gesellschaft (FAiG) einen Round Table zum Thema „Prekariat und Selbstaus-
                   beutung“. Die Autorinnen wurden als studentische Vertreterinnen eingeladen, um über ihre (persönlichen) Erfahrungen dazu zu berichten.

                   Schlagwörter – Archäologie; Studium; Prekariat; Selbstausbeutung; studentische Wohn- und Lebensverhältnisse; Geschlechter(un)ge-
                   rechtigkeit

                   Title – I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

                   Abstract – From 1st to 5th of April 2019 the yearly congresses of West- und Süddeutscher Verband für Altertumsforschung e.V. (WSVA)
                   as well as Mittel- und Ostdeutscher Verband für Altertumsforschung e.V. (MOVA) took place in Würzburg. As a part of this convention the
                   Forum Archäologie in Gesellschaft (FAiG) hosted a round table with the theme „Precariat and Self-Exploitation“. The authors were invited
                   as student representatives to talk about their (personal) experiences with those topics.

                   Key Words – archaeology; academic studies; precariat; self-exploitation; student living and life settings; gender (in)equality

                   Einleitung                                                               breitgefächertes Spektrum an Eindrücken liefern.
                                                                                            Ihnen ist bewusst, dass sie nicht jede spezifische
                   In diesem Artikel, der Teil einer Essaysammlung                          Situation aufgreifen können und verstehen den
                   zu prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen                             Essay als Anstoß für eine längerfristige und not-
                   innerhalb der Archäologie ist, möchten die Auto-                         wendige Debatte.
                   rinnen studentische Perspektiven vorstellen und                             Das Hauptaugenmerk liegt auf dem wissen-
                   eine aktuelle Lageeinschätzung abgeben. Die Ver-                         schaftlichen Prekariat im Studium. Dafür werden
                   fasserinnen erachten diesen Beitrag als besonders                        Faktoren, die der Art des archäologischen Studi-
                   relevant, da in vielen Erhebungen Studierende                            ums eigen sind und dasselbe belasten und/oder
                   aus dem Raster fallen (Karl, Möller & Krierer,                           hinauszögern, herausgearbeitet und beleuchtet.
                   2012; Siegmund, Scherzler & Schauer, 2020; York                          Ein anderer Fokus wird auf archäologischen B.A.-
                   Archaeological Trust, 2014) oder ein anderer Fo-                         und M.A.-Studiengängen liegen. Dabei wird ver-
                   kus gelegt wird, wie etwa Studienstandort oder                           sucht darzulegen, welchen strukturellen Wandel
                   Geschlechterverteilung (Karl, o. J.; Gutsmiedl-                          die Abschaffung der Magister-Studiengänge mit
                   Schümann & Helmbrecht, 2017).                                            sich gebracht hat. Ebenso fließen in diesem Essay
                       Beide Autorinnen sehen sich durch ihr lang-                          subjektive Elemente der Autorinnen mit ein, so
                   jähriges Studium inklusive Standortwechseln                              dass ein buntes Mosaik an Eindrücken entsteht.
                   und ihr ausgiebiges Engagement in Fachschafts-                           Da seit Frühjahr 2020 die Covid-19-Pandemie
                   räten bzw. -initiativen sowie intensiver Vereins-                        auch den universitären Betrieb stark verändert
                   arbeit befähigt, in diesem Fall ein Sprachrohr für                       hat, wird dies ebenso in den Blick genommen und
                   Studierende aller archäologischen Fächer zu der                          auf die genannten Faktoren hin untersucht. Doch
                   Thematik von Prekariat im und durch das Studi-                           zunächst soll geklärt werden:
                   um zu sein. Dennoch kennen und wissen beide
                   um Studierende, die vollständig andere Erfah-
                   rung gesammelt haben.                                                    Was ist Prekariat eigentlich genau?
                       Vor allem die Arbeit im Dachverband Archäo-
                   logischer Studierendenvertretungen e.V. (DASV)                           In den Sozialwissenschaften wird die soziale
                   gab den Autorinnen die Möglichkeit zum ausgie-                           Lage von Menschen als prekär bezeichnet, wenn
                   bigen Austausch, nicht nur über die Fächer-, son-                        diese Gefahr laufen, in Armut und damit in so-
                   dern auch Landesgrenzen hinweg (DASV, o. J.).                            ziale Abgrenzung abzugleiten. Dabei lassen sich
                   Die Autorinnen möchten daher ein möglichst                               für Armut drei Hauptstränge herauskristallisie-

                   Eingereicht: 23. Aug. 2021                                                               Archäologische Informationen 44, Early View
                   angenommen: 6. Sept. 2021                                                                                                  CC BY 4.0
                   online publiziert: 18. Okt. 2021                                     1                        FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
                                                                                                              FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

ren, die für den vorliegenden Beitrag interessant          und Prekariat sehr deutlich milieu-spezifisch un-
sind (Hradil, 2010, 3-8) und hier kurz umrissen            gleich verteilt sind und, ähnlich wie Wohlstand,
werden sollen:                                             sozusagen „vererbbar“ zu sein scheinen.
1. Die relative Armut stellt die Frage nach einem
    „angemessenen Leben“ innerhalb einer Wohl-
    standsgesellschaft und beleuchtet nicht nur            Prekär durchs Studium
    den Aspekt des reinen physischen Überlebens.
    Hierbei wird die Armutsgrenze nicht durch              Passt der Begriff Prekariat für Studierende über-
    ein physisches, sondern durch ein soziokultu-          haupt? Sind diese nicht mit zahlreichen Vergünsti-
    relles Existenzminimum festgestellt.                   gungen und einem Entgegenkommen (allerdings
2. Ein weiterer Strang begreift Armut als in-              oft nur bis zu einem bestimmten Alter wie z. B. bei
    terkulturell und historisch relative Erschei-          Stipendien oder BAföG, Krankenversicherungen,
    nung. Was Armut also konkret ist, kann so-             Kultur- und Freizeitangeboten etc.) versehen, um
    mit stark variieren.                                   eben doch am kulturellen, politischen, gesellschaft-
3. Im dritten Strang wird Armut immer als mehr-            lichen und wirtschaftlichen Leben teilzuhaben?
    dimensionale Erscheinung erachtet. Sie kann            Studieren sie nicht, um dann später irgendwann
    also nicht nur als ökonomisch-materialistisch,         einen guten oder gar sicheren Job zu bekommen
    sondern zeitgleich auch als ein kulturelles, so-       und Führungspositionen einzunehmen?
    ziales oder ein psychisches Phänomen verstan-              Studierende schlittern während ihres Studi-
    den werden. Eine Unterversorgung im ökono-             ums häufig jahrelang an der Armutsgrenze ent-
    misch-materiellen Bereich ist allerdings stark         lang. Der BAföG-Höchstsatz 2021 beläuft sich
    gekoppelt an einen Ausschluss von der Teilha-          zwar auf 861 € (BAföG aktuell, 2021a) und Stu-
    be an wirtschaftlichen, politischen, kulturellen       dierende können bis zu einem Betrag von 5.400 €
    und gesellschaftlichen Aspekten des Lebens.            innerhalb des Bewilligungszeitraums des BAföG-
    Ebenso kann sich diese Unterversorgung und             Geldes dazu verdienen (BAföG aktuell, 2021b)
    Nicht-Teilhabe in Zukunfts- oder Versagens­            (was in etwa dem Monatslohn eines sog. Minijobs
    ängsten, psychosomatisch in Form von Angst-            von 450 € entspricht). Dadurch könnten sie auf
    störungen, Depression, Burnout oder weiteren           ein monatliches Einkommen von 1.311 € kom-
    chronischen Erkrankungen verfestigen.                  men. Sie liegen damit aber immer noch nur knapp
Den drei genannten Strängen ist gemein, dass sie           über der Armutsgefährdungsgrenze von 1.074 €
erschwerend für inklusive Momente sind. Laut               (Stand 2019) für Alleinstehende (Destatis, 2019).
Robert Castel entspringen sie einer „sozialen Ver-         Allerdings sind nicht alle Studierenden BAföG-
wundbarkeit“, die der Armut vorgelagert zu sein            berechtigt (auch nicht alle von denen, die wirklich
scheint. Prekär ist also die soziale Lage von Men-         auf das Geld angewiesen sind) oder erhalten den
schen, die Gefahr laufen, in die Armut und die da-         Höchstsatz. Das führt dazu, dass sie ohne ander-
mit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten             weitige finanzielle Unterstützung wie z. B. ein Sti-
(Castel, 2005, 36-38). Nach Angaben der Bundes-            pendium oder familiäre Hilfe auf einen Job ange-
zentrale für Politik und Bildung (bpb) wird seit           wiesen sind, der sie und ihr Studium finanzieren
2002 in dem von ihr veröffentlichten Datenreport           kann. Zum anderen sehen sich Studierende (nach
(bpb, 2021) die sozialstatistische Kategorie des           Schlögl & Neubauer, 2006), die neben einer Voll-
„prekären Wohlstands“ genutzt. Diese erfasst Men-          zeit- oder Teilzeitberufstätigkeit studieren, einer
schen, die mit einem Netto­äquivalenzeinkommen             Dreifachbelastung gegenüber: Sie müssen Beruf,
von 60 bis 75 Prozent des Durchschnittseinkom-             Studium und Privat-/Familienleben (ggf. auch
mens auskommen müssen. Sie leben zwar über                 mit Kindern) vereinbaren.
der relativen Armutsgrenze (d. h. unter 60 %                   Um in der Regelstudienzeit studieren zu kön-
Durchschnittseinkommen), aber ihre Lebenssi-               nen, gilt es, die magische Anzahl von 30 Credit
tuation ist armutsnah und prekär im Sinne von              Points (CP) pro Semester zu erreichen. Zusam-
„sozialer Verwundbarkeit“ (Goebel & Krause, 2021).         mengerechnet umfasst ein Semester mit eben
Die Analyse von Heinz Bude in seinem Essay die             dieser CP-Zahl 900 Arbeitsstunden (Europäische
„Ausgeschlossenen in Deutschland“ ergibt, dass der         Kommission, 2017, 10), also 150 Stunden pro Mo-
soziale Abstieg jederzeit möglich ist (Bude, 2008,         nat, was einer 37,5 Stunden-Woche und somit
113-117, 128-129). Jedoch scheint diese Unter-             einer Vollzeit-Beschäftigung entspricht. Wenn
suchung das tatsächliche Bild zu verzerren, da             hierzu noch ein 450-Euro-Job hinzukommt (ge-
quantitative Analysen (z. B. Böhnke, 2006; Groh-           mäß des Freibetrags bei BAföG-Bezug), würden
Samberg, 2009) belegen, dass soziale Ausgrenzung           ca. 30 bis 47 Stunden1 pro Monat zusätzliche Ar-

FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung              2
I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

beitszeit anfallen. Somit entspricht ein Vollzeit-        Semesterbeiträge bzw. Studiengebühren, Teil-
studium plus 450-Euro-Job nahezu einer 7-Ta-              nahme an Exkursionen, Tagungen, Workshops,
ge-Arbeitswoche,2 ohne die für die Archäologie            Druck- und Scankosten, Ankauf von Studienma-
studienrelevanten Exkursionen, Grabungen, Ta-             terial sowie studienrelevanter PC-Programme,
gungen und Workshops mit einzubeziehen, die               technische Geräte, eventuelle Auslandsaufent-
sowohl im laufenden Semester als auch in der              halte etc.
vorlesungsfreien Zeit absolviert werden müssen.               Nicht selten sind Studierende auf die finanzi-
Ebenso ist noch nicht die eventuelle Betreuungs-          elle Unterstützung ihrer Familie angewiesen, um
zeit von Kindern und/oder Angehörigen mit ein-            sich ihr Studium leisten zu können. Aber sind
gerechnet, da diese je nach individueller Situation       wirklich alle Studierenden in der privilegierten
existiert und stark fluktuieren kann. Gleiches gilt       Position, darauf zurückgreifen zu können?
für Erkrankungen der Studierenden. Die zuletzt            — Mitnichten studieren momentan nur Personen
genannten Punkte führen häufig dazu, sich nur                 aus einkommensstarken Haushalten/Familien.
für ein Teilzeitstudium einschreiben zu können            — Mitnichten kann die Verwandtschaft immer
oder sich gar komplett vom Studium „beurlau-                  so tief in den Geldbeutel greifen, dass Studie-
ben“ lassen zu müssen. Die Rückkehr aus einem                 rende mit diesem zusätzlichen Geld auf einen
„Urlaubs“semester, die Hürden, dieses überhaupt               oder mehrere Nebenjobs verzichten können.
beantragen zu können und die Lücke im Studi-              — Mitnichten studieren nur Kinder mit akade-
enverlauf machen ein „Urlaubs“semester nicht so               mischen Familienhintergrund, die von den Er-
attraktiv, wie es zunächst klingen mag.                       fahrungen ihrer Familie bzgl. Universität, aka-
    Zu den beschriebenen Mehrfachbelastungen                  demischer Ansprüche und Tipps und Tricks
kommt der Druck hinzu, mit einer sehr guten                   profitieren können.
Note abzuschließen, um sich für Promotionssti-            — Mitnichten sind alle verfügbaren Nebenjobs
pendien oder allgemein für eine Promotion oder                so flexibel gestaltbar, dass ein Vollzeitstudium
Volontariate bewerben zu können, da Absolven-                 „nebenher“ möglich ist.
tinnen und Absolventen mit einem guten Ab-                — Mitnichten herrscht bei vielen Nebenjobs nicht
schluss bevorzugt werden. Nicht selten arbeiten               die arbeitsrechtlich illegale Erwartungshaltung,
Studierende in Nachtschichten an der Vor- und                 unbezahlte (!) Überstunden leisten zu müssen.
Nachbearbeitung der jeweiligen Seminare, ihren            (Wehe, wenn die Waschmaschine, der Kühl-
Hausarbeiten oder Qualifikationsarbeiten. Auch            schrank oder der Computer kaputt geht …)
nicht selten können die Nebenjobs der Studieren-          — Mitnichten reagieren bereits etablierte Kolle-
den nur abends oder am Wochenende wahrge-                     ginnen und Kollegen innerhalb der Archäolo-
nommen werden, da an vielen Studienstandorten                 gie, die überwiegend noch im Magisterstudi-
für die Seminare Anwesenheitspflicht herrscht.                um und mit nicht vergleichbaren Mietpreisen
Diese wiederum kann dazu führen, an Veranstal-                etc. während ihres Studiums konfrontiert wa-
tungen anderer Institutionen nicht teilnehmen zu              ren, mit Verständnis.
können (Vorträge, Workshops, Tagungen etc.)               Ganz im Gegenteil seien hier die vier häufigsten
bzw. ist man vom Wohlwollen Lehrender abhän-              Reaktionen aufgeführt:
gig.                                                      — Sucht Euch einen anderen Job.
    Diesen dauerhaften Stresszustand krönt noch           — Studiert woanders.
der nicht unwesentliche Aspekt von zunehmend              — Ich hatte damals im Studium auch kaum
stärker ansteigenden Mieten vor allem in urbanen              Geld zur Verfügung und bin trotzdem
Ballungszentren, die nicht selten auch begehrte               durchgekommen.
Studienstandorte sind. Gleichzeitig nehmen bei            — Ich bin in den Semesterferien Graben gegan-
steigenden Studierendenzahlen die Plätze für                  gen und konnte mich so finanzieren.
Studierendenwohnheime ab. Seit 2014 liegt die             Solche Reaktionen erschweren eine breite De-
Unterbringungsquote in Wohnheimen konstant                batte über prekäre Verhältnisse während des
unter der 10 %-Marke (Deutsches Studentenwerk,            Archäo­logiestudiums massiv, da sie jegliche Aus-
2020, 32-33). Somit stehen Studierende vor einem          einandersetzung im Keim ersticken. Wie viele
massiven Problemberg: Sie können sich ein Studi-          Archäo­  logiestudierende pro Semester ihr Stu­
um im doppelten Sinne kaum leisten! Mit Mühe              dium abbrechen, weil die finanzielle, emotionale
und Not kommt man durch Selbstfinanzierung                und psychische Mehrfachbelastung für sie nicht
über die Runden, es bleibt dadurch aber kaum              mehr tragbar ist, konnten die Autorinnen nicht in
noch Zeit für das eigentliche Studium. Denn zu            Erfahrung bringen, da es explizit zu den genann-
einem Studium gehören teilweise verpflichtend             ten Punkten (noch) keinerlei Erhebung zu geben

                                                      3                    FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

scheint.3 Es würde sich allerdings anbieten, diese          ein Großteil der Studierenden (der Altertumswis-
Aspekte statistisch zu erfassen und auch auf den            senschaften) schon prekär ins Studium mit wenig
Abbruch von Promotionsvorhaben unter Berück-                Aussicht auf Besserung.
sichtigung der Gründe für diesen auszuweiten.                   Begrüßung im Studium, erster Tag, erstes Se-
Seltsam ist das Fehlen einer solchen Erhebung               mester, ein beliebiges archäologisches Institut.
auch, da Archäologiestudierende, die mit oder               Dozierender: „Haben Sie alle einen Führerschein?“ –
ohne Abschluss aus dem Studium aussteigen, aus              nervöses Lachen – „Gut! Denn Sie werden eh alle Taxi
Sicht der Wissenschaftskommunikation ebenfalls              fahren. Mit diesem Studium finden Sie keinen Job!“ Ein
Akteure in der Vermittlung sein können (vgl. Bei-           solcher Satz und die dazugehörige Stimmung – es
trag Gutsmiedl-Schümann, in diesem Band).                   ist egal, was und wie viel du tust, es wird nie rei-
                                                            chen für das, was du willst – saß und sitzt tief.
                                                                In der omnipräsenten Annahme (nicht nur
Darum ist die Archäologie besonders prekär                  Dozierende, sondern bspw. auch Familienange-
                                                            hörige und Freundinnen und Freunde äußern
Auch wenn der Ausdruck „wissenschaftliches Pre-             sich gerne so), dass Archäologie zu den brotlosen
kariat“ zunächst widersprüchlich erscheint, da die          Künsten gehört, starten viele Bachelor-Erstseme-
lange angenommene Rechnung „wissenschaftliches              ster also in ihr Studium. Die scheinbar ausweg-
Studium = guter (sicherer) Arbeitsplatz auf Grund ho-       lose finanzielle Situation lässt sich ergo (so der
her Qualifikation“ wie ein Gespenst in den Köpfen           studentische gedankliche Rückschluss) nur über
herumgeistert, so hat sich die Grundsituation an            gute Noten, breite Netzwerke, viel Praxiserfah-
Hochschulen und Universitäten in den vergangen              rung wettmachen. Wer jammert, packt es nicht!
Jahren radikal verändert. Durch den Wandel im               Wer über die katastrophalen prekären Grundsitu-
Schulbildungswesen entscheiden sich jährlich                ationen, in denen Studierende leben und (kreativ)
mehr Menschen für die Aufnahme eines MA-Stu-                arbeiten müssen, redet, scheidet aus dem Wettbe-
diums. Bis auf einige Ausnahmen ist ein weiter-             werb um begehrte Stellen aus. Immer verfügbar,
führendes MA-Studium Grundvoraussetzung für                 immer perfekt vorbereitet, immer fristgerechte
die Aufnahme in den Arbeitsmarkt. Die Drittmit-             Abgabe von Studienarbeiten.
telforschung hat massiv zugenommen, genauso                     Speziell in der Archäologie können Pflicht-
hat die Exzellenz-Strategie an Universitäten einige         praktika und -exkursionen (besonders finanziell)
Dynamiken stark beeinflusst. Die zahlreichen För-           belastend sein, welche oftmals die komplette vor-
derprogramme und gesetzlichen Veränderungen                 lesungsfreie Zeit verschlingen. Aber wer schreibt
(z. B. Wissenschaftszeitvertragsgesetz, WissZeitVG,         nach acht bis zehn Stunden Ausgrabung noch
BGBl. I S. 506 bzw. BGBl. I S. 1073) haben nicht            gerne seine Hausarbeiten? Mit etwas Planungs-
dazu geführt, dass wissenschaftliche Karrieren              geschick bleibt dann noch etwas Zeit, um Geld zu
sicherer wurden. Ganz im Gegenteil, langfristige            verdienen. Denn Praktika werden gar nicht oder
Karrieren sind in der Wissenschaft so unsicher              nur mit einer kleinen Aufwandsentschädigung
wie selten zuvor (Maihofer, 2021). Auch Studieren           vergütet – schließlich lernt man etwas und kann
kann, sofern man aus bestimmten Förderprogram-              sich glücklich schätzen, nicht dafür zahlen zu
men herausfällt, weiterhin zur Luxusangelegen-              müssen – und Exkursionen können schnell einen
heit werden. Der aktuell (Juli bis August 2021) bei         drei- bis sogar vierstelligen Bereich kratzen. Dass
Twitter trendende Hashtag #IchBinHanna (Bahr,               Studierende sich inzwischen nicht mehr dadurch
Eichhorn & Kubon, o. J.), der als Reaktion auf ein          finanzieren können „den Sommer durchzugraben“,
Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung              sondern für die studien- und fachrelevanten Gra-
und Forschung (BMBF) zum WissZeitVG entstan-                bungen sogar ihre eigentlichen Jobs kündigen
den ist,4 zeigt mit einer Wirkkraft wie kaum zuvor          müssen, wird zu selten beachtet.
persönliche Erfahrungen zum Wissenschaftspre-                   Ebenso wird zu selten darüber gesprochen,
kariat des Mittelbaus an Universitäten. Diese per-          wie sinnvoll die Bachelor- und Masterstudiengän-
sönlichen Einblicke in die Lebensrealitäten hoch-           ge für die archäologischen Fächer sind, da diese
qualifizierter Akademikerinnen und Akademiker               Systeme strikte Modulfristen beinhalten. Diese
können durch die schiere Menge der Tweets und               können häufig auf Grund der bisher genannten
die wiederkehrenden Muster an Erfahrungen in-               Punkte nicht eingehalten werden. Hausarbeiten
nerhalb der akademischen Struktur und geltenden             oder ähnliche Studienleistung können nicht im-
Gesetzeslage kaum wegignoriert werden. Wer bei              mer im geforderten Zeitraum eingereicht bzw.
diesem Online-Diskurs fehlt sind die Studierenden.          von Dozierenden korrigiert und benotet werden,
Mal wieder… Aber woran liegt das? Startet doch              da diese unter einem nicht weniger starken Lei-

FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung               4
I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

stungsdruck leiden. Das sorgt für Frustration auf          skizzierten prekären Lagen nicht. Dazu kommt,
beiden Seiten. Auch erfordert ein „erfolgreiches“          dass dieser ehrenamtliche Einsatz zwangsläufig
Archäologiestudium, jede neue methodische                  dazu führt, dass (temporär) andere Lebensbereiche
Herangehensweise oder naturwissenschaftliche               wie Studium, Privatleben o. ä. leiden.
Analyse zumindest soweit zu kennen, dass sie                   Was also tun? Diejenigen, die es sich irgendwie
im Groben verstanden ist. Interessanterweise               zeitlich oder finanziell leisten können, probieren,
gilt dies aber nicht zwangsläufig für neue me-             an besagten Veranstaltungen teilzunehmen. Denn
thodische bzw. theoretische Wege innerhalb des             das Geld und die zur Verfügung stehende Zeit
ebenso weiten Felds der Geisteswissenschaften.             sollte, wenn schon, für die eigene Bildung und
    Um momentan in der Archäologie längerfristig           berufliche Zukunft investiert werden, nicht wahr?
nicht einfach nur zu arbeiten, sondern in Projekte         Dass nicht alle Tagungsveranstalter den Aspekt
zu kommen oder selbst welche zu initiieren, die ei-        der eingeschränkten finanziellen Mittel der Stu-
nen tatsächlich interessieren, braucht es Netzwerke.       dierenden im Blick haben können oder wollen,
Um diese aufzubauen und zu pflegen, bedarf es              sodass die für das Netzwerken ebenso wichtigen
Zeit und Geld. Neben der Dreifachbelastung von             abendlichen Veranstaltungen (wie gemeinsam Es-
Studium, Job und Privatleben versteht sich.                sen gehen, ein Umtrunk) nicht von allen wahrge-
                                                           nommen werden können, sondern der hungrige
                                                           Magen im schäbigen Hostel mit Brot und Wasser
The archaeological network                                 gestillt wird, formulierte 2018 Geesche Wilts in ih-
                                                           rem Blog „Miss Jones: Archäologie – Reisen – Aben-
Wie oft konnten die Autorinnen auf Tagungen                teuer“, (Wilts, 2018).
das muntere Treiben interagierender Archäolo-                  So verständlich es ist, dass bei Kongresspla-
ginnen und Archäologen beobachten und waren                nungen nicht auf die zahlenmäßig weniger re-
selbst Teil davon! „Sie arbeiten beim Landesamt?“;         levante Gruppe von einkommensschwachen
„Sie promovieren gerade bei XYZ?“ – „Nein, ich stu-        Studierenden geachtet wird/werden kann, so
diere noch.“ – „Ach so. Ja, schön“, und Abgang: Sol-       unverständlich erscheint der Unmut von eini-
che Situationen erlebten die Autorinnen des Öf-            gen Veranstaltern, dass zu wenig Studierende
teren. Sie machen mehr als deutlich, an welchem            auf Tagungen und Workshops auftauchten und
Ende der archäologischen Nahrungskette man                 überhaupt zu wenig motiviert seien. Es gibt na-
als Studierende steht. Ein ebenso frustrierendes           türlich Ausnahmen. Bei einigen Vereinen haben
Erlebnis kann der erste Vortrag auf einer wis-             Studierende die Möglichkeit, durch Mithilfe oder
senschaftlichen Fachtagung sein, wenn man über             Stipendien bei Tagungen den Beitrag nicht zahlen
den ganzen Tag hinweg bis ins Kleinste auseinan-           zu müssen. Bleiben dann ja nur noch Fahrt- und
dergenommen wird. Nur die Harten kommen in                 Unterkunftskosten …
den (archäologischen) Garten!?
    Die Autorinnen haben allerdings auch genau
gegenteilige Erfahrungen gesammelt, in denen das           Verdienstmöglichkeiten von Studierenden
aufgebaute Netzwerk Mut zuspricht, unterstützt             innerhalb der Archäologie
und bei der Jobvermittlung hilft. Diese beiden wi-
dersprüchlichen Einblicke zeigen mit dem Finger            Aber die Studierenden könnten doch innerhalb
in die Wunde: Es braucht stabile und wachsende             der Archäologie jobben, werden viele bereits
Netzwerke, die am besten schon im Studium auf-             beim Lesen des Beitrags gedacht haben. Stimmt,
gebaut werden. Ansonsten wird es schwierig. Um             aber ganz vereinfacht gesagt: Es gibt weder ge-
solche Strukturen zu schaffen, bietet es sich schon        nug Hilfs-Wissenschaftskraft/HiWi-Stellen pro
für Studierende an, an Workshops und Tagungen              Universität, noch genug Jobs als (Museums-)
von Verbänden, epochenbezogenen Arbeitsge-                 Guide oder in Grabungsfirmen, um alle Studie-
meinschaften oder auch in den stärker gesell-              renden versorgen zu können. Dazu kommen zum
schaftspolitischen Gruppen aktiv zu werden.                Beispiel bei HiWi-Stellen unterschiedliche Vergü-
    Hierbei tut sich aber eine Krux auf: Vereine und       tungen je nach Bundesland und Abschluss. Ein
Arbeitsgemeinschaften leben von ihren Mitglie-             Eindruck, der sich für diesen Beitrag weder verifi-
dern. Soll heißen, nur durch Engagement lässt sich         zieren noch falsifizieren ließ, ist: Wer einmal eine
etwas verändern (auch durch und für Studieren-             HiWi-Stelle bekommen hat, wird für gewöhnlich
de). Dieses kostet Zeit, Geld, Nerven und erfordert        verlängert. Das heißt, die Stelle ist langfristig be-
einen langen Atem. All diese Ressourcen haben die          setzt. Neben HiWi-Stellen oder Werkverträgen an
meisten Studierenden aber auf Grund der zuvor              Universitäten gibt es für Archäologiestudierende

                                                       5                    FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

u. a. auch noch die Möglichkeit, das Studium mit             Lass mich (m)ein Sklave sein!
der Tätigkeit in einer Grabungsfirma zu finanzie-
ren (sofern in dem Bundesland des Studienstand-              Es wird immer wieder betont, wie sehr man um
ortes überhaupt Grabungsfirmen tätig sind).                  den wissenschaftlichen Nachwuchs bemüht ist
    Was wäre das wunderbar, würde man be-                    (DGUF, 2020; DArV, o. J.a; DArV, o. J.b) und sich
reits während des Studiums Erfahrung sammeln                 mehr Engagement von diesem wünscht. Doch
und könnte Kontakte für das spätere Berufsleben              woran liegt es nur, dass seitens der Studierenden
knüpfen. Doch aller Anfang ist schwer: In Gra-               vermeintlich wenig Einsatz gezeigt wird?
bungsfirmen ist es üblich, sein Gehalt selbst zu                 Wie bereits geschrieben, gibt es kaum Studie-
verhandeln und daher steigt man für gewöhnlich               rende, die es sich leisten können, neben dem Studi-
mit Mindestlohn oder knapp darüber ein. Wagt                 um nicht arbeiten zu müssen: Nach dem Studium
man nach einiger Zeit, nach einer Lohnerhöhung               müssen BAföG und/oder Studienkredit abgezahlt
zu fragen und kann dies auch durchsetzen, ist das            werden oder das Studium muss gar im Alleingang
erstmal positiv. Doch da viele Grabungsfirmen-               finanziert werden. Dies übt massiven Druck aus
inhabende keine gelernten Betriebswirtschaftler              und setzt enormen Stress frei. Durch die Umstel-
sind, scheint für viele die folgende Rechnung                lung auf Bachelor- und Master-Studiengänge müs-
schwierig: Qualifizierte Arbeitskraft mit höherem            sen mehr Seminare und Praktika absolviert werden,
Stundenlohn ist pro Tag gesehen trotzdem gün-                in denen meistens irgendeine Prüfungsleistung zu
stiger als eine unqualifizierte Niedriglohn-Ar-              erbringen ist. Selbst Ausgrabungen und Exkursi-
beitskraft. Es ist auch kein Staatsgeheimnis, dass           onen müssen benotet werden. Manche Lehrveran-
man bei gerechter Entlohnung gewillt ist, moti-              staltungen verkommen zu einem bürokratischem
vierter an seine Arbeit zu gehen. Ebenso wenig,              Akt: Es muss erstmal stundenlang geklärt werden,
dass gleichqualifizierte Angestellte auch das glei-          welcher Studierende − je nachdem welcher Studi-
che Gehalt erhalten sollten, um ein kollegiales Ar-          en- und Prüfungsordnung man unterliegt − sich
beitsklima zu schaffen. Doch in der Archäologie              wie viele CP zu welcher Leistung anrechnen lassen
scheint „Fressen oder gefressen werden“ zu gelten.           kann. Und letzten Endes mündet es in einigen Fäl-
Viele sind bereit, ihr Gehalt zu drücken, um die             len doch in einen Gang zum Prüfungsamt, mit dem
Anstellung zu halten: Sie „fressen“ ihre Kollegen            man sich um seine erbrachten Resultate und deren
und werden dabei zeitgleich selbst „vom System               Anerkennung streiten darf. Es ist kaum mehr mög-
gefressen“. Da wundert es einen auch nicht, wenn             lich, sich in der vorgegebenen Regelstudienzeit
einen Baustellenangestellte bezüglich des eigenen            selbstständig mit Themen auseinanderzusetzen.
Verdienstes verspotten – wenn man überhaupt                  Apropos Regelstudienzeit, vor allem Studieren-
einen Einsatz bekommt. Als Studierende/r erhält              den der Klassischen Archäologie wird nahegelegt,
man in Grabungsfirmen oft einen Werkvertrag,5                mit allerspätestens 30 Jahren promoviert zu sein,
der besagt, dass man auf Abruf bereit zu stehen              um sich auf das begehrte Reisestipendium des
hat. Man weiß oft erst am Vortag, ob man am                  Deutschen Archäo­     logischen Instituts (DAI) be-
nächsten Tag eingesetzt wird, und vor allem in               werben zu können (DAI, o. J.): Der heilige Gral,
den Wintermonaten ist die Arbeit in einer Gra-               der scheinbar ewiges Arbeiten in der (Klassischen)
bungsfirma mehr als unsicher. Daher neigt man                Archäologie ermöglicht. Ebenso erfordert die Wei-
dazu, jedem Einsatz zuzusagen, um ein finanzi-               terentwicklung des Faches, sich mit immer mehr
elles Polster zu haben. Dafür nimmt man auch                 wissenschaftlichen Disziplinen (Geistes-, Kultur-,
in Kauf, die universitären Aufgaben schleifen                Sozial- und Naturwissenschaften) auseinander zu
zu lassen. Aber der Job hat ja schließlich direkt            setzen. Gleiches gilt selbstverständlich für metho-
mit dem Studium zu tun, also ist das nicht so                dische Zugänge wie Statistik, AutoCAD, ArcGIS,
schlimm. So laufen viele Archäologiestudierende              Photoshop, Isotopen- und aDNA-Analysen – um
Gefahr, in Grabungsfirmen hängen zu bleiben,                 hier nur einige Gebiete zu nennen. Es drängt sich
in dem Sinne, dass sie keine Aussicht auf einen              das Gefühl auf, dass die eierlegende Wollmilchsau
Lohn haben, der ihren tatsächlichen Qualifikati-             verlangt wird, die in jeder Hausarbeit das Fach
onen entspricht.                                             neu erfindet. Bei der Vergabe von Abschlussthe-
    Die Ellenbogen-Mentalität, die nicht allein auf          men scheinen manche noch im Magister-Modus
die freie Wirtschaft beschränkt ist, findet sich eben-       festzuhängen. Für eine Bachelor-Arbeit eine eigene
so bereits im Studium und in universitären oder              Typologie entwickeln oder einen Grabungskom-
musealen Jobs wieder. Denn gelernt ist gelernt.              plex im Rahmen einer Master-Arbeit aufarbeiten?
                                                             Kein Problem! Man wird ja dann auch schließlich
                                                             mit guten Noten belohnt. Also alle. Einem ganzen

FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung                6
I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

Seminar die gleiche Note – unabhängig von der             Dass hier erneut die Grenze der Autorin durch
individuellen Leistung – geben: Nur gerecht! Ok,          das Weiterleiten ihrer E-Mail überschritten wur-
nicht ganz so gerecht. Diese persönliche Erfahrung        de, war den betreffenden Personen im Gleichstel-
scheint wohl eher die Ausnahme zu sein, dämpft            lungsbüro wohl weder bewusst noch kann Opfer-
aber doch die Motivation und lässt einen den Sinn         schutz auf diese Art wirken. Als die Autorin sich
des Studiums hinterfragen.                                hilfesuchend an andere Dozenten des Instituts
   Da Archäologie zu eben jenen Fächern gehört,           wandte, wurde ihr deutlich gesagt: Der besagte
von denen sich keine allzu rosige Zukunft im Fi-          Dozent sei akademisch sehr wichtig und sie solle
nanziellen erhofft wird, scheint es somit eher Men-       es „wegstecken“; das Lehrpersonal sei überrascht,
schen anzuziehen, die mehr für das Fach an sich           denn die Autorin sei doch „eine starke Frau“, wa-
als für gut abgesicherte Karrieren brennen. Die           rum sie das überhaupt so belasten würde. Bei der
prekären Situationen werden in Kauf genommen,             Autorin haben diese und andere Erfahrungen
denn Hauptsache „der Archäologie“ geht es gut.            mit Gewalt und Grenzüberschreitungen und feh-
   Ein Selbstausbeutungssystem, das während               lende Unterstützung innerhalb der Universität
des Studiums soweit perfektioniert wird bis es            dazu geführt, dass sich ihr Studienabschluss um
normal wirkt.                                             mehrere Semester verzögert hat. Das Vertrauen
                                                          in die akademische Welt und die Aufarbeitung
                                                          von Gewalterfahrungen innerhalb dieser war tief
Frauen: In Zahlen überlegen, in der Realität              erschüttert. Ähnliche Erfahrungen von Gewalt-
unterlegen?                                               und Grenzüberschreitungen sowie fehlenden
                                                          Supportstrukturen, Unverständnis und gegensei-
Geschlechterungerechtigkeit, Übergriffe, Se-              tiges Decken von Täterinnen und Tätern wurden
xismus und Belästigung erleben leider alle Ge-            den Autorinnen im Laufe ihrer Studienzeit zu-
schlechter innerhalb der Archäologie – auch im            hauf zugetragen.
Studium. Sowohl durch Lehrende, andere Stu-                    Bisher werden sexuelle Belästigung und Über-
dierende, Arbeitskolleginnen und -kollegen in-            griffe eher im feldarchäologischen Sektor als im
nerhalb und außerhalb archäologischer Berufs-             universitären Bereich verortet, doch das scheint
welten (vgl. Voss, 2021). Im folgenden Abschnitt          sich langsam zu ändern. So hat Barbara L. Voss
soll es aber fokussiert um Situationen weiblicher         (Voss, 2021, 2-4; 6-9) eine Studie erhoben und aus-
Studierender gehen bzw. um die persönlichen               gewertet, die Diskriminierung, Abwertung und
Erfahrungen der Autorinnen, da sie nur in die-            sexualisierte Gewalt innerhalb der Archäologie in
sen Fällen eindeutig von Grenzüberschreitungen            den Fokus rückt. Dabei ging es ihr nicht nur um
und Zuschreibungen berichten können, ohne da-             die Feldarchäologie, sondern auch um den univer-
bei für andere Betroffene zu sprechen und damit           sitären Raum. Gewalt und Grenzüberschreitung
eventuell ihre Geschichten zu übertreiben, sensa-         findet leider überall statt. Das heißt aber nicht, dass
tionalisieren oder verfälscht darstellen würden.          die archäologische Community mit ihrer typischen
    Ein besonders pikanter Fall war, dass eine der        Abwehrhaltung „das ist ein gesellschaftliches und
Autorinnen nach eindeutig sexistischen Äuße-              kein archäologisches Problem“ davon ausgenommen
rungen eines Dozenten ihr gegenüber mit dem               ist, in eine kritische Aufarbeitung und in einen ver-
Gleichstellungsbüro ihrer Universität in Verbin-          antwortungsbewussten Umgang miteinander zu
dung getreten ist. Die Autorin entwickelte starke         gehen. Denn Archäologie ist Teil von Gesellschaft.
Hemmungen, das archäologische Institut zu be-                  Ebenso gesellschaftlich relevant ist die un-
treten, wenn besagter Dozent anwesend war.                gleiche Behandlung von Müttern und Vätern auf
Neben den bei jedem Treffen vorkommenden                  dem Arbeitsmarkt. Welche Ausmaße dies anneh-
sexistischen Äußerungen folgten E-Mails des Do-           men kann, zeigen nicht zuletzt die zwei mutigen
zenten an die Studentin zwischen 2 und 4 Uhr              Beiträge zweier anonymer Autorinnen im 100.
nachts und weitere Grenzüberschreitungen. Statt           DGUF-Newsletter (Anonyma, 2021a; Anonyma,
die Autorin zu unterstützen oder gar zu schüt-            2021b). Auf erschreckende Art und Weise wird
zen, entschied sich das Gleichstellungsbüro da-           beschrieben, wie berufliche Wege enden, sobald
für, die E-Mail der Autorin an den besagten Do-           eine Mutterschaft besteht, oder wie die beruf-
zenten weiterzuleiten mit der Bitte, dieser möge          liche Belastung keine Rücksicht auf Schwanger-
sich doch bei ihr entschuldigen. Was er tat. Auch         schaften nimmt. Während männliche Individuen
durfte die Autorin erfahren, dass es seit mehreren        mit Kindern eher Anerkennung und Applaus
Jahren Beschwerden ähnlicher Art über eben die-           bekommen, in Bewerbungsgesprächen nicht ge-
sen Dozenten gibt. Offenbar ohne Konsequenzen.            fragt werden, wie sie denn Kinderbetreuung und

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Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

Jobanforderungen gleichzeitig stemmen können,             grenzüberschreitendes Verhalten nicht vor den
scheint dies für weibliche Individuen Teil des            Räumen von Universitäten und akademischen
Prozederes und nicht selten ein Ausschlusskrite-          Titeln Halt machen, dass struktureller Sexismus
rium für eine Stellenvergabe bzw. auch schon bei          (u. a. Mensplaning, Hepeating,7 Bevorzugung von
der Stellenwahl zu sein (Gutsmiedl-Schümann &             männlichen Individuen bei Jobvergaben) über-
Helmbrecht, 2017, 172-173) zu sein.                       all in der Archäologie existiert, wird eher hinter
    Hinter vorgehaltener Hand wird jungen                 vorgehaltener Hand beim abendlichen Getränk
weiblichen Studierenden eher geraten, die Fa-             besprochen als laut ausgesprochen und klar be-
milienplanung, sofern diese überhaupt besteht,            nannt. Dass immer noch zu wenig Frauen in hö-
hintanzustellen oder gar komplett sein zu lassen.         heren akademischen Positionen innerhalb der Ar-
Archäologie ist für Mütter ein (noch) toxisches           chäologie Vorbildfiguren sein können (vgl. Fries,
Gebiet. Stand jetzt kennen die Autorinnen keine           2017; Gutsmiedl-Schümann & Helmbrecht, 2017,
archäologische Tagung im deutschsprachigen                bes. 173; Maihofer, 2021; Wilts, 2016), zeigt fol-
Raum, die explizit z. B. Kinderbetreuung anbietet         gende Frage: Fallen Ihnen auf Anhieb und spon-
(vgl. auch Wilts, 2018). Ebenso fallen den Auto-          tan mehr als zehn bekannte Archäologinnen ein?
rinnen aus dem Stehgreif zahlreiche Namen von                 Dass die Verzahnung des Status als Studieren-
Kommilitoninnen, Dozentinnen, Kolleginnen                 de und als weiblich gelesenes Individuum eine
ein, die nach der Geburt eines oder mehrerer              ineinandergreifende Belastungsprobe darstellen
Kinder vollständig von der archäologischen aka-           kann, zeigen u. a. folgende Aussagen, denen die
demischen Bildfläche verschwunden sind. Das               Autorinnen in ihrem Archäologieleben ausge-
Ganze macht keinen Mut, es fehlen die konkreten           setzt waren: „Dein Körper ist dein Kapital“; „Da
Vorbilder und eine breite Diskussion, wie Eltern-         brauche ich einen starken Mann“; „Da ist Feinarbeit
schaft und Archäologie gut vereinbar sein können.         gefragt, lass das mal eine Frau machen“. Diese Re-
    Nicht vereinbar scheint jedoch die (nicht hygi-       duzierung auf vorwiegend körperliche Aspekte
enische) Situation auf Ausgrabungen mit der Pe-           bzw. vermeintliche Geschlechtereigenschaften
riode zu sein. Auf wirklich vielen Grabungen, an          betrifft selbstverständlich nicht nur Frauen und
denen die Autorinnen beteiligt waren, wurde zu-           fällt, beinahe euphemistisch, unter den Begriff
allererst, um das Budget überschaubar zu halten,          positiver Sexismus. Ist ja schließlich nicht böse ge-
die mobile Toilette gekürzt. Denn welche Frau             meint! Ebenso wenig, dass man als Studierende(r)
(betrifft natürlich auch alle anderen Geschlechter)       nicht immer ernst genommen wird oder gar auto-
benötigt schon den Luxus des stillen Örtchens             matisch durch diesen Status vorläufig sein Recht
bei Ausgrabungen oder auch Exkursionen? Die-              auf Meinungsäußerung verwirkt hat. „Für eine
se Pflichtveranstaltungen lassen sich nun mal             Studentin lehnst du dich aber ganz schön weit aus dem
schlecht um die Menstruation herum planen und             Fenster“, ist schließlich nur ein netter Ratschlag.
zu selten wird auf einer Toilette/Toiletten be-
standen. Das Geschäft in einem Busch oder hin-
ter einem Baum zu verrichten, zählt wohl quasi            Covid-19 und Studium
als Experimentalarchäologie und ist in Zeiten des
Klimawandels auch viel ökologischer. Genauso              Und als wären dies nicht schon genug Probleme,
ökologisch wie das Verwenden einer Menstrua-              stellt die Covid-19-Pandemie seit Anfang 2020
tionstasse, das wiederum eine anständige Toilet-          zunehmend die gesamte Welt vor große Heraus-
te für das nervige Wechseln von Tampons und               forderungen finanzieller, sozialer und gesund-
Binden unnötig macht.6 Das spart Ressourcen,              heitlicher Natur. Vor allem die Situation vieler
Zeit und Geld für Menstruierende und Arbeitge-            Frauen wurde zusätzlich noch einmal verschärft
bende: Einfach genial!                                    und lässt sich im wissenschaftlichen Sektor auch
    Auch sind die Schlafplätze in Unterkünften            an der sog. Gender-Publication-Gap messen (Haak,
bei Grabungen und Exkursionen häufig genug                2021; Lunau, 2021; Viglione, 2020).
gemischtgeschlechtlich, ohne dies vorher mit                  Als Studierende stehen und standen wir vor
den beteiligten Personen abzusprechen. Wie                folgenden Schwierigkeiten: Wir wissen um unser
sehr diese oft nicht vorhandenen Rückzugsräu-             Privileg, studieren zu können. Wir sind jung und
me Grenzüberschreitungen und Belästigungen                die meisten gesundheitlich häufig so fit, dass eine
in die Hände spielen, wird sich eventuell bei der         Covid-19-Erkrankung uns nicht direkt auf die
Auswertung einer Umfrage des Vereins FemArc               Intensiv-Stationen bringen würde. Wir sind stark
zeigen, deren Ergebnisse zum jetzigen Zeitpunkt           genug, um diesen lange lethargischen Zustand
noch ausstehen (FemArc, o. J.). Dass Sexismus und         für die älteren Generationen und deren Schutz

FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung             8
I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

ertragen zu können. Doch wann wird auch mal                  Studien haben gezeigt (aerzteblatt.de, 2021;
wieder auf die jüngeren Generationen und deren           Beckmann, 2021; Brakemeier et al., 2020; Roth-
Wohlbefinden geachtet? Derzeit wird gerade nur           Sackenheim & Vogel, 2020), dass seit Pandemie-
davon geredet, dass es wohl wahrscheinlich nicht         Beginn psychische Erkrankungen (Jugendlicher
mehr zu einem Lockdown im Herbst 2021 kom-               und junger Erwachsener) immens angestiegen
men wird (inFranken.de, 2021), um der Wirtschaft         sind und der Bedarf an Therapiemöglichkeiten
nicht zu schaden. Doch was ist mit den Kindern,          bereits vor Covid-19 schon nicht gedeckt werden
Schülerinnen und Schülern, Auszubildenden und            konnte (Hinrichs, 2019; Neureuther, 2021). Die Zu-
Studierenden? Wie lange noch sollen wir in die-          nahme von Belastungsstrukturen maximierte sich
sem Dämmerzustand verweilen? Während zu-                 gefühlt ins Unendliche: Wegfall von Jobs, folglich
mindest über die (Teil-) Öffnung von Schulen und         auch Geld, von Alltagsstrukturen, des Campus als
Kitas immer wieder diskutiert wird – aber auch           Begegnungsort, des Bibliothekszugangs und tech-
nur, um Eltern zu entlasten und wiederum in              nischer Ausstattung. Die finanzielle Unterstüt-
Konsequenz, um die Wirtschaft weiter anzukur-            zung für Studierende, die sog. Überbrückungs-
beln –, fallen die (öffentlichen) Diskussionen in        hilfe von 500 € (je nach Bundesland auch etwas
Bezug auf die universitäre Lehre fast vollständig        mehr), konnte ab Juni 2020 beantragt werden.
weg (Burkhardt, 2021; Jung, 2021). Der Universi-         Und wie in Bürokratie-Deutschland üblich, muss-
tätsbetrieb läuft derzeit nur, weil die Selbstaus-       te jeden Monat ein Antrag gestellt werden, um die
beutung auf die Spitze getrieben wird. Vom einen         Bedürftigkeit nachzuweisen. Mehr als 100 € durfte
auf den anderen Tag sind alle unsere sozialen            man nicht auf dem Konto haben (Deutsches Stu-
und beruflichen Räume in ihrer physischen Exi-           dentenwerk, o. J.), aber davon kann man schließ-
stenz verschwunden. Dennoch haben wir beinah             lich leben. Genauso gut kann man sicherlich mit
sofort und ohne viel zu murren auf digitale Semi-        einer Mehrverschuldung bei Studienkrediten le-
nar- und Vorlesungsstrukturen umgebaut. Doch             ben. Die vermeintlich erleichterten Kreditbedin-
konnte/kann das funktionieren? Die Fragen, die           gungen führen letzten Endes doch nur tiefer in die
sich viele Dozierende und Studierende während            Schuldenspirale (Koohestani, 2021).
dieser an den Kräften zehrenden letzten Monate               Dieses Wegbrechen der gewohnten Struk-
der Pandemie gestellt haben, sind u. a.: Warum ist       turen und (finanziellen) Möglichkeiten hat dazu
die Teilnahme so durchwachsen? Warum bleiben             geführt, dass es vielen Studierenden nicht mög-
die Kameras ausgeschaltet? Warum ziehen sich             lich war, ihr Studium regulär durchzuführen
Seminardiskussionen zäh dahin? Kann es funktio­          oder ihren Abschluss machen zu können (Becker
nieren, dass analoge auf digitale Lehre eins zu          & Lörz, 2020; Burkhardt, 2021; Lörz et al., 2020).
eins umgestellt wird? Nein! Die Archäologie lebt         Aber auch die noch stärkere Angst vor der be-
von Diskussion und diese wiederum lebt von ei-           ruflichen Zukunft ließ einige in eine Art Schock-
ner Begegnung in Präsenz. Digitale Lehrangebote          starre verfallen, der Studierendenstatus erschien
stehen, auch wenn dies im ersten Eindruck un-            in dem Sinne „attraktiver“, dass man zumindest
gewöhnlich erscheint, in direkter Konkurrenz zu          etwas macht als in die unsicher erscheinende Ar-
Entertainment- und Freizeit-Angeboten im digi-           beitswelt überzuwechseln.
talen Raum (Streaming, Blogs, Podcasts etc.). Wir            Die Unis waren und sind leise, die Studieren-
als digitale Personas sind es vor allem gewohnt,         den haben kaum protestiert (Ausnahmen z. B.
als Konsumentinnen und Konsumenten als auch              Wahl, 2020), denn wir befanden uns lange in
als Prosumentinnen und Prosumenten zu agie-              einer moralischen Zwickmühle. Irgendwie geht
ren. Die aktive Mitgestaltung von digitalen Räu-         es ja schon auch: Das Digitale ohne das Analo-
men muss erst gelernt und verinnerlicht werden.          ge, nicht in die Bibliothek zu können oder nur
Das Überangebot in der digitalen Welt führt zum          indem tagelang vorher ein Termin ausgemacht
einen zu einer extrem verkürzten Aufmerksam-             wird, seine Universität noch überhaupt nicht be-
keitsspanne, und zum anderen dazu, dass – auch           sucht haben zu können, seine Kommilitoninnen
bedingt durch Home-Office – die Schranken zwi-           und Kommilitonen sowie Dozierenden nur vom
schen Arbeit und Freizeit komplett verschwim-            Bildschirm zu kennen. Doch jetzt ist Schluss da-
men. Einige wenige Standorte haben den Sprung            mit! Oder? Das sog. „Cave-Syndrom“ (Ruoff, 2021)
in die digitale Lehre mit Bravour geschafft, doch        geht um und die neue Normalität muss erstmal
dies scheinen rare Ausnahmen zu sein, wie den            wieder erlernt werden. Doch lernen wir auch von
Autorinnen zugetragen wurde und sie selbst er-           dieser Pandemie? Im Zuge des Forschungspro-
fahren haben (vgl. auch Andert, 2021; Marczuk,           jekt „Studieren in Deutschland zu Zeiten der Corona-
Multrus & Lörz, 2021).                                   Pandemie“ wurden ein Jahr lang Daten gesam-

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Christiane Ochs & Sophie-Marie Rotermund

melt. Die bisherigen Auswertungen zeigen klar               Und nun?
die zusätzlichen Belastungsstrukturen und die
gemeisterten und nicht bewältigten Herausforde-             Unser Beitrag mag für einige Lesende erschla-
rungen der ersten Phase der Covid-19-Pandemie               gend, ernüchternd, beinah dystopisch wirken. Er
an Universitäten (DZHW, o. J.).                             mag als überzogen, übertrieben, weinerlich emp-
                                                            funden werden – aber nichts vom Beschriebenen
Was wird und kann bleiben?                                  ist erfunden, und nichts davon nicht selber von
                                                            den Autorinnen erlebt oder ihnen explizit für die-
Eines ist klar: diese Pandemie hat knallhart struk-         sen Beitrag ans Herz gelegt worden.
turelle Probleme offengelegt und gezeigt, wo an                 Wir möchten die Gelegenheit nutzen und alle
entsprechenden Stellschrauben gedreht werden                Studierenden bitten, die diesen Beitrag lesen, ein-
muss (Koohestani, 2021). Um ein Studium ohne fi-            mal in sich zu gehen und zu überlegen, wie das
nanzielle Sorgen zu ermöglichen, muss das BAföG             Studium der Archäologien ihrerseits verbessert,
stärker angepasst und mehr Menschen zugänglich              verändert werden und solidarischer funktionie-
gemacht werden. Da die Digitalisierung bereits              ren könnte. Ebenso braucht es eine stetige Ausei-
in den 1990er-Jahren in den Sand gesetzt wurde              nandersetzung mit Arbeitsschutzrichtlinien und
(Bocksch, 2020; Riecke, 2021), war und ist es vie-          Arbeitnehmerrechten, um den potenziellen Aus-
len Studierenden nicht möglich, ihrem Studium in            beutungssituationen gewappnet zu begegnen. Es
vollem Maße nachzugehen. Auch der erschwerte                braucht eine stärkere Vernetzung bzgl. der Lohn-
Literatur-Zugang macht wissenschaftliches Ar-               aushandlungen bei universitären Stellen oder in
beiten nahezu unmöglich. Während man sich für               der Firmenarchäologie.
naturwissenschaftliche Themen bei Academia.edu,                 Wir möchten ebenso die Gelegenheit nutzen
ResearchGate und anderen Online-Optionen fast               und an alle Lehrenden dasselbe Anliegen richten.
schon durch eine Flut an (aktueller!) Literatur             Aber zusätzlich äußern wir den Wunsch, in Zu-
kämpfen muss, kann man für geisteswissenschaft-             kunft bei Notenvergabe, Abgabefristen, Exkursi-
liche Themen oft lediglich den Artikel-Titel lesen          onen und Grabungen, beim Lehrangebot, bei der
(vgl. auch Cziesla, 2021). Viele Universitätsbiblio-        Erstellung von Studienordnungen und Semester-
theken, in denen archäologische Fachliteratur zur           plänen die genannten Punkte zu berücksichtigen.
Verfügung steht, sind sog. Präsenzbibliotheken.             Wir fordern, Übergriffe ernst zu nehmen! Studie-
Ausleihen von Literatur ist dadurch nur bedingt             rende sollen nicht als homogene Masse, sondern
möglich. Ein Umstand, der während der Covid-                als Individuen mit Wünschen, Sorgen und Nöten
19-Pandemie nur minimal an die veränderte Situ-             wahrgenommen werden.
ation angepasst wurde.                                          Ebenso möchten wir dazu aufrufen, mehr mitei-
    Die Pandemie hat aber auch gezeigt, dass di-            nander ins Gespräch zu kommen. So dass z. B. Stu-
gitale Formate und Meetings durchaus (sehr)                 dierende von ihren Lehrenden erfahren, dass diese
gut funktionieren können. So wäre es sehr wün-              (was durchaus oft genug vorkommt) ihre Lehre
schenswert, wenn Seminare, Vorlesungen, Veran-              unentgeltlich oder mit wenig Entlohnung anbieten,
staltungen oder Tagungen zukünftig als Hybrid-              ebenso Mehrfachbelastungen zu stemmen haben,
Formate angelegt werden würden. Das wäre zum                daher auf Abgabefristen pochen und Betreuung
einen ressourcen- und zeitschonend, zum ande-               nicht im gewünschten Umfang bieten können.
ren kommt es aber dennoch zum so essenziellen                   Wir möchten die Arbeitgeberinnen und Ar-
persönlichen Austausch. Auch digitale Praktika,             beitgeber dazu auffordern, auf unbezahlte Über-
zunächst aus der Not geboren, haben die Palette             stunden zu verzichten.
bereichert und könnten zukünftig Studierenden                   Wir möchten, auch wenn wir es durchaus kriti-
ermöglichen, an Institutionen Praktika zu absol-            siert haben, dazu aufrufen, sich in aktiver Teilnah-
vieren, die sonst möglicherweise aus finanziellen           me an Vereinsstrukturen und Arbeitsgemeinschaf-
oder zeitlichen Gründen nicht schaffbar gewesen             ten in der Archäologie zu beteiligen. Verbände sind
wären. Ebenso hat eine der Autorinnen durch ein             mitunter die wichtigsten öffentlichen Sprachrohre
Erasmus-Semester die Vorzüge der digitalen Leh-             für die archäologischen Fächer und bieten Studie-
re erlebt. Die Seminare fanden zwar alle in Präsenz         renden im Gegenzug zu deren Engagement bspw.
statt, waren zeitgleich aber auch online verfügbar          weiterführende Workshops etc. an.
und dadurch konnten sowohl Studierende als auch                 Es mag dem Eindruck durch das jahrelange
Dozierende weltweit eingebunden werden und                  Studium beider Autorinnen geschuldet sein, aber
haben für ein breites Erfahrungsspektrum gesorgt.           Archäologie ist kein Fach, das im Schnelldurch-
                                                            lauf durchdrungen werden kann. Das Studium

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I studied Archaeology – Now my life is in ruins?

der Archäologie braucht Zeit zum Denken, Dis-                     Literatur
kutieren, Philosophieren, Katalogisieren, Katego-
risieren und Dekonstruieren. Ebenso braucht es                    aerzteblatt.de (04.05.2021). Studien: Stress und
Raum für Kreativität und Innovationen.                            psychische Probleme haben in der Pandemie zugenommen.
    Die Frage, die wir uns alle stellen sollten, lautet:          https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/123573/
Wie soll (das Studium von) Archäologie zukünftig                  Studien-Stress-und-psychische-Probleme-haben-in-
                                                                  der-Pandemie-zugenommen [5.8.2021].
aussehen? Denn diese Zukunft hängt maßgeblich
am wissenschaftlichen Nachwuchs, der nun mal                      Andert, M. (26.5.2021). WG-Zimmer eignen sich nicht
aus (Promotions-) Studierenden besteht.                           fürs Homeoffice. https://www.jetzt.de/studium/
    Je mehr Mitsprache und transparente Kom-                      corona-studierende-online-lehre [5.8.2021].
munikation, desto besser.                                         Anonyma (12.5.2021a). Chancengleichheit in der
                                                                  Archäologie? Erfahrungsbericht einer Mutter. 100.
Lasst uns gemeinsam diese toxische Wissen-                        DGUF Newsletter, 12.5.2021, 78-79, 11.3. https://dguf.
schaftlichkeit8 überwinden!                                       de/fileadmin/user_upload/Newsletter-Archiv/dguf-
                                                                  dok_100_newsletter_2021-05-12.pdf [5.8.2021].
                                                                  Anonyma (12.5.2021b). Sechs Monate: Befristet
Anmerkungen                                                       schwanger. 100. DGUF Newsletter, 12.5.2021, 73, 11.1.
                                                                  https://dguf.de/fileadmin/user_upload/Newsletter-
Hinweis                                                           Archiv/dguf-dok_100_newsletter_2021-05-12.pdf
Entsprechend der Redaktionsrichtlinien der Zeit-                  [5.8.2021].
schrift haben die Autorinnen auf gendergerechte                   BAföG aktuell (15.6.2021a). BAFÖG Bedarf. https://
Sprache verzichtet.                                               www.bafoeg-aktuell.de/bafoeg/bedarf.html
                                                                  [5.8.2021].
1
  Ausgehend vom Mindestlohn, der aktuell bei 9,60 € liegt
(DGB, 2021), und einem Verdienst von max. 15 € pro Stun-          BAföG aktuell (15.6.2021b). BAföG Einkommen
de. Den Autorinnen sind in ihrem Umkreis keine Studie-            Anrechnung. https://www.bafoeg-aktuell.de/bafoeg/
renden bekannt, die einen höheren Stundenlohn beziehen.           einkommen-anrechnung.html [5.8.2021].
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  Es soll nochmal betont werden, dass diese Berechnung            Bahr, A., Eichhorn, K. & Kubon, S. (o. J.).
nur den günstigsten Fall, sprich BAföG-Höchstbetrag und           #IchBinHanna. https://ichbinhanna.wordpress.com/
450-Euro-Job, darstellt. Bei niedrigeren BAföG-Bezügen,           [5.8.2021].
kompletter Selbstfinanzierung oder Studienkredit sind Stu-
                                                                  Becker, K. & Lörz, M. (2020). Studieren während
dierende einer wesentlich höheren Belastung ausgesetzt.
                                                                  der Corona-Pandemie: Die finanzielle Situation von
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  Es gibt einige Studien, die die Ursachen für Studienab-         Studierenden und mögliche Auswirkungen auf das
bruch (BA/MA) untersuchen (u. a. Isleib, Woisch & Heu-            Studium. DZHW Brief, 09/2020, 1-12. https://doi.
blein, 2019), durchaus auch fachspezifisch. Für die Fächer        org/10.34878/2020.09.dzhw_brief.
Ur- und Frühgeschichte sowie Archäologie des Mittelal-
ters und der Neuzeit hat Frank Siegmund (2020, bes. 202;          Beckmann, A.-L. (14.05.2021). Studieren
2021, bes. 3-4) Ergebnisse zu Abbruchquoten vorgelegt.            in Corona-Zeiten: Depressivität, Angst und
Die Gründe hierfür waren aber nicht Teil seiner Umfrage.          Einsamkeit. https://www.ndr.de/nachrichten/
                                                                  mecklenburg-vorpommern/Studieren-in-
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 Das Video ist mittlerweile nicht mehr über die Kanäle des        Corona-Zeiten-Depressivitaet-Angst-und-
BMBF einzusehen, aber über Reloads anderer Plattformen.           Einsamkeit,coronavirus5238.html [5.8.2021].
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  Eine Hilfestellung zum Thema Arbeitsverträge inner-             Bocksch, R. (31.07.2020). Digitalisierung ist eine offene
halb der Firmenarchäologie bietet der Aufsatz von Näth,           Baustelle in Deutschland. https://de.statista.com/
Näth & Schauer, 2019.                                             infografik/22435/digital-quality-of-life-index-
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  Um es klarzustellen: Jedwedes Periodenprodukt setzt             ranking/ [5.8.2021].
saubere, hygienische Bedingung voraus!                            Böhnke, P. (2006). Am Rande der Gesellschaft. Risiken
                                                                  sozialer Ausgrenzung. Opladen: Verlag Barbara
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  Mensplaning = Herablassende Erklärung eines Mannes,
der fälschlicherweise davon ausgeht, dass ein weibliches          Budrich.
Gegenüber weniger wisse als er; Hepeating = Wortglei-             Brakemeier, E.-L., Wirkner J., Knaevelsrud C.,
che Wiederholung einer Idee/eines Sachverhaltes einer             Wurm S., Christiansen H., Lueken U. & Schneider,
Frau durch einen Mann, während dieser gehört/gelobt/
                                                                  S. (26.11.2020). Die COVID-19-Pandemie als
bestätigt wird, wird auf die Frau (Ideenschöpferin/Erst-
meldung) nicht eingegangen.                                       Herausforderung für die psychische Gesundheit.
                                                                  Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie,
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  Der Begriff durfte entliehen werden, entstammt aber ei-         49, 1-31. https://doi.org/10.1026/1616-3443/a000574.
ner abendlichen Diskussionsrunde im wilden Wedding.

                                                             11                      FAiG 2019: Prekariat und Selbstausbeutung
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