Iba de gaunz oamen Kinda-Gewaltästhetisierung in der Dialektdichtung Christine Nöstlingers - Gewaltästhetisierung in der ...

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Iba de gaunz oamen Kinda –
            Gewaltästhetisierung in der
     Dialektdichtung Christine Nöstlingers

                      Diplomarbeit
              zur Erlangung des akademischen Grades
                  einer Magistra der Philosophie
               an der Karl-Franzens-Universität Graz

              vorgelegt von Kerstin OBESO
                    am Institut für Germanistik

Begutachter: Assoz. Prof. Mag. Dr.phil. Christian NEUHUBER

                            Graz, 2021
Für meine Tochter Anna Sofía

                               2
Präambel
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit gelten in dieser Diplomarbeit generische Maskulina bzw.
Feminina gleichermaßen für beide Geschlechter.

                                                                                         3
INHALTSVERZEICHNIS

1     EINLEITUNG .................................................................................................................. 6

2     CHRISTINE NÖSTLINGER .......................................................................................... 8

2.1   Biographische Details .................................................................................................................................. 8

2.2   Schaffen und Wirken der Autorin ........................................................................................................... 14

2.3   Kritische Dialektgedichte .......................................................................................................................... 17
    2.3.1     Dialektliteratur – ein kurzer Rückblick .............................................................................................. 20
    2.3.2     Die Wiener Gruppe und die ,Neue Dialektliteratur‘ .......................................................................... 21
    2.3.3     Dialektdichtung weiblicher Autorenschaft......................................................................................... 23

3     GEWALT – EINE DEFINITORISCHE ANNÄHERUNG ....................................... 25

3.1   Begriffe und Definitionen .......................................................................................................................... 26
    3.1.1     Physische Gewalt ............................................................................................................................... 27
    3.1.2     Psychische Gewalt ............................................................................................................................. 28
    3.1.3     Strukturelle Gewalt ............................................................................................................................ 30
    3.1.4     Spannungsfeld Gewalt, Macht und Ressourcen ................................................................................. 32
    3.1.5     Gewalt gegen Kinder ......................................................................................................................... 33

3.2   Repräsentationen der und Ästhetisierung von Gewalt........................................................................... 36
    3.2.1     Das Verhältnis von empirischer und literarischer Gewalt .................................................................. 37
    3.2.2     Literarische Dimensionen der Gewalt: Gegenstand und Erfahrung ................................................... 39
    3.2.3     Reading Violence ............................................................................................................................... 41

4     GEWALTÄSTHETISIERUNG IN IBA DE GAUNZ OAMEN KINDA .................... 43

4.1   Produktionsästhetische Dimension: Gewalt der Literatur ..................................................................... 43
    4.1.1     Formale Aspekte ................................................................................................................................ 43
    4.1.2     Perspektive – Subjektivität zwischen Traum und Realität ................................................................. 52
    4.1.3     Sprachliche Mittel der Darstellung .................................................................................................... 56

4.2   Inhaltsästhetische Dimension: Gewalt in der Literatur ......................................................................... 62
    4.2.1     Physische Gewalt ............................................................................................................................... 62
    4.2.2     Psychische Gewalt ............................................................................................................................. 67
    4.2.3     Strukturelle Gewalt und weitere Formen der Unterdrückung ............................................................ 72

                                                                                                                                                              4
4.2.4     Rahmungen von Gewalt und gewaltvolle Motive .............................................................................. 80

5     CONCLUSIO .................................................................................................................. 86

6     LITERATURVERZEICHNIS ...................................................................................... 88

6.1   Primärliteratur .......................................................................................................................................... 88

6.2   Sekundärliteratur ...................................................................................................................................... 88

6.3   Internetquellen ........................................................................................................................................... 93

6.4   Sonstige Quellen......................................................................................................................................... 95

7     TABELLENVERZEICHNIS ........................................................................................ 95

                                                                                                                                                                 5
1 EINLEITUNG
Kindsein ist nicht einfach – noch weniger, wenn sozial und ökonomisch missliche Umstände
das (Über-)Leben zu einer einzigen Herausforderung werden lassen. „Kindheit ist immer glück-
lich und unglücklich zugleich“1, stellte auch jene österreichische Autorin fest, deren wohl größ-
tes Wiedererkennungsmerkmal in ihrer einzigartigen humorvoll-kritischen Auseinandersetzung
mit den großen und kleinen Problemen des Alltags lag. Sie war bekannt für realistische Milieu-
schilderungen und eine „Sprache mit Dialektanklängen und eigenwilligen Neuschöpfungen“2.
Als höchst produktive ,Ein-Mann-Buchstabenfabrik‘, wie sie sich selbst bezeichnete, zählte sie
zu den einflussreichsten Kinderbuchautoren im deutschsprachigen Raum: Christine Nöstlin-
ger.3
        Mit ihrem Namen wird hauptsächlich jener Teil ihres literarischen Schaffens assoziiert,
der sich an die Leserschaft der Kinder und Jugendlichen richtete: Die feuerrote Friederike
(1970), Maikäfer, flieg! (1973) oder Konrad oder Das Kind aus der Konservenbüchse (1975)
sind als Klassiker bis heute bekannt. Doch ihre Produktionen unterschiedlicher Genres waren
nicht nur auf den Rezipientenkreis der ,kleinen Menschen‘ beschränkt. Nöstlinger verfasste
auch Literatur für Erwachsene und schuf damit, ebenso wie in ihren Büchern für Kinder und
Jugendliche, ein realistisches Bild des alltäglichen Zusammenlebens – kompromisslos ehrlich
und unverblümt. Ihrem ersten Gedichtband Iba de gaunz oaman kinda (1974), verfasst in ihrer
,Muttersprache‘, dem Wiener bzw. Hernalser Dialekt, wurde jedoch vergleichsweise wenig öf-
fentliche Beachtung geschenkt. Ähnliches gilt für die Forschungslage. Nach Neuhuber, Edler
und Zehetner erfährt Dialektliteratur generell „nach wie vor nur selten wissenschaftliche Auf-
merksamkeit. Denn der übliche Verdacht ist zunächst, dass man es bei Mundarttexten mit ver-
schriftlichten Formen einer vor allem mündlichen Trivialkultur zu tun hat“4. Die sozialkriti-
schen Betrachtungen in den Mundartgedichten Nöstlingers sind jedoch, entgegen einer derarti-
gen voreingenommenen Erwartungshaltung, keinesfalls der „seichten Unterhaltungskomik“ zu-
zuordnen und bedienen auch keine „rückwärtsgewandten Heile-Welt-Kitsches“5, sondern brin-
gen eine düstere Lebenswelt jener zutage, die im gesellschaftlichen Machtgefüge an niederster

1
  Ö1: Im Gespräch. "Kindheiten sind immer sehr glücklich und immer sehr unglücklich". Renata Schmidtkunz
spricht mit Christine Nöstlinger, Schriftstellerin. Gespräch vom 13.10.2011. URL: https://oe1.orf.at/pro-
gramm/20111013/249171/Im-Gespraech [aufgerufen am 16.08.2021]
2
  News: Christine Nöstlinger ist tot. Erstellt am 14.07.2018. URL: https://www.news.at/a/christine-noestlinger-
tot-10208586 [aufgerufen am 16.08.2021]
3
  Vgl. ebda.
4
  Christian Neuhuber, Stefanie Edler, Elisabeth Zehetner: Bairisch-österreichische Dialektliteratur vor 1800. Eine
andere Literaturgeschichte. Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag 2019, S. 11.
5
  Vgl. ebda.
                                                                                                                6
Position stehen. Die Tage und Nächte der oaman kinda sind geprägt von Wehrlosigkeit und
Ohnmacht, Gewalt ist ihr allgegenwärtiger Begleiter – ein Phänomen, das den Forschungsmit-
telpunkt der vorliegenden Arbeit einnehmen soll.
        Repräsentation und Ästhetisierung von Gewalt sind keine neuen Erscheinungen – seit
Anbeginn der Menschheit prägt Gewalt menschliches Handeln bzw. Erleben und ist Gegen-
stand künstlerischer Darstellungen.6 Doch stellt sich bei einer näheren wissenschaftlichen Aus-
einandersetzung grundsätzlich die Frage nach der terminologischen Abgrenzung des Gewalt-
begriffs und in weiterer Folge nach den Funktionen, die das Phänomen in einer literarisierten
Darstellung über die offensichtlicheren thematischen Anbindungen hinaus potentiell einzuneh-
men vermag. Demnach lautet die in dieser Arbeit zentrale Fragestellung: Inwiefern kann der
Gedichtband Iba de gaunz oamen Kinda als Schauplatz gewalthafter Strukturen, Verhältnisse
oder Handlungen verstanden werden und welche Rolle kann der ästhetischen Darstellung ge-
waltaffiner Inhalte dabei gegenüber dem real-existenten Phänomen zugesprochen werden? Das
Forschungsinteresse liegt somit auch in der heuristischen Funktion von Literatur gegenüber
Mechanismen der Gewalt.
        Die Beantwortung dieser Fragen stützt sich auf eine Textanalyse, für die jene von der
ursprünglichen Version etwas abweichende Fassung des Gedichtbands als Textgrundlage her-
angezogen wird, die in der sechsten und aktuellsten Neuauflage der Trilogie Iba de gaunz
oamen Leit (1996/2019) erschienen ist.7 Zum Zweck der Kontextualisierung und Annäherung
soll im ersten Abschnitt die Autorin Christine Nöstlinger vorgestellt und ein kurzer Einblick in
ihr umfangreiches Lebenswerk gegeben werden. Es folgt ein Versuch, die Mundartgedichte
Nöstlingers innerhalb der Traditionsbildung österreichischer Dialektlyrik zu verorten und so-
wohl Bezug als auch Abgrenzung zu zeitgenössischen Werken desselben Genres herzustellen.
Um sich der Wirkung und Funktion des Dargestellten annähern zu können, soll in einem wei-
teren Abschnitt der interdisziplinär diskutierte Begriff der ,Gewalt‘ einer dem literaturwissen-
schaftlichen Forschungsinteresse der Arbeit dienlichen Eingrenzung unterzogen werden. Die
darauffolgende Textanalyse widmet sich zunächst den poetischen Mitteln der Darstellung –
Gewalt der Literatur. In einem zweiten Schritt wird der Fokus auf Gewalt als Objekt literari-
scher Darstellung gelegt, also darauf, welche unterschiedlichen Arten und Ausprägungen des
Phänomens auf thematisch-inhaltlicher Ebene in den Gedichten Niederschlag finden, um in

6
  Vgl. z. B. Eva Stehlik: Thematisierung und Ästhetisierung von Gewalt im spanischen Gegenwartstheater. Hil-
desheim u. a.: Georg Olms 2011., S. 11-13.
7
  In der Neuauflage wurde unter anderem die Dialekttranskription des Titels leicht variiert: Iba de gaunz oamen
Kinda – In der vorliegenden Arbeit wird dies unter Bezugnahme auf die jeweilige Fassung berücksichtigt.
                                                                                                             7
einer abschließenden Synthese diese sich überlagernden Dimensionen der Wirkung literarischer
Repräsentation von Gewalt in Iba de gaunz oamen Kinda zu beleuchten.

2     CHRISTINE NÖSTLINGER

    2.1 Biographische Details
Aus der Öffentlichkeit oder in Erinnerung an die Lektüre der eigenen Kindheit kennt man Chri-
stine Nöstlinger in erster Linie als Kinderbuchautorin. Sie produzierte jedoch nicht nur Texte
für Kinder, sondern auch für Erwachsene, für den Buchmarkt, für den österreichischen Hör-
funk, das Fernsehen, arbeitete für unterschiedliche Zeitungen und erreichte damit ein gesell-
schaftlich breitgefächertes Publikum. Sie war nicht nur Interviewpartnerin über (Kinder-)Lite-
ratur und Sprache, sondern in diesem Kontext auch Geschäftspartnerin sowie Vorbild mehrerer
Generationen und stand als Galionsfigur für die in ihrer literarischen Produktion behandelten
Themen. Erst ein Blick aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben und literarische
Schaffen dieser facettenreichen Frau ermöglicht es, das ,Phänomen Nöstlinger‘ in seiner Ganz-
heit zu erfassen.8 Nöstlingers gesamtes literarisches Werk ist eng gekoppelt an ihre eigene Bio-
graphie. Nach Malina verfolgen ihre Texte das Ziel, „Erinnerungen lebendig werden zu lassen:
Erinnerungen an die eigene Kindheit, das Leben mit den Eltern und Großeltern, den Freunden
und Freundinnen, aber auch Erinnerungen ihrer Leser und Leserinnen, die sich in den Texten
zumindest teilweise wiederfinden können“9.
        Christine Nöstlinger wurde am 13. Oktober 1936 als Christine Draxler geboren und
wuchs zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Vater, ihren Großeltern väterlicherseits sowie ihrer
älteren Schwester Elisabeth in der Geblergasse, im Umfeld des Arbeitermilieus des 17. Wiener
Gemeindebezirks Hernals auf.10 Rückblickend schätzt die erwachsene Nöstlinger ihre Familie
als damals vergleichsweise besser situiert ein – ihr Großvater besaß ein kleines Geschäft, die

8
  Vgl. Sabine Fuchs: Christine Nöstlinger. Eine Werkmonographie. Wien: Dachs-Verlag 2001. S. 7.
9
  Peter Malina: „Man kann nur erzählen, was man weiß.“ Zu Christine Nöstlingers Zeit-Geschichte(n). In: …weil
die Kinder nicht ernst genommen werden. Zum Werk von Christine Nöstlinger. Hrsg. von Sabine Fuchs und Ernst
Seibert. Edition Praesens 2003. (= Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich. 4.) S. 41.
10
   Vgl. Christine Nöstlinger: Glück ist was für Augenblicke. 3. Aufl. St. Pölten/Salzburg/Wien: Residenz Verlag
2014. Zitiert nach Christine Nöstlingers Buchstabenfabrik: Christine Nöstlinger. Leben. Erstellt 2020. URL:
https://www.christine-noestlinger.at/christine-noestlinger/leben [20.06.2021] Im Folgenden zitiert als Buchsta-
benfabrik, Leben, online.
                                                                                                             8
Mutter arbeitete als ausgebildete Kindergärtnerin.11 Ihr Vater Walter hätte zwar gerne studiert,
da sich seine Familie diesen Bildungsweg jedoch nicht leisten konnte, musste er einen Beruf
erlernen, den er nie gerne ausübte12 – er wurde Uhrmacher und war zur Geburt der kleinen
Christine arbeitslos, wie viele andere zu dieser Zeit. Da die Mutter nun für den Unterhalt der
vierköpfigen Familie sorgen musste, wurde Christines Vater zur wichtigsten Bezugsperson in
ihrem Leben13 und kümmerte sich die ersten drei Lebensjahre um sie.14
        In den 1920ern, die Zeit, in der Christines Vater aufwuchs, war Wien eine Hochburg
der Sozialdemokratie – und auch Christines Großeltern waren Sozialdemokraten.15 In den fol-
genden 15 Jahren änderte sich die politische Situation jedoch grundlegend durch die Etablie-
rung faschistischer Regierungen. In Nöstlingers Geburtsjahr 1936 herrschte der Austrofaschis-
mus, der mit der Eingliederung Österreichs in das nationalsozialistische Deutsche Reich endete.
Christines Vater, gleich seinen Eltern Sozialdemokrat, befand sich wegen sozialdemokratischer
Betätigung zwischen 1934 bis 1938 wiederholt in Haft,16 wird 1939 in den Krieg eingezogen
und kehrt erst 1944 schwer verletzt wieder zurück.17
        Christine wurde von Kindheitstagen an innerfamiliär politisch geprägt; nicht nur die
männlichen Bezugspersonen, Vater und Großvater, hatten als Sozialdemokraten Vorbildfunk-
tion inne, sondern auch Mutter und Großmutter, ihrerseits ebenfalls gegen die Nationalsoziali-
sten, schimpften sich lauthals beinahe um Kopf und Kragen.18 Der Krieg änderte das Familien-
leben entscheidend: Da Christines geliebter Vater gegen seinen Willen als deutscher Soldat an
der Front war, übernahm der Großvater die Vaterrolle und erzählte dem Mädchen phantasie-
volle und tröstliche Geschichten. Die Mutter wehrte sich gegen die Nazifizierung der Kinder-
gärten, indem sie Riten wie den Hitlergruß nur mit halb gehobener Hand durchführte, das Sin-
gen deutsch-nationaler Lieder verweigerte und militärische Disziplin ablehnte. Sie ignorierte
Befehle, ließ sich häufig krankschreiben und handelte sich auf diese Weise ein Disziplinarver-
fahren ein, das sich bis zum Ende des Kriegs hinzog und in ihrer Frühpensionierung endete.19
       Nicht nur im Berufsalltag im Kindergarten, sondern auch zu Hause unterschied sich der
Erziehungsstil der Mutter – und auch jener des Vaters – erheblich von damals gängigen

11
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 36. In anderen Versionen leitete die Mutter einen Kindergarten, der Großvater
war zwischendurch jedoch auch längere Zeit arbeitslos, arbeitete als Zeitungsträger oder als Oberbuchhalter (vgl.
ebda. S. 38).
12
   Vgl. Nöstlinger, Glück, S. 32.
13
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 38.
14
   Vgl. Nöstlinger, Glück. Zitiert nach: Buchstabenfabrik, Leben, online.
15
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 38.
16
   Vgl. ebda.
17
   Vgl. Nöstlinger, Glück. Zitiert nach: Buchstabenfabrik, Leben, online.
18
   Vgl. Nöstlinger, Glück, S. 46.
19
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 39.
                                                                                                               9
Ansichten und Praktiken: Christine und ihre Schwester waren wohl die einzigen Kinder ihrer
Umgebung, die nicht geohrfeigt oder sonstiger körperlicher Gewalt zur Züchtigung und Maß-
regelung ausgesetzt wurden.20

       Na ja, mei Muatter war für damalige Verhältnisse a sehr fortschrittliche, freundliche Erzieherin,
       mi ham alle Kinder beneidet um solche Eltern, die so freundlich san, so lustig, und überhaupt
       kane Sanktionen und Strafmaßnahmen tätigen.21

Von ihrer Mutter wurde Christine als „wildes und wütendes Kind, jedenfalls wilder und frecher
als die meisten anderen Kinder“22 wahrgenommen; in Anbetracht des oben beschriebenen Fa-
milienklimas war dies auch womöglich einfacher als unter anderen Umständen.23 Das freche
Kind, bei dem – so die Großmutter – „man die Goschen extra derschlagen“24 musste, wurde
von der Mutter vor allem durch Liebesentzug bestraft. In Streitsituationen solidarisierte sich
zumeist der Vater mit Christine,25 er und der Großvater spielten als Bezugs- und Vertrauens-
personen eine große Rolle in ihrem Leben. Zur Mutter hingegen, deren Namen sie öffentlich
nie erwähnt, und der Schwester Lisl bestand stets ein schwieriges Verhältnis.26 Allerdings be-
tont Nöstlinger als Erwachsene rückblickend immer wieder, ihre Mutter habe, da ihr selbst im
persönlichen Werdegang und Bildungsweg viele Träume verwehrt geblieben waren, allen Auf-
wand betrieben, sich für den Aufstieg der Töchter einzusetzen, alles für die beiden zu geben,
sprich in ihren Augen eine gute Mutter zu sein:27

       Natürlich liebte ich meine Mutter, aber ich hatte ein Problem mit ihr, das umso größer wurde, je
       älter ich war: Sie war eine gutmütige Frau, die alles dafür tat, dass es ihren Kindern gut ging, aber
       sie redete Unsinn. Und sie redete gern und lange, egal, was sie tat, ob sie kochte oder strickte oder
       bügelte.
       Oft malte sie sich etwa aus, wie das wäre, wenn sie noch das viele Geld hätte, das ihr eigentlich
       zustünde. ,Da müsstet ihr Balletttanzen lernen, und Reiten und so Sachen, alles, was zu einer
       wirklich guten Erziehung gehören täte!‘28

Als Krieg und Nationalsozialismus bereits Alltag und Gewohnheit geworden waren, begann
1942 für Christine die Pflichtschulzeit. Fortan lebte sie in zwei Welten, denn die in der Familie

20
   Vgl. Friedl, Harald: Christine Nöstlinger im Gespräch. In: Die Tiefe der Tinte. Wolfgang Bauer. Elfriede Jelinek.
Friederike Mayröcker. H. C. Artmann. Milo Dor. Gert Jonke. Barbara Frischmuth. Ernst Jandl. Peter Turrini.
Christine Nöstlinger im Gespräch. Hrsg. von Harald Friedl. Salzburg: Verlag Grauwerte im Institut für Alltags-
kultur 1990. S. 163.
21
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Hilde Schmölzer: Christine Nöstlinger: Kein bonbonfarbenes Kinderreich und
keine Schwarzweißmalerei. In: Frau sein & schreiben. Österreichische Schriftstellerinnen definieren sich selbst.
Hrsg. von Hilde Schmölzer. Wien: Österr. Bundesverlag 1982, S. 123.
22
   Buchstabenfabrik, Leben, online.
23
   Vgl. ebda.
24
   Nöstlinger, Glück, S. 34.
25
   Vgl. ebda. S. 33. Hier findet sich eine Auswahl an Beispielsituationen.
26
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 37-41.
27
   Vgl. ebda., S. 37.
28
   Nöstlinger, Glück, S. 30-32.
                                                                                                                10
offen bekundete anti-nationalsozialistische Haltung stand in Kontrast mit den in der öffentli-
chen Bildungseinrichtung vermittelten Werten und Haltungen.29 Nach Kriegsende schien sich
für den Alltag der kleinbürgerlichen Familie nicht viel zu ändern, es herrschte Lebensmittel-
knappheit, es fehlte an Kleidung und auch die Wohnverhältnisse waren beengend und notdürf-
tig.30 Trotz der finanziell schwierigen Lage durften sich Christine und ihre Schwester glücklich
schätzen, denn sie genossen die Vorteile, den die Erziehung ihrer Eltern mit sich brachte, die
sich mit Tatkraft einem Aufbau- und Aufstiegswillen verschrieben hatten, indem sie den Kin-
dern beispielsweise eine nicht selbstverständliche Schulbildung am Gymnasium ermöglich-
ten.31 Dennoch war es nach Fuchs weiterhin „leichter, ein Nazikind zu sein, als ein Kind von
Sozialisten oder Kommunisten, Letztere verschwiegen die politische Einstellung der Eltern“32.
         Der Übergang zum Gymnasium war für Christine geprägt von mangelndem Zugehörig-
keitsgefühl und von der negativen Wahrnehmung sowohl ihrer eigenen ,Andersartigkeit‘ als
auch jener ihrer Freunde – oft schloss sie Freundschaften mit Außenseitern, zu denen die Eltern
der Klassenkameraden sogar den Umgang untersagten.33 Die Schulzeit bedeutete für Christine
somit Konfrontation mit der allgegenwärtigen Spaltung der Gesellschaft, doch hatte sie selbst
am Beispiel ihrer Familie gelernt, was es bedeutete, Widerstand zu leisten.34
         Nach der Matura im Jahr 1954 begann Christine ein Studium der Gebrauchsgrafik an
der Wiener Akademie für angewandte Kunst, für das sie schon bald Interesse und Motivation
verlor. Das große Talent, das ihr am Gymnasium attestiert wurde, schien sich im direkten Ver-
gleich mit Studienkollegen nicht zu bestätigen.35 Ihren Versuch, dem ungeliebten Karriereweg
auszuweichen, beschrieb sie im Erwachsenenalter wie folgt:

       Damals waren die Zeiten noch sehr anders. Da hat es keine großen Werbeagenturen gegeben, das
       war damals 1956/57 und da hätte man halt so gehen müssen mit der Mappe und sich bei gewissen
       Firmen vorstellen und sagen: Ich bin unheimlich gut, laßt ich ein Plakat für euch machen. Das
       habe ich nicht zusammengebracht. Ich bin mir auch nicht gut vorgekommen und ich war auch
       sicher nicht sehr gut und als Ausweg habe ich dann geheiratet. Das geht recht gut, wenn man eine
       Frau ist, und ich habe ein Kindlein bekommen. Dadurch war ich also davon erlöst, beruflich Kar-
       riere zu machen.36

Weil sie schwanger geworden war, heiratete sie 1957 im Alter von 21 Jahren. Das Kind verstarb
jedoch nur wenige Tage nach der Geburt. Christine wurde erneut schwanger, Tochter Barbara

29
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 39.
30
   Vgl. ebda. S. 44.
31
   Vgl. ebda.
32
   Ebda. S. 45.
33
   Vgl. ebda.
34
   Vgl. Buchstabenfabrik, Leben, online.
35
   Vgl. ebda.
36
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Friedl, Tinte, S. 164-165.
                                                                                                    11
wurde 1959 geboren. Eine hoffnungsvolle Zukunft war dennoch nicht in Sicht, und so wurde
die Ehe bald geschieden. 1961 lernt Christine Ernst Nöstlinger, einen oberösterreichischen Pu-
blizistikstudenten kennen und geht mit ihm die zweite Ehe ein. Aus Christine Draxler wurde
Christine Nöstlinger:37

       Die Passbeamten erledigten das damals noch handschriftlich. Der Beamte strich nicht nur das
       ,Draxler‘ durch und ersetzte es durch das ungeliebte ,Nöstlinger‘, er zog auch einen dicken Line-
       alstrich durch ‚Studentin‘ und schrieb in Schönschrift drunter: ‚Hausfrau‘.
       Das war ein Schock! [...] Eine ,Hausfrau‘ hatte ich nie werden wollen, und jetzt hatte ich es
       schriftlich, dunkelblau auf zartrosa!38

Bei der Betreuung der ersten Tochter von ihrer Mutter unterstützt, arbeitete Christine bis sechs
Wochen vor der Geburt ihrer zweiten Tochter in einem Wiener Pressehaus.39 Danach fand sie
sich gelangweilt in der Rolle der Hausfrau wieder und wurde zunehmend unglücklicher über
ihre Lage.40 Die zweifache Mutter machte sich Gedanken darüber, wie ihr der Ausbruch aus
der klassischen Rollenverteilung gelingen konnte:

       […] und da habe ich mir gedacht, was kann man denn machen, was ich daheim machen kann und
       da bin ich auf die Idee gekommen, vielleicht auch, weil ich ein Kind gehabt habe, ein Bilderbuch
       zu machen. Und für dieses Bilderbuch mußte ich eine Geschichte schreiben. […] und da das Bil-
       derbuch dann genommen worden ist – d. h. es war gar kein Bilderbuch mehr, es war ein ganz
       normales Kinderbuch –, habe ich ein zweites gemacht.41

Entgegen den eigenen Erwartungen fand ihr erstes Kinderbuch – Die feuerrote Friederike –
nach der Veröffentlichung im Jahr 1970 großen Zuspruch und Nöstlinger startete ihre Karriere
als Schriftstellerin. Da sie von nun an in der Öffentlichkeit stand und sich auch nicht interview-
scheu zeigte, achtete sie darauf, nur wenig Privates nach außen dringen zu lassen.42
         Es folgte ein jahrzehntelanges literarisches Schaffen der Autorin in unterschiedlichen
Medien und Genres, wobei sich von Beginn an ein klares Image abzeichnete, das Nöstlinger in
der Öffentlichkeit präsentierte: Sie nahm kein Blatt vor den Mund, war kritisch, offenherzig,
geradlinig und transportierte emanzipatorische Ideen vor dem Hintergrund pädagogischer und
gesellschaftlicher Prämissen, die in Österreich Mitte der 1970er Jahre etwas verspätet rezipiert
wurden.43 Auch außerhalb ihrer literarischen Tätigkeit zeigte sich Nöstlinger politisch aktiv.
Für Verhaltensweisen und gesellschaftliche Entwicklungen, die die Mitmenschlichkeit gefähr-
den, war sie vor allem aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und Kindheit zu Zeiten des

37
   Vgl. Buchstabenfabrik, Leben, online.
38
   Nöstlinger, Glück, S. 147
39
   Vgl. ebda. S. 142-145.
40
   Vgl. Friedl, Tinte, S. 165.
41
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: ebda.
42
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 48.
43
   Vgl. ebda. S. 13.
                                                                                                     12
Nationalsozialismus sensibilisiert. Nöstlinger hatte einen scharfen Blick für wiederkehrende
Politkonzepte und Propagandatechniken und durchschaute, so Mottinger, bis zuletzt soziale
Ungerechtigkeiten.44 „Gelebt hab’ ich während der Nazi-Zeit. Ich weiß also, wie leicht die
Leute böse und unmenschlich werden können. Das geht über Nacht, bitte. Diese ,Tuchent der
Zivilisation‘ scheint mir sehr löchrig und leicht wegzuziehen zu sein“45, bezieht sie in einem
ihrer letzten Interviews Stellung zum Aufwachsen in Österreich unter nationalsozialistischem
Regime und NS-Kontinuitäten im Nachkriegsösterreich. Es gehe ihr nicht nur um den Kampf
gegen die Ungerechtigkeit, „sondern vor allem auch um Solidarität. Mir geht es um eine Auf-
forderung zur Empathie und dass man sich in fremde Menschen einfühlt“46, äußert sie sich in
einem Gespräch mit der Tiroler Tageszeitung im Zuge ihres 80. Geburtstags. Mit ihren zahlrei-
chen Interviews und öffentlichen Statements gegen Diskriminierungen jeder Art erreichte sie
bis ins hohe Alter eine breite Masse.47 Weil man sie größtenteils dennoch ,nur‘ mit der Position
der Kinderbuchautorin assoziierte, hielt sie in einem Gespräch bei ‚Willkommen Österreich‘
fest: „Kinderlieb bin ich nicht speziell. […] Ich bin menschenlieb.“48
        Eines der wohl eindrucksvollsten Beispiele ihrer politischen Präsenz ist Nöstlingers
Rede gegen Gewalt und Rassismus, die sie zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZs Mauthau-
sen bei einer Gedenkveranstaltung am 5. Mai 2015 im Historischen Sitzungssaal des Österrei-
chischen Parlaments hielt. Mit ihrem Statement „Frei von Schuld zu sein heißt aber nicht, frei
von Verantwortung zu sein!“49 rief sie zur Erinnerung und zur Wachsamkeit gegenüber aktuel-
ler Tendenzen auf:

      Viele Menschen sind dieser Verantwortung gerecht geworden und haben als ,Zeitzeugen‘ den
      nachfolgenden Generationen zu erzählen versucht, wohin Rassismus geführt hat, oder sich laut
      zu Wort gemeldet, wenn wieder gegen Minderheiten Stimmung gemacht wurde. Leicht gemacht
      hat man ihnen das nicht immer. Vielen waren sie einfach unbequem. Sie störten beim Vergessen

44
   Michael Mottinger: Christine Nöstlinger: Ned, dasi ned gean do warat. Die letzten Gedichte der großen Men-
schenkennerin. In: Mottingers-Meinung.at. Die Online-Kulturzeitschrift. Erstellt am 20.04.2019. URL:
http://www.mottingers-meinung.at/?p=32865 [13.08.2021]
45
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Kontrast Redaktion: „Ein Buch braucht kein Happy End.“ Eines der letzten
Interviews mit Christine Nöstlinger. In: Kontrast.at. Erstellt am 13.07.2018 [posthum veröffentlicht]. URL:
https://kontrast.at/ein-buch-braucht-kein-happy-end-eines-der-letzten-interviews-mit-christine-noestlin-
ger/#nskontinuitten-im-nachkriegssterreich [aufgerufen am 13.08.2021] Das Video zum Interview ist abrufbar un-
ter URL: https://www.youtube.com/watch?v=CDGrCE1a-WE [13.08.2021]
46
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Tiroler Tageszeitung: Humor und ein langes Leben: Christine Nöstlinger im
Interview. In: Tiroler Tageszeitung Online. Erstellt am 26.10.2016. URL: https://www.tt.com/arti-
kel/12170796/humor-und-ein-langes-leben-christine-noestlinger-im-interview [13.08.2021]
47
   Vgl. Mottinger, Die letzten Gedichte, online.
48
     ORF1: Christine Nöstlinger bei Willkommen Österreich. Sendung vom 29.10.2013. URL:
https://www.youtube.com/watch?v=6HYzfMcYyxc [13.08.2021] Minute 7:34-7:54
49
   Christine Nöstlinger: Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZs Mauthausen. In: Im Herzen der Demokra-
tie. Wiederbelebung einer gefährdeten Idee. Hrsg. von Jacqueline Kornmüller und Peter Wolf in Zusammenarbeit
mit der Parlamentsdirektion. 1. Aufl. Wien: Brandstätter 2017, S. 60. Die gesamte Rede ist abrufbar auf YouTube:
Christine Nöstlinger: Rede bei der Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus am 5. Mai 2015. URL:
https://www.youtube.com/watch?v=_3AYKtP78-s&t=14s [13.08.2021]
                                                                                                             13
[…] Heutiger Rassismus lehnt schlicht alles ,Fremde‘ ab. […] Allerdings schützt heute, im Ge-
       gensatz zum Rassismus der NS-Zeit, totale Assimilation vor Anfeindung. Und die große Mehrheit
       im Lande […] meint Assimilation, wenn sie ,mehr Integration‘ fordert.50

Mit zunehmendem Alter verschlechterte sich Nöstlingers Gesundheitszustand. Nach ihrer
Brustkrebsoperation sprach sie offen über Krankheit und Tod. Lungen- und Herzprobleme er-
schwerten ihr den Alltag, und trotzdem stellte sie fest: „Am liebsten würde ich ewig leben. Ich
finde, der Tod ist die größte Frechheit, die man einem Menschen zumuten kann.“51 Im Alter
von 81 Jahren stirbt Christine Nöstlinger am 28. Juni 2018 in Wien. In zahlreichen Nachrufen
wird sie weltweit gewürdigt – für ihr literarisches Lebenswerk ebenso wie für ihr soziales und
politisches Engagement. Ihre beiden Töchter setzten Nöstlinger Ende 2018 ein Denkmal, indem
sie für die selbsternannte ,Ein-Mann-Buchstabenfabrik‘ eine Gesellschaft zur Nachlassverwer-
tung gründeten: Christine Nöstlingers Buchstabenfabrik.52 Ein weiteres Projekt, das der Wei-
terführung ihres Wirkens dient, ist der im Mai 2021 zum ersten Mal verliehene Christine-Nöst-
linger-Preis. Dieser zeichnet

       Menschen aus, die Kindern und all jenen, die sonst nicht gehört werden, eine Stimme geben, ihre
       Perspektive einnehmen und so einen kleinen Beitrag leisten, deren Leben ein Stück gerechter zu
       gestalten. Der Preis will damit auch die humanistischen Prinzipien und Anliegen, die Christine
       Nöstlinger in ihrer Literatur vertreten hat, lebendig halten.53

     2.2 Schaffen und Wirken der Autorin
Das Œuvre Nöstlingers umfasst rund 150 publizierte Bücher für Kinder, Jugendliche und Er-
wachsene. Viele ihrer Bilderbücher und Romane wurden in über 50 Sprachen übersetzt und
einige auch verfilmt.54 Sie produzierte Hörspiele, Fernsehspiele und unzählige ihrer Geschich-
ten schafften es als Theaterstücke oder Musicals auf die Bühne. Darüber hinaus verfasste Nöst-
linger Gedichte und Essays, Glossen für Magazine sowie diverse Tageszeitungen, selbst

50
   Ebda. S. 63-64.
51
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Heinz Sichrovsky: 80. Geburtstag. „Ich möchte ewig leben“. Kinderbuchau-
torin Christine Nöstlinger im Interview. In: News Online. Erstellt am 13.10.2016. URL:
https://www.news.at/a/christine-noestlinger-interview-6262264 [13.08.2021] Ein weiteres Interview, das als eines
ihrer letzten gilt, führte Nöstlinger mit Angelika Hager für das Nachrichtenmagazin profil: Nöstlinger: „Ich halte
den Tod für die größte Frechheit, die es überhaupt gibt“. In: profil 07.03.2016. URL: https://www.profil.at/kul-
tur/christine-noestlinger-erinnerungen-kinder-6260424 [13.08.2021]
52
   Vgl. Christine Nöstlingers Buchstabenfabrik: Buchstabenfabrik. Erstellt 2020. URL: https://www.christine-no-
estlinger.at/buchstabenfabrik [13.08.2021]
53
   Ebda. Das erste Mal ging 2021 dieser Preis an den Autor und Illustrator Michael Roher. Vgl. HVB: Christine-
Nöstlinger-Preis. Erstellt 2021. URL: https://www.buecher.at/christine-noestlinger-preis/ [13.08.2021]
54
   Vgl. Buchstabenfabrik, Buchstabenfabrik, online [aufgerufen am 14.08.2021] Verfilmt wurden unter anderem
Wir pfeifen auf den Gurkenkönig (1974), Achtung! Vranek sieht ganz harmlos aus (1975), Die Ilse ist weg (1976),
Konrad aus der Konservenbüchse (1982 D und 1985 USA), Villa Henriette (2004) und Maikäfer, flieg! (2016).
                                                                                                              14
Kochbücher finden sich in ihrem Werk. Es scheint kein Medium zu geben, in dem sie nicht
publizierte und auch das Repertoire ihrer Genres ist breitgefächert.55 Das Gesamtwerk Christine
Nöstlingers war 1983 schon so umfangreich, dass sie sich selbstironisch wie folgt zu ihrer ho-
hen Produktivität äußert:

      Ich sage mir: Über fünfzig Bücher, über zwanzig Fernsehspiele unzählige Hörfunksendungen und
      kubikmeterweise Zeitungsartikel, das ist einfach zuviel für sechszehn, siebzehn Jahre Autorenle-
      ben. Wie eine Ein-Mann-Buchstabenfabrik komme ich mir dann vor.56

Erfolg im Literatursektor feierte Nöstlinger schon seit der Veröffentlichung ihres ersten Kin-
derbuchs Die feuerrote Friederike im Jahr 1970 – der Geburtsstunde der Autorin. Nach nur
zwei Jahren Schaffenszeit erhielt sie als erste Autorin den 1972 in Deutschland ins Leben ge-
rufenen Friedrich-Bödecker-Preis für Die feuerrote Friederike (1970), Die Kinder aus dem Kin-
derkeller (1971), Mr. Bats Meisterstück (1971), Die drei Posträuber (1972) und Wir pfeifen auf
den Gurkenkönig (1972). Ausgezeichnet wurden die fünf Bücher aufgrund ihrer besonderen
Erzählweise im Spannungsfeld zwischen Wirklichkeit und Phantasie sowie wegen der kriti-
schen und zeitgemäßen Auseinandersetzung mit der Frage nach Anerkennung der Kinder als
gleichberechtigte Partner.57 Die Liste der nationalen und internationalen Auszeichnungen, mit
denen Nöstlingers Schaffen fortan geehrt wurde, ist beeindruckend: 1974 erhält sie den Öster-
reichischen Kinder- und Jugendbuchpreis und den Buxtehuder Bullen für ihren ersten autobio-
graphischen Roman Maikäfer flieg! (1973) über die bitteren und von Angst geprägten Kind-
heitserlebnisse gegen Ende des Zweiten Weltkriegs.58 1979 wird ihre auf Ö3 gesendete Radio-
Serie über das schulpflichtige Phantasiewesen Dschi-Dsche-i Wischer Dschunior mit dem UN-
IDA-Preis für Hörfunk ausgezeichnet und das Buch mit den Wischer-Briefen zur Serie 1980
mit dem Jugendbuchpreis der Stadt Wien.59 Einen besonderen Höhepunkt bedeutete die ihr
1984 für ihr bisheriges Gesamtwerk verliehene Hans-Christian-Andersen-Medaille. Es folgten,

55
   Vgl. ebda.
56
   Christine Nöstlinger: Nöstlinger über Nöstlinger. In: Nussknacker-Werkstattbuch. Über Kinderbücher und Au-
toren. Hrsg. von Hans Joachim Gelberg. Weinheim/Basel: Beltz & Gelberg 1986. S. 37.
57
   Vgl. Dilewsky, Klaus Jürgen: Christine Nöstlinger als Kinder- und Jugendbuchautorin. Genres, Stoffe, Sozial-
charaktere, Intentionen. 2., überarb. Aufl. Frankfurt am Main: Haag + Herchen 1995, S. 9.
58
   Vgl. ebda.; Die Erinnerungen an die Kindheit während des Zweiten Weltkriegs sind bis ins hohe Alter Nöstlin-
gers wiederholt Thema in ihren Reden, Ansprachen und Interviews. Anlässlich ihres 80. Geburtstags sprach sie
mit dem ‚Falter‘ über ihre Politisierung und über die Kindheit während des Kriegs: Christine Nöstlinger im Ge-
spräch mit Florian Klenk und Stefanie Panzenböck: Der Traum von Schinkensemmel, Bensdorp und Sozialdemo-
kratie. In: Falter 41/16 vom 11.10.2016. URL: https://www.falter.at/zeitung/20161011/der-traum-von-schinken-
semmel-bensdorp-und-sozialdemokratie [14.08.2021] Die Tonaufnahme des Gesprächs findet sich unter URL:
https://www.youtube.com/watch?v=aY2PlfjdK1c [14.08.2021]. Ein weiteres ausführliches Interview über Maikä-
fer, flieg! und das Jahr 1945 führte Christine Nöstlinger 2015 mit Marlene Ornik: „Die Geschichte, die ich hier
erzähle, ist eine Pulverlandgeschichte“. Das Jahr 1945 in Christine Nöstlingers Jugendroman „Maikäfer, flieg!“.
Universität Graz: Diplomarbeit 2015.
59
   Vgl. Christine Nöstlingers Buchstabenfabrik: Christine Nöstlinger. Preise. 2020. URL: https://www.christine-
noestlinger.at/christine-noestlinger/preise [14.08.2021]
                                                                                                             15
unter vielen weiteren, 1987 der Österreichische Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur,
1998 der Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln
und im Jahr 2003 der Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis, die international höchstdotierte Aus-
zeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. Im selben Jahr wurde Nöstlinger vom damaligen
Bundespräsidenten Thomas Klestil mit der höchsten Auszeichnung, die die Republik für wis-
senschaftliche oder künstlerische Leistungen vergibt, gewürdigt: dem Österreichischen Ehren-
kreuz für Wissenschaft und Kunst, I. Klasse. 2016 wurde ihr der Lebenswerk-Preis des Bun-
desministeriums für Gesundheit und Frauen verliehen und 2018, im Jahr ihres Ablebens, der
Sonderpreis Stella für kulturpolitische und künstlerische Leistungen.60
        Zwar lösen Preise und Auszeichnungen nicht die in den prämierten Texten kritisch dar-
gestellten Problembereiche der Gesellschaft, doch geht nach Dilewsky „von ihnen eine Signal-
wirkung nach außen aus. […] Funktion kommt den Auszeichnungen in bezug auf die Kinder-
und Jugendliteratur insofern zu, als daß sie die Verbreitung progressiver Werke fördern und
somit zur Weiterentwicklung des Spektrums beitragen“61.
        Nöstlinger selbst betonte immer wieder, sie sei nur zufällig zum Schreiben gekommen,
doch der Erfolg machte sie mutig – und arbeitswütig. Eines ihrer berühmtesten Bekenntnisse
hinsichtlich der Inhalte ihrer Geschichten ist die Feststellung, sie könne nur aus ihren eigenen
Erfahrungen und in ihrer eigenen Sprache, dem Wiener Jargon, schreiben. Als Tabu-Brecherin
richtete sie sich schon zu Beginn ihrer Karriere gegen die in den 1970ern und 1980ern noch
vorherrschenden pädagogisch-didaktischen Prämissen, die an Kinderliteratur herangetragen
wurden, und avancierte so zu einer „Repräsentantin emanzipatorischer Kinderliteratur“62. Für
Nöstlinger war es oberstes Gebot, „daß man Kinder nicht anlügt, daß man ihnen nicht die Welt
zurechtbiegt, in einem Bedürfnis aus Schonung, Kinder dürften nicht die ganze grausige Wahr-
heit wissen“63. Obwohl sie selbst ihre Bücher nicht als pädagogische Vorschrift verstand, mit
denen das ,einzig Wahre‘ unterhaltsam verkauft würde, blieb ihre Überzeugung stets aufrecht,
man solle sowohl Kinder als auch Erwachsene möglichst wenig einschränken oder Zwängen
aussetzen.64 In einem Gespräch über Kinderbücher und politische Bildung mit dem österreichi-
schen Kinder- und Jugendpsychiater und Autor Paulus Hochgatterer äußerte sich Nöstlinger:

60
   Vgl. ebda.
61
   Vgl. Dilewsky, Nöstlinger als Kinder- und Jugendbuchautorin, S. 11.
62
   Vgl. Fuchs, Werkmonographie, S. 14-15. Gemeint ist damit vor allem, welche Inhalte Kindern zugetraut werden
konnten.
63
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Friedl, Tinte, S. 168.
64
   Vgl. Christine Nöstlingers Buchstabenfabrik: Engagement. Erstellt 2020. URL: https://www.christine-noestlin-
ger.at/engagement [14.08.2021]
                                                                                                            16
„Ich will niemanden zu etwas zwingen und ich will mich zu nichts zwingen lassen.“65 Auch im
Sommergespräch 2010 mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin ‚profil‘ nahm sie zu die-
ser Thematik Stellung:

        Ich kann es auch nicht leiden, wenn es immer heißt: Man muss Kindern Grenzen setzen. Man
        setzt Kindern notgedrungen ohnehin viele Grenzen: Sie müssen in die Schule gehen, sie müssen
        Medizin schlucken, wenn sie krank sind, sie müssen mit den ökonomischen Bedingungen ihrer
        Eltern auskommen. Extra noch weitere Grenzen zu setzen, muss nicht sein.66

Viele ihrer Texte, ob Kinderbuch oder Kolumne, sind Aufrufe zum Ausbruch aus festgefahre-
nen, unreflektierten Verhaltensweisen und Verhältnissen und sollten zum Erheben der eigenen
Stimme, zur Einforderung von Rechten sowie, vor allem, zur Empathie motivieren. Nöstlinger
war es daher auch ein großes Anliegen, nicht nur eine schmal gestreute Leserschaft zu errei-
chen:

        Ich schreibe lieber bei einer miesen Zeitung oder bei einem Boulevardblatt, das drei Millionen
        Leser hat, als bei einem kleinen elitären Blättchen, das nur zehntausend Leser hat. Ich will Leute
        erreichen, sonst macht mir Schreiben überhaupt keinen Spaß. Ich bin nicht so größenwahnsinnig,
        daß ich glaube, man könnte durch Schreiben irgendwo die Welt verändern, aber ein paar flankie-
        rende Maßnahmen dazu kann man schon setzen.67

     2.3 Kritische Dialektgedichte
Noch ganz zu Beginn ihrer Karriere, erst vier Jahre nach Erscheinen des Kinderbuch-Debüts
Die feuerrote Friederike, veröffentlicht Christine Nöstlinger 1974 im Verlag Jugend & Volk
ihren ersten Gedichtband Iba de gaunz oaman kinda – Literatur für Erwachsene im Wiener
(Hernalser) Dialekt.68 Geplant war die Produktion des Gedichtbands jedoch laut Nöstlinger ur-
sprünglich nicht:

        Es war einfach, wie das immer bei mir ist, auch mit vielen Zufällen verbunden. Die meisten dieser
        Gedichte, die ich da geschrieben hab – also portionsweise –, waren ja für eine ORF-Sendung, die
        ,Musicbox‘. Da hat man vierzehn Minuten Text gebraucht, wenn man Textautor war. Ich wollte

65
   Paulus Hochgatterer im Gespräch mit Christine Nöstlinger: Kinderbücher und politische Bildung. Hauptbüche-
rei Wien, 26.03.2014. URL: https://www.youtube.com/watch?v=pPTRsy88-Hs [14.08.2021]
66
   Herbert Lackner: "Ich bin in der Wolle rot gefärbt". Sommergespräch. Die Kinderbuchautorin Christine Nöst-
linger im Interview. In: profil vom 07.08.2010. URL: https://www.profil.at/home/ich-wolle-274879 [13.08.2021]
67
   Christine Nöstlinger, zitiert nach: Friedl, Tinte, S. 167.
68
   Vgl. Daniela Strigl: Christine Nöstlinger. Iba de gaunz oaman kinda (1974). In: Grundbücher der österreichi-
schen Literatur seit 1945. Lfg. 2. Hrsg. von Klaus Kastberger und Kurt Neumann. Unter Mitarbeit von Annalena
Stabauer. Wien: Paul Zsolnay 2013. ( = Profile. 20.) S. 165.
                                                                                                            17
nie recherchieren, ich hab nie irgendjemanden interviewt – und war aber ORF-Mitarbeiterin da-
       mals; da hab ich mich lieber hingesetzt und Gedichte geschrieben.69

Bisher hatte sie bereits 14 Kinderbücher auf den Markt gebracht und konnte sich in diesem
Genre auch dementsprechender öffentlicher Aufmerksamkeit erfreuen. Ein Buch für Erwach-
sene mochte daher, die Erwartungshaltung der Rezipierenden betreffend, schleppend zu ver-
markten sein, ganz abgesehen von der doppelten Herausforderung, dass es sich nicht nur um
Lyrik, sondern vor allem um Literatur in einem regionalen Dialekt handelte. Und dennoch er-
reichten die Betrachtungen Iba de gaunz oaman kinda schon als Einzelband eine Auflage von
20.000 Exemplaren.
        Das Projekt ,Mundartdichtung‘ wird, wenngleich in größeren Zeitsprüngen, als Reihe
fortgesetzt: Im Jahr 1982 erscheint Iba de gaunz oaman Fraun, gefolgt von Iba de gaunz oaman
Mauna 1987. Für letzteren Gedichtband wird dem Verlag Jugend & Volk 1988 der Österrei-
chische Staatspreis für ,Die schönsten Bücher Österreichs‘ verliehen.70 Diese drei Bände erge-
ben, unter jeweiliger Abwandlung des Objekts der Betrachtung bzw. des lyrischen Ichs, eine
schlüssige kritisch-komische Trilogie mit demselben dokumentarischem Gestus: Nöstlinger
portraitiert die Alltagsrealität des Wiener Arbeitermilieus im Gemeindebau-Flair ,von unten‘
und anhand der gewählten innenperspektivischen Darstellung auch ,von innen‘.71 In metrisch
frei gestalteten Versen wird dabei in scheinbar trockenem Ton und mit einer Portion schwarzen
Humors von den vielen Gesichtern der Armut berichtet. Dabei liegt der Fokus bei Weitem nicht
nur auf materiellen Komponenten, sondern reicht von der im dargestellten Elendsmilieu herr-
schenden seelischen Verkümmerung und Gefühlsarmut bis hin zu Ängsten und Aggressionen
unterschiedlichster Art.72
       1996 vereint der mit Jugend & Volk fusionierte Dachs-Verlag die Gedichtbände unter
dem Titel Iba de gaunz oamen Leit.73 Da inzwischen ausverkauft, wird die Sammlung im Jahr
2009 im Residenz-Verlag neu aufgelegt, bis 2019 folgen fünf weitere Auflagen.74 Neben meh-
reren ,gewöhnlichen‘ Lesungen (die bis 2019 immer wieder vereinzelt stattfinden) kommt es
im Laufe der Jahre zu verschiedenen Adaptierungen, so wird eine Auswahl der legendären

69
   Christine Nöstlinger zitiert nach: Klaus Kastberger: Gespräch mit Christine Nöstlinger, Daniela Strigl und Sonja
Wehsely. In: Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945. Lfg. 2. Hrsg. von Klaus Kastberger und Kurt
Neumann. Unter Mitarbeit von Annalena Stabauer. Wien: Paul Zsolnay 2013. ( = Profile. 20.) S. 175.
70
   Vgl. Buchstabenfabrik, Preise, online.
71
   Vgl. Zeyringer, Klaus: Österreichische Literatur 1945–1998. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. Innsbruck:
Haymon 1999. S. 319-320.
72
   Vgl. Ö1: Hörspiel Suche. Iba de gaunz oamen Leit. URL: https://oe1.orf.at/hoerspiel/suche/14642 [13.07.2021]
73
   Vgl. Strigl, Nöstlinger, S. 165.
74
   Vgl. Residenz Verlag: Christine Nöstlinger. Iba de gaunz oamen Leit. Gedichte. URL: https://www.residenz-
verlag.com/buch/iba-de-gaunz-oamen-leit [13.07.2021] Im Folgenden zitiert als: Residenz, Leit, online.
                                                                                                               18
Dialektgedichte im Jahr 2012 als Bühnenfassung vom Rabenhof Theater in Wien inszeniert:
Aus leicht abgewandelten Fassungen von 42 der insgesamt 81 Gedichte

       […] haben der Dramaturg Matthias Jodl und der Regisseur Anatole Sternberg das atemberau-
       bende Kunststück eines Versdramas mit Archetypen aus dem Gemeindebau und ein paar losen
       Handlungssträngen gefiltert. Es wurde zur wunderbaren Musik von Wolfgang Schlögl ein Abend
       wie ein radikaler "Kaisermühlenblues" über die Existenz, die zwischen den Fingern zerrinnt, über
       Bösartigkeit, Suff, Pfusch und Gewalt. Getragen wird der harte, unsentimentale Abend von einem
       überragenden Ensemble: Ingrid Burkhard, Ursula Strauss, Christian Dolezal und Gerald Votava.
       Sie glänzen in einer Inszenierung, die zeigt, dass man in nur 80 Minuten einen schrecklichen
       Kosmos von gescheitertem Leben auf die Bühne bringen kann.75

Parallel zum Bühnenstück ist auch eine Hörspielversion erhältlich – eine Produktion des Ra-
benhof Theaters in Zusammenarbeit mit dem ORF bzw. dem Radiosender Ö1, die 2012 (Pre-
miere), 2016 und 2018 auf Ö1 gesendet wurde.76 Eine weitere Bearbeitung erfuhren die Gaunz
oamen Leit, ebenfalls im Jahr 2012, durch Erich Meixner und Christoph Michalke, die für Ge-
sang, Akkordeon und Klavier die Gedichte neu vertonten und ihre gesungene Interpretation
unter anderem im Gasthof Assmayer (Wien), im Strasshofer Kellertheater oder beim Dialekt-
musikfestival ,unter die Leute brachten‘.77
        Nach Veröffentlichung des dritten und letzten Gedichtbandes der Trilogie, Iba de gaunz
oaman Mauna (1987), widmete sich Nöstlinger in den folgenden drei Jahrzehnten jedoch wie-
der hauptsächlich der Kinderliteratur. Erst im hohen Alter und am Ende ihrer Schaffenszeit
verfasste sie weitere 22 Mundartgedichte– in gewohnt rabenschwarzer Manier voll heiterer
Zwischentöne. Ned, dasi ned gean do warat erschien posthum im April 2019 fast ein Jahr nach
ihrem Tod und „erzähl[t] von Sorgen und Hoffnungen, von Bösartigkeiten und von dem Um-
gang mit dem Alter“78.
        Diese insgesamt vier Gedichtbände, die Mundartlyrik Nöstlingers, zeichnet vor allem
eines aus: Sie erlauben anhand ihrer sozialkritischen Note einen zugleich tiefsinnigen und tröst-
lich-humorvollen Blick dorthin, wo es den Menschen am Rande der Gesellschaft „,hint und
vuan ned zsamgeht‘, die aber trotzdem fast jeden Morgen wieder aufstehen“79. Um die Einzig-
artigkeit dieser Gedichte hervorzuheben, sollen im Folgenden literaturhistorische Vorausset-
zungen, Parallelen, Einflüsse, Zusammenhänge und vor allem auch abgrenzende Aspekte

75
    Lothar Schreiner: Nestroy – Der Wiener Theaterpreis. Spezialpreis. Jurybegründung. URL:
https://www.nestroypreis.at/show_content2.php?s2id=60 [13.07.2021]
76
   Vgl. Ö1 Hörspielsuche; kostenlose Hörproben und die CD sind erhältlich unter: https://shop.orf.at/rso/de/alle-
orf-artikel/oe1/1288/christine-noestlinger-iba-de-gaunz-oamen-leit [13.07.2021]
77
   Eine kleine Auswahl der bereits stattgefundenen Events findet sich auf der eigens eingerichteten Facebook-
Seite, erstellt 2012: https://www.facebook.com/IbaDeGaunzOamenLeit [13.07.2021]
78
   Residenz Verlag: Ned, dasi ned gean do warat. Gedichte. URL: https://www.residenzverlag.com/buch/ned-dasi-
ned-gean-do-warat [13.07.2021]
79
   Residenz, Leit, online [13.07.2021]
                                                                                                             19
nähere Betrachtung finden, die Nöstlingers Mundartlyrik innerhalb der Traditionslinie dialek-
taler Dichtung zu positionieren versuchen.

        2.3.1 Dialektliteratur – ein kurzer Rückblick

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ist nach Wiesinger „für die normale Schriftlichkeit […] im
gesamten deutschsprachigen Raum die allgemeine deutsche Schriftsprache verbindlich“80. Die
mündliche Realisierung dieser Varietät gilt dabei im Gegensatz zum Dialekt als neutral und
unmarkiert, weshalb hinter einer schriftlichen Realisierung von Dialekt auch stets eine beson-
dere Absicht stehe.81 Wenngleich die Genres und Funktionen, die von Dialekt in literarisierter
Form im Laufe der Jahrhunderte bedient wurden, sich rückblickend als heterogenes Feld erwei-
sen, so waren den dialektal verfassten Dichtungen die Herausforderungen und Probleme ge-
meinsam, die eine bewusste Wahl für die von literatursprachlicher Norm abweichende sprach-
liche Variante mit sich bringt: Dialekt als gesprochene Sprache in eine geschriebene Form zu
übertragen bedeutet, dem ursprünglichen Sprachmaterial einen Teil seiner Spontaneität zu ent-
ziehen. Angesichts der lautlichen Besonderheiten von Dialekt bietet die Codierung mittels 26
Buchstaben in eine phonetische Schreibung gewissermaßen auch nur eingeschränkte Möglich-
keiten, die bei rezipierender Decodierung wiederum Schwierigkeiten aufwirft, da unter ande-
rem das verarbeitete sprachliche Material nur eingeschränkte, oft regionale Verbreitung auf-
weist. Darüber hinaus liegt der Anspruch spätestens seit dem 17. Jahrhundert darin, Dichtung
in möglichst vereinheitlichter ,hoher‘ Sprache zu realisieren; Abweichungen erfahren Abwer-
tung, gelten als ,nieder‘ oder ,schlechter‘.82
        Literatur in Mundart wird im deutschsprachigen Raum etwa seit Ende des 16. Jahrhun-
derts produziert und dient bis ins 18. Jahrhundert als abweichende Version gegenüber normier-
ter und normsprachlicher Literatur der Markierung des bäuerlichen Bereichs und des Komi-
schen. Erst im Sturm und Drang und in der Romantik wird dem Dialekt wieder höheres litera-
risches Potential zugesprochen. Das Interesse am Volkshaften und Nationalen wächst und es
entstehen Volksstücke, die sich auch städtischer Mundarten bedienen. Im Vormärz finden dia-
lektähnliche     Sprachformen        und     -elemente      ebenfalls    Einzug      in    die   zum      Teil

80
   Peter Wiesinger: Das Verhältnis von Dialekt und Schriftsprache in Österreich und die literarische Verwendung
von Dialekt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Bairisch-österreichischer Dialekt in Literatur und Musik 1650-
1900. Hrsg. von Christian Neuhuber und Elisabeth Zehetner. Graz: Grazer Universitätsverlag 2015. (= Allgemeine
wissenschaftliche Reihe. 42.) S. 9.
81
   Vgl. ebda.
82
   Vgl. Zeyringer, Österreichische Literatur, S. 313-314.
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