Im Schatten der Großmachtkonkurrenz - Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum - DMKN

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Im Schatten der Großmachtkonkurrenz - Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum - DMKN
Im Schatten
der Großmachtkonkurrenz
Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum
Julian Pawlak
                                                                                                                             Anlandung von Royal Marines

                                                                                                                                                         Foto: US Navy
V      or mehr als sechs Jahren ist mit dem
       Krieg in der Ukraine und der Annexion
der Krim durch Russland das mittlerweile
                                               Einflüsse erläutert und in einen erweiterten
                                               Kontext mit ausgewählten sicherheitspoli-
                                               tischen Herausforderungen im Ostseeraum
                                                                                                               führten Nationalfeiertag – eine großange-
                                                                                                               legte Darstellung russischer Seestreitkräfte
                                                                                                               und ihrer Fähigkeiten statt. Wie in den Vor-
weit verbreitete Bewusstsein über die Rele-    dargelegt.                                                      jahren wurden auch in diesem Jahr Einhei-
vanz von Landes- und Bündnisverteidigung                                                                       ten verschiedener Flottenteile in russischen
zurück auf die Tagesordnung von militäri-      Maritime Aktivitäten                                            Küstenregionen, insbesondere vor Kronstadt
schen wie sicherheitspolitischen Planern       auch während einer Pandemie                                     bei Sankt Petersburg, zusammengezogen.
gerückt. Insbesondere die Versorgung der                                                                       Die Durchfahrt von für die Verhältnisse der
östlichen NATO-Bündnispartner über den         Trotz der nach wie vor omnipräsenten Aus-                       Ostsee übergroßen, aufgetauchten strategi-
Seeweg (Sea Lanes of Communication) und        wirkungen der Covid-19-Pandemie lassen                          schen U-Booten durch die dänischen Meer-
auch über Landrouten (Stichwort: Suwałki       sich in der Ostsee großflächig Initiativen                      engen, wie in diesem Jahr eines Typs der
Gap, die 65 Kilometer schmale Landverbin-      von Seestreitkräften verschiedenster Ak-                        Oscar-II-Klasse, samt dazugehöriger spek-
dung zwischen Polen und Litauen) im Falle      teure beobachten. Die Entwicklungen der                         takulärer Fotoaufnahmen, hat dabei schon
eines Konflikts ist regelmäßig in den Vor-     letzten Monate zeigen, dass das Mare Bal-                       fast einen ähnlichen Traditionscharakter er-
dergrund gestellt worden. Die Kalkulation      ticum auch heute nichts von seiner bedeu-                       reicht. Im Anschluss an die Feierlichkeiten
einer möglichen militärischen Auseinan-        tenden Rolle in den sicherheitspolitischen                      führte auch die russische Seekriegsflotte mit
dersetzung innerhalb Europas lässt dabei       Überlegungen der Anrainerstaaten sowie                          Ocean Shield 2020 ein alljährliches Ostsee-
auf maritimer Ebene mehrere Prioritäten        insbesondere des nordatlantischen Vertei-                       Manöver mit über 30 beteiligten Marine-
der NATO sichtbar werden. Der Blick auf die    digungsbündnisses, der NATO, verloren hat.                      schiffen durch und demonstrierte damit ihre
Ostsee zeigt, dass sich die Allianz und ihre   Sichtbar wird dies unter anderem durch das                      Fähigkeiten in der Region.
Partnernationen, namentlich Schweden           im Juni dieses Jahres durchgeführte Manö-
und Finnland, die weite Bandbreite mari-       ver Baltops 2020 (Baltic Operations). Trotz                     Einflüsse
timer Fähigkeiten zu Nutze machen: von         limitierender Bedingungen – das Manöver                         der Großmachtkonkurrenz
erhöhter internationaler Kooperation und       fand ausschließlich zur See statt – kamen
Präsenz – auch während einer Pandemie          zum 49. Mal NATO-Marinen zusammen und                           Das Jahr 2014 wird nach wie vor gerne als
– bis hin zur außenwirksamen Rückgewin-        wurden durch ihre Partner aus Schweden                          Zäsur der internationalen Ordnung be-
nung von Fähigkeiten zur hochkomplexen,        und Finnland ergänzt. Mit knapp 30 seege-                       schrieben. Darauf aufbauend muss indes
dreidimensionalen Seekriegführung und          henden Einheiten, zusätzlichen Flugzeugen                       festgehalten werden, dass sich auch in den
der damit verbundenen konventionellen          und Hubschraubern sowie insgesamt über                          fast sieben Jahren nach den Ereignissen in
Abschreckungsfähigkeit. Maritim-strate-        3000 beteiligten Soldatinnen und Soldaten
                                                                                               Foto: US Navy

gische Überlegungen in der Ostseeregion        sollte einerseits Präsenz gezeigt, anderseits
beinhalten demnach mehr als „nur“ das          aber auch der Zweck verfolgt werden, selbst
Sicherstellen von Versorgungswegen nach        unter außergewöhnlichsten Bedingungen
Klaipeda, Riga und Tallinn. Hervorzuheben      die eigenen Verpflichtungen für die regio-
sind heute unter anderem auch die Auswir-      nale Sicherheit zu unterstreichen. Nur we-
kungen eines neu aufgeflammten, globalen       nige Wochen später fand im Rahmen des
Großmachtwettbewerbs (great power com-         Tags der Russischen Marine – dem durch
petition). Im Folgenden werden einige dieser   Wladimir Putin im Jahr 2013 wiedereinge-

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Im Schatten der Großmachtkonkurrenz - Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum - DMKN
der Ukraine weitere Entwicklungen in der
(über-)regionalen Sicherheitspolitik abge-
zeichnet haben. Gewiss war der Diskurs der
vergangenen Jahre von der nahezu allge-
genwärtigen „Rückbesinnung“ der west-
lichen Staatengemeinschaft bestimmt.
Sichtbar wurde dies durch Beschlüsse der
NATO, besonders nach den Gipfeln von
Warschau (2016), Brüssel (2018), und Lon-
don (2019), aber auch durch die Initiativen
einzelner Staaten, wie unter anderem den
Bestrebungen der Deutschen Marine im
Ostseeraum und an der Nordflanke.
                                                  Foto: US Navy
   Darüber hinaus haben sich jedoch insbe-
sondere in der jüngeren Vergangenheit die
Auswirkungen der Großmachtkonkurrenz
zwischen den USA und der Russischen Föde-                         SNMCMG 1 während Baltops 2019 in der Kieler Förde
ration in der Region bemerkbar gemacht. So
haben Anschuldigungen der Vereinigten Staa-                       Gefechtsköpfe und strategischen Trägersys-           tägliches Aufkommen von über 2500 Schiffen
ten und westlicher Nachrichtendienste gegen-                      teme für Nuklearwaffen der beiden Staaten.           (vor der derzeitigen Pandemie). Gleichsam sind
über Russland dazu geführt, dass die USA im                       Das Rüstungskontrollabkommen steht in der            die Verbindungen der Ostseestaaten durch
Sommer 2019 aus dem INF-Vertrag (Interme-                         Tradition der vorherigen Verträge Start I und        Seekabel für den Datentransport und die Ener-
diate Range Nuclear Forces) zur Abschaffung                       Start II und könnte 2021, anstatt auszulaufen,       gieversorgung, aber auch durch Pipelines von
landgestützter Raketen und Marschflugkör-                         um fünf Jahre verlängert werden – und so aus-        vitalem Wert. Hinsichtlich letztgenannter ist
per mit kurzer und mittlerer Reichweite (500                      reichend Zeit zur Aushandlung eines neuen,           seit mehreren Jahren der Ausbau der Pipeline
bis 5500 km) ausgetreten sind. Die Vorwürfe                       gemeinsamen Rüstungskontrollvertrages lie-           Nord Stream 2 ein beständiges Thema. Dies
basieren auf Informationen, Russland würde                        fern. Russische wie amerikanische Positionen         gilt nicht bloß für nationale, sondern auch für
durch sein Waffensystem des Typs 9M729,                           sind in diesem Rahmen derzeit jedoch noch            internationale Kreise. Partner und Verbündete
besser bekannt als Iskander-K, gegen den                          zu verschieden, um einen neues Abkommen              zeigten sich oft verwundert, gar verwirrt, über
1987 geschlossenen Vertrag verstoßen. Dies                        abzuschließen. Zusätzliche Brisanz liefert die       das notorische Festhalten der Bundesrepublik
wird von der Gegenseite bestritten. Fortge-                       ungeklärte Rolle Chinas als Militärmacht mit         am „rein wirtschaftlichen“ Ausbau der Pipe-
führt wird die Auflösung langjähriger Vertrags-                   eigenem Atomwaffenarsenal.                           line – konträr zu den parallelen sicherheitspo-
werke mit der Ankündigung der Vereinigten                           Die drei genannten Beispiele zeichnen ein          litischen Bekenntnissen Deutschlands in der
Staaten, aus dem 1992 geschlossenen Open-                         düsteres Bild der bilateralen Beziehungen bei-       Region, verkörpert durch die Marine, die Luft-
Skies-Vertrag auszutreten. Dieses zwischen                        der Großmächte und werfen ihre Schatten un-          waffe oder das Heer. Doch auch in diesem Fall
ehemals verfeindeten Machtblöcken, NATO-                          mittelbar auf Europa, den Ostseeraum und die         machen sich nunmehr die Auswirkungen der
Mitgliedern und früheren Warschauer-Pakt-                         angrenzenden Nationen. Während der Open-             global wirkenden Großmachtpolitik bemerk-
Staaten, vereinbarte Abkommen galt jahre-                         Skies-Vertrag grundsätzlich einen Vertrauens-        bar. Mit den Androhungen von wirtschaftli-
lang als vertrauensbildende Maßnahme mit                          nachweis der Vertragsparteien widerspiegelt,         chen Sanktionen durch die USA beginnen auch
Vorbildcharakter. Der auch nach dem anste-                        behandeln die beiden weiteren Abkommen               Stimmen innerhalb der Bundesregierung da-
henden Austritt der USA weiterbestehende                          ganz konkrete militärische Risiken für die Re-       mit, die politische Dimension des strategisch
Vertrag erlaubt gegenseitige Überflüge über                       gion. Der aufgekündigte INF-Vertrag eröffnet         angelegten Pipeline-Projektes anzuerkennen.
den Territorien der Vertragspartner zur Auf-                      den russischen Streitkräften die Möglichkeit,        Tatsächlich muss sich dieser Disput – unab-
nahme von Luftbildern unter vereinbarten                          Waffensysteme zu stationieren, die weit nach         hängig vom derzeitigen US-Präsidenten – nä-
Konditionen („Ein offener Himmel von Van-                         Westeuropa wirken können. Ein etwaiges Aus-          her vor Augen gehalten werden. Die drohen-
couver nach Wladiwostok“). Auch in diesem                         laufen von New Start wiederum könnte einen           den Sanktionen stammen nicht von einem
Fall werden der russischen Seite Ungereimthei-                    neuen Rüstungswettlauf auf der nuklearen             beliebigen Bündnispartner, sondern, im Falle
ten in der Erfüllung des Vertrags vorgeworfen,                    Ebene zur Folge haben.                               eines militärischen Konfliktes in der Region,
wobei bereits in den vergangenen Jahren Dis-                        Unberücksichtigt lassen werden darf im             von dem vermutlich entscheidenden sicher-
pute über ausgewählte Überfluggebiete keine                       Rahmen dieser Betrachtung nicht, dass die            heitspolitischen Akteur.
Seltenheit waren. Schließlich steht derzeit die                   beschriebene Großmachtkonkurrenz auch
Verlängerung des New-Start-Vertrags (Strate-                      Auswirkungen auf weitere Ebenen, neben der           Maritime Fähigkeiten
gic Arms Reduction Treaty) im Raum. Der 2010                      militärischen, hat. Die Ostsee ist für alle Anrai-   Russlands im Ostseeraum
als Teil des missglückten Resets der Beziehun-                    nerstaaten von großer wirtschaftlicher Bedeu-
gen zwischen den USA und Russland geschlos-                       tung. Fährverkehr, Fischerei, Tourismus und          Hinsichtlich der militärischen Herausforde-
sene Vertrag behandelt die Begrenzung der                         besonders der Gütertransport sorgen für ein          rungen in der Region hat sich die Russische

                                                                                                                               Teilnehmer der Übung Baltops 2020

MarineForum 12-2020                                                                                                                                              23
Im Schatten der Großmachtkonkurrenz - Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum - DMKN
Eine B-52 der USAF im Tiefflug
über der dänischen Esbern Snare und
der schwedischen Karlstad

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Föderation wieder in den Fokus der sicher-        körpern, erfüllt den Zweck der Küsten- und       sowie einer breiten Palette an Jagdflugzeu-
heitspolitischen Bedenken der NATO und ih-        Landesverteidigung bei gleichzeitiger Abschre-   gen, Bombern und Hubschraubern als Teil
rer Partner manövriert. Die entsprechenden        ckung ausreichend. In der Baltischen Flot-       einer groß aufgestellten Marinefliegerkom-
Fähigkeiten des russischen Militärs werden        te wird dies vornehmlich durch die neueren       ponente. Insgesamt müssen die genannten
im Ostseeraum insbesondere durch die nu-          Korvetten der Typen Stereguschtschi (derzeit     Elemente in einem größeren Zusammen-
merische Dominanz, verteilt auf den westli-       vier Einheiten), Bujan-M und Karakurt (jeweils   spiel der bereits genannten breiten Landes-
chen Militärdistrikt und die Oblast Kalinin-      zwei) unterstrichen. Dass nur die erstgenann-    verteidigung gesehen werden. Bezeichnet
grad, artikuliert. Dabei haben vornehmlich        ten über eine ausreichende Hochseefähigkeit      wird dies als Modell einer „geschichteten
die unlängst vorangeschrittene Modernisie-        verfügen, steht den genannten strategischen      Verteidigung“ (layered defence) des russi-
rung der russischen Landstreitkräfte und ih-      Zwecken nicht im Weg. Vielmehr fällt in die-     schen Territoriums. Diese kombiniert die
re verhältnismäßig hohe Konzentration im          sem Rahmen die marginale Ausstattung der         maritime Komponente in Form der Balti-
Westen des Landes Aufmerksamkeit erregt.          Flotte hinsichtlich ihrer Unterseefähigkeiten    schen Flotte mit den Installationen in Kali-
Vorwiegend werden entsprechende Risiken           ins Auge: Allein ein älteres U-Boot der Kilo-    ningrad sowie den im westlichen Militärdi-
im Zusammenhang mit einer möglichen In-           Klasse steht zur Verfügung und muss regel-       strikt stationierten Streitkräfteteilen.
vasion der drei baltischen Staaten dargelegt,     mäßig um Einheiten der Nordflotte ergänzt          Regelmäßige Erwähnung finden dabei die
beispielsweise in einem Bericht der amerika-      werden.                                          Flugabwehr- und Küstenverteidigungssys-
nischen Denkfabrik Rand aus dem Jahr 2016,          Elementare Unterstützung finden die            teme im Kontext von vermeintlich unbe-
in welchem ein Durchmarsch russischer Trup-       seegehenden Einheiten durch die inner-           tretbaren A2/AD-Zonen (anti-access/area
pen nach Tallinn oder Riga innerhalb von 60       halb Kaliningrads stationierten Küstenver-       denial), in denen kaum oder nur unter Ri-
Stunden als möglich erachtet wird. An die-        teidigungsbatterien (vor allem der Typen         siko des totalen Verlustes operiert werden
ser Stelle soll jedoch keine rein zahlenmäßige    Bastion und Bal), Installationen Elektroni-      könne. In den vergangenen Jahren wurde
Auflistung der Streitkräfte erfolgen. Vielmehr    scher Kampfführung (wie dem Jammer               durch diese Hervorhebung ein für die rus-
wird versucht, möglichst prägnant den stra-       Murmansk-BN) sowie in der weitreichen-           sische Führung (und Industrie) vorteilhaf-
tegischen Ansatz auf der maritimen Ebene          den Luftraumverteidigung. Letztere defi-         tes Narrativ verbreitet. Mittlerweile konn-
ins nähere Licht zu rücken.                       niert sich aus mindestens zwei mit Flugab-       ten die Darstellungen, vielmals verbildlicht
  Ein Blick auf diese Komponente lässt dem-       wehrkapazitäten (wie den Systemen S-400,         als zirkelhaft gezeichnete Kreise auf den
entsprechend die Einordnung eines abgewan-        S-300 und Tor-M2) bestückten Divisionen,         geografischen Karten des Ostseeraumes,
delten Bildes zu. Anstatt des in der Vergangen-
heit angenommenen Ziels der Seekontrolle
durch die russische Marine oder aber eines                                                                                   Russische S-400
„Ausbrechens“ wie zu Zeiten des Kalten Krie-
ges, wird die Ostsee heute mehr als unter-
stützendes Element einer „geografischen
Verteidigungszone“ der Russischen Föderation
verstanden. Dies impliziert eine regionale Ver-
teidigungsstrategie, die sich jedoch durchaus
auf offensive Mittel stützt, um Staaten und
Akteure in der Region abzuschrecken. Wurde
der Zustand der russischen Marine zuweilen
belächelt, scheinen die Verantwortlichen aus
der Not der geschrumpften Flotte und dezi-
mierten Schiffsbauindustrie eine Tugend ge-
macht zu haben: Die Konzentration auf kleine-
re, aber für ihre Verhältnisse durchaus fähige
Einheiten, häufig bestückt mit Marschflug-

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Im Schatten der Großmachtkonkurrenz - Sicherheitspolitische Herausforderungen im Ostseeraum - DMKN
ein wichtiger Schritt. Es wird deutlich: Die
                                                                                                                  Auswirkungen der Großmachtkonkurrenz
                                                                                                                  und der Auflösungen der dargelegten in-
                                                                                                                  ternationalen Verträge werfen ihre Schat-
                                                                                                                  ten nicht nur auf den Ostseeraum, sondern
                                                                                                                  auf ganz Europa. Diese Ausführungen un-
                                                                                                                  terstreichen, weswegen sich auch die Bun-
                                                                                                                  desrepublik nicht ihrer überregionalen Ver-
                                                                                                                  antwortung entziehen kann. Die Diskussion
                                                                                                                  um Nord Stream 2 behandelt nicht nur die
                                                                                                                  Frage pro oder contra, USA oder Russland.
                                                                                                                  Sie beinhaltet vor allen Dingen auch den
                                                                                                                  Gegenstand gelebter europäischer Solida-
                                                                                                                  rität. Eine Flucht Deutschlands in die Ecke
                                                                                                                  eines zu groß geratenen, neutralen Akteurs
                                                                                                                  ist nicht mehr möglich.
                                                                                                                     Obgleich der gesteigerten Konzentration
                                                                                                                  auf die sicherheitspolitischen und beson-
                                                                                                                  ders auch maritimen Herausforderungen
                                                                                                                  in der Region: Im Lichte des globalen Groß-
                                                                                                                  machtwettbewerbs steht weiterhin großes
                                                                                                                  Optimierungspotenzial hinsichtlich allge-
                                                                                                                  meiner militärischer Fähigkeiten und der
                                                                                                                  internationalen Zusammenarbeit der Ost-
                                                                                                                  seeanrainer im Raum. Dies gilt nicht bloß
                                                                                                                  für die überregionale Ebene mit Instituti-
                                                                                                                  onen wie NATO und EU, sondern auch für
                                                                                                                  sub-regionale Verknüpfungen mit Nach-
                                                                                                                  barstaaten. Dabei sind beispielsweise er-
                                                                                                                  höhte Bemühungen hinsichtlich einer über-
                                                                                                                  greifenden Maritime Domain Awareness
                                                                                                                  (MDA) empfehlenswert. Diese könnte al-
                                                                                                                  le angrenzenden NATO-Mitglieder sowie
                                                                                                                  Schweden und Finnland umfassen, um ein
                                                                                                                  kontinuierliches und detailliertes Lagebild
                                                                                                                  der Ostsee zu garantieren. Ferner bietet es
                                                                                                                  sich an, die drei baltischen Staaten in dieser
                                                                                                                  Entwicklung, aber auch darüber hinaus, in
Foto: US Navy

                                                                              Deutscher Sea Lynx über der         der Stärkung ihrer maritimen Fähigkeiten,
                                                                       USS Mount Whitney, der dänischen           zu ertüchtigen. In diesem Kontext wären
                                                                    Otto Sverdrup und der Fregatte Lübeck         beispielsweise verstärkte, gemeinsame Be-
                                                                                                                  schaffungsvorgänge im Zuge einer abge-
                                                                                                                  stimmten Fähigkeitsverteilung zielführend,
                von internationalen Wissenschaftlern             wehrsystems, ausgestattet mit derzeit für        um den Bedarf der kleinen Staaten und der
                und Militärs entmystifiziert werden. Da-         das Modell verfügbaren Flugkörpern, folg-        Allianz effizient zu decken.
                bei spielt insbesondere die Korrektur von        lich als nicht größer als 20 bis 35 Kilometer,      Abschließend bleibt zu betonen, dass sich
                Reichweiten verschiedener Waffensyste-           sollte sich ein Ziel im Tiefflug nähern.         die Nationen rund um die Ostsee mit den si-
                me und tatsächlich effektiver Wirkungs-                                                           cherheitspolitischen Entwicklungen und der
                radien in Bezug auf die Zielerfassung eine       Fazit und Ausblick                               damit einhergehenden Brisanz auf absehba-
                Rolle. So kann festgehalten werden, dass                                                          re Zeit arrangieren müssen. Gleichermaßen
                proklamierte Maximalreichweiten weder            Die gewachsene Aufmerksamkeit für den            sollte weiterhin aktiv gegen Narrative vorge-
                natürliche Hindernisse noch aktive Abwei-        Ostseeraum, für die Verteidigungsfähig-          gangen werden, welche die Absicht verfolgen,
                chungen der Flugrouten (z.B. Kurskorrektu-       keiten der Bundesrepublik Deutschland            den sicherheitspolitischen Diskurs in ein un-
                ren der Flugkörper) miteinbeziehen. Auch         und der NATO überhaupt, sind ein positi-         vorteilhaftes Licht zu rücken. Denn: Ähnlich
                das Zusammenspiel mit externen Sensoren          ves Signal hinsichtlich der Anerkennung          wie die behandelten A2/AD-Zonen steht mit
                und Radarsystemen wird gerne außer Acht          der sicherheitspolitischen Realität des 21.      den kürzlich vorgestellten Hyperschallrake-
                gelassen. Damit sollen an dieser Stelle die      Jahrhunderts. In diesem Rahmen muss be-          ten Russlands bereits die nächste Herausfor-
                militärischen Fähigkeiten Russlands keines-      rücksichtigt werden, dass besonders die          derung im Raum. Dieser „Hyper-Hype“ wird
                wegs unterschätzt werden. Solche Analy-          Ostsee nicht als separates Operationsge-         nicht nur militärisch, sondern auch diskursiv
                sen helfen jedoch dabei, die Komponenten         biet ohne jedweden äußerlichen Einfluss          verteidigt werden müssen.                  L
                und von ihnen ausgehende Risiken in ein re-      betrachtet werden kann. Aus diesem Grund
                alistischeres Bild zu rücken. Beispielhaft be-   ist der Ansatz einer übergreifenden Nord-        Julian Pawlak ist Wissenschaftlicher Mitar-
                schreibt eine Studie der schwedischen Ver-       flanke, welche Skandinavien, die Norwegen-       beiter am Center for Maritime Strategy &
                teidigungsagentur FOI in diesem Rahmen           see und den Nordatlantik in einem umfas-         Security des Instituts für Sicherheitspolitik
                die effektive Reichweite des S400-Flugab-        senden strategischen Bild miteinbezieht,         an der Universität Kiel (ISPK).

                26                                                                                                               MarineForum 12-2020
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