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Aufbruch in eine neue
Gesundheitsgesellschaft
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Mehr als eine Zahlstelle
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Passgenau
Im Fokus: Die Krankenversicherung von morgen
Ausgabe
2 / 2019
Echo Editorial/Inhalt
Henry Ford Folgen Sie uns auf Twitter:
Schnellere
twitter.com/CSSPolitik
Pferde Andrea Belliger
Her mit
«Wenn ich die Menschen gefragt hätte, was sie wollen,
hätten sie gesagt: schnellere Pferde.» Rollenwandel Philomena Colatrella ist
Amerikanischer Automobilpionier (1863–1947) dem auf allen Ebenen
Vorsitzende der Konzernleitung
der CSS Versicherung.
Wandel Inhaltsverzeichnis Wie war die Welt doch noch überschaubar, als sich die Krankenkassen
«Wir müssen einen ausschliesslich ihrer Kernaufgabe widmeten: Jemand schickte eine
Wandel in unseren Köpfen 4 Die Krankenversicherung von morgen Arzt- oder Spitalrechnung ein, und die Kasse – nomen est omen –
Annina Hess-Cabalzar Aufbruch in eine neue bezahlte. In den Anfängen gar noch bar auf die Hand. Und wohl kaum
schaffen. Impulsgeber Gesundheitsgesellschaft jemandem wäre es bis vor einigen Jahren in den Sinn gekommen,
Es herrscht dieser neuen Kultur
muss der Gesundheits-
7 Standpunkt
Gesundheit muss ganzheitlich
von seiner Krankenversicherung mehr zu erwarten, als dass sie die ein-
geschickten Rechnungen begleicht. Doch so rasend schnell die
Unsicherheit
technologische Entwicklung in den vergangenen zwei Jahrzehnten die
kunde sein.» gedacht werden
Welt umgepflügt hat, so gross ist auch der Wandel, dem die Kranken
eHealth-Expertin, 8 Hintergrund versicherungen unterworfen sind. Die Gesundheit ist – je nach Blickwin-
«Handelszeitung», Mehr als eine Zahlstelle kel – zu einem Konsum- oder gar zu einem Lifestylegut geworden.
«Grundsätzlich herrscht 16.5.2018
10 Praxis Die Ansprüche der Versicherten wachsen kontinuierlich. «Artfremde»
Unsicherheit hinsichtlich Partnerschaft zu Gunsten Anbieter wie zum Beispiel Amazon wollen sich ein Stück vom Gesund-
heitskuchen abschneiden. Die digitalen Möglichkeiten scheinen un-
dem Behandlungsangebot Rheumabetroffener
begrenzt. Und die Krankenversicherungen stehen mittendrin. Sie wer-
und dem Weg, den man 11 ie andere Sicht
D den sich deshalb nicht nur über ihre Produkte, sondern immer mehr
Yamin Gröninger Wandel als steter Begleiter
wählen soll.» auch über ihre Dienstleistungen und Services definieren müssen. Es gilt,
12 Im Gespräch laufend die Kundenbedürfnisse zu antizipieren und mit Angeboten
Café-Med-Mitbegründerin,
SRF, 28.8.2018 Chancen nutzen «Krankenkassen bräuchten
eine Taggeldversicherung»
zu reagieren, die den Versicherten letztlich einen Mehrwert bieten. Dazu
werden sich die Versicherer mehr und mehr mit anderen Anbietern aus
dem Gesundheitswesen vernetzen müssen.
«Nutzen die Krankenversicherer die Chancen, Persönlich
16
Nächtliche Asthma-Symptome
profitieren auch die Kunden: Mit individuellen, per App überwachen
Die Krankenversicherungen werden so kontinuierlich in eine neue
präventiven Gesundheitsprogrammen verbessern Rolle schlüpfen – weg von der ausschliesslichen Zahlstelle hin zum ver-
Santé!
18 lässlichen Gesundheitspartner. Ziel muss es sein, die Automatisierung
sie ihre Lebensqualität. Zugleich lässt sich Die Krankenkasse – voranzutreiben, die digitalen Möglichkeiten im Sinne der Versicherten
mit den innovativen Ansätzen der Anstieg der dein Freund und Helfer sinnvoll einzusetzen und diese zu befähigen, sich besser im Gesundheits-
Gesundheitskosten eindämmen.» 19 Wissenschaft system zurechtzufinden. Eine Trilogie, die mithilft, die Kosten senken
Krankenversicherungen im oder zumindest dämpfen zu können.
Leiterin Insurance Business Development bei EY Schweiz,
Gesundheitsmarkt der Zukunft
Januar 2017 In der vorliegenden Ausgabe von «im dialog» zeigen wir auf, wohin die
Reise gehen könnte und wie die Krankenversicherungen den Rollen-
wandel packen können.
Urs Brügger
Paradigmenwechsel
Die Beiträge finden
Sie auch online
unter dialog.css.ch
«Die Krankenversicherung schuldet dann [bei einem allfälligen Impressum
Wechsel zum ‹Suva-Modell›] dem Versicherten eine zweckmässige Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern,
E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Bettina Vogel, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik:
Behandlung und nicht wie bisher die Kostenerstattung dafür.» Infel AG, Michelle Russi (Text) und Angélique El Morabit (Art Directorin und Editorial Design) | Bildnachweise: Samuel Trümpy, Alex Colle,
Goran Zec, Thomas Zimmermann, mit freundlicher Unterstützung Restaurant Einstein, Aarau, Markus Bertschi, Claudio Baeggli,
mukhina1/123RF, ALL best fitness is HERE/Shutterstock. | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg.
Gesundheitsökonom, «Blick», 5.10.2014 Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert.
2 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 3
Die Krankenversicherung von morgen
der klassischen Zahlstelle hinausgehen (vgl. Boxen).
sicherungen besonders. Schon heute übernehmen
hobenen Megatrends betreffen die Krankenver-
Die Megatrend-Map zeigt Veränderungsprozesse
versicherer ihre Kunden
und die Bewegungsemp-
men und Kostenbeteili-
unterstützen Kranken-
Mit Bonusprogram-
dabei, einen gesunden
Megatrends verändern unsere Gesellschaft langfristig und
Lebensstil zu pflegen.
in Wirtschaft und Gesellschaft. Die hervorge-
gungen an Sportabos
Preventive
2017
76 %
Krankenversicherungen Rollen, die über jene
Anteil der Personen,
körperlich aktiv sind
fehlungen erfüllen.
die in ihrer Freizeit
tiefgreifend. Welche Megatrends beeinflussen den
Health
Gesundheitsbereich? Und welche Schlussfolgerungen
2002
62%
können die Krankenversicherungen daraus ziehen?
3
Von Christian Rauch, Zukunftsinstitut
Aufbruch in eine neue
GESUNDHEIT
3
KONNEKTIVITÄT
Gesundheitsgesellschaft
INDIVIDUALISIERUNG
W
ir leben in der Gesundheitsgesell- wachsenden Gesundheitsmarkt. Neben neuen Tech-
schaft. Nie zuvor hatte Gesund- nologien und wissenschaftlichen Erkenntnissen, die für
heit einen so hohen Stellenwert Innovationen sorgen, entstehen rund um Ernährung,
GESUNDHEIT
wie heute. Die Ursachen dafür Körper, Sport und Lebensqualität neue Nachfrageim-
sind vielfältig: Fortschritten in der pulse – gerade in einer älter werdenden Gesellschaft.
Medizin, insgesamt hohen Ge- Wir leben längst in einer Gesundheitsgesellschaft.
sundheitsstandards und verbesserter Ernährung haben Das trifft auf kaum ein Land so sehr zu wie auf die
wir es zu verdanken, dass der Gesundheitszustand und Schweiz. Mit Ausnahme der USA wird nirgends so viel
die Lebenserwartung der Bevölkerung deutlich stei- in die Gesundheit investiert wie hier: Laut der Konjunk-
gen. Die Folge: Mit zunehmendem Alter rückt auch turforschungsstelle KOF der ETH Zürich beliefen sich
der Wunsch nach einem gesunden Leben verstärkt die Gesundheitsausgaben 2018 auf den Rekordwert
2
1
in den Fokus von immer mehr Menschen. Durch den von über 86,5 Milliarden Franken.
Wohlstandszuwachs können wir zudem Geld und Zeit
in Gesundheitsleistungen investieren, die früher un- Individuelles Gesundheitsmanagement
denkbar oder purer Luxus waren. Die Abwesenheit In einer immer stärker von Individualisierung gepräg-
oder immer bessere Behandlung von Krankheiten, die ten Gesellschaft ist dieser Trend auch ein Effekt einer
Health Literacy ist die
in ihrem täglichen Leben
stützende Dienstleistun-
cherungen bieten unter-
problematische (45%)
ausgezeichnete (10%)
gesundheitsförderliche
medizinische Auskunft,
Gesundheitskompetenz
Fähigkeit einer Person,
treffen. Krankenversi-
unzureichende (9%)
ausreichende (36%)
noch vor wenigen Jahren zu massiven Einschränkun- zunehmend eigenverantwortlichen Gesundheitsvor-
Zweitmeinungen und
digitale Ratgeber wie
Anteil der Personen,
Entscheidungen zu
gen oder einem kürzeren Leben geführt haben, gibt sorge. Mit einem steigenden Gesundheitsbewusstsein
myGuide der CSS.
gen: telefonische
Literacy
Menschen heute die Möglichkeit, sich wächst beispielsweise der Anteil derer, die ausreichend
Health
die über eine
ein wesentlich anspruchsvolleres Ge- körperlich aktiv oder trainiert sind, wie die aktuelle
verfügen.
In Kürze sundheitsverständnis zu leisten. Dazu Schweizerische Gesundheitsbefragung zeigt. Demzu-
liefert heute eine Vielzahl an Playern auf folge achten auch 68 Prozent der Bevölkerung auf ihre
2
• Die Gesundheit hat dem Gesundheitsmarkt ein immer brei- Ernährung. Der Anteil der Personen, die nicht mehr
heute eine immer teres Angebot. Trendforscher sprechen als viermal in der Woche Fleisch essen, ist zwischen
grössere Bedeutung. daher vom Megatrend Gesundheit. 1992 und 2017 um 8 Prozentpunkte auf 65 Prozent
Ob Konsum oder Ernährungskultur, gestiegen. Körperliche und geistige Fitness, das eigene
• Die Digitalisierung Arbeitsorganisation, Freizeitgestaltung Wohlbefinden und die gesundheitliche Zufriedenheit
und die Megatrends oder Urlaubsplanung – Gesundheit ist werden zur Schlüsselressource in der Gesellschaft.
Gesundheit, Indivi- in jedem erdenklichen Kontext ein be-
KONNEKTIVITÄT
dualisierung und stimmendes Thema. Diese Entwicklung Digital Health
verändert das Verhalten der Menschen Damit wird Gesundheit auch zu einem Konsumgut.
Konnektivität verän-
und damit die Nachfrage nach Ge- Deutlich wird das etwa am Self-Tracking: Im Streben
INDIVIDUALISIERUNG
dern die Erwartun-
Beim Digital-Health-Index
suchten Ländern. Gründe:
Asthma-Anfällen dienen
des Föderalismus; digitale
sundheitsleistungen. Das stellt auch nach Gesundheit, Fitness und Lebensqualität werden
Konstellationen aufgrund
Computerwissenschaft
digitalen Gesundheits-
Team mit interdiszipli-
Gesundheitsdienste erst
gen der Konsumen-
«digitale Biomarker»,
Universität St. Gallen,
belegt die Schweiz den
Im CSS Health Lab
in den Fachbereichen
komplizierte politische
14. Platz von 17 unter-
Krankenversicherungen vor neue Her- digitale Anwendungen für Smartphones, Sport-Arm-
der Psychologie und
Früherkennung von
interventionen. Das
in Einführungsphase.
tungserbringern an
Patienten und Leis-
närem Hintergrund
der ETH Zürich, der
forscht die CSS mit
ten und Patienten.
beispielsweise zur
wie sie in Zukunft
ausforderungen und lässt ihnen im Ge- bänder oder andere tragbare Geräte zum Mittel der
erforscht dabei
sundheitssystem von morgen eine ver- Wahl, um körperliche Leistungen und Gesundheits-
Digital
Health
• Die Krankenversiche- änderte Rolle zukommen. werte aufzuzeichnen und auszuwerten. Was vorder-
könnten.
rungen haben die gründig wie ein Lifestyle-Hype wirkt, ist bei näherer
Chance, sich vom blos- Gesundheit als Investment Betrachtung Teil eines grösseren Ganzen. Nämlich der
1
sen «Provider» zur Dass Gesundheit heute eine so hohe Digitalisierung der Medizin und der Gesundheit. Heu-
wirklichen Vertrauens- Bedeutung hat, führt zu einem massiv te sind mit digitaler Technologie riesige Hoffnungen
Quellen: BAG, Bevölkerungsbefragung «Erhebung Gesundheits-
instanz zu entwickeln. kompetenz 2015»; Bertelsmann Stiftung, 2018; BFS, Schweizerische
Gesundheitsbefragung, 2018; Zukunftsinstitut.
4 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 5
Die Krankenversicherung von morgen Standpunkt
verbunden: Künstliche Intelligenz soll dabei helfen, immer komplexeren Gesundheitssystems und vielfäl- Das Gesundheitswesen ist von einem weitreichenden
Herzinfarkte, Krebs und andere Krankheiten zu besie- tigen Angebots kaum gelingen. Als Patienten sind sie Wandel betroffen. Nur wenn wir Gesundheit ganz-
gen. Selbstlernende Systeme werden die Zukunft der nach wie vor abhängig von kompetenten Ärzten und
heitlich denken, können wir die Leistungsfähigkeit des
Medizin massiv mitbestimmen: anderen Fachleuten, zunehmender interprofessionel-
• beim Monitoring, also der Überwachung von Körper- ler Kooperation der Gesundheitsberufe, hohen Quali- Gesundheitssystems steigern.
daten, die künftig automatisch durchanalysiert wer- tätsstandards in verschiedenen Versorgungsbereichen,
den; einer Vielzahl von Healthcare-Providern etc.
• bei der Diagnostik, wo lernfähige Algorithmen schnel-
ler als Ärzte die richtige Diagnose stellen und so eine Krankenversicherer von morgen Gesundheit muss ganz-
heitlich gedacht werden
bessere anschliessende Behandlung ermöglichen; Die beschriebenen Trends werden nicht nur zur Her-
• bei der Suche nach passenden Behandlungsverfah- ausforderung, sie sorgen zugleich für neue Chancen
ren und neuen Arzneimitteln kann Künstliche Intelli- der Versicherer. Die Gesundheitskonsumenten for-
genz (KI) auf Basis riesiger Datenmengen aus Mess- dern eine Demokratisierung ein und erzeugen eine
geräten und Gen-Scans wesentlich effizienter sein. Dynamik im Markt, die weit über das hinausgeht, was
Die Marktforscher von Frost & Sullivan prognosti- die Liberalisierung bisher hervorgebracht hat. Das hat
zieren daher, dass sich der Markt für KI-Systeme im Be- einen nachhaltigen Einfluss auf die Qualifizierung der
reich der Gesundheitsversorgung bis 2022 auf 6 Milli- Angebote der Krankenversicherer. Sie müssen sich Patienten werden zunehmend zu wird es auf Dauer unmöglich sein, den
arden Dollar verachtfacht. Wie bei vielen Innovationen angesichts neuer und steigender Kundenbedürfnis- Maximilian Brandt ist Leiter Experten. Welche Herausforderungen steigenden Kundenerwartungen gerecht
im Gesundheitswesen geht es um die Hoffnungen der se nicht nur breiter aufstellen. Sie müssen vor allem der Abteilung Strategie & Planung bringt das mit sich? zu werden. Die verschiedenen Marktteil-
Menschen auf ein gesünderes, längeres Leben. Inzwi- dazu beitragen, dass auch bei einem erweiterten Leis- der CSS Versicherung. Durch die zunehmende Vernetzung und nehmer müssen sich vernetzen, um ihren
schen mischen nicht nur Technologie- und Pharma- tungsspektrum hohe Qualitätsmassstäbe gelten – bei die höhere Verfügbarkeit von Informatio- Kunden einen unmittelbaren Mehrwert
konzerne in dem Zukunftsmarkt mit, sondern auch gleichzeitig klugem Kostenmanagement. Zugleich nen werden Menschen selbstbestimmter. zu bieten. Dafür muss der Kunde konse-
eine Vielzahl an Start-ups. entsteht im digitalen Zeitalter eine neue Gesundheits- Patienten wollen aktiv an den Entschei- quent in den Mittelpunkt gestellt werden.
Doch man muss gar nicht so weit gehen, um zu kultur, in der Vertrauen eine Schlüsselrolle spielt. dungen in Bezug auf ihr Gesundheitsver-
sehen, dass digitale Vernetzung grundlegende Ver- Das betrifft vor allem den Digital-Health-Bereich. halten und ihre Gesundheitsprobleme War das bisher nicht der Fall?
änderungen im Gesundheitssystem erzeugt, die auch Es geht jedoch nicht nur um den Datenschutz im Zuge beteiligt sein. Die verwendeten Tools und Kundenbedürfnisse zu erkennen, war
den Krankenversicherern eine neue Bedeutung zu- des flächendeckenden Einsatzes von telemedizini- Dienstleistungen müssen einfach sein, schon immer von zentraler Bedeutung.
kommen lassen. Der Megatrend Konnektivität ver- schen oder KI-Anwendungen. Langfristig steuern wir schnell, transparent und umfassend. Allerdings wurde bislang häufig an
ändert die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen im Gesundheitswesen auf eine Plattformökonomie Internet, Chatbots, Wearables und Apps den Branchengrenzen Halt gemacht –
und das Angebot von Gesundheitsversorgern. In der zu: Mit zunehmender Vernetzung von Unternehmen ermöglichen eine Eigenverantwortung, ganz im Sinne von «Schuster, bleib bei
Schweiz beschaffen sich laut Eurostat inzwischen und Branchen sowie der steigenden Automatisierung die sämtliche Akteure im Gesundheitswe- deinem Leisten». Zukünftig werden
knapp zwei Drittel der Verbraucher (64 Prozent) ge- von Prozessen steigt die Komplexität, und einst klare sen vor neue Herausforderungen stellt. jedoch diejenigen Anbieter erfolgreich
sundheitsrelevante Informationen über das Internet. Grenzen verschwimmen. Vielfach werden Online- sein, die ihre Kunden gesamthaft in
Zugleich werden telemedizinische Leistungen für die Plattformen und neue Netzwerke die Basis für den Wie können die Akteure den Fokus stellen. Für uns Krankenversi-
Basisversorgung wichtiger. In Online-Arztpraxen stel- Austausch von Ressourcen und die Vermittlung von diesen Erwartungen gerecht werden? cherer bedeutet das konkret, nicht erst
len heute schon immer mehr Ärzte Diagnosen übers Geschäftsbeziehungen darstellen. Sie steuern Infor- Ganzheitliche Lösungen ihrer teilweise bei Eingang einer Rechnung aktiv zu
Internet – rund um die Uhr, inklusive Rezeptvergabe. mationsflüsse, aber auch die Bereitstellung von Waren komplexen Probleme gewinnen für werden, sondern unsere Kunden sowohl
An die zunehmende Online-Affinität von Patienten und Dienstleistungen. Krankenversicherern kann in die Kunden immer mehr an Bedeutung, präventiv als auch kurativ zu begleiten –
muss sich auch das Gesundheitswesen anpassen. Aus solchen Business-Ökosystemen rund um Gesundheit Grenzen zwischen einzelnen Anbietern als Gesundheitspartner. Gefragt sind
Patienten werden selbstbewusste und eigenverant- eine entscheidende Schnittstellenfunktion zukommen. verschwimmen, und es formieren sich bedarfsgerechte Leistungen entlang des
wortliche Gesundheitskonsumenten. Beim Ziel, die Sie sind darin eine wichtige Instanz – mit Kompetenz- Netzwerke und Ökosysteme um kunden- kompletten Gesundheitspfads, ange-
Hoheit über die eigene Gesundheit und eine Beratung zuschreibung und Neutralität gleichermassen, die für orientierte Themenwelten. Im Alleingang passt an die jeweilige Lebenssituation.
auf Augenhöhe zu erreichen, kommt auch den Kran- Transparenz, Sicherheit und Vertrauen sorgen kann.
kenversicherern künftig eine noch wichtigere Rolle zu. Damit steigt auch ihre Relevanz im Bewusstsein der
Ohne sie wird das vielen Menschen angesichts eines Versicherten: Ihre Chance liegt darin, sich vom blos-
sen «Provider» zur wirklichen Vertrauensinstanz zu
entwickeln und so eine völlig neue Kundenbeziehung
zu etablieren. Partnerschaftliche Zusammenarbeit, die In Online-Praxen
Kommunikation auf Augenhöhe und individuelle Lö- stellen heute schon immer mehr Ärzte
sungen jenseits von Standardprozessen ermöglicht, Diagnosen übers Internet.
wird zum entscheidenden Qualitätskriterium.
Für Versicherer erwachsen daraus neue Wert-
schöpfungspotenziale, wenn sie sich als Intermedi- sche Beschwerden immer öfter Grund für Arztbesuche Zukunftsweisende Angebote von Versicherern
äre zwischen Kunden und Gesundheitssystem posi- sind, zeigt sich der Trend hin zu einem ganzheitlichen müssen daher viel stärker als bisher entlang der Be-
tionieren. Sie können zum Begleiter in einem aktiven Gesundheitsbegriff. Es reicht heute nicht mehr, nur dürfnisse und Anforderungen der Kunden und ihrer
Lebensstil und in einer modernen Gesundheitskultur physisch gesund zu sein. Auch das geistige Wohl- Lebensstile gedacht, organisiert und ausgestaltet wer-
werden. Vernetzte, ganzheitliche Gesundheitsan- befinden rückt zunehmend in den Fokus. Das belegt den, um wirklich bedarfsgerechte Gesundheitsleistun-
gebote, die in Zukunft immer stärker die Nachfrage auch die steigende Nachfrage nach alternativ- und gen anzubieten.
bestimmen werden, erfordern integrierte Angebote, komplementärmedizinischen Behandlungskonzepten.
Selbstlernende Systeme die es Versicherten möglich machen, ein aktives, ge- Diesen Wandel konstruktiv, wissenschaftlich fundiert
werden die Zukunft der Medizin
massiv mitbestimmen.
sundheitsbewusstes Leben zu führen. Es erfordert von
Krankenversicherern aber auch, sich zu Gesundheits-
zu moderieren – im Sinne der Qualitätssicherung –,
kann auch eine wesentliche Aufgabe von Kranken- —
Christian Rauch (41) ist Geschäftsleiter des Zukunfts-
managern zu entwickeln und über das bisherige Kern- versicherern sein. Es geht nach wie vor um gesund- instituts in Frankfurt am Main. Der Trend- und Zukunfts-
geschäft hinauszuwachsen. heitliche Leistungsversprechen, die aber veränderten forscher ist u.a. Herausgeber der kürzlich neu erschie-
Ein weiteres Beispiel ist der Wandel des Gesund- Anforderungen und neuen Bedürfnissen der Ver- nenen «Megatrend-Dokumentation». Mehr Infos unter
heitsverständnisses. Daran, dass beispielsweise psychi- sicherten Rechnung tragen müssen. zukunftsinstitut.de/megadoku
6 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 7
Hintergrund Hintergrund
Hälfte findet es gut, wenn ihr Hausarzt bei einem Ein- Wichtigste Merkmale bei der
griff einen Spezialisten oder ein Spital empfiehlt. Beziehung zur Krankenversicherung
Die Umfragen zeigen also, dass eine beratende In-
stanz bei gesundheitsbezogenen Fragen im Gesund-
Kompetente Mitarbeitende
heitswesen gewünscht wird.
Schnelle Erledigung von Anfragen/Anliegen
Erwartungen an die Krankenversicherung
Günstige Prämien
Primär wird heute von einer Krankenversicherung er-
wartet, dass sie schnell und unkompliziert anfallende Bedürfnisgerechtes Produkt
Kosten zahlt. Die ideale Krankenversicherung hat zu-
dem kompetente Mitarbeitende, einfache Prozesse, ein Individuelle Betreuung
gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und ist zuverlässig. Sie Gute telefonische Erreichbarkeit Kundendienst
achtet auf die Bedürfnisse der Kunden, zeigt sich flexi-
bel und passt ihr Angebot nach Möglichkeit an.
0% 10% 20% 30% 40% 50% 60%
Die Krankenversicherungen haben aber nach An-
sicht der Versicherten auch noch weitere Aufgaben: Quelle: CSS Grundlagenstudie Krankenversi-
• Verantwortung in der Kostenkontrolle: Kranken- cherungen
versicherungen sollen ihren Versicherten mehr
Anreize bieten, gesund zu bleiben, oder Ärzte und
Spitäler mehr kontrollieren, damit nicht unnötige myGuide – erste Nutzererfahrung
Leistungen verschrieben werden.
• Gesundheitspartner: Heute werden Krankenversi-
cherungen häufig mit Krankheit assoziiert. Nur we- Einfache Nutzung Gute Nutzerführung
nige Kunden sehen ihre Versicherung als Partner
bei Gesundheitsfragen. Viele Versicherte befürchten, Angemessener Vertrauenswürdige
dass Krankenversicherungen eigene Interessen ver- Zeitaufwand Empfehlungen
folgen oder die persönliche Situation der Kunden zu
wenig kennen. Es gibt aber auch Kundengruppen, die Hilfreiche und Unkomplizierte
konkrete Tipps Entscheidungsfindung
eine stärkere Betätigung der Krankenversicherungen
als Gesundheitspartner schätzen. Sie wünschen eine
Förderung und Belohnung von gesundem Verhalten. Quelle: myGuide Nutzerumfrage, Nov./Dez. 2018
Personen, die sich generell schlecht über das Thema
Gesundheit informiert fühlen, wünschen sich auch
Tipps von ihrer Krankenversicherung.
Ausgezeichnete Bewertung – aber …
Krankenversicherungen haben den Anspruch, ihre Dienstleistungen Die Nutzerumfragen zeigen, dass die von der CSS be-
weiterzuentwickeln und zum Gesundheitspartner zu werden. Wie steht reits angebotenen, aber ausserhalb des Kerngeschäfts
befindlichen Dienstleistungen überwiegend sehr posi-
es jedoch um die Bedürfnisse der Kunden? Ergibt es für sie Sinn, dass tiv bewertet werden. Ein Beispiel dafür ist der kürzlich
eine Krankenversicherung mehr als Versicherungsprodukte anbietet? erschienene digitale Ratgeber «myGuide», der anhand
von Krankheitssymptomen eine Empfehlung zum op-
Von Maria Giesauer
timalen Versorgungszeitpunkt und zum optimalen
Versorgungsbedarf erstellt. Wie bei den anfangs er- zer der ärztlichen Zweitmeinung und der Gesundheits-
wähnten E-Postkarten der programme: Fast alle würden diese Dienstleistungen
Mehr als eine Zahlstelle
Post ist myGuide keine vor- weiterempfehlen. Die Dienstleistungen werden jedoch
In Kürze ab erwartete Dienstleistung oftmals noch nicht im Angebot der Krankenversi-
einer Krankenversicherung. cherungen wahrgenommen, wie den guten Nutzer-
• Kunden wünschen sich Jedoch würden gemäss ei- Rückmeldungen entsprechend zu erwarten wäre. Die
eine beratende Instanz ner Nutzerumfrage drei Vier- Krankenversicherungen müssen die neue Rolle als Ge-
bei gesundheitsbezo- tel myGuide wieder nutzen, sundheitspartner weiter schärfen, um auf eine höhere
V
genen Fragen. und die Mehrheit würde den Akzeptanz zu stossen.
Ratgeber auch weiteremp-
on der Post hat niemand erwartet, dass Umfragen der CSS zu den Bedürfnissen im Ge- • Von einer Kranken fehlen. Balance finden
man einmal per App kostenlose Postkar- sundheitswesen deuten auf verschiedene Probleme versicherung werden Auch die Dienstleistung Das Bedürfnis für beratende Dienstleistungen im Ge-
ten aus dem Ausland verschicken kann. in der medizinischen Versorgung hin. Die grösste Pro- «Persönliche Patientenbe sundheitswesen ist vorhanden. Die Krankenversiche-
primär kompetente
Trotzdem finden viele die Funktion toll blematik aus Sicht der Versicherten stellen die steigen- gleitung», also das Care rungen befinden sich jedoch auf einer Gratwanderung:
Mitarbeitende und die
und nutzen sie regelmässig. Und bei der den Medikamentenpreise dar, gefolgt von der fehlen- Management der CSS Ver- Sie müssen die Vorstellungen der Versicherten von rei-
Krankenversicherung? Hier erwarten die Versicherten den Koordination zwischen vor- und nachgelagerten
schnelle Erledigung sicherung, kommt sehr gut ner Zahlstelle bis Ratgeber im Gesundheitswesen unter
doch nur, dass sie alle Arztrechnungen pünktlich be- Ärzten. Durch eine Koordination könnten aus Patien- von Anfragen erwartet. an: 4 von 5 Kunden, die von einen Hut bringen und sich mit Hilfe von innovativen
zahlt. Oder vielleicht doch noch etwas mehr? Um die- tensicht unnötige Doppeluntersuchungen vermieden der Dienstleistung profitiert Produkten und Dienstleistungen fortlaufend beweisen.
se Fragen beantworten zu können, ist es für die CSS werden. • Die bestehenden haben, sind sehr zufrieden,
wichtig, die Bedürfnisse ihrer Kunden zu kennen. Mit Gleichzeitig ist das Vertrauen in die medizinische Dienstleistungen der und über 90 Prozent wür-
welchen Schwierigkeiten sind die Versicherten im Ge-
sundheitswesen konfrontiert? Wo könnte die Kranken-
Kompetenz, besonders in den eigenen Hausarzt und
den Spezialisten, sehr hoch. Die Patienten sind froh
CSS werden sehr
gut bewertet, sind
den die Dienstleistung auf
jeden Fall weiterempfehlen.
—
Maria Giesauer ist Expertin in Customer Experience &
versicherung sie unterstützen? um Ratschläge durch den Grundversorger: Über die aber noch nicht Sehr zufrieden sind die Nut- Marktforschung bei der CSS Versicherung.
überall bekannt.
8 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 9
Praxis Die andere Sicht
Das Sturzpräventionsprogramm «Sicher durch den Alltag» ist das Ergebnis der Für Ueli Staub* ist Wandel ein steter Begleiter. Als Landwirt
erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen der Rheumaliga Schweiz und Kranken- sieht er sich immer wieder mit neuen Vorgaben und
versicherungen. Was braucht es, damit mehr in solche Programme investiert wird? Herausforderungen konfrontiert, die es zu bewältigen gilt.
Von Valérie Krafft Von Roland Hügi
Partnerschaft zu Gunsten Wandel als
Rheumabetroffener steter Begleiter
I
Krankenversicherungen in Bezug auf Wirksamkeit,
Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit entspricht.
Dank dieser offenen und transparenten Kommunikati- ch bin von Kindesbeinen an in der Landwirt- nigt. Nicht wenige Bauern arbeiten einfach noch so
on, der gemeinsamen Zielsetzung und klar definierter schaft verwurzelt, und seit ich mich erinnern lange, bis die junge Generation nachrückt oder ein
Rollen konnten bisher mehr als 5500 Senioren in der kann, mussten wir Landwirte uns stetig wie- Ökonomiegebäude amortisiert ist – ganz einfach, weil
ganzen Schweiz besucht und beraten werden. der umorientieren. Stichworte dafür sind neue sie müssen und keine Alternativen haben. Gleichwohl
Hürden für die flächendeckende Ausbreitung und Gesetze, die Aufhebung der Milchkontingen- möchte ich auch unterstreichen, dass ich die Freihei-
die breite Verfügbarkeit solcher Programme sind die tierung oder die Einführung von Direktzahlungen. Aber ten, die ich als Landwirt und damit als selbständiger
Fülle an unterschiedlichen Versicherungsmodellen, die auch die Öffentlichkeit hat – vor dem Hintergrund Unternehmer habe, noch immer sehr schätze. So habe
Handhabungen der Kostengutsprachen, die fehlende des steigenden Siedlungsdrucks – immer neue und ich die Möglichkeit, mich falls nötig in neue Bereiche,
Valérie Krafft ist Geschäftsleiterin Offenheit einzelner Krankenversicherer zur Koopera- manchmal unreflektierte Ansprüche an die Landwirt- etwa die Direktvermarktung, vorzutasten und mich so
der Rheumaliga Schweiz. tion mit Gesundheitsligen und das KVG, welches nur schaft; die Marktbedingungen werden immer härter, in meiner Region zu positionieren.
sehr restriktiv Präventionsmassnahmen in der Grund- oder Naturschutzvorgaben ändern sich. Als jungem
versicherung zulässt. Landwirt fällt es mir sicher leichter, mich an diese Chancen und Risiken aufzeigen
S
veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und Eine wichtige Aufgabe kommt sicher auch den Ver-
Vier Wünsche für die Zukunft Schritt halten zu können. Aber gerade in der älteren bänden zu. Sie leisten laufend Aufklärungsarbeit und
turzprävention betrifft uns alle: Für Men- Prävention bedeutet Investition, dessen sind sich die Generation wird der kontinuierliche Wandel auch zur zeigen auf, welche Chancen und Risiken die kontinu-
schen ab 65 Jahren stellen Stürze mit Gesundheitsorganisationen sowie die Krankenversi- Belastung. Nicht alle Landwirte sind fähig, dem Tempo ierlichen Veränderungen mit sich bringen. Zudem tra-
einem Anteil von 83 Prozent die häufigste cherungen bewusst. Im Vergleich zu kommerziellen zu folgen, was letztlich den Strukturwandel beschleu- gen sie dazu bei, das Image der Landwirtschaft in der
Unfallart dar. Für die Krankenversicherun- Dienstleistern sind Gesundheitsorganisationen kosten- Politik, vor allem aber in der Öffentlichkeit zu fördern.
gen ist es ein bedeutendes wirtschaftliches bewusste Leistungserbringer mit einer hohen Akzep- Eine Herausforderung, die wir nicht mehr wegdisku-
Thema, denn Stürze verursachen jährlich Gesundheits- tanz und Reputation in der Öffentlichkeit. Mit zahlrei- tieren können, ist sicher der Klimawandel. Wir hatten
kosten in Höhe von 1,4 Milliarden Schweizer Franken. chen Angeboten wie beispielsweise der Förderung des in den vergangenen paar Jahren fast jährlich mit kli-
Das wissenschaftlich erarbeitete Sturzpräventions- Selbstmanagements, der Befähigung und Begleitung matischen Kapriolen zu kämpfen, zuletzt mit dem
programm der Rheumaliga «Sicher durch den Alltag» von Betroffenen erbringen die Gesundheitsligen wichti- Hitzesommer 2018. Das macht schon nachdenklich.
setzt genau da an: Speziell ausgebildete Physio- und ge Beiträge zur Kostensenkung im Gesundheitssystem. Ich sehe es aber auch als Chance. Mit richtiger Bewirt-
Ergotherapeutinnen klären zu Hause bei sturzgefähr- Für die Zukunft wünschen wir uns die Umsetzung schaftung kann nämlich die Landwirtschaft beitragen,
deten Senioren das Verhalten und die Verhältnisse ab. der vier folgenden Punkte: wieder mehr CO2 im Boden zu binden und so einen
Mit einfachen Massnahmen werden Sturzgefahren be- • Einen engeren Dialog zwischen den Gesundheits- Beitrag gegen die Klimaerwärmung zu leisten. Des-
seitigt und Kraft- und Gleichgewichtsübungen instru- ligen und den Krankenversicherungen halb wurde 2018 eine Arbeitsgruppe «Bodenprojekt»
iert. Ein systematisches Nachfassen sowie ein Bericht • Ein konsequentes und ehrliches Bekenntnis, dass der ins Leben gerufen. Zudem müssen wir uns Gedanken
zuhanden des Hausarztes mit Empfehlungen zu wei- Mensch im Mittelpunkt steht darüber machen, welche Produktionsrichtungen un-
terführenden Massnahmen runden das Programm ab. • Ein gemeinsames Ausbreiten, Anbieten und Finanzie- ter sich verändernden Klimabedingungen und länge-
Eine prospektive Begleitforschung mit mehr als ren von wissenschaftlich geprüften Leistungen – ge- ren Vegetationsperioden Sinn ergeben und überhaupt
650 Senioren wird im Laufe des Jahres Evidenzen rade im Bereich der Prävention möglich sind. Allerdings ist dies ein Prozess, der sei-
bezüglich der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit des • Die Sicherstellung eines niederschwelligen Zugangs ne Zeit dauern wird. Ich bin aber überzeugt, dass die
Angebots geben. Die ersten vorläufigen Resultate sind zu solchen Leistungen für alle Versicherten, unab- Landwirtschaft auch diese Hürde meistern wird und
sehr vielversprechend. hängig von ihrer Krankenversicherung und ihrem weiterhin eine wichtige Rolle in der Landschaftspfle-
Krankenversicherungsmodell ge und vor allem in der nachhaltigen Nahrungsmittel-
Partnerschaft auf Augenhöhe Oder anders formuliert, dass das Konkurrenzden- produktion spielen wird. Gespannt bin ich, was uns die
Als Fachorganisation und Gesundheitsliga sind wir auf ken unter den Krankenversicherungen abgeschwächt Digitalisierung hier bringen kann.
starke Partner angewiesen, um solche Programme wird und dass mindestens so viele Finanzmittel in Pro-
nachhaltig und flächendeckend auszubreiten und zu gramme zur Prävention wie in unliebsame Marketing- «Seit ich mich erinnern kann,
finanzieren. Von der ersten Stunde an hat ein enger
Dialog mit verschiedenen Krankenversicherungen be-
aktivitäten der Krankenversicherungen fliessen.
Ein hehrer Wunsch? Das Sturzpräventionspro-
mussten wir Landwirte uns —
Ueli Staub*, 34, bewirtschaftet einen Landwirt-
züglich dieses Programms stattgefunden. Gemeinsam gramm der Rheumaliga Schweiz zeigt, dass es funk- stetig wieder umorientieren.» schaftsbetrieb (Milchwirtschaft/Kälbermast) im
wurden Wege eruiert, um bestmöglich und im Inte- tionieren kann. Gemeinsam leisten wir einen nachhal- Ueli Staub zugerischen Menzingen. Er ist ausserdem Geschäfts-
resse aller Partner – insbesondere der Senioren und tigen Beitrag zur Senkung der Gesundheitskosten, zur führer des Zuger Bauernverbandes (ZBV) und
Seniorinnen – das Angebot bekannt zu machen und Verbesserung der Lebensqualität und Selbständigkeit Vorstandsmitglied des Zentralschweizer Bauern-
sicherzustellen, dass die Leistung den Kriterien der von Betroffenen. bundes (ZBB).
10 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 11
Im Gespräch Im Gespräch
Die Rollen der Krankenkassen ganz neu denken? Gesundheitspolitikerin
Ruth Humbel und FMCH-Präsident Josef Emil Brandenberg tun sich
im Gespräch zunächst etwas schwer damit, kommen aber trotzdem zu
aufschlussreichen Einsichten.
Interview: Patrick Rohr
«Krankenkassen bräuchten
eine Taggeldversicherung»
Patrick Rohr (PR): Bevor wir über die RH: Man hat bei der Einführung des Kran- geber profitiert bei einem Unfall mehr.
Rolle der Krankenversicherungen kenversicherungsgesetzes die Unter- Und sogar für den Patienten ist der Unfall
in Zukunft nachdenken, möchte ich nehmen aus der Verantwortung genom- interessanter, weil die Unfallversicherung
Sie fragen: Wie sehen Sie die Aufgabe men. Im alten System gab es auch eine besser zahlt und man ein Rückfallmelde-
einer Krankenkasse heute? Taggeldversicherung, und die war zusam- recht hat.
Ruth Humbel (RH): Die Krankenkasse sollte men mit der Krankenversicherung Teil
kein Durchlauferhitzer für die Prämien sein. des Unternehmens. Deshalb war es im- PR: Heisst das, dass Sie beide das Modell
mer auch im Interesse der Unterneh- der Unfallversicherung auch für die
PR: Aber das ist sie. men, die Leute möglichst schnell wieder Krankenversicherung als ideal erachten
RH: Ja, man nimmt sie so wahr: Die Kran- in den Arbeitsprozess zu integrieren. würden?
kenkasse zieht die Prämien ein und zahlt RH: Ja, leider hat man bei Krankheit keine
damit die Rechnungen. Die Kranken- PR: Diese Rolle übernimmt obligatorische Taggeldversicherung. Bei
versicherungen sollten aber schon heute heute die Unfallversicherung. der Unfallversicherung ist sie obligato-
einen optimalen Behandlungspfad vor RH: Ja, und da haben wir das Naturalleis- risch. Die Taggeldversicherung müsste im
allem für chronisch Kranke gewährleisten. tungsprinzip, wodurch die Unfallversi- Krankheitsfall nicht gleich grosszügig
Das klappt noch nicht überall, es braucht cherer den Behandlungspfad viel stärker sein wie bei der Unfallversicherung, aber
ein stärkeres Engagement der Kassen. beeinflussen können als die Krankenkas- sie müsste obligatorisch sein. Bei Krank-
Bei den grösseren gibt es schon einige, sen. Ich finde, die Krankenversicherungen heit landet der Patient relativ schnell in der
die neue Modelle entwickeln. müssten diesbezüglich mehr Möglich- IV, und das ist ein Fehler.
keiten erhalten. Die Unfallversicherung ist
PR: Herr Brandenberg, wie interpretieren bei der Fallführung in einer viel stärkeren PR: Die Krankenkassen müssten also
Sie als Vertreter der Ärzteseite die Rolle Position. mitbestimmen können, welche Therapie
der Krankenkassen? für einen Patienten geeignet ist?
Josef Emil Brandenberg (JEB): Krankenkas- PR: Sehen Sie das auch so, JEB: Ja, die Kassen haben heute nur eine
sen waren ursprünglich Selbsthilfeorgani- Herr Brandenberg? Kostenübernahme- und eine Kosten-
sationen der verschiedenen Berufsgrup- JEB: Wir haben heute mehrere Fehlan kontrollpflicht. Aber sie können nicht in
pen. Die Idee war, das Einzelrisiko auf eine reize. Dem kaputten Meniskus ist es egal, die Behandlung eingreifen.
möglichst grosse Gruppe zu verteilen. ob er aus Krankheitsgründen oder wegen
Das sollte eine Krankenversicherung auch eines Unfalls herausoperiert wird. Dem PR: Könnten sie es, würde man Ihnen als
heute noch leisten, doch leider sind die Arzt aber ist es nicht egal, er bekommt Arzt etwas wegnehmen: die Fallführung.
Kassen zu einem Selbstbedienungsladen ein besseres Honorar, wenn der Meniskus Die Krankenkasse wäre plötzlich auch ein
verkommen. als Unfall deklariert ist. Auch der Arbeit- Case Manager.
JEB: Die Fallführung haben wir ja heute
—
schon oft nicht mehr, zum Beispiel
bei schweren Unfällen. Da kommen die
Ruth Humbel ist seit 2003 Nationalrätin für die CVP des Kantons Aargau.
Sie ist Mitglied der nationalrätlichen Gesundheitskommission. Von 2001 bis 2008
Fürsorgerinnen und die Institutionen,
war sie Leiterin der Region Mitte des Krankenkassenverbandes santésuisse. die für die Reintegration zuständig sind.
Heute ist die passionierte Orientierungsläuferin unter anderem Verwaltungsrätin
der Kranken- und Unfallversicherung Concordia. PR: Dann wären Sie also nicht
—
dagegen, dass die Krankenkassen
diese Rolle künftig wahrnehmen?
Josef Emil Brandenberg ist seit 2016 Präsident der FMCH, des Dachverbands
der chirurgisch und invasiv tätigen Fachgesellschaften und Berufsverbände.
JEB: Nein, aber nur mit einer Krankentag-
Von 1987 bis 2006 führte er eine Einzelpraxis in Luzern, 2006 gehörte er zu den geldversicherung, weil sie dann ein
Gründungsmitgliedern der Orthopädischen Klinik Luzern AG. Bis 2012 operierte Interesse an einer schnellen Reintegration
er an der Hirslanden Klinik St. Anna in Luzern. in den Arbeitsprozess hätten.
12 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 13
Im Gespräch Im Gespräch
PR: Was aber bedeuten würde, dass dem Obligatorium und dem Zugang zu
Sie als Arzt viel transparenter arbeiten allen Leistungen gewährleistet.
müssten: Sie müssten die Diagnosen
offenlegen, damit die Kassen mitreden PR: Sollen die Krankenkassen die
könnten. Rolle von Gesundheitscoaches
JEB: Mein Fach, die Orthopädie, ist schon übernehmen – mit entsprechenden
heute transparent. Wenn jemand ein Anreizen für ihre Kunden?
Bein gebrochen hat, ist das für jeden er- JEB: Ich kann nicht sagen, was besser
sichtlich. Aber es gibt heiklere Bereiche, ist – bestrafen oder belohnen.
zum Beispiel in der Psychiatrie oder in Wahrscheinlich ist belohnen besser.
der Gynäkologie: Da sind die Daten zum RH: Es ist doch eine Frage der Optik, ob
Teil hochgradig schützenswert. Aber man mit einem solchen System belohnt
ich finde sowieso, dass wir ein zu grosses oder bestraft. Die Krankenversicherung ist
Theater um das Diagnosegeheimnis «Das Modell sollte der einzige Versicherungsbereich, bei dem
machen. Warum sollen die, die die Kos-
tenkontrolle haben, nicht Einsicht in
Managed Care sein, es keine Schadenminderungspflicht gibt.
die Diagnose erhalten? und die Kassen soll- PR: Herr Brandenberg, können Sie sich
PR: Aber ist die Krankenversicherung
ten Steuerungs- und überhaupt vorstellen, den Krankenkassen
eine neue Rolle zu geben?
dafür die richtige Institution? Viele Leute Beratungsmöglich- JEB: Im Moment nicht, nein. Das geht
vertrauen den Kassen nicht, weil sie
das Gefühl haben, dass die Kassen vor
keiten haben.» ja auch gar nicht, die obligatorischen
Krankenversicherer sind viel zu stark
allem dafür sorgen, möglichst wenig Ruth Humbel reguliert.
Geld auszugeben.
JEB: Das ist ja auch ihr gesetzlicher PR: Versuchen wir doch trotzdem noch
Auftrag. zen. Das ist ja das Paradoxe: Man sagt, einmal, ganz offen zu denken. Könnte
RH: Ich finde, die Kassen müssten sich in es fehle die gesetzliche Grundlage für so die Krankenkasse künftig zum Beispiel die
ihrem Selbstverständnis und als Akteure im etwas. Und wenn man eine gesetzliche Rolle übernehmen, die früher die Haus-
Gesundheitswesen besser positionieren. Grundlage machen will, heisst es: Das ärzte hatten, als sie noch die Kranken-
geht nicht, weil die Krankenkasse viel zu geschichte der ganzen Familie kannten?
PR: Sie arbeiten ja mit politischen Vor- viele Informationen erhalten würde. Dabei RH: Das Problem ist, dass man jedes Jahr
stössen in diese Richtung. Doch muss man ja auch bei den Gesundheits- die Kasse wechseln kann. Warum soll-
oft, wenn Sie einen Vorstoss machen, Apps das Alter, das Gewicht und so weiter ten dann die Kassen zum Beispiel in die JEB: Ich bin dagegen, dass mit Ignoranz Patienten» kürzt, also zum Beispiel das nischen Patientendossier auf jeden
werden Sie gebremst. Erst kürzlich eingeben. Nur landen diese Daten irgend- Prävention investieren? in eine Behandlung eingegriffen wird. Führen des Patientendossiers. So wird Fall wesentlich verbessert. Und wir haben
wieder, weil Sie Leute, die die Daten wo in Amerika, doch dagegen scheint Wenn schon, müssten die Krankenkassen das nichts. ja noch den Datenschutz.
ihres Schrittzählers den Kranken- niemand etwas zu haben. Möchten aber PR: Dann schaffen wir doch einen eigenen medizinischen Dienst
kassen zur Verfügung stellen, mit tie- die Kassen die Leute für die Bekanntgabe eine Einheitskasse! aufbauen, der auf Augenhöhe und mit PR: Ist das der einzige Grund? PR: Also, fassen wir zusammen:
feren Prämien belohnen wollten. ihrer Daten belohnen, spricht man von RH: Nein, das Modell sollte Managed Care Sachkompetenz mit den behandelnden RH: Ich denke, es gibt noch einen ande- Sollen die Krankenkassen künftig
RH: Dabei ging es mir nur darum, die einer Entsolidarisierung. Das stört mich. sein, und die Kassen sollten Steuerungs- Ärzten diskutieren kann. Aber das haben ja ren. Ich vermute, dass die Ärzte Angst eine neue Rolle einnehmen?
Möglichkeiten der Digitalisierung zu nut- Die Solidarität ist mit der Einheitsprämie, und Beratungsmöglichkeiten haben. Das nicht einmal die Unfallversicherungen. haben, dass ein anderer Arzt sie kontrol- RH: Ich finde, es braucht eine Entwicklung
geht aber nur mit Verträgen zwischen lieren könnte. Ärzte haben nicht gern, zu einem Naturalleistungsprinzip, sodass
Krankenversicherern und Ärztenetzen. PR: Frau Humbel, solange sowohl die wenn andere Ärzte sehen, was sie tun. die Krankenkassen mehr Einfluss auf den
Nicht mit Listen von Ärzten, welche von Patienten als auch die Ärzte aufschreien, Objektiv sehe ich keinen anderen Grund Behandlungsweg nehmen können – und
den Kassen einseitig publiziert werden, wenn es um die Beschränkung ihrer für die ablehnende Haltung der Ärzte- zwar über Verträge mit Ärztenetzwerken,
wie das heute oft der Fall ist. Freiheit geht, können die Krankenkassen schaft. die die ganze Behandlungskette abdecken.
gar keine neue Rolle einnehmen? JEB: Und wir müssen die Krankenversiche-
PR: Die Schweizer Bevölkerung hat so- RH: Die Kassen würden ja nicht sagen, wer PR: Und auf Patientenseite gibt es die rung mit einer Taggeldversicherung ergän-
wohl zur Einheitskasse als auch zu zu welchem Arzt muss, sondern sie wür- Angst vor dem «gläsernen Patienten». zen, ähnlich wie in der Unfallversicherung.
Managed Care Nein gesagt. Vielleicht den mit Netzwerken zusammenarbeiten RH: Die Krankenkasse hätte keine Einsicht
wollen die Leute einfach die Wahl- und mit diesen Verträge abschliessen. ins elektronische Patientendossier.
freiheit behalten?
JEB: Mit Managed Care haben auch wir PR: Und damit diese Netzwerke effizient PR: Wenn sie ihre Koordinations- und
Ärzte ein Problem, das würde gegen die funktionieren, bräuchte es wohl das Coaching-Aufgabe erfüllen möchte,
freiheitliche Ausübung unseres Berufs elektronische Patientendossier. Doch müsste sie aber Einsicht haben.
verstossen. Und wir sind auch gegen eine auch dagegen gibt es heftige Widerstän- RH: Dieser Meinung bin ich nicht.
Einheitskasse, weil wir dann noch mehr de – von Ärzten und Patienten.
Staat hätten. JEB: Das elektronische Patientendossier PR: Wie soll sie dann
wird kommen. Das ist eine technische koordinieren können?
PR: Ohne Managed Care können die Errungenschaft, die dem Menschen und RH: Sie bekommt ja die Rechnung.
Kassen aber auch nicht die Rolle eines dem System dient.
«Wir müssen die Krankenversicherung
Gesundheitscoaches übernehmen.
JEB: Solange eine Behandlung am Laufen PR: Wieso ist die Ärzteschaft dann
PR: Aber aufgrund der Rechnung lässt
sich ja nicht nachvollziehen, welche —
Der Journalist und Fotograf Patrick Rohr
mit einer Taggeldversicherung ergänzen, ist, sollte sowieso der, der operiert hat, trotzdem gegen das elektronische Diagnose gestellt wurde? leitet eine eigene Agentur für Kommunikations
entscheiden können. Patientendossier? RH: Die Rechnung müsste natürlich eine
ähnlich wie in der Unfallversicherung.» JEB: Weil der Bundesrat ausgerechnet genaue Diagnose enthalten.
beratung und Medienproduktionen.
Bis 2007 war er Moderator beim Schweizer
Josef Emil Brandenberg PR: Und nicht die Krankenkasse? die «Leistungen in Abwesenheit des JEB: Die Abläufe würden mit dem elektro- Fernsehen (u.a. «Arena», «Quer»).
14 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 15
Persönlich Persönlich
Der mobile Studiencoach CLARA erforscht bei Asthmapatienten den
Zusammenhang zwischen nächtlichem Husten und Wohlbefinden. Kann CLARA
künftig helfen, Asthma-Symptome zu verstehen? Ein Erfahrungsbericht.
Von Charlotte Lekkas
Nächtliche Asthma-Symptome Schlafengehen. So integrierte ich CLARA schon bald in
meine täglichen Routinen.
per App überwachen Die Krankheit selber kontrollieren
CLARA ist derzeit ein Forschungsprototyp und wurde
ausschliesslich für die Datenerhebung im Rahmen der
Studie entwickelt. Deshalb enthält die App bislang kei-
ne Funktionen zur Unterstützung von Patienten. Ich
kann mir jedoch vorstellen, dass solche Anwendungen
auf mobilen Geräten künftig einen Mehrwert für Pati-
enten mit chronischen Erkrankungen bieten können.
Zum Beispiel als App, die mir im Alltag dabei hilft, die
Auswirkungen meines Verhaltens auf mein Asthma zu
verstehen; damit meine ich jene Tage, an denen ich
trotz gleicher Medikation schlechter Luft bekomme.
In solchen Fällen nutze ich aktuell die Telefonsprech-
stunde meines Lungenfacharztes, um dann je nach
dessen Aussage zusätzlich persönlich zu einem Ter-
min erscheinen zu müssen. Ein Prozess, der für mich
und meinen Arzt recht zeitintensiv ist. Hier könnte eine
Integration von Messungen in das Smartphone – zum
Beispiel die nächtliche Hustenrate – den Prozess und
die medizinische Einschätzung des Asthmas deutlich
vereinfachen. So könnten Patienten wie ich, deren
Symptome nicht sehr ausgeprägt sind, ihr Asthma bis
zu einem gewissen Grad selbst kontrollieren, während
die Ärzte sich um die wirklich schweren Fälle kümmern
könnten.
Neue Rolle der Krankenversicherung
Rückblickend gesehen haben mich – trotz meiner kri-
tischen Grundeinstellung – drei Punkte zur Teilnahme
bewogen: Ich kannte die Forscher hinter der Studie,
die Studie wurde von vertrauenswürdigen Partnern wie
dem Kantonsspital St. Gallen unterstützt, und die For-
schungsfrage war relevant für mein Leben mit Asth-
ma. Den Patienten die Gewissheit zu vermitteln, dass
mit ihren Daten vertrauensvoll umgegangen wird, ist
daher meiner Einschätzung nach sowohl die grösste
Hürde als auch der Schlüssel
zum Erfolg für Apps im Ge- sen verfügen über langjährige Erfahrung im Gesund-
In Kürze sundheitsbereich. Da ich in heitsbereich und könnten als wichtige Schnittstelle
O
Deutschland aufgewachsen zwischen Ärzten und Unternehmen fungieren. Auch
• Eine Studie erforscht bin, kenne ich Krankenkas- sehe ich Krankenkassen als eine Art Vertrauensper-
bwohl technikaffin, habe ich den Ein- So wurde CLARA, mein mobiler Studiencoach, für den Zusammenhang sen in einer recht aktiven sonen, die mir als Patientin signalisieren, welche Apps
satz von Apps im Gesundheitswesen 30 Tage mein ständiger Begleiter. Jeden Morgen zur von nächtlichem Rolle bezüglich zusätzlicher vertrauenswürdig sind. Zwar stellt dies die Kranken-
stets kritisch betrachtet. Für mich war gleichen Zeit stellte mir CLARA einige Fragen: zum Husten und Asthma. Services, die neben den kassen vor neue Herausforderungen. Wäre ich jedoch
der Nutzen schwer vorstellbar, da ich Beispiel, wie ich meine Schlafqualität bewerten wür- Grundleistungen angeboten in einer entsprechenden Position bei einer Kranken-
bis auf mein Asthma ein kerngesun- de und wie viel ich gehustet habe in der Nacht. Wäh- • Apps könnten einen werden. Dennoch erscheint versicherung, dann würde ich die Auswirkungen der
der Mensch bin. Auch habe ich Sorge, was wohl mit rend ich schlief, zeichnete CLARA meinen Husten auf. Mehrwert für Patienten es mir unabdingbar, dass Digitalisierung auf den Gesundheitsbereich lieber aktiv
meinen gesundheitsbezogenen Daten passiert, und Dazu aktivierte sich automatisch zu einer bestimmten ich als Patient stets Herr mitgestalten wollen, anstatt auf der Zuschauerbank zu
mit chronischen
es taucht schnell der Begriff des gläsernen Patienten Uhrzeit die Aufnahmefunktion. An sich ein simples meiner Daten bleibe und sitzen.
Erkrankungen bieten.
in meinen Gedanken auf. Trotzdem erklärte ich mich Unterfangen, das mich in meinem Alltag nicht sonder- darüber informiert werde,
—
bereit, bei der Studie unter der Leitung des Kantons- lich einschränkte. Zwar fühlte ich mich in den ersten was mit diesen geschieht.
spitals St. Gallen mitzuwirken. Die Studie für Asthma- Nächten noch ein wenig mulmig, dass mir die App • Eine Involvierung Auch in der Schweiz ist mei-
der Krankenversiche- Charlotte Lekkas (28) doktoriert in Innovationsmanage-
tiker sollte zeigen, ob eine App für das Smartphone beim Schlafen zuhört. Aber nach einigen Nächten mit nes Erachtens die Involvie- ment am Institut für Technologiemanagement der
nächtlichen Husten detektieren kann und ob dieser CLARA an meiner Seite wurde das Ausfüllen des Fra- rungen in die App- rung von Krankenkassen in Universität St. Gallen und lebt seit knapp zwei Jahren
Husten als Indikator für das aktuelle Wohlbefinden eines gebogens zu meinem morgendlichen Ritual, genauso Entwicklung könnte die App-Entwicklung eher in der Schweiz. Seit ihrer Jugend ist sie von Asthma
Asthmapatienten aussagekräftig ist. wie das Einschalten der Aufnahmefunktion vor dem nutzbringend sein. nutzenstiftend. Krankenkas- betroffen.
16 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 17
Santé! Wissenschaft
Krankenversicherer sehen sich einem bis dato nie gekannten Verände-
rungsdruck ausgesetzt. Treiber des Wandels sind sowohl auf Seiten
der Märkte als auch der Gesellschaft zu finden. Versicherer müssen sich
überlegen, wie sie darauf reagieren und sich neu ausrichten wollen.
Von Prof. Dr. Peter Maas
Krankenversicherungen im
Gesundheitsmarkt der Zukunft
Die Krankenkasse –
dein Freund und Helfer
M
ärkte werden zunehmend – statt wie Optionen für die Krankenversicherung
bisher nach Produkten – neu ent- Drei mögliche Rollen der Krankenversicherung in der
D
lang von Kundenbedürfnissen defi- Zukunft zeichnen sich aus heutiger Sicht ab:
niert. Auch die Gesundheitsmärkte Zulieferer von Risikodeckung in Ökosystemen. Dies
er Patient braucht einen neuen Freund und Helfer. Früher war können sich dem nicht entziehen. beschreibt die klassische Rolle der Versicherung. Hier-
das der Vertrauensarzt. Jeder Arzt, der wieder in diese Rolle Megatrends wie Identitätsjagd, In- bei ist ihre Kontrolle über das Gesamtsystem begrenzt,
schlüpfen würde, wäre allerdings bald bankrott. Da unser Gesund- dividualisierung und Wissensgesellschaft reflektieren und klare Value Propositions müssen durch Einfach-
heitssystem krank gespart wurde, hat auch die Pflege zu wenig sich in einer wachsenden Marktmacht der Kunden.1 heit und eine Fokussierung auf Servicequalität gene-
Zeit für ein ausführliches Gespräch oder tröstende Worte. Die Anstatt noch über Krankenversicherung zu reden, riert werden.
Patienten flüchten zu Google und haben am Ende mehr Diagnosen und Ängste. werden diese mehr als je zuvor Angebote zur Befrie- Mitspieler in Ökosystemen. Über die Zulieferer-Rolle
Freunde und Besucher haben ihr Wissen meistens von Facebook und sind digung der Bedürfnisse nach Wohlbefinden und einer hinaus bieten Versicherer Dienstleistungen, welche
auch kein Trost, erst recht keine Hilfe. Wäre das also eine neue Rolle für die gesundheitsstiftenden Gesamtlösung einfordern. bisher brachliegende Nahtstellen in Ökosystemen ad-
Krankenkassen? Kunden sind in einer multioptionalen Welt ange- ressieren und Kunden so ihr Leben vereinfachen. Eine
Eine darbietende Hand der Krankenkassen würde derzeit wahrscheinlich kommen und fordern entsprechende Konfigurati- entsprechende Offenheit gegenüber der Anpassung
noch mit Skepsis aufgenommen werden. Schliesslich behaupten böse onsmöglichkeiten auch von Versicherungen ein. Sie von Geschäftsmodellen ist zwar riskant, kann aber in
Zungen, dass sie sich hinter unserem Rücken mit den Medizinern streiten, machen mit Nachdruck von neuen technologischen massivem Wachstum resultieren.
um die Kosten unserer Behandlung zu senken. Das legt Möglichkeiten Gebrauch; das Fehlen – grundsätzlich Koordinatoren von Ökosystemen. In diesem Szenario
—
Beda M. Stadler,
den Verdacht nahe, unsere Behandlung werde schlechter.
Krankenkassen könnten trotzdem versuchen, Vertrauen «Freunde haben ihr
möglicher – wertstiftender Elemente bei Servicege-
staltung und Interaktionen wird nicht mehr hinge-
schaffen es Versicherungen, die verfügbare enorme
Datenvielfalt und die unvergleichliche Nähe zu den
geboren 1950 in Visp zurückzugewinnen. Zum Beispiel, wenn man via Hotline nommen.2 Unternehmen müssen hier nicht nur Schritt Kunden zu nutzen, um sich als Gesundheitscoach und
(VS), ist emeritierter oder eine digitale App seine Krankengeschichte hochladen Wissen meistens von halten, sondern proaktiv Lösungen entwickeln, die Integratoren von Gesundheitsleistungen zu etablieren.
Professor und war
Direktor des Instituts
könnte, um eine Zweitmeinung zur Behandlung zu er- Facebook und sind Mehrwert in einer komplexer werdenden Welt stiften. Aufgrund der intensiven Beziehung zu Kunden sind
halten. Allenfalls würde darauf eine Krankenkassenärztin dafür Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Souveränität im
für Immunologie
an der Universität Bern.
oder -pflegerin zurückrufen und ausführlich mit uns auch kein Trost, erst Treiber der Veränderung: Gesellschaft Datenmanagement fundamental.
Er ist bekannt für sprechen. Im Extremfall könnte es sogar passieren, dass recht keine Hilfe.» Auch für die Gesellschaft wird Gesundheit weiterhin Es ist wahrscheinlich, dass alle beschriebenen Sze-
seine bissigen Aussagen man im Spital von einer Fachperson Besuch kriegt, die eine ausschlaggebende Rolle spielen. In der Schweiz, narien in der Zukunft eine Rolle in Gesundheits-Öko-
zu medizinischen sich mal richtig Zeit nimmt. wo bereits die Grundversicherung eine vergleichs- systemen spielen werden. Erwähnenswert ist, dass nicht
sowie gesundheits- und Bei so viel Philanthropie würden die Krankenkassen wohl Vertrauen weise komfortable Absicherung von Gesundheitsrisi- jedes Unternehmen die alles steuernde Spinne im Netz
gesellschafts- gewinnen – aber es wird mit Sicherheit nicht geschehen. Schliesslich ken bietet, rückt das Wohlbefinden der Bevölkerung sein kann. Elementar wird also sein, sich über die eigene
politischen Themen. müssten sie Personal anstellen, welchem man es in der Praxis oder im Spital in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Daten Funktion im Klaren zu werden und die Strategie ent-
verunmöglicht hat, genau diese Art von Patientenbetreuung zu bieten. ermöglichen individualisierte Services, was sich volks- sprechend konsequent auszurichten.
Auf einmal wären die Krankenkassen schuld, dass unsere Gesundheits- wirtschaftlich positiv auswirken könnte – doch wie
versorgung immer teurer wird. Ich verstehe schon, dass die Krankenkassen können diese Daten für alle Seiten sicher und nützlich
nicht nur als reine Zahlstellen dastehen, sondern auch als Gesundheitspartner eingesetzt werden? Bisher bleibt die Versicherungs- —
Prof. Dr. Peter Maas lehrt und forscht an der School of
ihrer Versicherten auftreten möchten. Von einer Partnerschaft erwartet man branche eine klare Antwort schuldig. Um das Zepter
Management der Universität St. Gallen. Seine Forschung
aber, dass beide etwas geben. Die Kunst wird also darin bestehen, nicht als nicht aus der Hand zu geben, müssen proaktive Dis- fokussiert auf die veränderte Rolle von Kunden in
Kindermädchen aufzutreten und keine zusätzlichen Kosten zu verursachen. kussionen mit Regulatoren, Interessenverbänden und Märkten mit Versicherung, Plattform-Ökonomie und
Um die Glaubwürdigkeit eines solchen Vorhabens zu belegen und wenigstens anderen gesellschaftlichen Gruppen stattfinden. branchenübergreifendem Wettbewerb.
bei rationalen Menschen Vertrauen zurückzugewinnen, gäbe es einen ein-
fachen Schritt:
1 Maas,
Cachelin & Bühler (2015): 2050 Megatrends – Alltags-
Eine Krankenkasse, die Gesundheitspartner werden will, sollte schleunigst welten – Zukunftsmärkte. St. Gallen: Institut für Versicherungs-
sämtliche Formen von Alternativmedizin und Wellness aus ihrem Vergütungs- wirtschaft.
katalog streichen, schliesslich will ich keinen Partner, der mich für dumm hält. 2 Barwitz
& Maas (2018): Understanding the Omnichannel Cus-
tomer Journey – Determinants of Interaction Channel Choice.
Journal of Interactive Marketing, 43, 116–133.
twitter.com/CSSPolitik
18 im dialog 2/2019 im dialog 2/2019 19Sie können auch lesen
