Das imaginäre Museum als literarischer Bilderkatalog. Dieter Wellershoff und Michel Butor in den Spuren von André Malraux

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pen Zeitschrift für Germanistik | Neue Folge XXXII (2022), Peter Lang, Bern | H. 1, S. 155–172
Monika Schmitz-Emans

Das imaginäre Museum als literarischer Bilderkatalog.
Dieter Wellershoff und Michel Butor in den Spuren von André
Malraux

I. Kataloge, literarische Katalogtexte und imaginäre Museen.

(a) Über Kataloge. Im Begriff des ‚Katalogs‘ (gr. katálogos) steckt das Wort ‚Logos‘, das
(u. a.) „Mitteilung, Wort, Rede, Erzählung“ bedeutet und eng mit dem Vorstellungsfeld
um sprachliche Bekundungen und sprachgebundene Prozesse assoziiert ist. Die Vokabel
katálogos bezeichnet Listen und Verzeichnisse; als Paradigmen genannt werden in Über-
sichten zur Geschichte des Katalogs und in Wörterbüchern Listen, Namenslisten, aber
auch der Homerische Schiffskatalog (Ilias, Buch II), also ebenfalls verbale Darstellungen.1
Angesichts des quantitativ oft dominierenden Anteils, den Bilder an den Katalogen der
modernen Alltagswelt haben, etwa an Warenkatalogen, sollte nicht übersehen werden,
welch konstitutive Bedeutung die verbale Dimension an der Kulturgeschichte (als einer
Gebrauchs- und Konzeptgeschichte) des Katalogs hat.2 Mit Katalogen geht es immer auch
um logoi, in welch konkreter Funktion auch immer: um Namen bzw. Benennungen, um
Einordnungen in Kontexte und Ordnungsmuster, oft um explizite Kategorisierungen –
und, zumindest wenn der Katalog mehr ist als eine Namensliste, um verbale Interpretati-
onen der katalogisierten Gegenstände.

(b) Über Kunstkataloge. Kunstkataloge, etwa Museums- und Ausstellungskataloge zu
Gemälden und anderen bildkünstlerischen Werken, mögen die Aufmerksamkeit primär
auf Bilder lenken, zumindest seit es möglich und üblich ist, sie zu bebildern, aber auch für
sie sind die logoi konstitutiv. Ein unbebilderter Katalog über Bildwerke ist immer noch
ein Katalog, der das Katalogisierte an einen diskursiven Rahmen anschließt; eine bloße
Ansammlung von Bildern oder Bildreproduktionen ist es (noch) nicht, es sei denn, dem
Arrangement ist ein implizierter und zugrundeliegender Logos, ein explizierbares Anord-
nungssystem oder gar eine Argumentationsabsicht zu entnehmen. Kataloge zu Beständen
von Kunstwerken nehmen verbale Identifizierungen vor, indem sie Titel nennen oder
geben, die abgebildeten Objekte zu- und einordnen, sie knapp oder ausführlich inter-
pretieren, sie kontextualisieren – durch Begriffe, Namen, Erzählungen, historische und
ästhetische Beurteilungen etc. Angaben zu den Künstlern, ihrem Œuvre, ihrer Zeit und
kulturellen Provenienz, ihrer Stilrichtung und ästhetischen Orientierung lassen sich dabei

1   Vgl. etwa Gemoll (1965, S. 416).
2   Umberto Eco (2009) hat in Vertigine della lista eine Erweiterung des Begriffs der Liste vorgenommen und
    ihn auf Bildarrangements ausgedehnt. Die Basis-Botschaft (das Grundargument) einer ‚unendlichen Liste‘ in
    Text- oder Bild-Form lautet nach Eco: Es gibt noch mehr aufzulisten – und es gäbe entsprechend noch mehr
    zu sagen.

© 2022 Monika Schmitz-Emans - http://doi.org/10.3726/92171_155 - Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namens-
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als Minimalnarrative oder Erzählungen in nuce interpretieren. In Katalogen wird manifest,
wie logoi Bilder erschließen, sich diese damit aber auch in einem gewissen Sinn assimilie-
ren und aneignen, sie in ihren Dienst nehmen, damit jedoch zugleich Deutungsoptionen
eröffnen und Verständnisangebote machen. Als die entscheidende Funktion von Katalogen
über Bildwerke kann es gelten, die dargestellten Bilder an die Sphäre der Diskurse, der logoi
im weiteren Sinn, anzuschließen. Dies kann dann im Übrigen auch noch andere Zwecke
haben, etwa im Fall von Auktionskatalogen, die merkantilen Transaktionen dienen.

(c) Über Bilderkataloge und Poetiken. Die Macht von Wörtern wird auf eindrückliche
Weise u. a. dort manifest, wo sie Fiktionen hervorbringen oder mit der zunächst als ge-
geben unterstellten Grenze zwischen Nichtfiktionalem und Fiktionalem spielen. Einen
Sonderfall solchen Spielens stellt die Abfassung von Katalogen fiktiver Bilder dar, also von
katalogartigen Texten, die Bilder beschreiben, die es in der wirklichen Welt nicht gibt.
Solche Kataloge können Teil fiktionaler Werke sein oder diese ganz ausmachen, ergänzt
vielleicht nur um einen knappen Rahmentext. Der Umstand, dass Bilderkataloge oft dazu
dienen, die unmittelbar anschauende Begegnung mit Bildern zeitweilig oder ganz zu erset-
zen, weil die Bilder weit weg oder sogar zerstört sind, während der Katalog als Text zirku-
liert, erleichtert das Spiel – Kataloge beschreiben ihre Objekte, aber mit Blick auf die Frage
nach deren Existenz haben sie keine Beweiskraft. Kataloge imaginärer Bilder schaffen (als
Spezialbeispiel für die Kreativität des Fingierens) Bilderwelten, die durch ihre Beschrei-
bungen an die Seite realer Bilder treten. Die im Katalog gebotenen Bilderbeschreibungen
können dabei als Ensemble die Grenze zwischen realen und imaginären Bildern noch
zusätzlich verunklaren, nämlich wenn sie einerseits realen, andererseits fingierten Bildern
gelten – oder wenn sie bei der einzelnen Bildbeschreibung realbildliche und fingiert-bild-
liche Informationen mischen. Alles in allem: Bilderkataloge bieten reizvolle Anlässe für
ein Spiel mit Modi des Fingierens, vor allem deshalb, weil sie in der Alltagswelt und in
Wissensdiskursen meist der Darstellung von Realien dienen, deren Realität durch sich
selbst aber nicht verbürgen können.
   Anders scheint es zu sein, wenn Kataloge bebildert sind: Bezeugen nicht die Bilder als
Illustrationen des jeweils begleitenden Textes die Existenz des Beschriebenen? Aber auch
hier bieten sich Ansätze für literarische Spiele mit der Grenze zwischen Fiktionalem und
Nichtfiktionalem. So etwa können bebilderte Kataloge in literarisch-fiktionalen Kontexten
fiktionale Angaben enthalten, hinsichtlich genannter Bildmotive und Entstehungsgeschich-
ten fiktionale Zuordnungen treffen und aus den Bildern fiktionale Sinnzusammenhänge
konstruieren.
   In literarischen Texten sind solche und andere Möglichkeiten des fiktionalen Spiels
variantenreich erkundet worden. Kataloge erfundener Bilder haben u. a. vielfach die
Funktion, fiktive Maler zu porträtieren und von ihrem Schaffen zu erzählen; dies bietet
in Malerromanen und anderen Texten über bildende Künstler dann bspw. Gelegenheit
zur literarisch-narrativen Auseinandersetzung mit Kunst und mit Ästhetiken. Während
realistische Erzählwerke eher darauf zielen, die erfundenen Kunstwerke in einer Weise zu
konzipieren und darzustellen, die sie realen analog erscheinen lässt, können in anderen
Erzählkontexten Bilder beschrieben und katalogisiert werden, deren Beschreibung als
solche bereits irritiert.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                 Peter Lang
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   Selbstverständlich können auch fiktionale Werke Kataloge oder katalogartige Passagen
aus realen Kunstwerken enthalten und entsprechende Reproduktionen integrieren; eine
zentrale Fiktionsstrategie liegt hier dann in einem fingierten Bezeugungsgestus.
   Mit all dem geht es implizit um Poetiken, also um spezifische logoi. Einen Katalog
imaginärer und folglich unsichtbarer Bilder enthält Alessandro Bariccos Roman Oceano
Mare (1993), der dabei für die Unsichtbarkeit der Bilder auch eine Erklärung anbietet; sie
wurden mit Wasser gemalt. Demgegenüber bietet Max Aubs Roman über den Maler Jusep
Torres Campalans (1958) einen Katalogteil mit sichtbar reproduzierten Bildern, nur, dass
deren durch Texte erfolgende Identifikation als Bestandteile des Œuvres von Campalans
fiktional ist (es handelt sich um Werktitel, Angaben zur Entstehungszeit und zum jeweili-
gen Sujet, aber auch um weitere Hinweise), denn der Maler selbst ist eine Fiktion. Die als
solche durchaus realen Reproduktionsvorlagen stammen von Aub selbst, der sie zeitnah
zum Erscheinen des Romans zunächst als Teilœuvre des Malers Campalans ausstellen
ließ – in räumlich-konkreter Erweiterung der Romanfiktion auf einen Teil des kulturellen
Lebens von Mexico City.
   Georges Perecs Roman Un cabinet d’amateur (1979) enthält mehrere Katalogtext-Anteile,
die jeweils aus Werkbeschreibungen und Informationen zu fiktionalen Gemälden bestehen.
Es handelt sich um kommentierte Listen mit von einer Romanfigur gesammelten Kunstwer-
ken und um einen Auktionskatalog. In diesen Katalog-Passagen wird das Prinzip der mise
en abyme als tragendes Konstruktionsprinzip des ganzen Romans bespiegelt; sie sind also
selbst mises en abyme des Romans. Als dessen Thema und Konstruktionsprinzip bestimmen
lässt sich die Entdifferenzierung zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Gegebenheiten,
Figuren, Ereignissen und Werken: Historisches und Erfundenes, Elemente des kunsthisto-
rischen Diskurses und deren verfremdende Parodien gehen ineinander über und dies auf
mehrfach gestaffelten Darstellungsebenen. Das titelgebende (und ebenfalls ausführlich
beschriebene) fiktionale Gemälde Un cabinet d’amateur ist eine visuelle mise en abyme der
Romankonstruktion, so wie die Katalogpassagen eine verbale (bildbeschreibende) sind.
   Katalogpassagen zu Werken der bildenden Kunst tauchen in Erzählwerken der vergan-
genen Jahrzehnte in verschiedenen, manchmal zentralen Funktionen auf und konstituieren
als Ensembles jeweils ganze Bilder-Kataloge – so etwa auch in John Banvilles Athena (1995)
und in Steven Millhausers Catalogue of the Exhibition (1993). Hier finden sich die aus Ar-
tikeln arrangierten Kataloge jeweils in fiktionale Narrationen so integriert, dass sie deren
Rezeption insbesondere mit Blick auf Entdifferenzierungen zwischen Fiktion und Nicht-
fiktion stark mitbestimmen.3 Vor allem die Beispiele Bariccos, Aubs und Perecs illustrieren
besonders deutlich, dass gerade die Schreibweise des Katalogs Affinitäten zur literarischen
Entfaltung zentraler poetologischer Themen besitzt, zum reflexiven Spiel mit der Grenze
zwischen Wahrnehmbarem und Imaginärem und mit der zwischen Historisch-Faktischem
und Fiktionalem. In den Dienst der Fiktion treten können dabei nicht nur Bilder, die zwar
katalogartig beschrieben werden, aber unsichtbar bleiben (Baricco, Perec), sondern eben
auch solche, die man sieht (Aub).

3   Vgl. zu Millhauser: Fricke (2017, 119–159).

Peter Lang                                                  Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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(d) Über imaginäre Museen. Der Begriff des ‚imaginären Museums‘ verbindet sich eng mit
der Erinnerung an Bildbände, die André Malraux konzipiert und gestaltet hat, wobei er
mit seinem Konzept des ‚Musée imaginaire‘ an konkret-buchmaterielle und konzeptuelle
Vorarbeiten anderer anschloss.4 ‚Musée imaginaire‘ nannte Malraux Fotobände mit Abbil-
dungen von Werken der bildenden Kunst, die er als buchförmige Analoga oder Äquivalente
begehbarer, ‚großer‘ Museen begriff. In jedem Fall handelt es sich bei den Bildbänden um
Kataloge – oder (mit Ecos erweitertem Listenbegriff gesagt) um Bilder-Listen –, genauer
um den Sonderfall eines Katalogs zu einer imaginären Objektsammlung. Nicht-imaginär
hingegen sind die Bilder selbst, die das Buch (als deren ‚Museum‘) versammelt.
   Die hier in Gestalt von Reproduktionen ausgestellten Kunstwerke stammen aus
unterschiedlichen Kulturkreisen und Epochen, und ein Grundcharakteristikum des
‚Musée imaginaire‘ liegt darin, dass es durch seine Bilder Objekte aufeinander bezieht und
stellvertretend versammelt, die an keinem realen Ort der Welt, in keinem realen Museum,
versammelt zu finden sind. Erst das ‚imaginäre Museum‘ bringt sie zusammen, und es
erlaubt dabei unkonventionelle Gegenüberstellungen – auch und gerade solche, die in kei-
ner realen Museumsinstallation vorgenommen wurden, teils auch gar nicht vorgenommen
werden könnten. Die fotografische Abbildung überbrückt nicht nur räumliche Fernen, sie
kompensiert auch stark differierende Materialitäten und Größenmaßstäbe, die dann im
‚Musée imaginaire‘ eingeebnet werden können.
   Malraux’ verschiedene Umsetzungen seines ‚Museums‘-Konzepts in Gestalt von Bild-
kunstbänden5 lenken den Blick auf die Bilder respektive die zum Schauen einladenden
abgebildeten Objekte, scheinbar ohne viele Worte zu machen. Die Bildlegenden bieten
nur basale Informationen zum jeweiligen Bildmotiv. Bei aller Spärlichkeit seines sichtbaren
Verbalanteils basiert das ‚Musée imaginaire‘ aber doch auf logoi, und zwar auf solchen,
die dem ästhetischen Diskurs bzw. der Kunsttheorie zuzurechnen sind. Das ‚imaginäre
Museum‘ argumentiert im Sinne einer spezifischen Ästhetik.
   Propagiert wird erstens eine stark intellektualistische Kunsterfahrung – und damit ein
intellektualistisches Kunstkonzept. Dies kommt schon darin zum Ausdruck, dass für
Malraux die fotografischen Reproduktionen Äquivalente ihrer Urbilder sind. Als Muse-
umsexponate erfüllen sie dieselbe Funktion wie die Originale, und dies ist möglich, weil
materielle Konkretheit und physische Präsenz der Werke offenbar nicht bedingend für das
eigentliche Kunsterlebnis sind. Das ‚imaginäre Museum‘ verstärkt nach Malraux’ Über-
zeugung den intellektualistischen Bezug des Publikums zur Kunst, nicht nur, weil seine
Exponate durch ihre fotografisch-abstrahierende Darstellung das Gewicht des sinnlichen
Eindrucks reduzieren, sondern auch, weil die fotografischen Aufnahmen selbst Umsetzun-
gen von Intentionen sind.6 Das ‚imaginäre Museum‘ ist als Ort einer primär intellektuellen

4   Le Musée imaginaire erschien als Bd. I der Psychologie de l’art in Genf 1947; Le Musée imaginaire de la sculpture
    mondiale dreibändig in Paris 1952–1954; einem ähnlichen Konzept verpflichtet sind auch die Bände: Les Voix
    du silence, Paris 1951 und L’Univers des formes, 42 Bde. Paris 1960–1997. Hier benutzte Ausgabe: Malraux
    1987.
5   Dazu ausführlich Grasskamp (2014). Malraux realisiert seine Idee in folgenden Bänden: Le Musée imaginaire.
    Bd. I der Psychologie de l’art. Genf 1947. [Dt.: Das imaginäre Museum. Bd. I der Psychologie der Kunst. Übers. v.
    Jan Lauts. Baden-Baden 1949.] – Les Voix du silence. Paris 1951. – Le Musée imaginaire de la sculpture mondiale.
    3 Bde., Paris 1952–1954.

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Kunsterfahrung kein Gegenspieler des realen Museums, sondern konsequente Realisierung
eines auch die jüngere Geschichte des letzteren bestimmenden Trends, der sich vor allem aus
der wachsenden Fülle und Vielfalt mental und begrifflich zu verarbeitender Exponate ergibt.

       Unsere Beziehung zur Kunst ist seit mehr als hundert Jahren immer intellektueller geworden. Das
       Museum zwingt zu einer Auseinandersetzung mit allen Ausdrucksmöglichkeiten der Welt, die es
       in sich vereint; sie müssen hier auf ihr Gemeinsames befragt werden.7

Zweitens ist gerade die Fotografie für Malraux als Vermittlerin einer primär intellektuellen
Kunsterfahrung wichtig. Die Möglichkeit fotografischer Abbildung von Kunstwerken,
wie sie sich im 20. Jahrhundert etabliert hat, hilft nicht nur dabei, im Umgang mit Kunst
Kontingenzen wie Besitzverhältnisse und räumliche Entfernungen zu überwinden; sie
erleichtert nicht nur den Umgang mit der Größe, dem Gewicht oder der Zerbrechlichkeit
von Kunstwerken, indem sie diese in der Repräsentation aufhebt (‚aufhebt‘ in mehrfachem
Sinn) – sie bietet vor allem die Gelegenheit zu sonst unmöglichen Überblicken.8 Die foto-
grafisch bedingte Verähnlichung der (stets schwarz-weiß) abgebildeten Dinge wird nicht
als Verfälschung, sondern (zumindest implizit) als Herauspräparieren latenter Verwandt-
schaften der Kunstwerke verstanden, die eben nicht auf der Ebene der Materialität, Sicht-
barkeit, Konkretion liegen, sondern auf einer anderen – auf einer immateriellen; Malraux
charakterisiert bzw. identifiziert diese als Ebene des Stils. Dieses Immaterielle sichtbar zu
machen, übernehmen die Buchseiten des ‚imaginären Museums‘.9 Mittels der Fotografie
siegt der Geist über das Materielle.
   Insgesamt sollen die Malraux’schen Fotobände drittens vor allem der Vermittlung eines
bestimmten ästhetischen Konzepts dienen: Es gilt, den programmatischen Begriff einer
„Weltkunst“ (art mondial) zu visualisieren.10 Vor allem die vielen Parallelisierungen zwischen

 6 Malraux (1987, 19): „Die Reproduktion ist nicht Ursache, wohl aber wirkungskräftigstes Mittel für den Intel-
   lektualisierungsprozeß, dem wir die Kunst unterwerfen; selbst die Kniffe und Zufälligkeiten der Reproduktion
   leisten diesem Prozeß noch Vorschub. Die Rahmung eines Bildwerks, Aufnahmewinkel und vor allem bewußte
   Ausleuchtung können oft etwas, was sich vorher nur als anregende Vermutung anbot, zu einer Art zwingender
   Gewißheit erheben.“
 7 Malraux (1987, 9).
 8 Malraux (1987, 12): „[…] heute hat man alles zur Verfügung. Im Louvre gab es mehr charakteristische Werke,
   als auch der gebildetste Liebhaber im Geiste festzuhalten vermochte; heute deren mehr als im größten Museum
   der Welt. Denn ein imaginäres Museum, wie es noch niemals da war, hat seine Pforten aufgetan: es wird die
   Intellektualisierung, wie sie durch die unvollständige Gegenüberstellung der Kunstwerke in den wirklichen
   Museen begann, zum Äußersten treiben. Was die Museen angeregt hatten, geschah: der bildenden Kunst
   erschloß sich die Vervielfältigung im Druck.“
 9 Malraux (1987, 19 f.): „[D]ie Schwarzweiß-Photographie [schafft] eine gewisse ‚Verwandtschaft‘ ihrer voneinan-
   der sonst noch so weit entfernten Darstellungsobjekte […], [m]ittelalterliche Werke, die unter sich so verschieden
   sind wie Wandteppich, Glasfenster, Miniatur, Tafelbild und Statue, schließen sich zu einer Familie zusammen,
   reproduziert man sie auf derselben Seite. Sie verlieren ihre Farbe, ihre Materie (die Skulptur auch einiges von
   ihrem Volumen), ihr Format. Damit verlieren sie alles Spezifische zugunsten einer Stilgemeinschaft.“
10 Bezug zu Reprotechniken vgl. Grasskamp (2014, 108): „Der mediale Quantensprung der Kunstvermittlung
   durch die fotografische Buchreproduktion konvergierte mit einer ebenfalls sprunghaften Erweiterung des genuin
   europäischen Kunstverständnisses. Im Verfügbarkeitsrausch der Reproduktionen wurde nun zur Weltkunst,
   was immer für das europäische Auge interessant war und ästhetisch stimmig schien – und wovon es eine Re-
   produktion gab.“

Peter Lang                                                             Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Werken unterschiedlicher Epochen und unterschiedlicher Kulturen ergeben im Kontext des
‚Weltkunst‘-Konzepts ein ‚Argument‘ (im Sinne eines Arrangements, das Überzeugungsar-
beit leisten will): Die Bilderkombinationen sollen der Beweisführung dienen, dass sich im
Raum der Weltkunst ähnliche Formen und Gestaltungsmodi wiederholen, dass die Kunst
der ganzen Welt also offensichtlich aus einem gemeinsamen Fundus schöpft.
   Kunstbände sind dem Grundkonzept des ‚imaginären Museums‘ zufolge Argumente,
ihre Form der Kunst-Abbildung ist Kunst-Konstruktion und damit einem Verfahren
diskursiver Konstruktion analog. Die Bilder des ‚imaginären Museums‘ leisten, anders
gesagt, etwas Ähnliches wie Wörter, syntaktische Muster und rhetorische Mittel in verba-
len Argumentationen. In Katalogen wie diesen manifestiert sich die ordnende Macht der
logoi, mit Bildern zu arbeiten.11 Malraux ist sich der mit fotografischen Reproduktionen
verbundenen Verfremdung, der radikalen Verwandlung der Originalwerke durchaus be-
wusst. Er spricht sogar davon, mit seinen Fotobänden eine „Kunst der Fiktion“ geschaffen
zu haben (wobei er die so geschaffene Kunst-Welt mit Romanfiktionen vergleicht), ohne
dies (selbst-)kritisch zu meinen.

        Dadurch, daß sie systematisch diesen Maßstab ihrer Objekte verfälschte, orientalische Spiegelab-
        drücke wie Abgüsse von Säulentrommeln, Amulette wie Statuen wiedergab, hat die Reproduktion
        eine Kunst der Fiktion geschaffen – auch der Roman macht die Wirklichkeit ja von der Phantasie
        abhängig.12

II. Neue ‚imaginäre Museen‘. Katalogwerke von Dieter Wellershoff und Michel Butor. Gleich
zweimal ist in jüngerer Zeit ans Konzept des ‚imaginären Museums‘ angeknüpft worden.
2013 erschien Dieter Wellershoffs Was die Bilder erzählen. Ein Rundgang durch mein
imaginäres Museum, zwei Jahre später Michel Butors Le Musée imaginaire de Michel Butor.
105 Œuvres décisives de la peinture occidentale. Beide Bände bieten eine erhebliche Zahl
an Reproduktionen von Werken der Malereigeschichte. Anders als bei Malraux sind die
Bilder im Buch farbig, und ihre Arrangements zielen nicht darauf, ungewöhnliche Kons-
tellationen zwischen historisch und kulturell Differentem herzustellen; die Beispiele stam-
men vielmehr alle aus dem Bereich der abendländischen Kunst.
   Ein weiterer Unterschied liegt im Umfang der Texte, die die Bildreproduktionen begleiten;
sie stammen von Butor respektive von Wellershoff und lassen sich deren jeweiligen Schreib-
stilen unbeschadet ihrer faktenbezogenen Anteile leicht zuordnen; mit Sachinformationen
verbinden sich Interpretationsansätze, die subjektiven Interessen entsprechen und dies auch
zu erkennen geben. Wellershoff bietet eine Serie von Themenkapiteln, in die die jeweils
zugehörigen Bilder als Visualisierungen seines Textes eingefügt sind; Butor kommentiert
nacheinander jeweils einzelne Werke in je eigenen Abschnitten. Beide Gestaltungsverfahren

11 Malraux hat sich beim Disponieren seines imaginären Museums mehrfach fotografieren lassen. Die Fotos insze-
   nieren ihn als Herrn der Bilder, der mittels der Bilder eine Argumentation zu führen plant; seine Ordnungs- und
   Verfügungsgewalt über diese Bilder wird visuell durch die Ausbreitung der Bilder am Boden sinnfällig. Zum
   Thema vgl. Grasskamp (2014, 11–21).
12 Malraux (1987, 20).

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                   Peter Lang
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entsprechen geläufigen Formen des Museums- oder Ausstellungskatalogs bzw. des kata-
logartigen Kunstbandes; auch an bildbezogenen Informationen findet sich manches, was
ebenso in einem Museums-, Ausstellungs- oder sonstigen Kunstkatalog stehen könnte. In
einem aber setzen beide Autoren einen eigenen, für konventionelle Kataloge unüblichen
Akzent: Wellershoff führt durch „mein imaginäres Museum“, Butor durch das „Musée
imaginaire de Michel Butor“. Das Subjekt des individuellen Museums-Kurators bringt sich
in einer Weise zur Geltung, die an die Selbstinszenierung des Bilder-Arrangeurs Malraux
vor der Kamera erinnert. Konstitutiv für diese beiden neueren ‚imaginären Museen‘ sind
die Interessen ihrer Kuratoren, die mittels ihres Arrangements etwas zu vermitteln suchen –
einen als Text-Bild-Arrangement gestalteten Logos. Neben den persönlichen Affinitäten
Wellershoffs bzw. Butors zu den fürs Buch-Museum ausgewählten Werken spielt dabei ein
poetologisch-ästhetisches Interesse eine entscheidende Rolle – so die im Folgenden leitende
These. Es geht, anders gesagt, nicht nur, vielleicht nicht einmal primär um die Vermittlung
kunsthistorischen Wissens. Bei Butor taucht die Vokabel „Argument“ sogar explizit auf: im
ersten Abschnitt, der Voraussetzungen und Konzept des Bandes erläutert.13 Welche logoi
haben für die beiden Autoren so zentrale Bedeutung, dass sie ihnen einen Katalog widmen?

(a) Dieter Wellershoffs Poetik künstlerisch vermittelter Realitätserfahrung im Spiegel seines
‚imaginären Museums‘. Aus den ausgewählten Gegenständen von Wellershoffs ‚imagi-
närem Museum‘ (den reproduzierten Gemälden, ihren Sujets, den Rahmenbedingungen
und konkreten Anlässen ihrer Entstehung), aus all dem, was in den Texten Wellershoffs
zur Sprache kommt, vor allem aber aus den Modi seines Schreibens lassen sich folgende
Grundannahmen und Thesen herausdestillieren, die zusammen das Gerüst einer Poetik
ergeben. Erstens: Kunst und Literatur – so die zentrale Ausgangsthese – gründen in Reali-
tätserfahrungen, nehmen Bezug auf diese, beziehen (implizit) Stellung zu ihnen. Zweitens:
An der Art, wie Realität im Kunstwerk dargestellt wird und werden kann, hat das Subjekt
der Erfahrung in seiner je besonderen historischen Situation und psychischen Dispositi-
on bestimmenden Anteil. Drittens: Malerei und Literatur sind einander als Künste eng
verbunden. Schon die vom Buchtitel vermittelte Suggestion, dass Bilder etwas ‚erzählen‘,
bekräftigt ja die Homologie zwischen Bilder-Welten und Sprach-Welten.
   Eine Vorbemerkung zu Beginn des Bandes dient der Information über dessen Konzept.
Charakteristisch ist die Rahmung durch eine persönliche anekdotische Erinnerung, die
den subjektiven Zug des Unternehmens betont. Die Spannung zwischen einem zunächst
sprachlosen Eindruck und dem Drang, diesen schreibend in Sprache zu übersetzen, wird
als Basisimpuls verstanden. Eine von Wellershoff besonders betonte Herausforderung liegt
in der Besonderheit der einzelnen Bilder, ihrer gestalterischen Vielfalt, die hier als „Leben-
digkeit“ beschrieben wird und die Frage nach einer angemessenen sprachlichen Kommen-
tierung aufwirft. Das Oszillieren zwischen je besonderem Eindruck und der Besonderheit
seiner Auslösers einerseits, dem Impuls zu verbaler Deutung, Zusammenführung und
Vergleich andererseits lässt die Produktion des ‚imaginären Museums‘ zu einem Modellfall
ästhetischer Reaktion auf die vielfältige, ‚lebendige‘, aus je individuellen Dingen bestehende

13 Butor (2019, 9–15).

Peter Lang                                                 Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Realität werden.14 Die Nutzer des Buchs können mit diesem, so Wellershoff, wie mit einem
Museum unterschiedlich umgehen: Sie können sich flanierend ohne vorgefertigten Plan
den Einzelerscheinungen zuwenden, können aber auch einem linearen Parcours folgen und
es systematisch durchgehen.15
    Der Band folgt zwar im Groben einer chronologischen Anordnung, Wellershoff hat
aber die gezeigten und kommentierten Bilder nach thematischen Kriterien ausgewählt und
gruppiert. Weniger als um historische Stile geht es um Sozialstrukturen, Lebensformen,
Sitten, Moralvorstellungen, Macht: um menschliche Lebensverhältnisse, um Rollenspiele
und die Beziehungen zwischen ihren Akteuren.
    Das Inhaltsverzeichnis nennt als Abteilungen (Kapitel) des Bandes die Themen der zu-
sammengestellten Bildergruppen bzw. die Aspekte, unter denen diese betrachtet werden. So
geht es etwa um „Sittendramen und Machtkämpfe“ (in diesem Kontext vorgestellt werden
u. a. „Verschiedene Darstellungen von Judiths Tötung des Holofernes“). Andere Kapitel
gelten bestimmten Künstlern, die auf jeweils prägnante Weise die soziale Welt und ihre
eigene Zeit dargestellt haben, auch und gerade durch Verzerrungen und Verfremdungen –
so wie z. B. Hieronymus Bosch.16
    Immer wieder betont wird im Durchgang durch die Malereigeschichte seit der Frühen
Neuzeit die Gründung künstlerischer Produktivität in konkreten sinnlichen Erfahrungen,
unabhängig vom jeweiligen Sujet, unabhängig von der Entscheidung für einen eher rea-
listischen oder einen eher fantastischen Malstil, ja selbst bei Vertretern abstrakter Malerei.
Damit bekräftigen Wellershoffs kunstkritische Texte eine Ansicht, die als poetologische
Maxime in seiner Poetikvorlesung Das Schimmern der Schlangenhaut formuliert wird:

        Nichts entsteht aus nichts, nicht einmal Ideen. Schon gar nicht die sinnlichen Szenarien der Lite-
        ratur, in denen uns unser eigenes Leben vor Augen tritt. Um thematisch zu werden, um von etwas
        sprechen zu können, braucht auch die freie Phantasie den Reibungswiderstand der Erfahrung.17

Ein dominantes Interesse Wellershoffs als Romancier, Literaturtheoretiker, Essayist und
Kunstkritiker gilt den Modi und Folgen dieser Verankerung literarischer und künstlerischer
Darstellung in erfahrener Realität. Er betont dabei die Subjektivität dieser Erfahrung, den

14 Wellershoff (2013, 15): „Stellen Sie sich das Buch als ein Museum mit vielen aneinandergrenzenden Räumen
   voller Bilder vor und schlendern Sie, Ihren Interessen und Ihrer Neugier folgend, hindurch. So etwa – von
   Bild zu Bild wechselnd – habe ich das Buch zu schreiben begonnen. Angeregt wurde ich durch die Frage eines
   Redakteurs, ob ich mir vorstellen könne, mit einem einzigen Satz etwas Treffendes über ein Bild zu sagen. Ich
   habe diese Frage in ihrer abstrakten Radikalität zunächst mit Nein beantwortet. Dann aber ist mir eingefallen,
   dass sie anders zu verstehen war. Sie sagte eigentlich aus, dass die Erschließung eines künstlerischen Bildes mit
   einer starken, fast noch sprachlosen Anmutung beginnt. Man muss die innere Dynamik spüren, die das Bild
   hervorgebracht hat. Das wurde mein Kriterium für die Auswahl der Bilder, als ich, noch ohne weitere Perspektive,
   das Buch zu schreiben begann. Alles Weitere kam nach und nach hinzu. Die vielen einzelnen Bilder verlangten
   nach Vergleich und Struktur, um deutlicher und kenntlicher zu werden. Jedes gehörte zu einem künstlerischen
   Lebenswerk, einem Zeitstil, einer Epoche, und wurde wechselnden aktuellen Tendenzen ausgesetzt. Erst mit
   all diesen Facetten zeigten sich die Bilder in ihrer vielseitigen Lebendigkeit.“
15 Wellershoff (2013, 15).
16 Weitere Themenkapitel sind „Welle und Meer“, „Gegenstandslosigkeit. Abschied vom Abbild – ein Zwischen-
   spiel?“ und „Entgrenzung, Chaos, Konflikt. Ein Streifzug.“ (jeweils zu Werken verschiedener Künstler).
17 Wellershoff (1996, 61).

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konstitutiven Anteil jeweils persönlicher und historischer Parameter an dem, was als Realität
wahrgenommen und zum Gegenstand künstlerischer oder literarischer Darstellungen wird.
Erfahrene Realität ist für Wellershoff aber kein beliebig verfügbares Substrat subjektiver
Deutungen und Darstellungsexperimente. Sie ist immer auch widerständig und bringt sich
durch solchen Widerstand zur Geltung. Sie irritiert und stimuliert eben deshalb zu neuen
Sehweisen und Interpretationen – in Gestalt literarischer wie malerischer Darstellungen.
   Als Hauptthema der Literatur wie der Malerei versteht Wellershoff die Spannung
zwischen erfahrendem Subjekt und (widerständiger) Welt – einer Welt, die nie als reine
Objektivität zu fassen ist, sondern als Fülle von Gegenständen, die aus wechselnden Per­
spektiven wahrgenommen werden. Der vergleichende Blick auf unterschiedliche künstle-
rische Stile gilt immer wieder vor allem der Frage, wie da jeweils Realitäten ins Bild gesetzt
werden, welche Art von Realismus das Werk bestimmt.18 Epochenstile bilden sich heraus, wo
sich die Perspektive auf Realität in einer Weise verschiebt, die größere Zeiträume betrifft.19
Epochenübergreifend hingegen bringt sich in der Malereigeschichte ein Grundansatz zur
Geltung, den Wellershoff als Blickwechsel umschreibt: Das Vergangene schaut den gegen-
wärtigen Betrachter durch die Gemälde hindurch an und nötigt ihn so, auf diesen Blick
zu reagieren. Einleitend in die Abteilung „Sittendramen und Machtkämpfe“ (zu Bildern
von Antonello da Messina, Sandro Botticelli, Francesco Rosselli, Michelangelo Caravaggio
und Lucas Cranach d. Ä.) findet sich eine Bemerkung zu zwei Porträts von Antonello da
Messina (Il condottiere, 1475) und Sandro Botticelli (Junger Mann mit der Medaille von
Cosimo de’ Medici, 1475), in der es – so der Titel des Abschnitts – um „Das Zeugnis der
Blicke“ geht (die beiden Porträtköpfe schauen aus dem Bildraum heraus):

       Wir schauen in die Vergangenheit, und die Vergangenheit schaut zurück. Diesmal in Gestalt
       zweier Männerköpfe, […] beide mit nach rechts gewandten Köpfen, aber nach vorne gerichtetem
       Blick. Das erweckt den Eindruck, sie hätten dort beide etwas entdeckt, was nicht unbedingt
       zu erwarten war, nämlich uns, ihre Betrachter. Uns trennen gegenwärtig annähernd 550 Jahre,
       lebensgeschichtlich ein zeitlicher Abgrund. Doch ich fühle mich über diesen Zeitraum hinweg
       forschend und fragend angeschaut, wenn auch anscheinend in unterschiedlichem Interesse. Der
       Blick des linken Mannes wirkt fest und abschätzig und auf klare Distanz bedacht. Der Blick des
       etwas jüngeren Mannes [rechts] […] ist fordernder und fragender, ein abwägender Blick aus einer
       defensiven Position. Wer sind die beiden?20

Realitätshaltigkeit, das bedeutet auch und gerade im Kontext der Malerei eben nicht
mimetische Abbildlichkeit im Sinne einfacher Verdopplung des physisch Sichtbaren.
Zu Wellershoffs Repräsentanten der abendländischen Malerei gehören auch Vertreter

18 Wellershoff (1996, 62): „Sehen ist […] notwendig perspektivisch und selektiv. Es hängt von unseren prägenden
   Erfahrungen ab, wie wir die Welt und uns selbst in ihr wahrnehmen, was uns erregt und was uns gleichgültig
   läßt, in welcher Hinsicht wir scharfsichtig und in welcher wir blind sind.“
19 In seinen Frankfurter Vorlesungen (Das Schimmern der Schlangenhaut) hat Wellershoff die Moderne als ein
   Zusammenspiel von Weltentgrenzung und Subjektivierung des Blicks beschrieben. Vgl. die erste Vorlesung
   („Subjektivierung und Entgrenzung“) in Wellershoff (1996, 9–32).
20 Wellershoff (2013, 17). Der Abschnitt endet mit der Mitteilung des Bildkommentators, er habe sich
   „inzwischen“ über die beiden informiert und wisse, „mit wem er es zu tun habe“ (Wellershoff [2013, 17]).
   Dieses Wissen fließt dann in die Bildkommentare (S. 20 ff.) ein.

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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malerischer Fantastik wie Hieronymus Bosch. Was Wellershoff in diesen fantastischen
Bildern sieht, ist jedoch ihr Realitäts-Bezug, der sich ja gerade nicht in äußerlichen
Ähnlichkeiten erschöpft. Über das Motiv eines Betrügers mit Trichter auf dem Kopf bei
Bosch bemerkt Wellershoff etwa: „Fantastik ist das nicht, sondern entlarvende symbolische
Ironie.“21 Wichtig als Ausweis der Realitätsbindung von Kunst ist gerade der Gestus der
Entlarvung, der Freilegung von etwas, das in den gemalten Dingen selbst steckt, aber durch
die malerische Darstellung in einer Weise sichtbar gemacht wird, die das Sehen lehrt.22 Die
von Wellershoff kommentierten Porträtgemälde zielen seiner Lesart zufolge nicht auf die
Schaffung äußerer Ähnlichkeiten. Entscheidend ist gerade hier, wie die Maler ihre Modelle
gesehen und was sie in den betrachteten Gesichtern entdeckt haben.23 Realitätsbezug, das
heißt auch: Geschichten und Geschichte malend ins Bild zu setzen. Und so gilt es in Wel-
lershoffs Museum immer wieder, die vielen Geschichten vor, hinter bzw. in den Bildern
wahrzunehmen, sie herauszupräparieren und in Erinnerung zu bringen – oder sich durch
mögliche Geschichten an sie heranzutasten.
   Wellershoffs Buch-Museum vermittelt eine Ästhetik, die auf dem Realitätsgehalt von
Kunstwerken insistiert. Die einzelnen Bildkommentare beziehen bei aller Diversität ihrer
Gegenstände das Dargestellte, vor allem Personen, immer wieder auf reale Erfahrungsräume,
auch dann, wenn sie das Typenhafte oder Überzeichnete der Figuren betonen. Oft rücken
persönliches Glück und Leid gemalter Figuren und der Maler selbst, aber auch politische
Strukturen, Lebensumstände und Zwänge in den Fokus. Die konsequente Bezugnahme auf
Historisches, auf individuelle Lebensgeschichten wie auf Kultur- und Zeitgeschichtliches,
macht das ‚imaginäre Museum‘ selbst zu einem realitätshaltigen Museum.
   Eines der Maler-Kapitel des ‚imaginären Museums‘ könnte als dessen Kernstück betrach-
tet werden; schon der Titel ist programmatisch, da er den Maler unter dem Aspekt der Dar-
stellung einer – seiner – historischen Welt in den Blick rückt: „Adolf Menzel (1815–1905):
Maler der wilhelminischen Epoche“.24 Dass mit Menzel ein wichtiger Vertreter des maleri-
schen Realismus besonders gewürdigt wird, ist kein Zufall. So wie Wellershoff schriftstel-
lerische Realitätsdarstellung als subjektiven Blick auf Realität versteht, so ist der Menzel,
den er porträtiert, ein schauendes Subjekt, das in seinen Bildern zugleich das eigene Sehen
darstellt – ein Sehen der Welt und seiner selbst als Betrachter. Einem Selbstporträt Menzels
gelten eindringliche Bemerkungen, und die damit verbundene über die Kleinwüchsigkeit

21 Wellershoff (2013, 33).
22 Zu Diego Velázquez’ Porträt Der Hofzwerg Francesco Lezeano (um 1643–1645) heißt es am Ende des Kommen­
   tartextes: „In ihrer [= der Figur] verschwimmenden Identität von Kind und Bettler hat Velázquez, die historischen
   Zeiten übergreifend, das maskierte Leiden unentrinnbarer Selbstentfremdung aufgedeckt.“ (Wellershoff
   [2013, 51]).
23 Der Text zu Ilja Repins Porträt Leo Tolstoi (1887) bilanziert seine Beobachtungen so: „Es ist das tiefe Lebens-
   wissen, das man Tolstois Bild, vor allem dem Blick seiner Augen, ansieht, und [das] ihm seine suggestive Kraft
   verlieh. Er ist mit all seinen Widersprüchen und Spannungen ganz und gar er selbst.“ (Wellershoff [2013,
   133]).
24 Wellershoff (2013, 88–113).
25 Vgl. dazu die Einleitung in das Kapitel „Gegenstandslosigkeit. Abschied vom Abbild – ein Zwischenspiel?“
   (Wellershoff [2013, 170 f.]). Wellershoff deutet den Weg in die gegenstandslose Malerei als Reaktion auf die
   Fotografie, die vom Hilfsmittel zur Konkurrenz bei der Verbildlichung der sinnlichen Welt geworden war.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                     Peter Lang
Monika Schmitz-Emans: Das imaginäre Museum als literarischer Bilderkatalog | 165

des Künstlers signalisiert dessen besonderen Blickpunkt auf die Welt. Leid sensibilisiert
für Realitäten, Kurzsichtigkeit für die Abhängigkeit des Sehens von seinen Bedingungen.
    Nach Menzel als einem Gipfelpunkt realistischer Kunst haben sich die folgenden Gene-
rationen der abstrakten Kunst zugewandt; auch dies stellt Wellershoff dar,25 verweist aber
auch auf die neuerliche Hinwendung zu realistischen Malstilen im 20. Jahrhundert. Die
letzten Kapitel des ‚imaginären Museums‘ dokumentieren neue Formen der gegenständli-
chen Malerei, so z. B. auch Werke fotorealistischer Maler, insbesondere Gerhard Richters.
Vergleicht man Wellershoffs poetologische Reflexionen mit seinem Kapitel über Menzel,
so erscheint dessen Schaffen wie eine Einlösung der Forderungen, die Wellershoff schon in
den mittleren 1960er Jahren an einen „Neuen Realismus“ in der Literatur gerichtet hat. Für
literarische Darstellung maßgeblich sei, so heißt es hier mit Blick auf eine programmatisch
geforderte Gegenwartsliteratur,
       der sinnlich konkrete Erfahrungsausschnitt, das gegenwärtige, alltägliche Leben in einem
       begrenzten Bereich. Der Schriftsteller will nicht mehr durch Stilisierung, Abstraktion, Projekti-
       on seiner Erfahrungen in ein Figurenspiel eine abgeschlossene Geschichte, Allgemeingültigkeit
       und beispielhafte Bedeutung erreichen, sondern versucht möglichst realitätsnah zu schreiben,
       mit Aufmerksamkeit für die Störungen, Abweichungen, das Unauffällige, die Umwege, also den
       Widerstand der Realität gegen das vorschnelle Sinnbedürfnis. […] Distanz und Überblick des
       allwissenden Erzählers gibt es […] nicht mehr, sondern subjektive, begrenzte, momentane und
       bewegte Perspektiven.26

(b) Michel Butors ‚imaginäres Museum‘ und seine Poetik der Interaktion von Wörtern und
Bildern. Michel Butor hat sich als literarischer Autor, Essayist, Kunstkritiker und Gestal-
ter von Büchern immer wieder mit der Beziehung zwischen Sprache und Bildern, verbalen
und visuellen Darstellungsmodi auseinandergesetzt. In erzählenden und essayistischen
Texten beschreibt er vielfach Bilder, reale wie imaginäre, entziffert die Botschaften von
Bildern, schreibt Bildern Aussagen zu, liest sie so, als seien sie lebendige, geräuschvolle,
von Wörtern begleitete Szenen. Er widmet diverse Texte spezifischen Räumen arrangierter
Bilder, schafft lyrische, tendenziell visualpoetische Pendants zu Serien ausgestellter Fotos,
konstruiert Analogien zwischen Romankapiteln und einer imaginären Ausstellung von
Wandteppichen (L’Emploi du temps, 1956). Mit Description de San Marco (1963) schreibt er
ein Werk, das in der Architektur dem mit Kunstwerken angefüllten Markusdom entspricht
und die Stimmen einer Besucherschar visualisiert, die sich durch diesen Kunstraum be-
wegt, begleitet von den imaginären Stimmen der dort abgebildeten Heiligen. Auf der Basis
weitläufiger kunsthistorischer Kenntnisse gestaltet Butor in seinem Dialogue avec Eugène
Delacroix sur l’entrée des Croisés à Constantinople (1998) ein Werk, das u. a. Strategien der
Kataloggestaltung einbezieht. Und mit einer Erzählung zu Gemälden von Paul Delvaux
trägt er zu einem Bildband bei, der als Ganzes ein Katalogband über den belgischen Ma-
ler ist.27 Butor schreibt immer wieder über Bilder, setzt dabei verschiedene Schreibweisen

26 Wellershoff (1997, 843 f.).
27 Vgl. Butor (1975, 13–53). Neben einem Werkverzeichnis und kunstkritischen Texten zu Delvaux, die von
   anderen Verfassern stammen, steht hier eine von Butor erfundene Geschichte, verbunden mit Ausschnitten und
   kleinen Reproduktionen von Delvaux-Gemälden, die wie die visuelle Inszenierung der Geschichte wirken.

Peter Lang                                                        Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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ein, projiziert auf Gemälde insbesondere die Idee, dass die dort dargestellten Figuren sich
unterhalten, strebt aber auch selbst ‚Dialoge‘ mit Bildern an.28 Untereinander und mit
dem Betrachter sprechende Figuren müssen der Sprache mächtig sein; insofern geht es mit
Bildbeschreibungsstrategien dieser Art immer zunächst einmal um die Sprachlichkeit von
Bildlichem, von ‚Wörtern in der Malerei‘.29
   Le Musée imaginaire de Michel Butor bildet als Butors letzte Publikation zu Lebzeiten eine
Art Summe seines Œuvres und knüpft dabei an mehrerlei an: an die schon früher erfolgten
Texte über bekannte Werke der europäischen Malerei, an die Auseinandersetzung mit dem
Themenfeld Sprache und Bild insgesamt, aber auch an sein Interesse an Buchgestaltung, an
Seiten- und Kodexarchitekturen. Der umfangreiche bebilderte Band setzt, anders gesagt,
mehr als einen Argumentationsstrang Butors fort. Wollte man aus ihm poetologische Kern-
und Leitideen herausdestillieren, so wären wohl vor allem die folgenden drei zu nennen.
   Text und Bilder stehen erstens in einem so produktiven Spannungsverhältnis, dass die
Bezugnahme auf Bildhaftes, vor allem auf Werke der bildenden Kunst, zu den ergiebigs-
ten Impulsen des literarischen Schreibens gerechnet werden kann. Besonders profitieren
kann die neuere Literatur von den Möglichkeiten technischer Bildreproduktion im Buch.
Damit ist nicht nur eine neue Ära in der Buchgeschichte, sondern auch eine neue Phase der
Literaturgeschichte angebrochen – die nun ihrerseits Anlass gibt, neue Schreibweisen zu
erproben.30 Als Beispiel für ein malerisches Werk, das als Reproduktion im Buch zu etwas
anderem wird (ohne dass dies als Reduktion wahrgenommen werden sollte), nennt Butor
gerade jenes Bild, das seinem Musée imaginaire als Coverillustration dient (Veroneses Nozze
di Cana); zugleich erwähnt er eine Praxis des Umgangs mit reproduzierten Bildern, die er
in diesem Buch (und anderen) auch gern selbst anwendet: die Reproduktion vergrößerter
Ausschnitte.31
   Die Möglichkeit einer Kombination von Bildern und Texten im Buch ist zweitens für
die Literatur deshalb so wichtig, weil beide Partner dort, wo sie zusammentreffen, einander
wechselseitig stimulieren und gleichsam miteinander interagieren. Es gibt kein reines Bild,
wo Wörter sind, und Texte verändern sich unter dem Einfluss von Bild-Nachbarschaften
(einmal abgesehen davon, dass sie selbst bildhaft sein können und immer auch visuelle
Gebilde sind). Der Affinität von Texten zum Bildhaften hält die Affinität von Bildern zu
Texten die Balance. Butor hat das Zusammenwirken von Sprachlichem und Bildlichem vor
allem in seinem Aufsatz Les Mots dans la peinture (1969) und in einem Teil der Improvisations

28 Butor (1998, 6): „Bei meiner Betrachtung habe ich nicht die Absicht, die Arbeit eines Kunsthistorikers zu
   leisten. Ich möchte vielmehr einen Dialog mit dem Bild führen und es vor Ihren Augen beleben. Die dargestell-
   ten Personen sind für mich Schauspieler einer Truppe, denen ich Rollen zuweise, die sie in diesem großartigen
   Bühnenbild spielen sollen.“
29 Vgl. Butor (1992).
30 Butor (1996, 202): „Die Beziehungen zwischen Literatur und Malerei haben sich infolge der Entwicklung des
   Gedruckten und des Bildes verändert. Die Literatur muß diesen Veränderungen nicht nur Rechnung tragen,
   sondern sie erforschen.“
31 Butor (1996, 200): „‚Die Hochzeit zu Kana‘ von Veronese sehen wir in der Verkleinerung auf der Buchseite
   natürlich ganz anders als im Original. Man ist deshalb dazu übergegangen, neben der Reproduktion des ganzen
   Bildes vergrößerte Detailausschnitte abzubilden. Mitunter können wir ein ganzes Ensemble von Einzelheiten
   betrachten.“

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                 Peter Lang
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sur Michel Butor: L‘Écriture en transformation (1993) erörtert. Er führt eine Fülle von
Beispielen dafür an, dass Sprachliches in Bildern steckt, deren Wahrnehmung beeinflusst,
ja Bilder durch Benennung identifiziert. In der Geschichte der abendländischen Malerei
haben Texte sehr oft als Vorlagen für Bilder gedient, und diese Bilder zu interpretieren
heißt entsprechend immer auch, jene Texte zu rekonstruieren und ggf. zu zitieren. „Auch
der wichtigsten Malerei, der Historienmalerei, lag stets ein Text zugrunde. Das Wesentliche
der Kunstkritik bestand dann darin, den hinter dem Bild liegenden Text aufzufinden.“32
    Nicht nur in interpretierenden Rekonstruktionen der den Bildern zugrundliegenden Texte
werden Bildwahrnehmungsprozesse verbal gesteuert, sondern auch durch die vielfältigen
Modi des Sprechens und Schreibens über Malerei. Wörter, Dialoge, Explikationen etc.
bilden einen Hof um die Bilder herum; dass es eine absolute (vor- und außersprachliche)
Bildwahrnehmung überhaupt geben kann, erscheint zumindest zweifelhaft.33 Denn Bildtitel
(also Namen), Beschreibungsmodi und verbale Erzählungen zu Bildern beeinflussen den
Blick; oft bestimmen sie darüber, was auf diesen Bildern überhaupt sichtbar wird.34 Titel
legen Bilder nicht allein aus, sie machen es auch möglich, sich über Bilder zu verständigen.35
Kunstkritische Texte leiten zur Betrachtung der thematisierten Bilder an und nehmen so
Einfluss auf diese, schlagen Wege des Blicks, ja selbst Einstiege der Betrachter-Fantasie ins
Bild vor, die so umsetzbar werden.36
    Vor allem in Museen umgeben Wörter die Bilder (in Form von Schildchen mit Titeln,
Museumsführern, Katalogen, aber etwa auch über Tonbänder mit Kopfhörerstimmen, die
dann auch die Geschwindigkeit der Bildbetrachtung steuern);37 und in Büchern über Kunst
wird die Mittlerrolle der geschriebenen Sprache besonders sinnfällig.38 Gerade Kataloge, die
Bildbestände und verbale Bildkommentare zusammenbringen, verweisen unter Butor’schen
Prämissen metonymisch auf das, was das Wirken der „Wörter in der Malerei“ (so der Titel
des Butor’schen Essays von 1969) ausmacht: Wo immer Bilder sich versammeln, bringen
sie ihre Wort-‚Höfe‘ mit, bilden sich kata-logoi.
    Die Interdependenzen zwischen Verbalem und Visuellem deutlich zu machen und
Dialoge zwischen Texten und Bildern zu inszenieren, ist drittens für Butor ein zentrales
literarisches Projekt, bei dem die Sprache in ihrer Auslegungsmacht und Suggestivkraft
beobachtet werden kann, zugleich oft aber auch auf das Bild als Widerstand stößt. In Les
Mots dans la peinture betont Butor stark das Zusammenspiel von Wörtern und Bildern; in
den Improvisations geht es auch um unauflösliche Spannungen und Differenzen. Als ein

32 Butor (1996, 198 f.).
33 Butor (1992, 9).
34 Butor (1992, 9 f.).
35 Butor (1992, 15): „Durch den Titel wird nicht nur die kulturelle Stellung des Werkes verändert, sondern auch
   der gesamte Kontext, in dem es sich zeigt: die Bedeutung dieser bestimmten Anordnung von Formen und
   Farben verändert sich während des mitunter sehr langsam fortschreitenden Verstehens dieser wenigen Wörter,
   doch auch die Anordnung selbst verändert sich.“
36 Butor (1996, 203 f.).
37 Butor (1996, 207): „Bei einer Führung durch ein Museum, sei es mit einer Person oder gelenkt durch die
   Stimme eines Tonbandgeräts, zwingt die an unser Ohr dringende Stimme unsere Augen zur Zurücklegung
   eines bestimmten Weges mit kontrollierter Geschwindigkeit. Der Text verwandelt das Bild in einen Film […].“
38 Butor (1996, 207 f.).

Peter Lang                                                         Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)
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Effekt der Wörter erscheint es hier, sich am Bild abzuarbeiten, um ihm vielleicht Botschaften
abzugewinnen, die es gar nicht preisgeben möchte.

        Zu dem von der Malerei veranlaßten Diskurs tritt zwangsläufig ein anderer, der sich zur Schau
        stellt und sich ihr gleichsetzt. So zurückhaltend er sein möchte, er bleibt nicht ohne Auswirkungen,
        und andererseits, so aktiv er auch sein will, er wird immer bei der Art Brennstoff, den er wie eine
        Flamme verbraucht, etwas Unzerstörbares bestehen lassen. Das Bild gleicht einer Aussparung in
        dem Diskurs, der es von allen Seiten zu erfassen sucht, es angreift, es bleibt ein Fenster. Je aktiver
        der Text gegenüber dem Bild wird, umso mehr fordert es ihn heraus. Ein niemals endendes Zwie-
        gespräch, nicht nur zwischen Ohr und Auge, sondern innerhalb des Auges selbst.39

Dabei vermitteln Materialität und Architektur des bewusst gestalteten Buchs zwischen
der Sphäre der Texte und der der Bilder; für beide Medien sind sie gleichermaßen signifi-
kant. Die Doppelseite des Buchs ist ein wichtiges Dispositiv zur Inszenierung produktiver
Spannungen von Text und Bild. In Butors buchästhetischem Aufsatz Le Livre comme objet
(1964)40 wird sie als Diptychon charakterisiert; das Diptychon setzt Butor zufolge die bei-
den Seiten seiner Konstruktion in eine Beziehung.41 Im Musée imaginaire wird eben dieser
Effekt immer wieder für die Gegenüberstellung von Bildern und Texten genutzt.
   Zu den Inszenierungsbedingungen von Dialogen zwischen Visuellem und Verbalem
gehört über die Doppelseite hinaus auch der Aufbau des jeweiligen Buchs, etwa seine
Gliederung in Kapitel. Butors Buch-Museum bietet (anschließend an das dem Konzept
gewidmete „Argument“) sechs Kapitel, analog zu sechs Abteilungen eines Museums:
„Des murs aux pages“, „Le regard du Nord“, „Vertiges de la bourgeoisie“, „La révolution
qui n’en finit pas“, „La technique au défi“ und „Interrogations sans frontières“.42 Die
Reihenfolge der Kapitel entspricht grob einer historischen Chronologie, bei der sich
historische, kultur-, sozial- und kunstgeschichtliche Aspekte verschränken. Um eine
streng chronologische Anordnung geht es aber nicht, sondern um Themenfelder, die
sich historisch profilieren.43
   Ein Kernprojekt der Bildkommentare liegt darin, die den Bildern eingeschriebenen Wörter
und zugrundeliegenden Texte herauszupräparieren, in Erinnerung zu rufen, womöglich auch
zu zitieren. Dafür nur einige Beispiele: Die Abteilung „Des murs aux pages“ beginnt mit

39 Butor (1996, 208).
40 Dt.: Butor (1990, 25–52).
41 Butor (1990, 50 f.): „Das erste Charakteristikum des heutigen okzidentalen Buches ist […] die Darbietung in
   Form des Diptychons: wir sehen stets zwei einander gegenüberliegende Seiten zugleich. […] Die ‚Naht‘ in der
   Mitte des Diptychons bildet einen Bereich, der weniger gut sichtbar ist […]. Die gleichzeitige Darbietung dieser
   beiden Flügel bewirkt, daß die Bilder sich darauf ausbreiten, eines auf das andere übergreifen, das aufgeschlagene
   Buch in seiner ganzen Breite einnehmen und die Zeilen der einen Seite zu denen der anderen in Beziehung
   treten können.“
42 Vgl. die Erläuterungen zur jeweiligen Thematik der Abteilungen in Butor (2019, 12, 14 f.).
43 Unter wechselnden Akzentuierungen geht es um das jeweilige Kunst-Konzept, das sich in den abgebildeten
   Werken ausdrückt; es geht darum, wie und wofür Kunstwerke geschaffen werden, vor allem auch: für wen;
   wessen Selbstverständnis sich in Bildmotiven und Malstilen ausdrückt; inwiefern die Kunstwerke historisch
   dimensioniert sind, wie sie sich zum jeweiligen historischen Wirklichkeitsverständnis verhalten, inwiefern
   sie es eventuell auch in Frage stellen, worin ihr Innovationscharakter liegt, und welche Folgen künstlerische
   Innovationen für die Beziehung der Bildschöpfer und -betrachter zur Welt haben.

Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXXII (2022)                                                      Peter Lang
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