ImdialogOnline auf - CSS im Dialog

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Vertrauenskultur: Rückgrat des
dänischen E-Health-Portals Seite 4

Ethische Datennutzung durch
ethische Datengovernance Seite 14

                                                                           auf
                                                                   n l ine s.ch
                                                                 O       .cs

                                     dialog
                                                                     log
                                                                 dia
                                      im

    Daten schützen – Daten nutzen
              Im Fokus: Der heikle Umgang mit Gesundheitsdaten

                                                                            Ausgabe
                                                                                  1 / 2020
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Echo

Cornelia Diethelm

Trotz Nachteilen
Vorteile                                                          Bundesamt für Statistik

                                                                  Elektronisch?
«Mancher Vorteil kostet die
Gesellschaft ein paar Nachteile.
Etwa wenn moralische Prinzipien

                                                                  Geht doch!
wie Privatsphäre neuen Möglich­
keiten im Weg stehen, nämlich
durch flächendeckende Datener­
hebungen den Krebs zu besiegen.»                                     «Drei Viertel der Ärztinnen und Ärzte unter
               Studiengangsleiterin Digital Ethics,                  45 Jahren führten 2017 die Krankengeschichten
              HWZ Whitepaper Digitale Ethik, 2019                    ihrer Patientinnen und Patienten komplett
                                                                     elektronisch.»
                                                                            Strukturdaten der Arztpraxen und ambulanten Zentren 2017,
                                                                                                                          24.10.2019

Bayerischer Rundfunk / ProPublica

Ungeschützter
Verkehr – der Daten
«Hochsensible medizinische Daten sind auf ungesicherten Internetservern gelandet.
Jeder hätte darauf zugreifen können.»
                                                                                                             Bayerischer Rundfunk,
                                                                                                                          17.9.2019
      Alain Berset

      Kompetenz
      für das Volk                                                     gfs.bern
      «Ziel einer Gesundheitspolitik der Zu­
      kunft muss sein, die digitale Kompetenz
      aller zu fördern und die Datennutzung
                                                                       Lasst uns
      zu verbessern. Dabei kommt dem Ver­
      trauen in den sicheren Umgang mit den
                                                                       austauschen!
      Daten entscheidende Bedeutung zu.»                               «Die Bevölkerung der Schweiz ist zu
                                                                       66 Prozent mit der elektronischen Spei­
                         Bundesrat, Konferenz Gesundheit2020
                      zur Digitalisierung im Gesundheitssystem,        cherung und zu 70 Prozent mit dem
                                                      31.1.2019        Austausch der eigenen Gesundheitsdaten
                                                                       zwischen behandelnden Gesundheits­
                                                                       fachpersonen einverstanden.»
                                                                                                    Swiss eHealth Barometer 2019,
                                                                                               Bericht zur Bevölkerungsbefragung,
                                                                                                                      Januar 2019
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Editorial/Inhalt

                                                                             Folgen Sie uns auf Twitter:
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                                Starten wir                                                                                          Abir Oreibi Colucci ist
                                                                                                                                     Mitglied des Verwaltungsrates

                                die Diskussion
                                                                                                                                     der CSS Versicherung.

Inhaltsverzeichnis

 4	Der heikle Umgang mit                                                    Wir leben in einer Welt, in der die Menge an Daten exponentiell zunimmt
    Gesundheitsdaten                                                         und zu einem wichtigen Thema für unsere Gesellschaft wird. Die
    Vertrauenskultur: Rückgrat des                                           angemessenen rechtlichen und technischen Lösungen für die sinnvolle
    dänischen E-Health-Portals                                               Nutzung der Daten haben wir jedoch noch nicht gefunden. Die zahl-
                                                                             reichen Skandale im Zusammenhang mit missbräuchlicher Daten-
 7          Standpunkt
                                                                             nutzung in sozialen Netzwerken haben bei vielen Personen zu grossen
             Gesund dank Daten
                                                                             Bedenken geführt.
 8	Praxis
     Digitale Selbstbestimmung als Basis für                                 Allerdings kann der potenzielle Zugang zu dieser Datenmenge auch
     die Nutzung von Gesundheitsdaten                                        einen positiven Einfluss auf Innovationen im Gesundheitssektor haben –
   Im Gespräch
10	                                                                         insbesondere im Bereich der Pflege. Das elektronische Patientendossier
   «Künftig werden wir zum                                                   ist ein gutes Beispiel, da es einerseits eine bessere Patientenbetreuung
   Datenberater gehen»                                                       ermöglicht und andererseits eine bessere Verwaltung der Gesundheits­
                                                                             kosten.
14          Hintergrund
            Ethische Datennutzung durch                                      Personendaten könnten genutzt werden, um die Bedürfnisse der
            ethische Datengovernance                                         Patienten besser zu berücksichtigen. Zudem liessen sich damit manch­
15          Die andere Sicht                                                mal unnötige Behandlungen vermeiden. Oder stellen Sie sich vor,
             Mensch als zentraler Faktor                                     Sie haben ein akutes medizinisches Problem: Wären Sie nicht auch froh,
             bleibt unersetzlich                                             wenn der behandelnde Arzt oder das Spital mit einem Klick all Ihre
   Persönlich
16	                                                                         medizinischen Daten abrufen und Ihnen so schneller und präziser helfen
   Jede Datenbank ist eine Gefahr                                            könnte?

   Santé!
18	                                                                         Wir müssen heute offen die Frage nach Potenzial und Risiken der
   Bitte etwas freundlicher!                                                 Datennutzung ansprechen. Dabei ist es äusserst wichtig, die Vorteile
19          Wissenschaft                                                    nicht zu übersehen, welche die Datennutzung für Patienten und
             Patientensteuerung durch                                        die Gesellschaft allgemein haben kann. Fest steht, es braucht klare
             Personalisierung                                                Rahmenbedingungen. Und: Die Person, die ihre Daten zur Verfügung
                                                                             stellt, muss letztlich die Hoheit darüber haben. Es darf nicht sein,
                                                                             dass Behörden oder Unternehmen mit unseren Daten jonglieren, ohne
                                                                             dass wir einen Einfluss darauf haben.

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Impressum

Erscheint dreimal jährlich in deutscher und französischer Sprache. Herausgeber: CSS Versicherung, Tribschenstrasse 21, CH-6002 Luzern,
E-Mail: dialog@css.ch, Internet: www.css.ch, Chefredaktion: Bettina Vogel, Roland Hügi; Redaktionelle Mitarbeit, Produktion und Grafik:
Infel AG | Bildnachweise: Samuel Trümpy, Manuela Steffen, mit freundlicher Unterstützung des Restaurants Bellavista, Zürich, Thomas Eugster,
Mary Manser, iStock/ViktoriiaNovokhatska, Getty Images/Westend61 | Lithos: n c ag, 8902 Urdorf | Druck: Kromer Print AG, 5600 Lenzburg.
Diese Publikation wird vollständig aus Mitteln aus dem Zusatzversicherungsgeschäft (VVG) finanziert.

                                                                                                                                                 im dialog 1/2020    3
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Der heikle Umgang mit Gesundheitsdaten

Persönliche Medikamentenübersicht, Informationen aus der elektronischen
Patientenakte von Spitälern, Laborbefunde, Impfdaten und Abfrage der
medizinischen Vorgeschichte – all diese Möglichkeiten bietet das dänische
E-Health-Portal «sundhed.dk». Eine Erfolgsgeschichte.
Von Jakob Uffelmann

Vertrauenskultur:
Rückgrat des dänischen
E-Health-Portals

                        V
                                        ertrauen ist ein ausgeprägter We­         heitswesen bei. Die neue, im Januar 2018 eingeführte
                                        senszug der dänischen Kultur: Die         dänische E-Health-Strategie hebt Gesundheitsdaten
                                        Bürger trauen den Behörden und            als essenziell für Qualitätsverbesserungen und Ge­
                                        deren Umgang mit persönlichen             sundheitsforschung hervor – zwei wichtige Treiber der
                                        Vitaldaten. Das dänische E-Health-        Weiterentwicklung im Gesundheitswesen. Initiativen
                                        Portal wird deshalb als sicherer Ha­      zur Steigerung der Patientenmitwirkung und zur Kos­
                      fen in einem manchmal chaotischen E-Health-Markt            tenreduktion von Arbeitsabläufen nehmen zu. Wenn
                      angesehen. Diese Wahrnehmung als sicherer Hafen             man bedenkt, dass gemäss einer Schätzung der OECD
                      basiert auf dem grossen Vertrauen in die Institutionen      die Betriebskosten um 15 bis 20 Prozent reduziert wer­
                      und den öffentlichen Sektor im Allgemeinen. Und sie         den könnten, würden Behörden Daten systematisch
                      zeigt, dass die Bevölkerung auch dem gut etablierten        zur Verbesserung ihrer Arbeitsabläufe einsetzen.
                      Sicherheitssystem von sundhed.dk (Sundhed ist das               In ganz Dänemark tauschen Gesundheitsfachper­
                      dänische Wort für Gesundheit) vertraut. Man glaubt          sonen und sogar Patienten Gesundheitsdaten aus allen
                      an ein Gesundheitswesen, das von demokratisch ge­           Bereichen untereinander aus. Ausserdem können Pa­
                      wählten Politikern auf nationaler, regionaler und loka­     tienten ihren Verwandten den Zugang auf ihre Daten
                      ler Ebene im Sinne der Bevölkerung geregelt wird. Es        erlauben. Medizinische Unterlagen, Labordaten, Me­
                      erstaunt also nicht, dass das staatlich organisierte und    dikamente, Impfungen und Weiteres stehen den Leis­
                      finanzierte E-Health-Portal sundhed.dk eine stetig stei­    tungserbringern auf diese Weise zur Verfügung, sind im
                      gende Nutzerzahl hat. Im Jahr 2018 verzeichnete das         Sinne der Transparenz und Mitwirkung aber auch für
                                     Portal monatlich 1,7 Millionen «Unique       Patienten zugänglich. Das hat Vorteile: Die Patienten
                                     Visitors» – bei einer Bevölkerungszahl       sehen ihre Daten ein und nutzen sie, um sich zu infor­
                                     von 5,8 Millionen. Allerdings ist klar: Es   mieren, einen besseren Dialog mit medizinischen Fach­
    In Kürze                         braucht weiterhin grossen Einsatz aller      kräften zu führen oder um Verwandten im Umgang mit
                                     Beteiligten, um diese Vertrauenskul­         ihren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu helfen.
    • Das dänische E-Health-
                                     tur aufrechtzuerhalten. Deshalb hat in
      Portal «sundhed.dk» ist        Dänemark die Datensicherheit insbeson­       Eine flexible Infrastruktur macht dies möglich
      eine Erfolgsgeschichte.        dere im E-Health-Bereich einen hohen         Das dänische Modell von E-Health beruht auf dem
                                     Stellenwert.                                 Prinzip, besser die Wiederverwendung von bestehen­
    • Monatlich greifen                                                           den Ressourcen zu fördern, als ein neues System auf­
      1,7 Millionen «Unique            Stärkung von Patienten                     zubauen. Dadurch können die Anspruchsgruppen am
      Visitors» auf die zur            und Gesundheitspersonal                    angestrebten Ziel arbeiten und nebenbei Geschäfts­
      Verfügung stehenden              Durch die vielfältigen Möglichkeiten       wert liefern. Der Fokus liegt darauf, anderen Beteiligten
      Gesundheitsdaten zu.             und den leichten Zugang zu persönli­       Ressourcen in der bestehenden Form zur Verfügung
                                       chen Gesundheitsdaten ist sundhed.dk       zu stellen sowie Standards für Semantik, Interopera­
    • Ausgeprägtes Vertrau-            in Dänemark die innovativste und wich­     bilität und Kooperation zu definieren, wenn etwas gut
                                       tigste digitale Lösung zur Förderung der   funktioniert hat. Dies ist eine andere Herangehenswei­
      en, hohe Sicherheits-
                                       Eigenverantwortung von Patienten. Sie      se, als bereits vor dem Start eines Projekts alles zu de­
      standards und die Idee           trägt so indirekt auch zur Kostenreduk­    finieren. Sie hat sich im dänischen Umfeld seit mehr als
      eines «einzigen Zu-              tion bei Arbeitsabläufen im Gesund­        20 Jahren bewährt.
      gangspunkts» machen
      das System möglich.
4    im dialog 1/2020
ImdialogOnline auf - CSS im Dialog
Daten und Datennutzung
                                  Die Infografik bildet die wichtigsten Datenquellen, -arten und -bearbeitungszwecke
                                  der Krankenversicherungen ab. Die Aufzählungen sind nicht abschliessend.

                                        Datenquellen                                                Leistungserbringer         Versicherte                Behörden

                                        Datenarten
                                                                                            Leistungsrechnungen          Rückforderungsbelege

                                                                                           Kostengutsprachegesuche          Kundenanliegen               Prämienverbilligungen
                                                       Rechnungseingang
                                                       bei der CSS
                                                                                                                  Gesundheitsdeklarationen (VVG)
                                               33 %
                                      in Papierform
                                      (Post-/App-/           17 Mio.                                                        Unfallmeldungen              Statistiken
                                        Portalkanal)       Rechnungen
                                                              2018
                                                                            67 %
                                                                            elektronisch                                      Fitnessdaten

                                                       Leistungsprüfung
                                                       Papierrechnungen werden digitalisiert.
                                                       Anschliessend werden 79 % der Rechnungen
                                                       automatisch und 21 % manuell geprüft.

                                               Datenschutzgesetz
                                               Die Krankenversicherungen unter-
                                               stehen dem Datenschutzgesetz.
                                               Dieses definiert die Rahmenbedingungen
                                               der Datenbearbeitungen.

                                        Datenbearbeitung
                                        bei der CSS

                                                                                                                     Zusatzversicherungen nach VVG
                                                                                                                     Bearbeitung mit Einwilligung
                                                                                                                     der Versicherten
                                                        Grundversicherung nach KVG
                                                        Bearbeitung im gesetzlichen
                                                                                                                     Leistungsprüfung
                                                        Auftrag (Art. 84 KVG)                                        Prämienberechnung
                                                                                                                     Underwriting
                                                        Einhaltung der Versicherungspflicht                            Prüfung Gesundheitsdeklaration
Infografik: Keystone-SDA-ATS AG

                                                                                                                       und Anzeigepflichtverletzung
                                                        Prämienberechnung
                                                                                                                     Anbieten von Zusatzdienstleistungen
                                                        Leistungsprüfung
                                                                                                                       z.B. Gesundheitsprogramme,
                                                        Berechnung Prämienverbilligung                                 Persönliche Patientenbegleitung
                                                        Statistiken führen                                           Marketing
                                                        Berechnung Risikoausgleich                                   Erarbeitung von Versicherungsprodukten
                                                        Entwicklung integrierte Versorgung                           Vertragsverhandlungen mit
                                                        Tarifverhandlungen                                           Leistungserbringern

                                                                                                                                                                   im dialog 1/2020   5
ImdialogOnline auf - CSS im Dialog
Der heikle Umgang mit Gesundheitsdaten

                                                                                           in das System aufrechterhalten
                                                                                           bleibt. Ein einziges Datenleck
                                                                                           könnte die Unterstützung sei­
                                                                                           tens Bevölkerung und Politik
                                                                                           aufs Spiel setzen.
                                                                                               Allerdings gilt es nicht
                                                                                           bloss, die Systeme und Daten
                                                                                           gegen Hacker und andere For­
                                                                                           men von Datenlecks zu schüt­
                                                                                           zen. In einem System, in dem
                                                                                           ununterbrochen Daten geteilt
                                                                                           werden, sind weitere Massnah­
                                                                                           men unabdingbar. Als Patient
                                                                                           diesem System zu vertrauen,
                                                                                           bedeutet schliesslich auch,
                                                                                           Gewissheit zu haben, dass die
                                                                                           Daten ausschliesslich von den
                                                                                           richtigen Personen zum richti­
                                                                                           gen Zweck verwendet werden.
                                                                                           In Dänemark können medizini­
                                                                                           sche Fachpersonen bei der ak­
                                                                                           tiven Behandlung der Patienten
                                                                                           Daten ohne deren Einwilligung
                                                                                           nutzen – dies erfordert Kon-
                                                                                           trolle und Transparenz.
                                                                   Eine der Massnahmen dazu ist das leistungsstarke Tool
                                                                   «My Log». Auf dieses Instrument kann jeder Bürger via
                                                                   sundhed.dk zugreifen. Auf «My Log» sehen die Bür­
                                                                   gerinnen und Bürger, wer auf ihre Daten zugegriffen
                                                                   hat, wann das war und von wo aus. Dies ermöglicht
                                                                   ihnen, bei Verdacht auf Datenmissbrauch einzugreifen
                                                                   und mit den zuständigen Behörden zu klären, warum
                                                                   diese Daten abgefragt wurden. Gegebenenfalls kön­
                                                                   nen sie rechtliche Schritte gegen den Missbrauch ein­
           Die DNA des dänischen E-Health-Modells liegt im Auf­    leiten. In jedem Fall unterstützt das System die Bürger
           bau von Ökosystemen, in denen verschiedene Syste­       – niemand wird alleine gelassen. Die für die Daten zu­
           me, Standards und Daten nebeneinander existieren        ständige Organisation ist verpflichtet, in solchen Fällen
           und den Nutzern Mehrwert bieten können. Gesteuert       zugunsten der Bürger tätig zu werden.
           durch gegenseitige Vereinbarungen und Geschäfts­
           bedürfnisse, stellen diese Ökosysteme Patienten, For­   Wachsendes Interesse an sundhed.dk
           schern, der Industrie und medizinischem Fachperso­      In den vergangenen Jahren ist das Interesse an der
           nal Daten zur Verfügung. Durch den Austausch bereits    sundhed.dk-Lösung kontinuierlich angestiegen: Über
           bestehender Daten können Projekte ohne jahrelange       35 Länder weltweit, EU, WHO sowie auf Health-IT
           Vorbereitung lanciert werden. Zudem haben die Ver­      ausgerichtete Organisationen suchten den Dialog, um
           antwortlichen einen klaren Überblick über die Gesund­   allenfalls ein ähnliches Modell zu etablieren. Und Dä­
           heitsdaten, ohne dass diese vor einer gemeinsamen       nemark zögert nicht, seine Erfahrungen zu teilen. Ende
           Nutzung erst noch bereinigt oder angepasst werden       2017 wurde dazu ein neues Spin-out – Sundhed.dk In­
           müssen. Dieses Paradigma des Datenaustauschs hat        ternational Foundation – gegründet mit dem Ziel, an­
           das Gesundheitssystem, die Forschung und die Life-      deren Ländern oder Gesundheitsorganisationen
           Sciences-Industrie Dänemarks in eine Weltklasseposi­    beim Aufbau kostengünstiger und vertrauenswürdiger
           tion gehoben.                                           E-Health-Lösungen behilflich zu sein. Die erfolgreiche
                                                                   Einführung von sundhed.dk im Jahr 2003 beruht auf
           Schutz der Privatsphäre                                 einer Reihe von Schlüsselfaktoren wie einer gemein­
           Der Austausch derart grosser Mengen an Gesund­          samen, ehrgeizigen nationalen E-Health-Strategie und
           heitsdaten über die Bürger ist mit einer grossen Ver­   einer kohärenten, öffentlichen Finanzierung mit dem
           antwortung verbunden. Dementsprechend sind Si­          Zweck, Kosten zu reduzieren. Die Vertrauenskultur, die
           cherheit, Schutz der Privatsphäre und Integrität ein    Erwartungen an Offenheit und Transparenz, das hohe
           fester Bestandteil des dänischen Systems. Täglich       Vertrauen in die Behörden und ihren Umgang mit per­
           kümmern sich zahlreiche Personen darum, die Daten       sönlichen klinischen Daten – all dies sind wichtige
           zu schützen und sicherzustellen, dass das Vertrauen     Faktoren für den Erfolg.

6   im dialog 1/2020
ImdialogOnline auf - CSS im Dialog
Standpunkt

                                              Daten eröffnen neue Möglichkeiten in der Gesundheitsver-
                                              sorgung. Es gilt, das Vertrauen der Kunden zu gewinnen, indem
                                              ihnen der Mehrwert der Datennutzung transparent aufgezeigt
                                              wird und ihre Daten vertraulich behandelt werden.

                                              Gesund dank Daten

                                              Welche Möglichkeiten bietet die                geschützt. Der Umgang mit Versiche­
                                              Auswertung von Daten?                          rungsdaten muss entsprechend vertraulich
                                              Gesundheitsdaten geschickt auswerten           und klar reguliert sein. Wir als Versiche­
            Tamara Hofer ist Leiterin des     und damit einen klaren Mehrwert für            rung müssen den Kundinnen und Kunden
  Analytics-Teams der CSS Versicherung.       unsere Kunden schaffen: So können wir          jederzeit transparent aufzeigen, welche
                                              als Krankenversicherung zum Gesund­            Daten wir für welchen Zweck auswerten.
                                              heitspartner werden. Im ersten Schritt         Gleichzeitig darf es nicht vorkommen,
                                              gilt es, das bestehende System datenba­        dass Patienten wichtige Informationen zu
                                              siert zu optimieren. Indem wir zum             ihrer Behandlung nicht erhalten, weil das
                                              Beispiel unwirtschaftliche oder miss­          Gesetz die Datenauswertung verhindert.
                                              bräuchliche Praktiken aufdecken, können
                                              wir den Kostenanstieg im Gesundheitswe­        Welche Rolle kann die Kranken­
                                              sen dämpfen. Wenn wir Versicherte auf          versicherung in Zukunft einnehmen?
                                              günstigere Generika oder Gesundheits­          Moderne Kunden möchten jederzeit alle
                                              programme hinweisen, lassen sich               Informationen rund um Versicherungs­
                                              unnötige Kosten vermeiden. Und durch           produkte und Gesundheitsangebote
                                              die zunehmende Digitalisierung von             einsehen und bearbeiten können. Zudem
                                              Prozessen reduzieren wir unsere eigenen        möchten sie Dienstleistungen diverser
                                              Verwaltungskosten. Bei der Rechnungs­          Anbieter kombinieren und zu einem
                                              kontrolle beispielsweise konnten wir den       durchgängigen Gesundheitspfad verbinden.
                                              manuellen Aufwand bei einem bestimm­           Als Krankenver­sicherung können wir
                                              ten Arbeitsschritt um knapp 50 Prozent         sie dabei unterstützen, indem wir etwa
                                              (100 000 Rechnungen) minimieren –              personalisierte Empfehlungen zu geeigne­
                                              und das ohne Qualitätseinbussen.               ten Therapiefor­men und Leistungser­
                                                                                             bringern abgeben. Aus Sicht der CSS
                                              Was sind die Herausforderungen im              Versicherung sollten deshalb Analysen von
                                              Umgang mit Gesundheitsdaten?                   Gesundheitsdaten erlaubt sein, die einen
                                              Weil sie besonders sensibel sind, werden       solchen Mehrwert für Versicherte und
                                              Gesundheitsdaten vom Gesetz stark              das Gesundheitssystem bieten.

Wo Bürger und das Gesundheitswesen aufeinander­           im Vordergrund stehen. Gleichzeitig soll eine digitale
treffen, werden automatisch Gesundheitsdaten ge­          Lösung den Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen,
neriert. Dabei besteht ein gemeinsames Interesse,         durch die Einsicht in die persönlichen Gesundheits-
von diesen Daten zu profitieren und die Ergebnisse zu     daten bereits vorhandene Ressourcen aktiv zu nutzen.
optimieren. Bürger «geben» dem System Daten, und              Sundhed.dk ist ein Vorbild für die Nutzung digita­
ihnen werden Daten «zurückgegeben» – indem die            ler Technologien. Das Portal verschafft den Bürgern
Digitalisierung Einblicke und Transparenz schafft und     Transparenz und Offenheit über ihre eigenen Daten
mehr Mitsprache möglich macht.                            und fördert dadurch Veränderungen und Verbesserun­
                                                          gen im Gesundheitswesen.
Ein einziger Zugangspunkt
Technologisch gesehen beruht sundhed.dk auf der
Idee eines «einzigen Zugangspunkts», d.h., Infor­
mationen und Daten von lokalen Systemen werden
wiederverwendet und angezeigt. Sundhed.dk ist ein
                                                          —
                                                          Jakob Uffelmann ist Director of Innovation beim
Integrationspunkt, der eine Übersicht bietet. Die wirt­   staatlich organisierten und finanzierten E-Health-Portal
schaftliche Absicht hinter sundhed.dk ist es in erster    sundhed.dk. Ausserdem ist er CEO der Sundhed.dk
Linie, Hausärzte in ihrer «Gatekeeping»-Funktion zu       International Foundation. Diese hat das Ziel, den Aufbau
unterstützen: Statt Patienten in Spitäler einzuweisen,    kostengünstiger und vertrauenswürdiger E-Health-
sollen Prävention sowie die Behandlung zu Hause           Lösungen in anderen Ländern zu unterstützen.

                                                                                                                     im dialog 1/2020   7
ImdialogOnline auf - CSS im Dialog
Praxis

Insbesondere Gesundheitsdaten bergen ein grosses Potenzial für eine vielseitige
Nutzung. Es braucht jedoch klare Rahmenbedingungen. Zudem muss es den
Individuen möglich sein, die Kontrolle über ihre Daten effektiv wahrzunehmen.
Von Franziska Sprecher

Digitale Selbstbestimmung
als Basis für die Nutzung
von Gesundheitsdaten

          D                as Datenschutzrecht dient nicht dem
                           Schutz von Daten um ihrer selbst willen.
                           Vielmehr schützt es Persönlichkeits-
                           und Grundrechte, indem es Individuen
                           vor missbräuchlicher und fehlerhaf­
           ter Nutzung ihrer Daten durch private und staatliche
           Akteure bewahren soll.
                                                                      ränität des Einzelnen wahrt. Ausgehend von der di­
                                                                      gitalen Selbstbestimmung der Individuen, stehen der
                                                                      Austausch und die Nutzung von Daten und damit ein­
                                                                      hergehend eine deutliche Verringerung der bestehen­
                                                                      den Datenzugangs-Ungleichgewichte im Zentrum.
                                                                      Das zu schaffende digitale Ökosystem erfordert neben
                                                                      einer entsprechenden Regulierung in erster Linie tech­
               Allerdings sind die neueren Entwicklungen der In­      nische Infrastrukturen, Applikationen und qualitativ
           formations- und Kommunikationstechnologien (Big            gute Daten. Dabei bilden die heute in der Verfassung
           Data, künstliche Intelligenz etc.) mit dem geltenden       verankerten Grundwerte der Schweiz – Freiheit, De­
           (Datenschutz-)Recht nur beschränkt kompatibel. Ei­         mokratie, Rechtsstaatlichkeit, Subsidiarität und Sozial­
           nerseits entspricht die vom geltenden Recht vorge­         staatlichkeit – die unveränderte Basis für die Ausge­
           nommene Differenzierung zwischen Sach- und Per­            staltung der rechtlichen Rahmenbedingungen.
           sonendaten mit Blick auf die aktuellen technischen
           Möglichkeiten zur Sammlung, Kombination, Dekon­            Defizite beseitigen
           textualisierung und Rekontextualisierung von Daten         Die Defizite des geltenden
           nicht länger der Realität. Ebenso die Ausklammerung        (Datenschutz-)Rechts ver­
           anonymer und anonymisierter Daten. Auch ist die gel­       langen nach der Schaffung         In Kürze
           tende Definition von Gesundheitsdaten zu eng. Denn         eines allgemeinen Daten­          • Die neueren Entwick-
           in der Praxis wird die Grenze zwischen Gesundheit und      rechts und der Einführung
                                                                                                          lungen der Informa-
           Lifestyle immer durchlässiger. Und neben herkömm­          eines umfassenden Daten­
           lichen medizinischen Daten werden auch Real World          begriffs – verbunden mit ei-
                                                                                                          tions- und Kommuni-
           Data zunehmend wichtig.                                    ner Abkehr von der heute            kationstechnologien
               Andererseits befähigt die geltende Gesetzgebung        bestehenden Differenzierung         sind mit dem gelten-
           die Menschen nicht ausreichend, ihre Daten souverän        zwischen Sach- und Perso­           den (Datenschutz-)
           und in gesicherter Form Dritten zur Nutzung zur Ver­       nendaten. Auch in Zukunft           Recht nur beschränkt
           fügung zu stellen. Dabei ist gerade die digitale Selbst­   sind die Persönlichkeits- und       kompatibel.
           bestimmung der Individuen das zentrale Element für         Grundrechte der Individuen
           eine verantwortungsvolle zukünftige Nutzung von            zu wahren sowie Daten­            • Klare Rahmenbedin-
           Daten im Allgemeinen und von Gesundheitsdaten im           missbrauch und Diskriminie­         gungen müssen die
           Besonderen.                                                rung zu verhindern. Darüber         Qualität und Integrität
                                                                      hinaus soll der Fokus aber
                                                                                                          der Daten, ihren Schutz
           Keine Diskriminierung                                      vermehrt auf die Nutzung
           Ziel muss es sein, mittels Technologie und Regulierung     der Daten und damit auf die
                                                                                                          und ihre Sicherheit
           ein Ökosystem zu schaffen, welches eine vertrauens­        Gewährleistung und Förde­           gewährleisten.
           würdige, diskriminierungsfreie und gemeinverträgliche      rung der digitalen Selbstbe­
           Nutzung von Daten ermöglicht und die Datensouve­           stimmung zu liegen kom­           • Die Datensouveränität
                                                                                                          ist sicherzustellen und
                                                                                                          zu fördern.
8   im dialog 1/2020
ImdialogOnline auf - CSS im Dialog
Praxis

                               Digitale Selbstbestimmung bedingt, dass sich Personen,
                                 Unternehmen und Institutionen auf lokaler,
                                    regionaler, nationaler und internationaler Ebene für
                                  eine gemeinsame,  vertrauenswürdige
                                         Datennutzung zusammenschliessen.

Digitale Selbstbestimmung ist das Recht einer                          Digitale Selbstbestimmung gelingt nur,
   Person, eines Unternehmens oder einer                           wenn der Schutz         der Privatsphäre
öffentlichen Institution, die eigenen        Daten                  oder des Geschäftsgeheimnisses
     zu kontrollieren, eine Kopie                                     gewährleistet ist und zusätzlich konkrete
    dieser Daten zu erhalten und                                     Kontroll- und Partizipations-
    frei darüber zu verfügen.                                       instrumente für die Datennutzung zur
                                                                                  Verfügung stehen.

Quellen: digitalswitzerland, «Digitale Selbstbestimmung»;
Verein Daten und Gesundheit

men. Dazu sind Mindeststandards für jegliche Formen          rung bemisst sich in diesem digitalen Ökosystem da­
der Datennutzung erforderlich. Gleichzeitig soll die         ran, ob und wie konsequent die datenbearbeitenden
Schaffung sektorspezifischer Regelungen den jewei­           Akteure willens und in der Lage sind, die erforderliche
ligen Bereichen und ihren spezifischen Bedürfnissen          Datengovernance zu implementieren und zu gewähr­
und Risiken besser gerecht werden.                           leisten. Darüber hinaus sind Anstrengungen im Aus-
                                                             und Weiterbildungsbereich unerlässlich, sowohl sei­
Ein Blick in die Zukunft                                     tens der datengenerierenden Individuen als auch der
Datengovernance soll in allen Bereichen des ge­              datenbearbeitenden Akteure.
sellschaftlichen Lebens (Wirtschaft, Forschung, Ver­
waltung etc.) zum fixen Bestandteil der allgemeinen
Compliance und der Good-Governance-Grundsätze
werden. Inhalt und Ziel dieser Datengovernance ist ein
kompetenter, verantwortungsvoller und disziplinierter
Umgang mit (sensiblen) Daten, ihr umfassender Schutz
und die Achtung der digitalen Selbstbestimmung der           —Prof. Dr. iur. Franziska Sprecher, Rechtsanwältin, ist
Individuen. Datenbearbeitende Akteure haben Ac­
                                                              Direktorin des Zentrums für Gesundheitsrecht und
countability-Grundsätze einzuhalten und transparent           Management im Gesundheitswesen der Universität Bern.
zu machen, wie ihre Datenbearbeitung und -auswer­             Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind das
tung erfolgt. Die Einflussnahme des Staates resp. die         Staats- und Verwaltungsrecht sowie das Medizin- und
Notwendigkeit (sanktionierender) staatlicher Regulie­         Gesundheitsrecht.

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Im Gespräch

Big Data weckt bei den verschiedensten Playern im Gesundheitswesen Begehrlichkeiten.
Wo sind die Grenzen? Datenschützer Adrian Lobsiger und Molekularbiologe Ernst Hafen,
Präsident des Vereins Daten und Gesundheit, debattieren.
Interview: Patrick Rohr

«Künftig werden wir zum
Datenberater gehen»

Patrick Rohr (PR): Herr Hafen, welche                                     Forschung plötzlich Teile unserer Per­
Chancen bieten die gewaltigen                                             sönlichkeit offenlegen kann, die früher
Datenmengen, die wir täglich generieren,                                  verborgen waren, konkret: unsere Gene?
für die Medizin?
Ernst Hafen (EH): Sie werden die Medizin                                  PR: Sie stellen die Frage rhetorisch.
grundlegend verändern. Nicht nur, weil                                    Sie sehen da also Gefahren?
wir dank Big Data und Artificial Intelli­                                 AL: Ja, sobald es Rückschlüsse auf die
gence sehr viel mehr Fallzahlen für die                                   Persönlichkeit des Einzelnen gibt. Aber die
Forschung haben werden als bisher.                                        gesellschaftliche Bandbreite ist gross.
Sondern auch, weil wir heute Daten                                        Es gibt Menschen, denen ihre Privatsphä­
haben, die der Medizin früher nicht zur                                   re egal zu sein scheint, andere wieder­
Verfügung standen. Unsere Smartphones                                     um zeigen sich besorgt darum. In einer
zeichnen während sieben Tagen die                                         selbstbestimmten Gesellschaft kann das
Woche, 24 Stunden am Tag gesundheits­                                     je nach Betroffenheit situativ stark ändern.
relevante Daten auf. Das sind enorme                                      Vielleicht gibt die gleiche Person für
Chancen. Einerseits, um nach einem Ein­                                   Geschäftsreisen ihre Daten gerne her,
griff den Heilungsverlauf zu beobachten,                                  für Privatreisen aber nicht. Oder sie gibt
andererseits aber auch, um zu verhindern,                                 sie für gewisse Forschungsprogramme,
dass Patienten überhaupt krank werden.                                    aber nicht für Programme der öffent­
                                                                          lichen Sicherheit. Man darf nicht von
PR: Das heisst, Sie finden die                 «Studien zeigen, dass      einem statischen Bild der Persönlichkeit
Entwicklung gut?                                                          ausgehen. Das ist eine Herausforderung
EH: Vom Potenzial her absolut. Allerdings
                                               die Leute eine enorme      für den behördlichen und den betriebli­
läuft die Entwicklung zurzeit nicht in eine    Bereitschaft haben,        chen Datenschutz.
gute Richtung. Wir haben auf der einen
Seite den Überwachungskapitalismus der
                                               mit ihren Daten forschen   PR: Das trifft die Sache im Kern, Herr
USA mit ihren grossen Firmen, die alle         zu lassen.»                Hafen. Die gleichen Daten, die für
Daten absaugen, und auf der anderen            Ernst Hafen                die Forschung sehr sinnvoll sein können,
Seite haben wir den Überwachungsstaat                                     können zum Beispiel der Krankenkasse
China. Wir müssen uns fragen, wie wir                                     helfen, uns als Risikoträger einer
damit umgehen wollen.                                                     Krankheit zu definieren und uns darum
                                                                          eine Zusatzversicherung zu verweigern.
PR: Seien wir also froh, gibt es einen                                    Ist das nicht problematisch?
Datenschützer! Herr Lobsiger, sehen Sie                                   EH: Die Krankenkasse kann auch aufgrund
in der aktuellen Entwicklung auch vor                                     Ihrer Kreditkartenabrechnung, die sie
allem Chancen für die Medizin?                                            irgendwo einkaufen kann, herausfinden,
Adrian Lobsiger (AL): Die Medizin hat                                     dass Sie XXL-Kleider kaufen. Dann
den Auftrag, unser Leben zu verlängern                                    ist der Schluss auch nicht weit, dass
und uns möglichst lange eine gute Le­                                     Sie wahrscheinlich eine Typ-2-Diabetes
bensqualität zu bieten. Ein qualitativ gutes                              bekommen, dafür brauchen Sie keine
Leben ist aber auch ein freies Leben.                                     Genomdaten. Und aus der Krankenge­
Die Frage ist: Sind wir noch frei, wenn die                               schichte konnte der Arzt schon immer

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Im Gespräch

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Im Gespräch

ablesen, ob ich ein höheres Risiko für
Parkinson habe oder nicht.

PR: Ja, der Arzt! Aber nicht
die Krankenkasse.
AL: Eine Krankenkasse will, vor allem im
Zusatzversicherungsbereich, Gewinn ma­
chen. Und dafür will sie so viele Risiken wie
möglich auf das Individuum übertragen.
Die Frage ist, wie viele Daten des ausserge­
sundheitlichen Verhaltens des Versicherten
dafür beigezogen werden dürfen.

PR: Herr Hafen, Sie tragen eine Apple
Watch. Ihre Krankenkasse wird ein
vitales Interesse an Ihren Bewegungs-
und Gesundheitsdaten haben!
EH: Im ganzen Gesundheitsumfeld
profitiert die Krankenkasse natürlich am
meisten davon, wenn ich nicht zum
Arzt gehe. Deshalb will sie natürlich auch
herausfinden, wie man die Leute davon
abhalten kann, zum Arzt zu gehen.
AL: Es muss einfach transparent sein,
wofür diese Daten verwendet werden.
Eine Versicherung ist dafür da, dass
ich bei einem Schadensfall die finanziellen
Folgen nicht selber tragen muss. Wenn
ich nun aber plötzlich die Pflicht habe,
durch meine Lebensführung den Scha­
densfall zu verhindern, ist das etwas ganz
anderes. Das kann ein politischer Ent­
scheid des Gesetzgebers sein, aber es
darf nicht einfach gemacht werden,
bloss weil es technologisch möglich ist.

PR: Also ist das, was im Moment                 «Wie es in Geheimdiensten Leute gibt,
passiert, ungesetzlich?
EH: Nein, das ist es nicht. Es ist ja nicht
                                                die heimlich Daten verkaufen, gibt es
so, dass man sagt: Nur wer so und so lebt,      sie auch in Spitälern.»
bekommt noch eine Versicherung. Wir             Adrian Lobsiger
müssen auf den Willen und die Bereit­
schaft des Einzelnen setzen, eine infor­
mierte Entscheidung zu fällen. Studien
zeigen, dass die Leute eine enorme
Bereitschaft haben, mit ihren Daten for­
schen zu lassen.

PR: Aber nur, wenn sie dafür finanziell
entschädigt werden.
EH: Ich bin gegen finanzielle Entschä­
digungen. In Amerika gibt es Geld
für Blutspenden, darum gehen nur
noch die Obdachlosen spenden. Bei
uns ist es anders. Man denkt, dass
man vielleicht etwas lernt aus seinen
Daten und man davon profitiert.

PR: Ab dem Frühjahr gibt es das                 —
                                                Adrian Lobsiger ist Jurist und seit 2016 Eidgenössischer Datenschutz- und
elektronische Patientendossier, das EPD.        Öffentlichkeitsbeauftragter (EDÖB). Davor war er stellvertretender Direktor des
Da darf das Individuum auch selber              Bundesamts für Polizei (fedpol).
entscheiden, ob es das will oder nicht.
EH: Das elektronische Patientendossier ist
ein grosser Schritt in die richtige Richtung,   —
                                                Ernst Hafen ist Professor für Systemgenetik am Institut für Molekulare System­
aber es ist die minimalste Version, die         biologie der ETH Zürich. Er ist Präsident der Datenverwaltungsgenossenschaft
es überhaupt gibt. Im Moment verpflichtet       Midata und des Vereins Daten und Gesundheit.

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Im Gespräch

es einzig die Universitätsspitäler, einen     Und so wie ich den Finanzberater für eine    Interpretationsmacht. Die Revisionsinter­
Austrittsbericht in PDF-Form zu depo­         Finanzanalyse zahle, werde ich künftig       valle dürften künftig kürzer ausfallen.
nieren. Der Patient kann sagen, ob er das     auch für Datendienstleistungen zahlen.       EH: Es hat zwölf Jahre gedauert, bis das
will oder nicht. Und die Zweitnutzung         Da tut sich eine riesengrosse Chance         Gesetz für das elektronische Patientendos­
der Daten, zum Beispiel für neue klinische    für Start-ups auf, da entsteht eine neue     sier stand. In diesen zwölf Jahren ist das
Studien oder für Datendienstleistungen,       Industrie.                                   iPhone auf den Markt gekommen. Heute
ist ausgeschlossen.                                                                        haben alle ein Smartphone, ohne dass es
                                              PR: Besteht nicht vielmehr die Gefahr,       dazu eine Vernehmlassung gegeben hätte.
PR: Herr Lobsiger, finden Sie das             dass es künftig eine grosse Kluft gibt       Veränderung passiert auch ohne Gesetz.
elektronische Patientendossier in             zwischen den Menschen, die um den            Der Datenschutz kommt immer erst später.
seiner jetzigen Form gut?                     Wert ihrer Daten wissen und sich einen       AL: Das Risiko ist nicht nur eine Frage
AL: Ja. Unsere Anliegen wurden in der         Datenberater leisten können, und denen,      der Regulierung. Schätzungsweise 80 Pro­
Gesetzgebung berücksichtigt.                  die bereit sind, ihre Daten für geringe      zent aller unautorisierten Datenverluste
                                              finanzielle Anreize preiszugeben, und        geschehen aufgrund von menschlichem
PR: Aber es weckt bereits vor seiner          sich auch nie einen Datenberater werden      Versagen. Wie es in Geheimdiensten
Einführung Begehrlichkeiten. Man              leisten können? Ich befürchte, dass die      Leute gibt, die heimlich Daten verkaufen,
konnte lesen, dass bei einer Sitzung der      Gesellschaft auseinanderdriftet.             gibt es sie auch in Spitälern. Schurken
bundesrätlichen Beratergruppe zum             EH: Das tut sie doch schon lange, gerade     und Hasardeure gibt es überall, und man
EPD Firmen wie Google, Roche, SBB und         auch sozioökonomisch. In der Schweiz         kann sich nicht gegen jede Hinterlist oder
Swisscom am Tisch sassen.                     vielleicht etwas weniger als anderswo.       Gleichgültigkeit schützen. Man muss
AL: Ob eine private oder eine staatliche      Aber um beim Vergleich mit den Finan­        aber durch geeignete technische und
Entität diese Daten bearbeitet, ist nicht     zen zu bleiben: Auch die Ärmsten in der      organisatorische Massnahmen das Rest­
allein entscheidend. Der Staat kann ja        Schweiz haben ein Bankkonto, und             risiko auf ein erträgliches Mass senken.
auch zum Beispiel digitale Applikationen      auch sie haben gelernt, mit ihrem Geld       Je mehr sensible Daten wir zentralisieren,
für polizeiliche Fingerabdruckdaten           auszukommen.                                 desto verheerender sind die Folgen, wenn
nicht selbst herstellen, auch da müssen                                                    es zu einem Störfall kommt.
private Firmen mitwirken.                     PR: Aber die wenigsten von ihnen werden
                                              sich einen Finanzberater leisten können.
PR: Aber wäre es klug, diese Daten            EH: Das stimmt. Aber es ist auch so,
amerikanischen Firmen zu geben?               dass die, die einen Finanzberater haben,
AL: Die müssen sich auch ans Gesetz hal­      mehr mit ihren Finanzen machen.
ten. Das Gesetz zum EPD sagt zum Bei­         AL: Es braucht dann einfach noch eine
spiel, dass sich die Cloud in der Schweiz     gesellschaftliche Definition, bis zu wel­
befinden und unter Schweizer Recht            chem Grad man über sich beziehungs­
betrieben werden muss. Letztlich ist die      weise seine Daten verfügen kann. Prosti­
Frage nicht so sehr, ob man dem Staat         tution ist bei uns zum Beispiel legal,
oder dem Privaten mehr vertraut, sondern      man darf also seinen Körper gewisser­
ob man darauf vertraut, dass sich in unse­    massen verkaufen. Aber seine Organe darf
rem Rechtsstaat alle an das Gesetz halten.    man nicht verkaufen. Ähnlich verhält
Das erwarte ich auch von den Privaten.        es sich mit den Daten: Man darf sie ver­
                                              kaufen. Aber auch hier gibt es Grenzen:
PR: Irgendwie wirkt das auf mich alles        Wenn ich Träger einer seltenen Krank­
recht hilflos. Ist es in Tat und Wahrheit     heit bin und mit meinem Datensatz
nicht so, dass wir mit unseren Gesetzen       richtig Geld machen will, dann wäre das
der Wirklichkeit immer hinterher-             unethisch. Da muss man eine Grenze
hinken? Die digitale Welt dreht sich          definieren. Es wird immer neue und
doch viel zu schnell.                         unerwartete Anwendungsfälle geben,
AL: Ich glaube, die menschlichen Bedürf­      die zu einer gesellschaftlichen Diskussion
nisse ändern sich nicht so schnell wie        führen. Hier leisten die Gerichte einen
die Technologie. Man sollte nicht voreilig    wichtigen Beitrag. Und schliesslich muss
annehmen, dass durch die Technologie          die Politik das Gesetz eben anpassen oder
die Bedürfnisse des Menschen nach Pri­        nachkorrigieren. Der Gesetzgeber muss
vatsphäre und Selbstbestimmung verloren       nicht immer am Anfang einer Entwick­
gegangen sind.                                lung stehen und alle Konstellationen und
EH: Immerhin haben wir dank dem neuen         Technologien voraussehen.
Datenschutzgesetz der EU neu ein Recht
auf eine Kopie von all unseren Daten.         PR: Aber im Fall des Datenschutzgesetzes
Wir sind alle Datenmilliardäre, und je mehr   hinken wir in der Schweiz der Entwick-
es von diesen Daten gibt, desto wertvol­      lung Jahre hinterher.
ler werden sie. Ich kann also sagen: Ich      AL: Das Datenschutzgesetz von 1992 hat

                                                                                           —
möchte meine Daten, und ich bestimme,         den Vorteil, dass es generell abstrakt
was ich mit ihnen mache. So wie ich für       und technologieneutral formuliert ist. Für
                                                                                           Patrick Rohr: Der Journalist, Moderator
meine Finanzen zum Finanzberater gehe,        eine Übergangszeit hat das geholfen.
                                                                                           und Fotograf arbeitete für das Schweizer
gehe ich künftig mit meinen Daten zum         Aber jetzt muss der Gesetzgeber es kon­      Fernsehen, bevor er 2007 eine
Datenberater, und der wird mir sagen, wie     kretisieren, sonst haben die Gerichte        Agentur für Kommunikationsberatung
ich meine Daten am besten verwende.           und auch meine Behörde eine zu grosse        und Medienproduktionen gründete.

                                                                                                                  im dialog 1/2020    13
Hintergrund

Geht es um Datennutzung, macht es wenig Sinn, über «ja»
oder «nein» zu diskutieren. Eine ethische Nutzung ist nur möglich,
wenn zuvor wichtige Fragen in die Betrachtung einfliessen.
Von Anna Jobin und Effy Vayena

Ethische Datennutzung durch
ethische Datengovernance

          D                iskussionen zur Datennutzung tendie­
                           ren, in binären Mustern abzulaufen,
                           die radikale Positionen widerspiegeln.
                           Auf der einen Seite wird Big Data nach
                           wie vor gehypt: Immer grössere Da­
            tenmengen sollen genutzt werden, da die heutige
            Technologie ja die Sammlung und Verwertung sol­
                                                                     tinnen und Patienten durch die Freigabe ihrer Daten
                                                                     eine Verbesserung der medizinischen Versorgung,
                                                                     möchten aber keinesfalls, dass solche Daten für Mar­
            cher Datenmengen möglich mache. Auf der ande­            ketingzwecke verwendet werden. Auch Preisdiskrimi­
            ren Seite verbreitet sich eine Aversion, die teilweise   nierung durch Privatfirmen aufgrund personenbezo­
            beinahe schon einer «Datenphobie» gleichkommt            gener Daten wird nicht befürwortet. Die öffentliche
            (siehe dazu «Übertriebene Datenphobie schadet der        Forschung wiederum unterstützt jedoch ein Grossteil
            Gesundheit», NZZ, 13.10.2018) und die nur schwer         der Leute grundsätzlich gerne. Das zeigt, dass für die
            mit irgendeiner Form von Datennutzung vereinbar ist.     Menschen die Umstände der Datennutzung eine zen­
                Beide Positionen kommen mit Risiken und Ne­          trale Rolle spielen.
            benwirkungen und bringen uns nicht wirklich weiter.
            Datennutzung ja oder nein ist nämlich die falsche Dis­   Vertrauen nicht aufs Spiel setzen
            kussion. Viel zentraler sind die folgenden Fragen zu     Für das Gesundheitswesen ergibt sich aus dem Ver­
            Datennutzung: Durch wen? In welchem Kontext? Und         trauensdefizit von «Technologiekonzernen» und dem
            zu welchem Zweck?                                        Misstrauen gegenüber gewinnorientierter Datennut­
                                                                     zungen eine wichtige Implikation: Bestehendes Ver­
            Spannende Einsichten                                     trauen darf nicht aufs Spiel gesetzt werden. Daten­
            Spannende Einsichten liefert eine 2018 im Auftrag        nutzung muss deshalb primär durch öffentliches
            der SRG durchgeführte Erhebung. Gefragt, welche          Interesse begründet werden können und auf eine Art
            Institutionen wohl ihre Daten vertraulich behandeln      und Weise erfolgen, die Missbrauch und Diskriminie­
            würden, nahmen 88 Prozent der befragten Personen         rung ausschliesst.
            an, Ärztinnen und Ärzte würden dies grösstenteils tun.       Es macht wenig Sinn, generell über Datennutzung
            Nur noch 65 Prozent der Befragten jedoch glaubten,       ja oder nein zu debattieren. Vielmehr lauten die wich­
            Krankenversicherungen würden ihre Daten vertrau­         tigen Fragen zur Datennutzung: von wem, wofür und
            lich behandeln. Und mit 6 Prozent (!) bildeten «Tech­    unter welchen Bedingungen? Nur wenn wir die Ant­
            nologiekonzerne» das Schlusslicht. Inwiefern solche      worten darauf in unsere Betrachtungen miteinbezie­
            Proportionen gerechtfertigt sind oder nicht, lassen      hen, können wir Rahmenbedingungen schaffen, die
            wir hier mal offen und beschränken uns auf ein Fazit:    ethische Datennutzung ermöglichen und sogar för­
            Kontext ist wichtig.                                     dern.
                Gerade wenn es um die Gesundheit geht, ist dieser
            Punkt gut nachvollziehbar. Denn die ethischen Aspek­
            te, denen bei gesundheitsrelevanten Daten eine be­
            sonders wichtige Bedeutung zukommt, beziehen sich
            jeweils auf bestimmte Situationen und Personen oder
                                                                     —
                                                                     Prof. Dr. Effy Vayena ist Ordentliche Professorin
            Institutionen. So erhoffen sich beispielsweise Patien­   am Health Ethics and Policy Lab am Departement
                                                                     Gesundheitswissenschaften und Technologie der
                                                                     ETH Zürich.

                                                                     Dr. Anna Jobin ist Forscherin am Health Ethics and
                                                                     Policy Lab am Departement Gesundheitswissen-
                                                                     schaften und Technologie der ETH Zürich.

14   im dialog 1/2020
Die andere Sicht

Künstliche Intelligenz eröffnet bei der Ermittlungsarbeit
der Polizei neue Perspektiven. Aber sie ist kein Allerheilmittel,
sagt Michael Muther* von der Luzerner Polizei.
Von Roland Hügi

Mensch als zentraler
Faktor bleibt unersetzlich

A               ls Michael Muther 1995 noch als uni­
                formierter Polizist durch die Strassen
                der Stadt Luzern zog, waren Digitalisie­
                rung und künstliche Intelligenz für die
                meisten Menschen noch Fremdwörter.
Heute prägen beide Begriffe den polizeilichen Alltag.
Gerade wenn es darum geht, die schier unglaublichen
                                                           einen Rohdiamanten dar – der allerdings geschliffen
                                                           werden muss. Je akribischer eine Datenauswertung er­
                                                           folgen kann, desto mehr Zusammenhänge kann man
                                                           erkennen. «Und im besten Fall können wir sämtliche
                                                           Puzzleteile zusammenfügen und einen Fall lösen.»

                                                           Kein Fall landet in der Schublade
Datenmengen auszuwerten, die beispielsweise bei ei­        Es liegt zwar in der Natur der Sache, dass die kriminelle
nem Wirtschaftsdelikt anfallen, nimmt die künstliche       Energie immer ein bisschen grösser ist als die Möglich­
Intelligenz einen immer wichtigeren Stellenwert ein.       keiten der Polizei, diese einzudämmen. Aber je fein­
Das neuste Wunderding, das bei der Luzerner Polizei        gliedriger die Instrumente werden, welche eingesetzt
ab 2020 zur Anwendung kommen soll, heisst Watson.          werden können, desto grösser wird die Chance, einen
Das Computerprogramm der Firma IBM wird es erlau­          Fall lösen zu können. Auch wenn dies manchmal erst
ben, die Datenfluten zu bündeln. Aus einem unstruktu­      nach Jahren der Fall ist. «Denn bei uns landet kein un­
rierten Datenberg wird so letztlich eine übersichtliche    gelöster Fall in der Schublade», sagt Michael Muther.
Datenstruktur. «Die Maschine sortiert, der Mensch in­      Tauchen neue Fakten, neue Daten oder auch neue
terpretiert», umschreibt Michael Muther die Arbeits­       digitale Möglichkeiten auf, fliessen diese in die Ermitt­
teilung. Gerade im Bereich der Wirtschaftskriminali­       lungen ein. Die neuste Entwicklung bezieht sich auf
tät oder bei bandenmässigen Straftaten stellen Daten       die DNA-Analysen. Hier sind Bestrebungen im Gange,
                                                           künftig die sogenannte Phänotypisierung gesetzlich
                                                           zuzulassen. Dies würde es ermöglichen, aufgrund ei­
                                                           ner DNA-Analyse zum Beispiel Rückschlüsse auf Au­
                                                           gen-, Haar- und Hautfarbe ziehen zu können – weit
                                                           mehr also, als es die heutige Gesetzeslage zulässt.
                                                           Gerade bei schweren Gewaltdelikten würde dies der
                                                           Polizei erlauben, neue Fakten in die Ermittlungen ein­
                                                           fliessen zu lassen und einen heute vielleicht noch nicht
                                                           aufgeklärten Fall doch noch abschliessen zu können.

                                                           Vieles ist ein Hype
                                                           Allen Diskussionen rund um künstliche Intelligenz zum
                                                           Trotz: Michael Muther bleibt realistisch. «Vieles, was
                                                           im Moment zu diesem Thema herumgeistert, ist noch
                                                           unausgegoren, und ich buche es als Hype ab.» Nicht
                                                           selten gehe es eher um «künstlich» denn um «Intelli­
                                                           genz». «Für mich ist denn auch künstliche Intelligenz
                                                           kein Allerheilmittel, und wir sollten uns nicht falschen
                                                           Illusionen hingeben.» So toll die Hilfestellungen seien,
                                                           welche sich gerade im Polizeibereich böten: «Der
                                                           Mensch als zentraler Faktor bleibt unersetzlich.»

«Für mich ist künstliche
Intelligenz kein Allerheilmittel,                          —
                                                           Michael Muther* hat seine Polizeilaufbahn 1995
und wir sollten uns nicht                                  bei der Stadtpolizei Luzern als uniformierter Polizist
                                                           begonnen. Heute ist er Chef Technik und Logistik
falschen Illusionen hingeben.»                             der Luzerner Polizei. Diese entstand 2010 durch die
Michael Muther                                             Fusion von Stadtpolizei und Kantonspolizei Luzern.

                                                                                              im dialog 1/2020   15
Persönlich

HIV-positive Menschen werden nach wie vor stigmatisiert.
Die Aids-Hilfe Schweiz gewichtet daher den Schutz der Daten viel
höher als den aktuell nicht überzeugenden Mehrnutzen.
Interview mit Andreas Lehner und Caroline Suter

Jede Datenbank
ist eine Gefahr
Was läuft aus Sicht der Aids-Hilfe                    Welche Chancen und Risiken sehen             von HIV-positiven Menschen vermehrt
Schweiz (AHS) gut für HIV-positive                    Sie aus Sicht der Patientenorganisation,     austauschen und nutzen würden.
Menschen im Schweizer Krankenversi-                   wenn die Akteure im Gesundheits­-
cherungssystem? Wo sehen Sie                          wesen die Gesundheitsdaten vermehrt          Sehen Sie einen Nutzen, wenn Kranken-
Handlungsbedarf?                                      nutzen könnten?                              versicherungen vermehrt OKP-
Caroline Suter (CS): Erfreulicherweise                Andreas Lehner (AL): HIV-positive Men­       Rechnungsdaten für die Navigation
wurden die antiretroviralen Therapien                 schen werden nach wie vor stigmatisiert,     der Versicherten nutzen dürften?
von Beginn an von der Grundversi­                     sei dies im sozialen Umfeld, am Arbeits­     AL: Der Mehrwert für die Krankenver­
cherung übernommen. Problematisch                     platz oder im Turnverein, ja sogar von       sicherung wäre nur der Status (unter
hingegen sind die kantonalen schwarzen                medizinischen Fachpersonen. Besonders        Therapie ja/nein). Wir sind vorsichtig:
Listen und der nicht einheitlich definierte           in ländlichen Regionen, wo die Netze         Je weniger Datenbanken es gibt, desto
Notfallbegriff: Die Vertrauensärzte der               klein sind, kann es für die Menschen         sicherer. Der Zugang zu Daten von
Krankenversicherungen beurteilen unter­               schwierig werden. HIV-Diagnosen sind         HIV-positiven Menschen sollte eher ge­
schiedlich, ob es sich bei den antiretrovi­           besonders schützenswerte Personen­           schützt als geöffnet werden. Es gibt
ralen Therapien um Notfallbehandlungen                daten. Jeder Datenaustausch, jede Liste      auch datenschutzrechtliche Gefahren.
handelt und sie somit bezahlt werden.                 birgt die Gefahr von Fehlern und unge­       Was ist, wenn jemand anders die Post
Unseres Erachtens – und auch vieler                   wollten Datenschutzverletzungen.             mit dem HIV-Flyer öffnet?
Fachpersonen – sind es klar Notfallbe­                Wir sehen aktuell den Mehrnutzen nicht,
handlungen.                                           wenn Leistungserbringer die Daten            Wäre es nicht im Interesse von HIV-
                                                                                                   positiven Menschen, wenn mit ihren
                                                                                                   Daten vermehrt geforscht würde?
                                                                                                   AL: Die Universität Zürich führt die älteste
                                                                                                   Kohortenstudie der Welt durch. Zwei
                                                                                                   Drittel der HIV-positiven Menschen in
                                                                                                   der Schweiz befinden sich darin.

Diskriminierungsfälle von HIV-/Aidsbetroffenen in der Schweiz, 2019                                Weshalb vertrauen HIV-positive
Die Diskriminierungen betrafen insbesondere die Bereiche Sozialversicherungen (25),
                                                                                                   Menschen ihre medizinischen Daten
Privatversicherungen (16) und Gesundheitswesen (14). Insgesamt wurden 24 Datenschutzverletzungen   der Universität Zürich an?
im medizinischen, beruflichen, privaten und sonstigen Umfeld erfasst.                              AL: Einerseits spielt das Vertrauen eine
                                                                                                   Rolle: Die Daten befinden sich auf Hoch­
                              0           5            10         15           20             25   sicherheitsdatenbanken. Anderseits sehen
                                                                                                   die Teilnehmer den konkreten Nutzen.
     Sozialversicherungen                                                                  25      CS: Das Vertrauensverhältnis zum Arzt
Datenschutzverletzungen                                                                  24        spielt sicher auch eine entscheidende
                                                                                                   Rolle.
     Privatversicherungen                                             16
                                                                                                   AL: Und es geht hier nicht um Geld oder
       Gesundheitswesen                                          14                                Kosten.
         Erwerbstätigkeit                              10

                                                  7
                                                                                                   Wie könnte aus Ihrer Sicht eine HIV-
                  Diverse
                                                                                                   positive Person reagieren, wenn sie von
       Einreise/Aufenthalt                    6
                                                                                                   ihrer Krankenversicherung ihre Krank-
              Strafbarkeit            3                                                            heit betreffende Informationen erhalten
                                                                                                   würde?
                                                                                                   AL: Die Personen sehen die Krankenversi­
Quelle: Aids-Hilfe Schweiz                                                                         cherung als stille Zahlstelle, die sich nicht

16   im dialog 1/2020
Persönlich

                                                                                                              —
                                                                                                              Dr. iur. Caroline Suter
                                                                                                              ist Leiterin des Rechts­
                                                                                                              diensts und stellver­
                                                                                                              tretende Geschäfts­
                                                                                                              führerin der Aids-Hilfe
                                                                                                              Schweiz. Die promo­
                                                                                                              vierte Juristin arbeitet
                                                                                                              seit 18 Jahren bei der
                                                                                                              Aids-Hilfe Schweiz.

                                                                                                              —
                                                                                                              Andreas Lehner ist
                                                                                                              Geschäftsführer der
                                                                                                              Aids-Hilfe Schweiz und
                                                                                                              arbeitet seit 15 Jahren
                                                                                                              im Bereich HIV.

für ihre Privatsphäre zu interessieren hat    der Nutzen für alle klar sein, vor allem für   AL: Hat es noch nie einen Hackerangriff
und über ihre Diagnose nicht Bescheid         die Ärzte, die es ja verkaufen müssen.         gegeben? In Deutschland waren kürz­
weiss. Bei einer Kontaktaufnahme könnte       Die Finanzierung müsste auch geklärt sein.     lich Patientendossiers im Web öffentlich
ein Schockmoment entstehen.                                                                  zugänglich. In Spitälern müssen viele
                                              Zugriff auf medizinische Daten                 Fachpersonen Zugriff auf die Akten ha­
Wie könnten Krankenversicherungen             in Notfallsituationen, automatischer           ben, und gleichzeitig dürfen die Falschen
denn sonst einen Mehrwert                     Austausch, reichen diese nicht als             nicht zugreifen können.
für Menschen mit HIV schaffen?                gute Gründe?                                   CS: Wir erleben häufig, dass Hausärzte
AL: Weniger im individuellen Sinn, sondern    AL: Es hängt davon ab, wo man im Leben         bei der Überweisung an Physiotherapeu­
eher dadurch, die Arbeit der Patienten-       steht: Als 50-jährige gesunde Person           ten die HIV-Diagnose mitschicken.
organisationen zu fördern, z.B. durch         komme ich mit dem Gesundheitswesen             Die Physiotherapeuten haben dann das
Geldspenden für Projekte oder ihre Leser      fast nie in Kontakt. Meine Einstellung         Gefühl, sie müssten Handschuhe anzie­
von «im dialog» auf Spendenmöglich-           könnte sich ändern, wenn ich 70 oder           hen. Datenschutzrechtlich ist dies höchst
keiten hinzuweisen.                           80 Jahre alt wäre.                             problematisch! Wie weit ist gewährleistet,
                                              CS: Der elektronische Datenaustausch           dass die Person noch Herrin oder Herr
Wie stehen Sie persönlich zum                 wäre sinnvoll bei Menschen, die viele          über ihre Daten bleibt? Der elektronische
elektronischen Patientendossier?              Diagnosen und Medikamente haben.               Datenaustausch vergisst nicht, Daten
AL: Solange der Nutzen für mich als           Medikamenten-Wechselwirkungen könn­            würden noch mehr fliessen.
Privatperson nicht transparent ist, bin ich   ten vermieden werden. Wenn jemand
nicht gewillt, meine Daten zur vermehr­       von mehreren Ärzten betreut wird und
ten Nutzung freizugeben. Aus Sicht            immer wieder Spitalaufenthalte hat,
des Medizinsystems sehe ich ihn. Jedoch       vergisst man schnell mal, alle Diagnosen
bezweifle ich, dass die Ärzte aus Angst       und Medikamente zu erwähnen.
vor Fehldiagnosen und Kritik mehr Trans­
parenz bei ihren Behandlungen möchten.        In dänischen Kliniken ist die elektro-
Wollen wir das elektronische Patienten­       nische Gesundheitsakte Alltag. Was ist
dossier wirklich zum Erfolg bringen, muss     Ihre Meinung dazu?

                                                                                                                   im dialog 1/2020     17
Santé!

            Bitte etwas freundlicher!

                              I       ch wurde kürzlich notfallmässig eingeliefert. Keine Sorge, es geht mir
                                      wieder ziemlich gut. Während der Blutabnahme und der ersten Untersu­
                                      chungen musste ich völlig belämmert einen langen Fragebogen
                                      ausfüllen. Dabei habe ich alle Datenschützer und Politiker verflucht, die
                                      schuld sind, dass wir noch immer kein elektronisches Patientendossier
                              haben. Bei einer weiteren Ultraschalluntersuchung hat eine Ärztin erstaunt
                              festgestellt, dass mir die Gallenblase fehlt, weil ich in meinem Dusel dies nicht
                              angegeben und wahrscheinlich sonst noch vieles vergessen hatte.
                                  Die Ärztin hat dann auch noch besorgt festgestellt, dass ich eine Fettleber
                              habe, was für mich aufgrund meiner Kochkünste nicht erstaunlich war, aber
                              zusätzlich so formuliert wurde: «Sie sind zu dick.» Auch wenn ich diesen Satz
                              fast täglich von meiner Frau höre, war das kein freundlicher Gesundheitstipp.
                              Ich würde daher gerne die Nutzung meiner medizinischen

                     —
         Beda M. Stadler,
                              Daten der Krankenkasse übergeben. Jedes Mal, wenn ich
                              mich in das eigene Dossier einlogge, könnte ein vorhande­      «Auch wenn ich
                              nes Expert-System mir ein paar Ratschläge aufgrund
   geboren 1950 in Visp
     (VS), ist emeritierter   der existierenden Daten geben. Habe ich mich verfahren,
                                                                                             ein gläserner
      Professor und war       sind schliesslich die Kommentare des Navis leichter zu         Patient bin, bleibt
   Direktor des Instituts     ertragen als die spitzen Bemerkungen einer Beifahrerin.
        für Immunologie
                              Genauso erhoffe ich mir, dass unser Gesundheitssystem
                                                                                             meine Prämie ein
 an der Universität Bern.
        Er ist bekannt für    etwas freundlicher wird.                                       Solidaritätsbeitrag.»
seine bissigen Aussagen           Meine Krankenkasse würde dadurch mein Freund und
       zu medizinischen       Helfer, der mich nicht beleidigt, sondern mir sachlich und freundlich mitteilt:
sowie gesundheits- und        «Bitte weniger essen.» Falls das Expert-System die Daten gescheit analysiert,
            gesellschafts-    könnte es sogar sein, dass ich etwas mitgeteilt kriege, was ich bis anhin
    politischen Themen.       noch nicht wusste. Nicht nur der Notfalldienst, sondern auch der Hausarzt
                              wäre dankbar, wenn ein digitales System das Wichtigste kurz zusammenfasst
                              und zugleich einen Rückblick ermöglicht – soweit die Daten dies erlauben.
                                  Da meine Krankenkasse nun sogar mein Freund ist, darf sie die Daten auch
                              für eigene Zwecke benutzen, etwa um Kosten zu sparen oder um Tarife an­
                              zupassen. Für Forschungszwecke sollten die Daten zudem von allen Kranken­
                              kassen in gleicher Art und Weise zur Verfügung gestellt werden. Einen Freund
                              haut man allerdings nicht übers Ohr. Auch wenn ich jetzt ein gläserner Patient
                              bin, bleibt meine Prämie ein Solidaritätsbeitrag und unabhängig von dem,
                              was mein Freund über mich weiss.

                              twitter.com/CSSPolitik

18   im dialog 1/2020
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