Immunbiologischer Einfluss von Sport - Deutsches Ärzteblatt

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Immunbiologischer Einfluss von Sport - Deutsches Ärzteblatt
MULTIPLE SKLEROSE

Immunbiologischer Einfluss
von Sport
Sportmedizinsche Maßnahmen führen zu einer effizienten Symptomlinderung; hierbei werden
auch hochintensive Trainingsprogramme gut vertragen. Ob regelmäßige Bewegung auch die
Krankheitsprogression verlangsamen kann, ist unklar.

                                  ultiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmun-        der MS werden intensiv untersucht, um den Verlauf
                          M       erkrankung, die sich durch chronische be-
                          ziehungsweise wiederkehrende Inflammationsher-
                                                                                   möglichst zielgerichtet positiv beeinflussen zu kön-
                                                                                   nen. Entsprechend der Häufigkeitsverteilung der un-
                          de und eine progressive Neurodegeneration in Ge-         terschiedlichen Subtypen der MS zielt der Großteil
                          hirn und Rückenmark auszeichnet (1). Die entste-         der medikamentösen Therapien auf den schubförmi-
                          henden Läsionen im zentralen Nervensystem                gen Verlaufstyp ab (4), wobei der frühestmögliche
                          (ZNS) beeinträchtigen kausal psychomotorische            Beginn einer Therapie stets betont wird.
                          Funktionen sowie die kognitive Leistungsfähigkeit,          Es gibt es mittlerweile ausreichend Evidenz, die den
                          was die Alltagsbewältigung zunehmend erschwert           positiven präventiven und rehabilitativen Effekt von
                          und sich folglich negativ auf die Lebensqualität der     körperlicher Aktivität und regelmäßiger sportlicher
                          Betroffenen auswirkt.                                    Betätigung in klinischen Populationen mit Blick auf
                          ● Etwa 85 % der MS-Patienten haben einen schub-          die Entstehung und den Progress vieler metabolischer,
                             förmig remittierenden Krankheitsverlauf.              neurologischer und kardiovaskulärer Erkrankungen
                          ● 15 % sind betroffen von der primär progredien-         belegen (5). So haben sich sporttherapeutische Maß-
                             ten MS mit stetigem Krankheitsfortschritt ohne        nahmen aufgrund der effizienten und nebenwirkungs-
                             vorangegangene Etablierung der schubförmigen          armen Linderung vieler krankheitsspezifischer Symp-
                             Verlaufsform oder von der sekundär progredien-        tome mittlerweile als integraler Bestandteil in der
                             ten MS mit kontinuierlicher Verschlechterung der      MS-Rehabilitation etabliert (6).
                             Symptomatik nach schubförmiger Verlaufsform.             Darüber hinaus wird der positive Einfluss von Sport
                             Die steigende weltweite Prävalenz (10%ige Zu-         zunehmend im Kontext des Krankheitsprogresses (Se-
                          nahme zwischen 2008 und 2013) ist entscheidend da-       kundärprävention) sowie des Krankheitsbeginns (Pri-
                          für, dass die MS in vielen Ländern die Hauptursache      märprävention) diskutiert (7). Ein relevanter Anteil
                          für nichttraumatische neurologische Beeinträchti-        dieser positiven Effekte wird sportbedingten Verän-
                          gungen bei jungen Erwachsenen ist (2, 3). Das unter-     derungen des Immunsystems zugesprochen.
                          streicht die Notwendigkeit effektiver und nebenwir-         Präklinische Daten lassen vermuten, dass Sport
                          kungsarmer Therapien.                                    nicht nur das periphere antiinflammatorische Gesche-
                             Die zugrunde liegenden immunpathologischen            hen fördert, sondern auch inflammatorischen Prozes-
                          Mechanismen hinsichtlich Pathogenese und Progress        sen im ZNS entgegenwirkt (8, 9).

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Immunbiologischer Einfluss von Sport - Deutsches Ärzteblatt
Kompensatorische Induktion eines                          fentlichte Ergebnisse unserer Arbeitsgruppe darauf
antiinflammatorischen Zustands                            hin, dass ein 3-wöchiges hochintensives Intervalltrai-
Ein Großteil der krankheitsmodifizierenden Medika-        ning bei Menschen mit MS die Neutrophilen-Lym-
mente (DMDs, „disease-modifying drugs“) zielt auf         phozyten-Ratio (NLR) signifikant absenkt.
die Modulation des Inflammationsgeschehens ab (1).           Querschnittsstudien haben ergeben, dass die NLR
Nachdem man lange Zeit angenommen hatte, dass             bei MS-Patienten im Vergleich zu Gesunden erhöht
die Immunpathogenese der MS hauptsächlich von             ist; außerdem ist sie mit dem Expanded Disability
proinflammatorischen Immunzellen vom TH1-Typ              Status Scale (EDSS-)Score zur Beurteilung der klini-
vermittelt wird, zählen heute auch die TH17-Zellen        schen Beeinträchtigung sowie der Krankheitsaktivi-
als Subpopulation der T-Helferzellen zu den wich-         tät (Schubrate) assoziiert (17, 18).
tigsten Treibern (10).                                       Dass regelmäßige sportliche Betätigung einen
   Allerdings beschränkt sich die Forschung nicht         wichtigen Einfluss auf die Immunhomöostase hat,
mehr nur auf das erworbene Immunsystem, sondern           konnte in einer Querschnittsuntersuchung an 245
rechnet den Zellen des angeborenen Immunsys-              Leistungssportlern gezeigt werden (19). Dabei war
tems, insbesondere den neutrophilen Granulozyten          die Anzahl der im Blut zirkulierenden Tregs bei den
und proinflammatorischen M1-Makrophagen, eine             Athleten höher als in der gesunden Kontrollgruppe.
wichtige Rolle in der Pathogenese und dem Progress           Zudem korreliert die Sauerstoffaufnahmefähigkeit
der MS zu (11, 12). Therapieansätze, die den Aktivi-      – als Maß für die kardiorespiratorische Fitness – po-
tätsgrad dieser Zellen modulieren, werden erforscht.      sitiv mit der Anzahl der im Blut zirkulierenden Tregs.
   Überschießende oder fehlgeleitete Immunreaktio-        Auch ist die supprimierende Aktivität der Tregs hö-
nen werden ebenso von natürlichen Immunzellen mit         her als in der Kontrollgruppe. Hochintensives Trai-
regulatorischer Funktion begrenzt. Regulatorische         ning des deutschen olympischen Hockeyteams über
CD4+-T-Zellen (Tregs) stellen eine wichtige Zell-         einen Zeitraum von einer Woche konnte die Zellzahl
fraktion dar, deren absolute Zellzahl im Kontext der      sogar um 12,9 % steigern (19).
MS zwar nicht zwingend reduziert ist, aber eine ver-         Im Kontext der MS weiß man bisher sehr wenig
minderte supprimierende Kapazität aufweist (13).          über den Einfluss einer langfristigen Sportinterventi-
Dabei wirken Tregs jedoch nicht nur auf der periphe-      on auf die im Blut zirkulierende Anzahl, Aktivität
ren Ebene antiinflammatorisch.                            und den Differenzierungszustand der Tregs. Vor dem
   So konnte in einem Mausmodell kürzlich gezeigt         Hintergrund solcher Ergebnisse und der Beobach-
werden, dass Tregs im ZNS eine übergeordnete Rolle        tung, dass die kardiorespiratorische Fitness invers
bei der Begrenzung neuroinflammatorischer Prozesse        mit dem EDSS-Score korreliert (20), scheint eine
spielen und damit pathologischen Veränderungen, zum       mehrwöchige intensive Trainingsintervention zur
Beispiel Neurodegeneration, entgegenwirken (14).          Verbesserung der Immunhomöostase ein vielverspre-
   Der positive Einfluss, den regelmäßige Bewegung        chender und nebenwirkungsarmer (komplemen-
auf die klinische Symptomatik bei Menschen mit MS         tär)therapeutischer Ansatz zu sein.
hat, wird hauptsächlich auf antiinflammatorische Ei-         In einer bereits abgeschlossenen großangelegten ran-
genschaften zurückgeführt. Akute körperliche Belas-       domisierten kontrollierten Studie mit MS-Patienten
tungen provozieren intensitätsabhängig zuerst einen       möchten wir daher untersuchen, inwieweit sich die
inflammatorischen Zustand (bewegungsinduzierte            Zellzahl und Differenzierung der Tregs durch ein 3-wö-
Leukozytose), dem durch die Produktion und Aus-           chiges hochintensives Intervalltraining beziehungswei-
schüttung von anti-inflammatorisch wirkenden lösli-       se moderates Ausdauertraining verändert (21).
chen Faktoren (z. B. IL-10, IL-1ra, sTNF-R) entgegen-        Als wichtiger indirekter Einfluss von Sport sei
gesteuert wird. Man nimmt an, dass diese wiederkeh-       noch die Reduktion des viszeralen Fettgewebes zu
rende kompensatorische Induktion eines antiinflam-        erwähnen, das als Inflammationsherd maßgeblich zu
matorischen Zustands nach der Bewegung auf Dauer          einem chronischen niedriggradigen Inflammationszu-
zu einer Verschiebung der Zellfraktionen der unter-       stand beiträgt (16). Entsprechend der Expansion des
     schiedlichen Immunzellen in Ruhe führt.              Fettgewebes sinkt die lokale Konzentration antiin-
              Hinsichtlich des angeborenen Immun-         flammatorischer Immunzellen beziehungsweise steigt
               systems gibt es Untersuchungen, die        die Konzentration inflammatorischer Immunzellen.
                    auf das Potenzial von regelmäßi-      Diese können, genau wie die lokal produzierten in-
                         ger Bewegung für die Repo-       flammatorischen Zytokine, das viszerale Fettgewebe
                             larisierung der Makro-       verlassen, systemisch wirken und Entzündungsreak-
                                phagen vom inflam-        tionen initiieren („Metaflammation“).
                                  matorischen     Zu-        Diese Pathomechanismen, induziert durch Überge-
                                  stand (M1) in den       wicht und einen inaktiven Lebensstil, werden zuneh-
                                  antiinflammatori-       mend mit der MS in Verbindung gebracht. So wird
                                   schen Zustand (M2)     Übergewicht nicht nur als relevanter Risikofaktor für
                                   hindeuten (15, 16).    den Progress und sogar den Krankheitsbeginn disku-
                                   Zudem       weisen     tiert, sondern auch als ein limitierender Faktor für den
                                    noch nicht veröf-     Therapieerfolg angesehen (22).

Perspektiven der Neurologie 2020 | Deutsches Ärzteblatt                                                              25
Neuroinflammation und                                          mäßiger Bewegung auf die Physiologie der BHS und
     Blut-Hirn-Schranke                                             hebt die Relevanz von Bewegung bei neuroinflam-
     Die MS ist eine neuroinflammatorische Autoimmun-               matorischen und neurodegenerativen Erkrankungen
     erkrankung, weshalb die meisten therapeutischen An-            wie MS hervor (27).
     sätze auf die bestmögliche Wiederherstellung der Im-              Zudem hat Bewegung einen positiven Effekt auf
     munhomöostase im ZNS abzielen. Da es bisher keine              die Ausschüttung von neurotrophen Faktoren, von
     Möglichkeiten zur Heilung gibt, ist die Reduktion              denen der „brain-derived neurotrophic factor“
     des Inflammationsgeschehens von höchster Bedeu-                (BDNF) das wohl am besten untersuchte Molekül ist.
     tung für die Verlangsamung des Krankheitsprogres-              Diesbezüglich sind vorübergehende und intensitätsab-
     ses. So zielt zum Beispiel der Wirkstoff Natalizumab           hängige Steigerungen der peripheren BDNF-Konzen-
     darauf ab, den Übertritt von aktivierten inflammatori-         tration durch akute Ausdauerbelastungen von mindes-
     schen Immunzellen aus der Peripherie über die Blut-            tens 30 Minuten gut belegt, wenngleich es hinsicht-
     Hirn-Schranke (BHS) in das ZNS zu unterbinden.                 lich des Effekts einer mehrwöchigen Trainingsinter-
        Die BHS gilt als hochselektive Struktur, die als            vention widersprüchliche Ergebnisse gibt (28).
     Barriere nur ausgewählten Molekülen und Zellen den
     Eintritt in das ZNS gewährt, um die Homöostase auf-            Tryptophan-Kynurenin-Serotonin-
     rechtzuerhalten und parenchymalen Schaden zu ver-              Stoffwechsel
     hindern. Verliert die BHS ihre Funktionalität, indem           Die Zwischen- und Endprodukte der essenziellen Ami-
     Zell-Zell-Verbindungen („tight junctions“) zwischen            nosäure Tryptophan erfüllen in vielen Stoffwechselwe-
     den Gefäßendothelzellen abgebaut werden, kommt                 gen wichtige Funktionen. Obwohl Serotonin und Mela-
     es zu einer unkontrollierten Infiltration unerwünsch-          tonin die wohl bekannteren Stoffwechselprodukte sind,
     ter Moleküle beziehungsweise Zellen. Das verstärkt             stellt der Kynureninpfad den vorrangigen Stoffwechsel-
     neuroinflammatorische Prozesse und trägt auf Dauer             weg (> 90 %) dar. Bei der MS ist der Kynureninpfad so-
     zur Neurodegeneration bei.                                     wohl in der Peripherie als auch im ZNS im Vergleich zu
        Enzyme, die Tight Junctions abbauen, sind zum Bei-          Gesunden pathologisch erhöht (29). Ausschlaggebend
     spiel Matrix-Metalloproteinasen (MMPs). MMPs neh-              hierfür scheinen systemische Inflammationszustände zu
     men im Kontext der MS eine zentrale Rolle ein und              sein, die für eine verstärkte Aktivität des Schrittmache-
     werden von aktivierten Immunzellen sowie Astrozyten            renzyms Indolamin-2,3-Dioxygenase (IDO) sorgen und
     als Hauptgliazellen des ZNS vermehrt ausgeschüttet             damit die Kynureninproduktion fördern (30).
     (23). Abhängig vom Krankheitsstadium der MS werden                Interessanterweise sind vor allem inflammatorische
     erhöhte MMP-Serumkonzentrationen beobachtet (24).              Zytokine verantwortlich für eine verstärkte Expressi-
        Bewegung kann direkt und indirekt positiv auf neu-          on der IDO, die ebenso nach akuten körperlichen Be-
     roinflammatorische Prozesse einwirken. Ein systemati-          lastungen ansteigt. Das Kynurenin selbst wirkt im-
     sches Review von 51 Tierstudien zeigte, dass ein erhöh-        munmodulatorisch und scheint für die Etablierung der
     ter peripherer Inflammationszustand die Aktivierung            Immunhomöostase wichtig zu sein, da es die Differen-
     hirnständiger Immunzellen (Mikroglia) maßgeblich för-          zierung noch nicht aktivierter CD4+-T-Zellen zu den
     dert (25). Die bereits erwähnte allmähliche Etablierung        antiinflammatorischen Tregs fördert (31).
     eines peripheren antiinflammatorischen Zustands durch             Daher wird die pathologische Erhöhung der Kynu-
     Sport lässt vermuten, dass darüber indirekt die Aktivie-       reninkonzentration bei Menschen mit MS auch als kör-
     rung von Immunzellen im ZNS herabgesetzt wird.                 pereigener Rebound-Effekt interpretiert, um dem MS-
        Da ein direkter neuroimmunologischer Einfluss von           spezifischen Inflammationszustand entgegenzuwirken
     Sport in Humanstudien höchstens mit bildgebenden               (32). Nach unseren Untersuchungen mit Gesunden so-
     Verfahren quantifizierbar ist, sind für mechanistische         wie Menschen mit schubförmiger MS aktivieren ein-
     Untersuchungen Tiermodelle nötig. So konnte in einem           malige, intensive Ausdauerbelastungen den Kynure-
     Mausmodell der MS gezeigt werden, dass die Trai-               ninpfad kurzzeitig – und beeinflussen die Kynurenin-
     ningsintensität möglicherweise ein wichtiger Einfluss-         Tryptophan-Ratio (33, 34). Demzufolge könnten sich
     faktor ist, der über den Erfolg einer Trainingsinterventi-     regelmäßig wiederholende Trainingsstimuli bei ausrei-
     on entscheidet (8). Nur durch ein intensives Training          chend hoher Intensität über kurzzeitige Aktivierungen
     über 6 Wochen verringerte sich die Infiltration inflam-        des Kynureninpfads für eine chronische Erhöhung der
     matorischer TH1- und TH17-Zellen in das ZNS bei                antiinflammatorischen Kapazität sorgen.
     gleichzeitig erhöhter Treg-Migration, was mit einer               Neben der Reduktion des Inflammationsgesche-
     verringerten klinischen Symptomatik und reduzierter            hens werden auch Zusammenhänge zwischen der Re-
     Demyelinisierung des Rückenmarks einherging.                   gulation des Kynureninpfads und krankheitsbedingten
        Unsere Arbeitsgruppe konnte zeigen, dass ein                MS-Symptomen vermutet (29).
     3-wöchiges hochintensives Intervalltraining im Rah-
     men eines Reha-Aufenthalts im Gegensatz zu modera-             Fazit
     tem Ausdauertraining die MMP-2-Serumkonzentrati-               ● Immer mehr Untersuchungen belegen die effiziente
     on bei MS-Patienten signifikant reduziert (26).                  Symptomlinderung durch sporttherapeutische Maß-
        Passend zu diesen Erkenntnissen unterstreicht ei-             nahmen bei MS-Patienten; hierbei werden auch
     ne aktuelle Übersichtsarbeit den Einfluss von regel-             hochintensive Trainingsprogramme gut vertragen.

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● Sportimmunologische        Forschung in Human- und          Lumbalpunktion), können auch bildgebende Ver-
    Tierstudien trägt zum Verständnis der zugrunde lie-       fahren wie die Positronenemissionstomografie
    genden Mechanismen bei und unterstreicht den un-          (PET) neuroinflammatorische Zustände zuverläs-
    abhängigen Effekt von Bewegungsinterventionen             sig detektieren und lokalisieren.
    in dieser klinischen Population.                      ●   Daher ist translationale Forschung im Kontext der
●   Die Implementierung von spezifischen Bewegungs-           humanen Sport-Neuroimmunologie nötig, um wich-
    programmen in klinische sowie alltagsnahe Settings        tige mechanistische Erkenntnisse zu erzielen.  ▄
    ist von Bedeutung, um MS-Patienten effektive und      DOI: 10.3238/PersNeuro.2020.07.08.05
    nebenwirkungsarme Therapieoptionen anzubieten.
●   Ob regelmäßige Bewegung nicht nur Symptome lin-                                      Sebastian Proschinger, M.Sc. Sportwiss.
    dern kann, sondern auch den Krankheitsfortschritt                           Abteilung für molekulare und zelluläre Sportmedizin,
    positiv beeinflusst, ist noch unklar und sollte ein                             Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin,
    Schwerpunkt zukünftiger Follow-up-Studien sein.                                                   Deutsche Sporthochschule Köln
●   Darüber hinaus sind mehr randomisierte kontrol-                     Prof. habil. Dr. rer. medic. Dr. Sportwiss. Philipp Zimmer
    lierte Studien nötig, um die Bewegungsempfehlun-                            Abteilung „Leistung und Gesundheit (Sportmedizin)“,
    gen für Menschen mit MS in verschiedenen Krank-                           Institut für Sport und Sportwissenschaft, TU Dortmund
    heitsstadien zu optimieren.
●   Ein ganzheitliches Assessment (körperliche Leis-
    tungsfähigkeit, Kognition, subjektives Befinden,      Interessenkonflikt: Herr Proschinger erhielt auf Drittmittelkonten Gelder für
    Lebensqualität) sowie die Analyse sensibler Bio-      Forschungsprojekte und klinische Studien von der Marga und Walter Boll-
    marker ist notwendig, um mögliche zugrunde lie-       Stiftung. Prof. Zimmer erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
    gende krankheitsmodulierende Eigenschaften ei-
    ner Trainingsintervention zu identifizieren.
●   Obwohl nur wenige Kompartimente des ZNS ohne          Literatur im Internet:
    hohes Risiko untersucht werden können (z. B.          www.aerzteblatt.de/lit2720

FORSCHUNG: MULTIPLE SKLEROSE

Monozyten rücken in den Fokus
       isherige Therapien der multiplen Sklerose             Die Forscher injizierten den Mäusen Antikörper,
B      (MS) haben sich auf die Funktion von T- und
B-Lymphozyten konzentriert. Eine Arbeitsgruppe
                                                          die gegen ein spezifisches Oberflächenprotein der
                                                          Monozyten gerichtet sind. Nur eine bestimmte Form
vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medi-             der Monozyten, die Cxcl10+-Zellen, ging durch die
zin (MDC) berichtet nun, dass bestimmte Monozyten         Antikörperbehandlung zugrunde. Dieser Zelltyp un-
am Krankheitsverlauf wesentlich beteiligt sein könn-      terscheidet sich laut den Forschern von den anderen
ten – und es daher womöglich effektiver ist, ihre         Monozyten in 2 wesentlichen Punkten. Zum einen be-
Funktion therapeutisch zu beeinflussen.                   sitzen Cxcl10+-Zellen besonders viele Rezeptoren für
   Autoreaktive T- und B-Zellen, die aufgrund eines       einen von T-Zellen abgegebenen Signalstoff, der in
Fehlers die Myelinscheiden im ZNS als körperfremd         Monozyten gewebeschädigende Eigenschaften her-
erkennen, wandern in das Gehirn ein und initiieren        vorruft. Zum anderen produzieren diese Zellen Inter-
die Erkrankung. Die jetzt untersuchten Monozyten          leukin-1-Beta, das die Blut-Hirn-Schranke öffnet und
zirkulieren im Blut, bevor sie ins Gewebe auswan-         somit den Zellübertritt ins Gehirn ermöglicht.
dern. Dort verwandeln sie sich in Makrophagen, die           „Unsere Forschung legt nahe, dass T-Zellen als
körperfremdes Gewebe – oder das, was sie wie bei          Krankheitsinitiatoren ins zentrale Nervensystem
der MS irrtümlich dafür halten – zerstören.               wandern, um dort Monozyten anzulocken, die für
   „In unserem Mausmodell der MS wollten wir die          den primären Gewebeschaden verantwortlich sind“,
Zellen per Einzelzell-Sequenzierung genauer unter-        so Mildners Überlegung. „Wenn das so wäre, würde
suchen und herausfinden, welche Monozyten bei MS          es zur Behandlung der allermeisten Formen der MS
im Gehirn vorhanden sind“, so Forschungsleiter Dr.        ausreichen, künftig die Cxcl10+-Monozyten spezi-
Alexander Mildner. Gemeinsam mit einem israeli-           fisch auszuschalten, anstatt gegen die T- oder B-Zel-
schen Team vom Department of Immunology am                len des Immunsystems vorzugehen“, folgert er.      hil
Weizmann Institute of Science in Rehovot stießen sie
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Perspektiven der Neurologie 2020 | Deutsches Ärzteblatt                                                                                   27
Multiple Sklerose

Immunbiologischer Einfluss
von Sport
Sportmedizinsche Maßnahmen führen zu einer effizienten Symptomlinderung; hierbei werden
auch hochintensive Trainingsprogramme gut vertragen. Ob regelmäßige Bewegung auch die
Krankheitsprogression verlangsamen kann, ist unklar.
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Perspektiven der Neurologie/2020 | Deutsches Ärzteblatt                   6
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