Impulskontrollstörungen in der ICD-11
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Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2021) 15:20–29 https://doi.org/10.1007/s11757-020-00649-2 ÜBERSICHT Impulskontrollstörungen in der ICD-11 Susanne Bründl1 · Johannes Fuss1 Eingegangen: 9. Dezember 2020 / Angenommen: 15. Dezember 2020 / Online publiziert: 8. Januar 2021 © Der/die Autor(en) 2021 Zusammenfassung Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Neuerung der Diagnoserichtlinien in der 11. Revision der International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) im Kapitel der Impulskontrollstörungen. Die Diagnosen Pyromanie und Kleptomanie bleiben nahezu unverändert erhalten. Die Diagnose pathologisches Glücksspiel verliert ihren Status als Impulskontrollstörung und wird Teil des neuen Kapitels der Verhaltenssüchte. Neu im Kapitel der Impulskontrollstörungen ist die Wiederaufnahme der Diagnose intermittierende explosible Störung sowie die neue, kontrovers diskutierte Diagnose zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung. Der Artikel stellt Änderungen der Diagnosen zwischen der ICD-11 und ihrer Vorgängerversion (ICD-10) gegenüber, greift aktuelle Diskussionen rund um das Kapitel der Impulskontrollstörungen auf und beschreibt klinische sowie forensisch relevante Implikationen der modifizierten und neu eingeführten Diagnosen. Schlüsselwörter Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung · Hypersexualität · Pyromanie · Kleptomanie · Intermittierende explosible Störung Impulse control disorders in the ICD-11 Abstract This article deals with the new diagnostic guidelines in the 11th revision of the International Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-11) in the chapter on Impulse Control Disorders. The diagnoses pyromania and kleptomania remain almost unchanged. The diagnosis of Pathological Gambling loses its status as Impulse Control Disorder and becomes part of the new chapter of Behavioral Addictions. New in the chapter on Impulse Control Disorders is the resumption of the diagnosis Intermittent Explosive Disorder and the new, controversially discussed diagnosis Compulsive Sexual Behavior Disorder. The article compares changes in diagnostic guidelines between the ICD-11 and its predecessor version (ICD-10), picks up on current discussions surrounding the chapter on Impulse Control Disorders, and describes clinically and forensically relevant implications of the modified and newly introduced diagnoses. Keywords Compulsive Sexual Behavior Disorder · Hypersexuality · Pyromania · Kleptomania · Intermittent Explosive Disorder Das Kapitel „Impulskontrollstörungen“ im 6. Kapitel der ten und Störungen der Impulskontrolle“ aus der vorherigen 11. Revision der International Classification of Diseases Version (ICD-10; Dilling et al. 1991) ab. Das korrespondie- and Related Health Problems (ICD-11; https://icd.who.int/ rende Kapitel in der neusten Revision des Diagnostic and dev11/l-m/en) löst das Kapitel F63 „Abnorme Gewohnhei- Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; American Psychiatric Association 2013) sind „Disruptive, Impulskon- troll- und Sozialverhaltensstörungen“, ehemals als „Störun- PD Dr. med. Johannes Fuss gen der Impulskontrolle, nicht andernorts klassifiziert“ be- jo.fuss@uke.de zeichnet (DSM-III und -IV). Während die Impulskontroll- 1 störungen in der ICD-10 durch die künstliche Beschrän- Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, kung der Störungskapitel im Rahmen eines dezimalen Ko- Martinistr. 52, 20246 Hamburg, Deutschland dierungssystems (F0–F9) noch dem Kapitel F6 „Persönlich- K
Impulskontrollstörungen in der ICD-11 21 keits- und Verhaltensstörungen“ zugeordnet waren, stehen der sie lediglich als wiederholte impulsive Handlungen oh- sie nun als alleinige Kategorie und umfassen folgende Dia- ne klare rationale Motivation mit negativen Konsequenzen gnosen: für Betroffene selbst oder andere Menschen definiert wur- den. Die neue Definition relativiert den Gedanken, dass es Pyromanie (pathologische Brandstiftung; ICD-11: sich bei den „Störungen der Impulskontrolle“ um unkon- 6C70) – „pyromania“, trollierbares Verhalten handelt, im Sinne kurzer und sponta- Kleptomanie (pathologisches Stehlen; ICD-11: 6C71) – ner Handlungsimpulse, denen, ohne darüber nachzudenken, „kleptomania“, nachgegeben wird. Dadurch wird deutlicher, dass entgegen zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung1 (ICD-11: dem intuitiven Verständnis des Begriffs auch Verhaltens- 6C72) – „compulsive sexual behavior disorder“, weisen inbegriffen sind, denen eine gewisse Absicht und intermittierende explosible Störung (ICD-11: 6C73) – Abwägung oder ein Wunsch nach Vergnügen und Nerven- „intermittent explosive disorder“. kitzel im Vorfeld zugrunde liegen. Vor allem bei Brandstif- In der aktuellen digitalen Version der ICD-11 (https:// tung, Diebstahl oder sexuellem Verhalten ist davon auszu- icd.who.int/dev11/l-m/en), die im Januar 2022 in Kraft tre- gehen, dass oft eher bedacht und vorsätzlich vorgegangen ten soll, finden sich zusätzlich Querverweise zu den ehe- wird als unüberlegt und impulsiv (Kröber 2015). mals im Kapitel F63 enthaltenen Diagnosen pathologisches Glückspiel („gambling disorder“) und Trichotillomanie so- wie zur neuen Diagnose pathologisches Spielen („gaming Pyromanie (6C70) und Kleptomanie (6C71) disorder“). pathologisches Glücksspiel (6C50) und patholo- gisches Spielen (6C51) bilden in der ICD-11 die neue Kate- Die Diagnosen Pyromanie und Kleptomanie, erstmals im gorie der Verhaltenssüchte. Trichotillomanie (6B25.0) wird DSM-III als Störungen der Impulskontrolle gelistet, sind zukünftig den Zwangsstörungen zugeordnet. Die neu geord- seit über 30 Jahren im Grundsatz unverändert. Die ICD-11 nete Gruppe der Impulskontrollstörungen soll nachfolgend betont lediglich in Abgrenzung zu normalem Verhalten das hinsichtlich ihrer Veränderungen gegenüber der ICD-10 be- Fehlen eines nachvollziehbaren Motivs als pathologisches schrieben und einschließlich ihrer Implikationen diskutiert Kernmerkmal (z. B., dass die Güter nicht zur persönlichen werden. Nutzung oder wegen ihres finanziellen Wertes gestohlen Impulskontrollstörungen sind in der ICD-11 gekenn- werden, oder dass der Brandstiftung kein nachvollziehba- zeichnet durch wiederholtes Versagen, einem starken Im- res Motiv wie z. B. Sabotage zugrunde liegt). Beide Störun- puls, Antrieb oder Drang zu widerstehen, eine Handlung gen gehen auf das Konzept der Monomanien von Esquirol auszuführen, die kurzfristig belohnend ist, längerfristig (1838) und Marc (1844) zurück, die sie als krankhaft ge- jedoch mit negativen Folgen für die Person selbst oder störte Kontrolle über eine spezifische Handlung (Brandstif- andere, starkem Leidensdruck oder erheblichen Beeinträch- tung oder Stehlen) ohne weitere Zeichen einer psychischen tigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, Störung definierten (Leygraf 2009). In der Vergangenheit beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen wurde kritisiert, dass Pyromanie (absichtsvolles Feuerle- verbunden ist. gen) und Kleptomanie (pathologisches Stehlen) in ihrer Verhaltensweisen (Brandstiftung, Diebstahl, sexuelles Operationalisierung eher im Sinne gesellschaftlichen Fehl- Verhalten und explosive Ausbrüche) im Zusammenhang verhaltens als im Sinne umschriebener psychischer Störun- mit Störungen der Impulskontrolle gehen typischerweise gen anmuten (Kröber 2015). Kröber (2015) zog Paralle- mit steigender Anspannung oder affektiver Erregung vor len zwischen dem für Impulskontrollstörungen typischen dem Verhalten oder bei Widerstand gegen das Verhalten Anspannungszustand vor sowie Entspannungszustand nach einher, sowie mit Vergnügen, Nervenkitzel, Befriedigung der Handlung und anderen wichtigen sportlichen, berufli- oder Abnahme der Anspannung während oder nach dem chen oder Alltagshandlungen (z. B. an einem Wettkampf Verhalten. Im Verlauf der Störung können das Empfinden teilnehmen). Damit stellte er die Konzeptualisierung von von Anspannung oder Erregung vor dem Verhalten sowie Pyromanie und Kleptomanie als psychische Störungen in- die damit einhergehende Befriedigung jedoch abnehmen. frage. Auch empirische Untersuchungen zeigen, dass patho- Hinzukommen können Gefühle von Schuld oder Scham logische Brandstiftung oder pathologisches Stehlen selten nach Ausführen des Verhaltens. isoliert, sondern vielmehr komorbide zu unterschiedlichen Damit wurde die Konzeptualisierung von Impulskon- psychischen Störungen auftreten (Barnett 2005). So wurde trollstörungen im Vergleich zur ICD-10 konkretisiert, in empfohlen, die Verhaltensweisen eher als Symptome an- derer psychischer Störungen und Belastungen zu verstehen 1 Im vorliegenden Artikel wird der Begriff „Zwanghafte Sexuelle (Leygraf 2009), da deren Betrachtung als eigenständige Stö- Verhaltensstörung“ genutzt – eine offizielle Übersetzung des Begriffs rungsbilder eine dahinterliegende psychopathologische Pro- Compulsive Sexual Behavior Disorder liegt aktuell noch nicht vor. blematik verdecken könnte. Dass die Störungen so gut wie K
22 S. Bründl, J. Fuss nie isoliert vorliegen, unterstreichen auch die unbekann- Die Person führt das repetitive Sexualverhalten trotz te Prävalenz von Pyromanie (Burton et al. 2012) und die nachteiliger Folgen (z. B. wiederholte Beziehungsbrüche, niedrige Prävalenz von 0,3–0,6 % (Frauen : Männer, 3 : 1) berufliche Konsequenzen, negative Auswirkungen auf die für Kleptomanie (Torales et al. 2020). Dementsprechend Gesundheit) fort. wurden beide Störungsbilder bis dato sowohl in der klini- Die Person führt das repetitive Sexualverhalten fort, auch schen als auch in der Forschungspraxis, ebenso wie in den wenn sie wenig oder keine Befriedigung daraus zieht. Überarbeitungsprozessen der ICD-11, vernachlässigt – wo- mit nicht davon auszugehen ist, dass sich der Zustand im Neben den Merkmalen der exzessiven Sexualität ist für Zuge der aktuellen Revision verändern wird. die nosologische Einordnung entscheidend, dass das ab- weichende Sexualverhalten nicht nur im Rahmen besonde- rer Lebensumstände (z. B. nach einer Trennung) vorüberge- Zwanghafte sexuelle Verhaltensstörung hend auftritt, sondern über einen längeren Zeitraum (z. B. (6C72) mindestens 6 Monate) besteht. Außerdem sind für den Stö- rungscharakter ähnlich wie bei der Konzeptualisierung an- Ein Phänomen, das erstmals vor über 100 Jahren beschrie- derer Störungsbilder ausgeprägter Leidensdruck oder Be- ben (von Krafft-Ebing 1903) und seither unter verschie- einträchtigungen in wichtigen Lebensbereichen notwendig. densten Labels – wie Hypersexualität, Sexsucht, sexuelle Leidensdruck hingegen, der ausschließlich durch morali- Impulsivität, sexuelle Zwanghaftigkeit (Fuss et al. 2019a) – sche Wertungen oder die Missbilligung besonderer sexuel- diskutiert und untersucht wurde (Briken 2016 für einen ler Verhaltensweisen entsteht, schließt die Diagnose einer historischen Überblick), wird nun erstmals als operatio- zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung aus. Beispielhaft nalisierte psychische Störung in ein Klassifikationssystem sei an eine religiöse Person zu denken, die der Überzeu- eingehen. Ein früherer Vorschlag über die Aufnahme des gung ist, dass Masturbation und das Betrachten von Por- Zustands als „hypersexual disorder“ (Kafka 2010) in das nografie eine Sünde darstellen. Da es sich um ein breit ge- DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) wurde fasstes Konstrukt mit unterschiedlichen Ausprägungen und aufgrund unzureichender empirischer Datenlage sowie kli- Wirkmechanismen handelt, sind die Diagnosekriterien re- nischer, sozialer und rechtlicher Bedenken abgelehnt (Kaf- lativ allgemein gefasst und vermeiden eine Konzentration ka 2014). In der ICD-10 findet sich lediglich im Kapitel auf mögliche Ätiologie (z. B. traumatische sexuelle Erfah- der sexuellen Funktionsstörungen die Diagnose gesteiger- rungen) oder Kontexte, in denen die sexuellen Handlungen tes sexuelles Verlangen (F52.7), jedoch ohne diagnostische auftreten können (z. B. als Bewältigungsstrategie für nega- Richtlinien oder Symptombeschreibungen. Die zwanghaf- tive Emotionen) – dies steht im Gegensatz zur abgelehnten te sexuelle Verhaltensstörung (Compulsive sexual behavior Konzeptualisierung für die DSM-5 (Stein et al. 2020). disorder) soll in der ICD-11 ins Kapitel der Impulskontroll- In der Praxis werden von hilfesuchenden Personen am störungen eingeordnet und wie folgt definiert2 werden: häufigsten Verhaltensweisen wie exzessive Masturbation und Nutzung von Pornografie berichtet, wobei sich das Ein anhaltendes Unvermögen, intensive, sich wieder- heterogene Krankheitsbild auch in interaktiven sexuellen holende sexuelle Impulse oder Triebe zu kontrollie- Aktivitäten, z. B. Internet-, Telefonsex oder ungeschütztem ren, was zu wiederholtem sexuellem Verhalten führt, Geschlechtsverkehr mit häufig wechselnden Sexualpart- das sich in einem oder mehreren der folgenden Punkte nern, äußern kann (Mead und Sharpe 2018). Über die manifestiert: Verbreitung in der Bevölkerung konnten aufgrund des bis- Die Ausübung der sexuellen Aktivitäten hat zentralen herigen Fehlens offiziell anerkannter Diagnosekriterien und Stellenwert im Leben einer Person erlangt. Andere Inte- validierter Diagnoseinstrumente wenig zuverlässige Aus- ressen, Aktivitäten und Pflichten sowie die persönliche sagen getroffen werden. Ältere epidemiologische Studien Fürsorge und Gesundheit werden aufgrund der Aktivitä- zu verwandten Konstrukten schätzen, dass 5–6 % der All- ten vernachlässigt. gemeinbevölkerung von dieser Symptomatik betroffen sein Die Person hat zahlreiche erfolglose Versuche unternom- könnten (Carnes 1991; Coleman 1991). In einer landesweit men, das Sexualverhalten zu kontrollieren oder deutlich repräsentativen Stichprobe aus den USA wiesen 10,3 % der zu reduzieren. Männer und 7,0 % der Frauen klinisch relevante Beein- trächtigungen in Verbindung mit Schwierigkeiten bei der Kontrolle sexueller Gefühle, Triebe und Verhaltensweisen auf (Dickenson et al. 2018). Wahrscheinlich handelt es sich 2 Hierbei handelt es sich um unsere Übersetzung der diagnostischen dabei aber um eine Überschätzung der realen Prävalenz Richtlinien – eine offizielle Übersetzung der Diagnosekriterien liegt (Klein et al. 2014). Inwieweit es sich um ein zunehmendes aktuell noch nicht vor. Syndrom handelt, dass möglicherweise durch die Omniprä- K
Impulskontrollstörungen in der ICD-11 23 senz, leichte und anonyme Verfügbarkeit sexueller Inhalte ter aggressiven Verhaltens, dessen Frequenz und Intensität im Internet begünstigt wird (Griffiths 2012), wird sich in außerhalb der für Alter und Entwicklungsstand erwarteten zukünftigen longitudinalen Studien auf Basis offizieller normalen Variation liegt. Diagnosekriterien zeigen. Bezüglich der Verbreitung in der Bevölkerung wird an- genommen, dass die intermittierende explosible Störung häufig in der späten Kindheit oder Adoleszenz einsetzt Intermittierende explosible Störung (6C73) (Kröber 2015), vermehrt in stationären Populationen vor- kommt (Müller et al. 2011), hohe Komorbidität (mit Per- Mit der intermittierenden explosiblen Störung zieht eine sönlichkeitsstörungen) aufweist sowie mit neurologischen/ weitere Diagnose in das Manual der ICD-11 ein, die in der neuropsychologischen Auffälligkeiten einhergeht (Werde- ICD-10 nicht enthalten ist. Im Gegensatz zur zwanghaf- nich und Padlesak 2006). Trotz bereits zuvor beschriebener ten sexuellen Verhaltensstörung existierten aber bereits zu- Ausschlusskriterien wurde eine Zwölfmonatsprävalenz der vor Diagnosekriterien. Die intermittierende explosible Stö- intermittierenden explosiblen Störung von ca. 4 % in ei- rung geht aus früheren DSM- und ICD-Diagnosen zu Per- ner repräsentativen Stichprobe in den USA beschrieben sönlichkeitsstörungen (aggressiver Typ) hervor und ist so- (Kessler et al. 2006). Die hohe Komorbidität mit ande- wohl in DSM-III bis DSM-5 als auch bereits in der ICD- ren psychischen Störungen (v. a. dissoziale und emotional- 9-CM (1979) enthalten. In der ICD-10 wurde die Diagno- instabile Persönlichkeitsstörung, Zwangsstörungen (Fuss se zugunsten der emotional instabilen Persönlichkeitsstö- et al. 2019a), aber auch psychotische und hirnorganische rung (impulsiver Typ) nicht gelistet (Werdenich und Padle- Störungen) legt allerdings nahe, dass es sich auch bei die- sak 2006). Nachdem die in früheren DSM-Auflagen relativ sem Störungsbild wie bei der Kleptomanie und Pyromanie breit gefassten und vage gehaltenen Diagnosekriterien im eher um ein Symptom verschiedener psychischer Erkran- Rahmen der 5. DSM-Revision expliziert wurden, soll in kungen statt um eine isolierte Störung aggressiver Impulse Anlehnung daran für die ICD-11 folgende Definition3 der handeln dürfte. Inwieweit sich diese Auffassung bestätigt, intermittierenden explosiblen Störung gelten: werden kommende klinische Untersuchungen zeigen. Insgesamt handelt es sich beim Kapitel der Impulskon- wiederholte kurze Episoden verbaler oder physischer Ag- trollstörungen in der ICD-11 immer noch mehr um eine Art gression oder Zerstörung von Eigentum, die ein Versagen Sammel- und Restkategorie für unterschiedliche, nicht an bei der Kontrolle aggressiver Impulse darstellen, anderer Stelle klassifizierbare Störungsbilder, die allein auf- wobei die Intensität des Ausbruchs oder der Grad der Ag- grund deskriptiver Ähnlichkeiten zusammengruppiert wur- gressivität in erheblichem Missverhältnis zur Provokati- den. Es handelt sich um in Forschung und Klinik vernach- on oder zu den auslösenden psychosozialen Stressfakto- lässigte und/oder umstrittene Diagnosen. Offene Fragen be- ren steht. treffen deren Legitimation als eigenständige Störungsbilder Die Symptome lassen sich nicht besser durch eine andere oder – aufgrund ihrer Gemeinsamkeiten sowohl mit Verhal- psychische, verhaltensbedingte oder neurologische Stö- tenssüchten als auch mit Zwangserkrankungen – deren kon- rung erklären und sind nicht Teil eines Musters chroni- zeptuelle Einordnung, welche sich auf Basis der Datenlage scher Wut und Reizbarkeit (z. B. bei der oppositionellen im Verlauf verändern kann (s. am Beispiel des pathologi- Trotzstörung). schen Glücksspiels). Dies erklärt, dass in der Kategorie der Das Verhaltensmuster ist von ausreichender Schwere, um Impulskontrollstörungen mehr Bewegung stattfindet als in zu einer signifikanten Beeinträchtigung in persönlichen, anderen Kategorien und sie eine größere Angriffsfläche für familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder ande- Kritik und Diskussionspunkte bietet (Werdenich und Pad- ren wichtigen Funktionsbereichen zu führen. lesak 2006, S. 541). Das Auftreten anschließender Schuldgefühle gemäß Dia- gnoserichtlinien der ICD-9-CM fehlt im DSM-System und wird in der ICD-11 ebenfalls fallen gelassen. Anders als das Diskussionen rund um das Kapitel der DSM-5 verzichtet die ICD-11 auf eine Quantifizierung der Impulskontrollstörungen impulsiven Ausbrüche oder Kontrollverluste. Die Diagno- se kann vergeben werden, wenn das Verhalten über einen Diskussionspunkte zum Thema Impulskontrollstörungen längeren Zeitraum (z. B. mindestens 6 Monate) regelmä- können unter der Leitfrage „Ist abweichendes Sozialver- ßig auftritt. Es handelt sich also um ein anhaltendes Mus- halten tatsächlich Ausdruck einer psychischen Störung?“ zusammengefasst werden. Im Kapitel der Impulskontroll- 3 Hierbei handelt es sich um unsere Übersetzung der diagnostischen störungen würden alltägliche Verhaltensweisen als sta- Richtlinien – eine offizielle Übersetzung der Diagnosekriterien liegt bile Muster abweichenden Sozialverhaltens beschrieben, aktuell noch nicht vor. die erst durch ihre exzessive Ausübung abweichend wir- K
24 S. Bründl, J. Fuss ken oder aufgrund ihrer strafrechtlichen Relevanz in den Einführung neuer Diagnosen am Beispiel der Verdacht einer Psychopathologie gerieten (Kröber 2015; zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung Leygraf 2016). Ihr gemeinsames zentrales Merkmal, die Impulsivität als beeinträchtigte psychische Dimension, Eng verbunden mit Änderungsprozessen in Klassifikations- erscheint wenig spezifisch, vielmehr Symptom verschie- systemen ist die Frage nach der Notwendigkeit neuer Dia- denster psychischer Störungen (Werdenich und Padlesak gnosen, die mit dem Risiko einer „inflationären Zunahme 2006). Deshalb wurde kritisiert, dass aufgrund der unge- psychischer Störungen“ sowie einer „Trivialisierung des klärten Ursachen der als Störungen der Impulskontrolle Konzepts psychischer Störungen“ einherzugehen drohen beschriebenen Verhaltensweisen nicht klar sei, ob deren (Stieglitz und Hiller 2013, S. 237). Dieses Spannungsver- Einordnung als psychische Störung in ein psychiatrisches hältnis soll im Folgenden in Bezug auf die in der ICD-11 Klassifikationssystem angemessen ist (Kröber 2015). Ins- neu eingeführte und umstrittene Diagnose der zwanghaften gesamt werden immer wieder Stimmen mit Forderungen sexuellen Verhaltensstörung diskutiert werden. nach Revision einer „wenig zufriedenstellenden Misch- Nachdem bisherige Vorschläge zur Integration außer kategorie“ (Werdenich und Padlesak 2006, S. 541) laut, Kontrolle geratenen Sexualverhaltens in ein Klassifikati- denen in der ICD-11 – durch Modifikation bestehender onssystem abgelehnt wurden (z. B. hypersexuelle Störung; und Aufnahme neuer Diagnosen – nur teilweise begegnet Kafka 2010), wird nun mit der zwanghaften sexuellen Ver- wurde. haltensstörung ein jahrzehntelang diskutiertes Phänomen in die ICD-11 aufgenommen. Die gegenwärtigen Diskus- Modifikation von Diagnosen am Beispiel des sionen zeigen, dass die eine Seite soziale, klinische und pathologischen Glücksspiels rechtliche Bedenken gegen die Einführung der Diagnose hat und auch dieses Symptom eher als Ausdruck anderer Das pathologische Glücksspiel, „einstiges Flaggschiff der zugrunde liegender Störungen (z. B. Persönlichkeitsstö- Impulskontrollstörungen“ (Kröber 2015, S. 149), wird in rungen) auffasst – die andere Seite v. a. die Chance zur der ICD-11 nicht mehr im Kapitel der Impulskontrollstö- empirisch fundierten Weiterentwicklung des Konstrukts rungen zu finden sein. Jahrzehntelange Kämpfe um das ex- und zur besseren klinischen Versorgung (Fuss et al. 2019b) zessive Glücksspielen zwischen Vertretern eines Zwangs- sieht. modelles und Suchttherapeuten (Kröber 2009, 2015) führ- Auf sozialer Ebene entsteht durch die Konzeptualisie- ten zunächst zu einer Kompromisskategorisierung als Stö- rung als psychische Störung das Risiko der Stigmatisierung rung der Impulskontrolle in der ICD-10, ebenso wie in (Briken 2016). Abweichendes Sexualverhalten erscheint in DSM-III bis DSM-5. Forschungsbemühungen, die durch besonderem Maße anfällig für Stigmatisierung, weil Sexua- die Listung in Diagnosemanualen begünstigt wurden, re- lität ohnehin mit verschiedensten Stereotypen (z. B. Herek sultieren nun in der ICD-11 in der Einführung einer neuen und McLemore 2013; Boysen et al. 2014) sowie gesell- Kategorie für Verhaltenssüchte im Bereich der Suchterkran- schaftlichen Norm- und Wertvorstellungen (Soble 2009) kungen („disorders due to addictive behaviors“). Die Erwei- konfrontiert ist. Zumal die ICD als weltweites Klassifikati- terung des Suchtkonzepts sowie die Klassifizierung der Dia- onssystem auch in Ländern gilt, wo die Gefahr besteht, dass gnose pathologisches Glücksspiel als Verhaltenssucht ba- eine Konzeptualisierung abweichender Sexualität als psy- sieren auf vergleichbaren verhaltensbezogenen Symptomen chische Störung (religiös oder moralisch begründete) sexu- von substanzgebundenen Süchten und den neuen sog. Ver- alfeindliche Einstellungen und die Entwicklung fragwürdi- haltenssüchten (Leygraf 2016), sowie auf ähnlichen neu- ger Therapieformen begünstigen könnte (Stein et al. 2020). robiologischen Korrelaten in Hirnregionen, die mit gerin- Die Annahme, dass die meisten TherapeutInnen und Ärz- ger Impulskontrolle, der Verarbeitung von Belohnungsrei- te verlässlich zwischen tatsächlich gestörtem und anderem zen und aggressivem Verhalten assoziiert sind (Stieglitz und Sexualverhalten, das lediglich aufgrund moralischer Wer- Hiller 2013). tungen oder der Missbilligung besonderer sexueller Ver- Dieses Beispiel zeigt, dass die Aufnahme von Diagno- haltensweisen gestört wirkt, unterscheiden können, ist die sen in Klassifikationssysteme Forschungsaktivitäten ansto- Hoffnung. Die Frage, ob ihnen dies gelingt, soll durch eine ßen kann, die zur Evaluierung und Weiterentwicklung der weltweite Fall-Kontroll-Feldstudie in Kooperation mit der Diagnose beitragen sowie langfristig zu einer Änderung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geklärt werden, deren Konzeptualisierung führen können. Ähnliche Diskussionen Datenerhebung nahezu abgeschlossen ist. finden aktuell im Bereich der zwanghaften sexuellen Ver- Um eine unangemessene Pathologisierung sexueller Ver- haltensstörung statt. haltensweisen und den missbräuchlichen Gebrauch der Dia- gnose weniger wahrscheinlich zu machen, soll die zwang- hafte sexuelle Verhaltensstörung nicht diagnostiziert wer- den, wenn ein hohes Maß an sexuellem Interesse und sexu- K
Impulskontrollstörungen in der ICD-11 25 ellem Verhalten, jedoch ohne Leidensdruck oder eine Be- Implikationen einträchtigung der sexuellen Selbstkontrolle vorliegt. Eben- so wenig, wenn das Verhalten nur über einen kurzen Zeit- Beschriebenen Risiken der Weiterentwicklung bestehender raum oder bei Jugendlichen auftritt. Im klinischen Kontext Diagnosen und Aufnahme neuer Diagnosen in Klassifikati- befürchten KritikerInnen, dass durch Pathologisierung se- onssysteme (Diagnoseinflation, Trivialisierung psychischer xueller Normvarianten (Fuss et al. 2018; Klein et al. 2019) Störungen, Pathologisierung abweichenden Verhaltens, ho- ein hohes Potenzial für Falsch-positiv-Raten entsteht (Win- he Falsch-positiv-Raten, Missbrauch von Diagnosen) ste- ters 2010; Steele et al. 2013). Daher sollen die neuen Dia- hen wichtige Chancen für die Forschung und klinisch-the- gnosekriterien – im Vergleich zum bloßen Vorhandensein rapeutische Praxis gegenüber. Im Folgenden werden wis- einer diagnostischen Kategorie ohne weitere Spezifikatio- senschaftliche, klinische und rechtliche Implikationen dar- nen wie in der ICD-10 – dazu beitragen, dass die Schwelle gestellt, die mit den ICD-11-Neuerungen im Kapitel der für die Diagnose einerseits nicht zu niedrig ist, andererseits Impulskontrollstörungen einhergehen. keine zu hohe Hürde für eine mögliche Behandlung betrof- fener Personen darstellt. Besonders wichtig erscheint dabei Implikationen für die Forschung die Differenzierung zwischen Personen, die tatsächlich un- ter ihrem Sexualverhalten leiden, und solchen, die Konzepte Das Beispiel der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung wie „Sexsucht“ beispielsweise als Rechtfertigung für Fehl- zeigt, wie Forschungsbestrebungen durch die Einführung verhalten nutzen (Kraus et al. 2016, 2018; Gola und Potenza neuer Diagnosen angeregt werden können. Seit Konzeptua- 2018). In diesem Zusammenhang wurden auch rechtliche lisierung als Impulskontrollstörung ist die Anzahl an Stu- Bedenken wie eine Fehlanwendung der Diagnose vor Ge- dien zum Thema zwanghafte Sexualität stark angewach- richt diskutiert (Kafka 2010, 2014). Trotz Fehlens einer sen. Unter anderem, wurde bereits ein Messinstrument an- offiziellen Diagnose fand das verwandte Konstrukt „sex ad- hand der ICD-11-Kriterien entwickelt und in verschiedenen diction“ v. a. in amerikanischen Gerichtsverfahren bereits Sprachen validiert (Böthe et al. 2020); Prävalenzschätzun- Anwendung (Ley et al. 2015 für Fallbeispiele). KritikerIn- gen sowie ätiologische (Leeman et al. 2019; Walton et al. nen befürchten, dass eine offizielle Diagnose insbesonde- 2017) und Untersuchungen zu Therapieansätzen wurden re im Zusammenhang mit Sexualstraftaten im angloame- durchgeführt (Hallberg et al. 2019). Allgemein haben wis- rikanischen Rechtssystem als strafmildernder Faktor miss- senschaftliche Erkenntnisse auf Basis valider und reliabler braucht werden könnte (Ley et al. 2015; Montgomery-Gra- Diagnosekriterien die Bedeutung von Impulskontrollstörun- ham 2017). gen deutlicher gemacht. Vor allem die zwanghafte sexuelle Weitere Kritikpunkte betreffen die mangelnde empiri- Verhaltensstörung, das pathologische Glücksspiel und die sche Fundierung des Konzepts der zwanghaften sexuellen intermittierende explosible Störung scheinen in der Allge- Verhaltensstörung, ihre konzeptuelle Einordnung, ihre Dia- meinbevölkerung verbreitete Erkrankungen, die mit Beein- gnosekriterien sowie mögliche Therapieansätze (Stein et al. trächtigungen in verschiedenen Lebensbereichen einherge- 2020). Besonders die konzeptuelle Einordnung als Störung hen und die Wichtigkeit wissenschaftlich fundierter Diag- der Impulskontrolle sowie alternative Konzeptualisierungs- nostik sowie Behandlung betonen (Grant et al. 2014). Aus vorschläge als Verhaltenssucht oder Zwangsstörung wurden dieser Perspektive ist deren Konzeptualisierung als Impuls- unter öffentlichen, politischen und finanziellen Gesichts- kontrollstörung auch bei strittiger Datenlage eher zu begrü- punkten kontrovers diskutiert (Böthe et al. 2018a, b; Carnes ßen. 1991; Fuss et al. 2019a, b; Gola und Potenza 2018; Grant et al. 2014; Griffiths 2016; Kraus et al. 2016; Potenza et al. Klinische Implikationen 2017; Stein 2008; Stein et al. 2020). Mit der Aufnahme der zwanghaften sexuellen Verhal- Klare diagnostische Richtlinien und eine empirische Fun- tensstörung in die ICD-11 wird die jahrzehntelange Debatte dierung von Störungskonzepten können auf klinischer Ebe- um das Phänomen keineswegs beendet sein, der Teufels- ne zur Verbesserung der Behandlungssituation beitragen. kreis aus fehlenden offiziellen Diagnosekriterien und feh- Die Listung in der ICD-11 scheint die Behandlungsmög- lender empirischer Fundierung aber allemal beendet. Als lichkeiten zu verbessern und die Chancen zu erhöhen, dass Gegenstand aktueller und künftiger Forschungsbestrebun- Behandlungskosten durch Krankenkassen übernommen gen hat die neue Diagnose das Potenzial, Veränderungen werden können (Stein et al. 2020). Auch können dadurch in Therapie und Prävention anzustoßen (Mead und Sharpe TherapeutInnen für das jeweilige Krankheitsbild sensibi- 2018). Inwiefern die Diagnose die soziale, klinische und lisiert, der Einfluss moralischer, religiöser oder sonstiger rechtliche Situation tatsächlich verändert, wird sich im An- Urteile verringert und der Spielraum für unseriöse The- schluss an ihre Einführung zeigen. Mögliche Implikationen rapieangebote (z. B. „Suchtrehabilitation“ für „Sexsucht“) werden im nächsten Abschnitt dargestellt. eingeschränkt werden (Gola und Potenza 2018). Damit K
26 S. Bründl, J. Fuss einher geht im besten Fall die Entwicklung und wissen- Rechtliche Implikationen schaftliche Überprüfung spezifischer Therapieprogramme. Dass es sich bei den Impulskontrollstörungen um ei- Das Kapitel der Impulskontrollstörungen erscheint beson- ne Gruppe im Grundsatz normaler Verhaltensvarianten ders im Hinblick auf forensisch-psychiatrische Fragestel- handelt, macht die Diagnostik der Störungen zu einer lungen relevant, weil alle beschriebenen Verhaltensweisen anspruchsvollen Gratwanderung. Umso wichtiger sind strafrechtlich bedeutsam sein können (z. B. in Form von explizite Diagnosekriterien (wie für die zwanghafte sexu- Brandstiftung, Diebstahl, aggressiven Ausbrüchen mit Kör- elle Verhaltensstörung in der ICD-11, inklusive Kriterien perverletzung, Sexualdelikten). Unvorbereitet impulsives zur Abgrenzung von Normvarianten sexuellen Verhaltens Verhalten kann ein Hinweis auf eine Beeinträchtigung der und anderen psychischen Störungen), anhand derer eine exekutiven Steuerungsfähigkeit sein, weshalb den Diagno- Differenzierung zwischen normalem und pathologischem sen eine zentrale Bedeutung im Kontext der Beurteilung Verhalten möglich sein soll. Vor allem, wenn die Behand- von Steuerungsfähigkeit und Schuldfähigkeit zukommen lungsmotivation ggf. auf geschlechtstypischen Erwartungs- könnte. haltungen, sexualitätsfeindlichen Einstellungen oder über- Die Frage nach verminderter oder aufgehobener Schuld- höhten Moralvorstellungen (Klein et al. 2015) basiert, ist fähigkeit bei Straftaten kommt auf, wenn ein Zusammen- eine Abgrenzung schwierig; aber wichtig, um negative Fol- hang zwischen der Entstehung eines Delikts und Symp- gen für Betroffene (z. B. Stigmatisierung, Medikalisierung tomen einer psychischen Störung angenommen wird. Im sexuellen Verhaltens, nichtindizierte Pharmakotherapien, Rahmen einer gerichtlich in Auftrag gegebenen forensisch- inklusive Nebenwirkungen) und das Gesundheitssystem psychiatrischen Begutachtung wird untersucht, ob patholo- (z. B. Verknappung der Behandlungsressourcen) zu ver- gisches Verhalten im Sinne einer psychischen Störung vor- meiden (Briken 2016). Eine wichtige Rolle kommt hierbei liegt, die die Voraussetzungen eines von vier vom Gesetz- einem gemeinsamen Kernmerkmal der Impulskontroll- geber vorgegebenen Kriterien, unter denen die Schuldfähig- störungen zu: Leidensdruck und Beeinträchtigungen in keit gemindert oder aufgehoben sein kann (§§ 20, 21 StGB), verschiedenen Funktionsbereichen sollen nicht ausschließ- erfüllt. Eine Einschränkung der strafrechtlichen Verantwort- lich auf sozialen, moralischen oder sonstigen Wertungen lichkeit aufgrund einer psychischen Störung kommt in Be- basieren. Störungsübergreifend und unabhängig von der tracht, wenn die diagnostizierte Störung einen Zusammen- konzeptuellen Einordnung der Störung sollen darüber hi- hang zum delinquenten Verhalten aufweist. Störungen der naus die Motivlage und Funktion des impulsiven Verhaltens Impulskontrolle können wie Persönlichkeitsstörungen oder (z. B. exzessives Sexualverhalten, Brandstiftung, Glücks- Paraphilien unter das 4. Kriterium der „schweren anderen spiel) im therapeutischen Kontext analysiert werden: Wer- seelischen Abartigkeit“ (SASA) fallen und damit die Fra- den die Verhaltensweisen primär zur Bewältigung innerer ge einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit Spannungszustände und zum Abbau unangenehmer Ge- zur Diskussion stellen. fühle durchgeführt oder wird ein bestimmter emotionaler Die forensisch-psychiatrische Begutachtung im Zusam- Zustand (z. B. Lustgewinn, euphorische Stimmungslage) menhang mit Impulskontrollstörungen scheint anspruchs- angestrebt (Briken 2016; Werdenich und Padlesak 2006)? voll zu sein, weil delinquente Verhaltensweisen (z. B. Dieb- Dass die Konzeptualisierung von Impulskontrollstörungen stahl, Gewalttaten) als solche in den Diagnosekriterien ent- – obwohl ähnlich kontrovers diskutiert wie die Diagnose- halten sind (Kröber 2015). Doch laut Ausschlusskriterien kriterien – im therapeutischen Kontext eine untergeordnete der Impulskontrollstörungen in der ICD-11 handelt es sich Rolle spielt, zeigt sich am Beispiel des pathologischen bei den Diagnosen um störungsbedingte Einbußen im Sym- Glücksspiels. Unabhängig von der Einordnung der Störung ptombereich der Impulskontrolle, die nicht durch eine an- als Impulskontrollstörung (ICD-10) oder Verhaltenssucht dere psychische Störung erklärt werden können. Ohne das (ICD-11) kommt eine Reihe von Behandlungsmöglichkei- Vorliegen weiterer Komorbiditäten dürften diese störungs- ten infrage, die weder dem einen noch dem anderen Bereich bedingten Einbußen im Regelfall nicht zu einer schwer- entsprungen sind (z. B. Lithium- oder Expositionstherapie; wiegenden Beeinträchtigung der Beziehungsgestaltung und Cowlishaw et al. 2012; Hollander et al. 2005). Ein ähnli- psychosozialen Leistungsfähigkeit führen. Isolierte Funkti- ches therapeutisches Vorgehen trotz Umkategorisierung des onsstörungen im Bereich der Impulskontrolle als eigenstän- pathologischen Glücksspiels sowie eine Verbesserung der dige Störungsbilder dürften in Ausgestaltung und Schwere- Versorgungslage durch die neue Diagnose zwanghafte se- grad dementsprechend nicht die forensisch-psychiatrischen xuelle Verhaltensstörung in der ICD-11 können zumindest Voraussetzungen für eine SASA erfüllen. auf klinischer Ebene einige der am Kapitel der Impulskon- Geht man hingegen von einer komorbiden Störung (wie trollstörungen geäußerten Kritikpunkte relativieren. z. B. einer Persönlichkeitsstörung) aus, die den Schwere- grad einer SASA erreicht, so kann der jeweiligen Impuls- kontrollstörung in Ausnahmefällen eine bedeutsame Rolle K
Impulskontrollstörungen in der ICD-11 27 zukommen. Beispielsweise wenn es schwierig ist, das straf- gene Störungskategorie in der International Classification rechtlich relevante Verhalten im Zusammenhang mit der of Diseases and Related Health Problems (ICD-11), in- Persönlichkeitsstörung psychopathologisch einzuordnen. klusive der Aufnahme der neuen Diagnosen zwanghafte Denkbar ist, dass dann eine scheinbar motivlose Impuls- sexuelle Verhaltensstörung und intermittierende explosible kontrollstörung als Verstehenshintergrund für das Verhalten Störung. Die Aufnahme weiterer vermeintlicher Impuls- herangezogen wird. In solch einem Fall sollte bedacht wer- kontrollstörungen wie problematische Internetnutzung oder den, dass eine entsprechende Anwendung der Diagnosen zwanghaftes Kaufen wurde aufgrund der unzureichenden mit weitreichenden Konsequenzen – von Strafminderung Datenlage zum gegenwärtigen Zeitpunkt abgelehnt. Ei- bis zur zeitlich unbegrenzten Unterbringung in einem psy- ne fehlende empirische Fundierung wurde neben sozialen chiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB – verbunden sein (z. B. Stigmatisierung), klinischen (z. B. Pathologisierung kann. Zum Beispiel kann die Diagnose einer zwanghaften sexueller Normvarianten) und rechtlichen (z. B. Missbrauch sexuellen Verhaltensstörung im Zusammenhang mit Se- der Diagnose als Rechtfertigung für Sexualstraftaten) Be- xualdelinquenz ähnlich wie eine paraphile Störung zu einer denken auch als Hauptargument gegen eine Diagnose für negativen Kriminalprognose und zu einer Unterbringung zwanghaftes Sexualverhalten angeführt. Einige dieser Kri- im Maßregelvollzug beitragen. Allerdings hat zwanghaftes tikpunkte am Kapitel der Impulskontrollstörungen können Sexualverhalten durch das Konstrukt sexueller Süchtigkeit durch Vorteile in der Forschung (z. B. ätiologische und (Giese 1962) bereits zuvor, unabhängig von der neuen Prävalenzstudien) und Therapie (z. B. Behandlungskosten- Diagnose der zwanghaften sexuellen Verhaltensstörung, übernahme, Sensibilisierung von TherapeutInnen) relati- eine Rolle in der Schuldfähigkeitsbegutachtung gespielt viert werden. Trotz unterschiedlicher bzw. unbekannter (Briken 2016) und dürfte dahingehend keine bedeutenden Ätiologie der enthaltenen Störungsbilder können deskripti- Änderungen anstoßen. ve Ähnlichkeiten in den Symptomen (z. B. Unkontrollier- Insgesamt sollten Impulskontrollstörungen im foren- barkeit von Impulsen, anfänglicher Belohnungscharakter, sisch-psychiatrischen Kontext hauptsächlich dahingehend langfristig Beeinträchtigungen in wichtigen Lebensberei- eine Rolle spielen, dass Impulskontrolle generell als prog- chen, Leidensdruck) als Anhaltspunkte für die Behandlung nostisch relevanter Symptombereich im Begutachtungspro- von Impulskontrollstörungen genutzt werden. Konzeptu- zess beachtet werden sollte. Die Diagnose einer isolierten elle Diskussionen scheinen für die klinisch-therapeutische Impulskontrollstörung dürfte in der forensischen Praxis Praxis eine untergeordnete Rolle zu spielen. Gründliche Be- allerdings nur in den seltensten Fällen aufgrund oben gutachtungsprozesse können dem Missbrauch psychischer genannter Gründe als Hinweis auf eine Minderung der Störung im rechtlichen Kontext entgegenwirken. Wenn man Steuerungs- und Schuldfähigkeit gewertet werden. Die die Änderungen der ICD-11 als aktuellen psychiatrischen wichtigste Rolle kommt unabhängig von der Diagnose- Forschungs- und Erfahrungsstand, nicht wie starre Richtli- stellung nach wie vor der psychopathologischen Analyse nien, versteht und unter Beachtung potenzieller Schwächen von Diagnose und Delikt sowie der Expertise des Gutach- anwendet, können sie neue Impulse für die ständige Wei- ters zu. Demnach wird sich die forensische Praxis durch terentwicklung und Verbesserung der Klassifikation und die Impulskontrollstörungen der ICD-11 vermutlich kaum Behandlung psychischer Störungen beitragen. ändern, wahrscheinlich aber vom verbesserten Verständ- Funding Open Access funding enabled and organized by Projekt nis der Störungsbilder langfristig profitieren, das sich aus DEAL. verstärkter Forschungsaktivität ergeben könnte. So wurde jüngst beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwi- Interessenkonflikt S. Bründl und J. Fuss geben an, dass kein Interes- senkonflikt besteht. schen einem empfundenen Kontrollverlust über sexuelles Verhalten entsprechend den Diagnosekriterien und einer Open Access Dieser Artikel wird unter der Creative Commons Na- forensisch-relevanten Steuerungsminderung betont (Fuss mensnennung 4.0 International Lizenz veröffentlicht, welche die Nut- zung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in et al. 2020) oder das Konzept der sexuellen Dranghaf- jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprüng- tigkeit im Rahmen der Schuldfähigkeitsbegutachtung neu lichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link diskutiert (Briken 2016). zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Die in diesem Artikel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial Fazit unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das be- treffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz Nach teils kontroversen Diskussionen um das Konzept steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschrif- der Impulskontrollstörungen i. Allg. und einzelne Dia- ten erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des gnosen entschied die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen. zugunsten der Impulskontrollstörungen als weiterhin ei- K
28 S. Bründl, J. Fuss Weitere Details zur Lizenz entnehmen Sie bitte der Lizenzinformation Griffiths MD (2012) Internet sex addiction: a review of empirical re- auf http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de. search. Addict Res Theory 20(2):111–124 Griffiths MD (2016) Compulsive sexual behaviour as a behavioural addiction: the impact of the Internet and other issues. Addiction Literatur 111(12):2107–2108 Hallberg J, Kaldo V, Arver S, Dhejne C, Jokinen J, Öberg KG (2019) A randomized controlled study of group-administered cognitive APA (American Psychiatric Association) (2013) Diagnostic and stati- behavioral therapy for hypersexual disorder in men. J Sex Med stical manual of mental disorders (DSM-5). American Psychiatric 16(5):733–745 Publishing, Arlington Herek GM, McLemore KA (2013) Sexual prejudice. Annu Rev Psy- Barnett W (2005) Psychiatrie der Brandstiftung: eine psychopathologi- chol 64:309–333 sche Studie anhand von Gutachten Bd. 110. 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