IN ABLEHNUNG VEREINT? - Frankreich vor den Wahlen 2022 - Bibliothek der Friedrich-Ebert ...
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FES PA R IS Frankreich vor den Wahlen 2022 IN ABLEHNUNG VEREINT? Rechte Parteien in Frankreich und ihr Blick auf die Europäische Union Nicolas Lebourg März 2022 Die Wähler_innen rechter Parteien in Frankreich blicken Islamfeindlichkeit. Damit erinnert er durchaus an die FN der gerne auf die zehnjährige Ära Sarkozys von 2002 bis 2012 1990er-Jahre. zurück, auch wenn diese sich durch »die unmögliche Syn- these zwischen Neoliberalismus und Nationalismus«1 aus- In aktuellen Umfragen zur Wahlabsicht bei den Präsident- zeichnete. Seit dem Ende dieser Phase ist es den rechten schaftswahlen liegt Le Pen bei zwischen 18 und 20 Prozent, Parteien des Landes schwergefallen, einen klaren Kurs Zemmour bei um die 13 Prozent und Pécresse bei 10 bis gegenüber der EU festzulegen. Die Partei Les Républicains 11 Prozent. Noch ist es jedoch zu früh für Voraussagen zum (LR, das französische Gegenstück zur CDU/CSU) hatte Wahlausgang. Eine Bestandsaufnahme der Haltungen der im Jahr 2017 mit François Fillon einen Präsidentschafts- drei rechten politischen Parteien zur Europäischen Union kandidaten ins Rennen geschickt, der Ordoliberalismus auf kann aber durchaus vorgenommen werden. Tonangebend der einen, und nationalstaatliches Selbstbewusstsein auf ist dabei das Rassemblement National, von dessen Kandi- der anderen Seite in Einklang zu bringen versuchte. Aus datin Marine Le Pen lange Zeit fest davon ausgegangen den LR-internen Vorwahlen im Dezember 2021 ging mit wurde, dass sie Amtsinhaber Emmanuel Macron in der Valérie Pécresse nun eine traditionellere rechte Präsident- Stichwahl gegenüberstehen würde. LR und R! sind deshalb schaftskandidatin hervor. Bereits in den Debatten im Vor- bemüht, ihre europapolitische Identität sichtbat zu machen, feld der Vorwahlen war in Bezug auf das Thema Europa um dem RN auf diese Weise Wähler_innen abzugewinnen. allerdings ein gewisses Unbehagen spürbar. Der in der Vor- wahl unterlegene LR-Kandidat Michel Barnier, früherer EU- Kommissar und Brexit-Chefunterhändler, hatte sich etwa RASSEMBLEMENT NATIONAL für die »rechtliche Souveränität« Frankreichs gegenüber der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Die Vorgängerpartei der RN, die FN, war nationalistisch, Europäischen Gerichtshof ausgesprochen. aber nicht souveränistisch eingestellt. So sprach sie sich etwa ursprünglich für die Europäische Währungseinheit Das rechtsextreme Lager in Frankreich ist inzwischen zwei- ECU aus. Während der Legislaturperiode 1986–1988 – der geteilt. Zum einen ist hier Marine Le Pen, die zum nunmehr einzigen, in der Abgeordnete der (damals noch) Front Na- dritten Mal in Folge für die Partei Rassemblement National tional (FN) in der französischen Nationalversammlung ver- (RN, bis 2018 Front National (FN)) kandidiert. Zum ande- treten waren – beteiligte sich die Partei jedoch nicht an den ren ist der ehemalige Journalist und erfolgreiche Fernseh- Debatten über das Europäische Währungssystem (EWS) polemiker Éric Zemmour mit ins Rennen um die Präsident- und enthielt sich auch bei der Abstimmung über die Ein- schaft eingestiegen, nachdem er im Dezember 2021 seine heitliche Europäische Akte (EEA). Andererseits sprach sich eigene rechtsextreme Partei, Reconquête! (R!, »Rücker- der damalige Parteivorsitzende Jean-Marie Le Pen für eine oberung«), gegründet hatte. Deren programmatischen gemeinsame europäische – sowohl konventionelle als auch Kernelemente sind die kontinuierliche Thematisierung des nukleare – Verteidigung aus. auf einer rechtsextremen Verschwörungserzählung ba- sierenden, angeblichen »Großen Austauschs«2 sowie die derer_innen aus Afrika im Rahmen einer demografischen Bewe- 1 Richard, Gilles (2017): Histoire des droites en France de 1815 à nos gung, die von den »globalistischen« Eliten unterstützt wird, die jours, Perrin, Paris, S. 472–503. weiße Bevölkerung europäischen Ursprungs ersetzen. Das Thema 2 Dieses Syntagma, das zu einer Art Leitmotiv für Éric Zemmour existiert bereits seit Langem, allerdings war es traditionell eher an- geworden ist, wurde vor etwa zehn Jahren vom Schriftsteller tisemitisch als islamfeindlich orientiert. Vgl. auch Lebourg, Nicolas Renaud Camus eingeführt. Dahinter steckt die Idee, dass Einwan- (2019): Les Nazis ont-ils survécu ?, Seuil, Paris. 1
Eine Ablehnung gegenüber der EU zeichnete sich erst schen den beiden Wahlgängen traf Marine Le Pen jedoch ab dem Vertrag von Maastricht ab. Dabei entwickelte eine Vereinbarung mit Nicolas Dupont-Aignan von der sich diese Ablehnung parallel zu einer zunehmend anti- souveränistischen Rechten, der sich gegen einen Ausstieg amerikanischen Haltung. Die FN nahm gegenüber den USA aus dem Euro aussprach. Ihre vorherige Position wurde zunehmend eine Position ein, welche auf der radikalen Vor- dadurch völlig undurchsichtig: Der Inhalt der Vereinbarung stellung fußt, dass die Transnationalisierung der Welt sowie widersprach den Äußerungen Le Pens im Vorfeld des ersten die amerikanische Unipolarität letztlich einer Unterjochung Wahlgangs. Sie behauptete nun der Presse gegenüber, nie der Welt durch diese gleichkäme. Da die Kritik an der EU als gesagt zu haben, Frankreich würde aus dem Euro austreten, eine dem kapitalistischen Globalismus unterworfene, post- und beteuerte, sie sei für eine gemeinsame Währung. Bei demokratische Technokratie zunehmend abgenutzt zu wir- der Fernsehdebatte mit Emmanuel Macron zog Marine Le ken und zu verhallen drohte, sah sich die Partei gezwungen, Pen das EWS schließlich sogar als Vorbild heran und be- ihre europakritische Haltung kontinuierlich radikalisieren.3 hauptete, es handele sich bei der gemeinsamen Währung um eine Rückkehr zum ECU, welche eine von Unternehmen In ihrem Programm zur Präsidentschaftswahl im Jahr verwendete Währung gewesen sei. 2012 konstatierte die Partei der damals frisch gewählten Parteivorsitzenden Marine Le Pen, dass das EWS für die Nach diesem Desaster und der Trennung von ihrem souve- Zerstörung des französischen Sozial- und Industriemodells ränistischen Ideologen Florian Philippot wandte sich Marine verantwortlich sei, und forderte die »Rückkehr zu den na- Le Pen von den Themen EU-Austritt, Euro sowie Euro- tionalen Währungen«. Diese Positionierung folgte jedoch päische Menschenrechtskonvention ab und sprach auch nicht nur bestimmten finanz- und wirtschaftspolitischen nicht länger vom Aussetzen des Schengener Abkommens. Annahmen bzw. Überzeugungen. So stellte Le Pen den Anlässlich der Europawahl 2019 veröffentlichte sie aller- sogenannten Globalismus überdies als ein Phänomen dar, dings eine Broschüre, in der sie das Instrument für Heran- welches sowohl Globalisierung als auch Postmodernismus führungshilfe ablehnte, die Abschaffung der EU-Kommis- umfasse. Die EU, so argumentierte sie, verkörpere ein sion forderte und verlangte, die Gesetzesinitiative solle »ultraliberales, kommunitaristisches Modell nach amerika- ausschließlich beim Europäischen Rat liegen. Indes müsse nischem Vorbild«, aus dem neue Menschen, Nomad_innen, das nationale Recht stets Vorrang vor den Entscheidungen entstünden. Letztlich handele es sich bei ihrem System um des Europäischen Gerichtshofs sowie des Europäischen eine Art liberalen Totalitarismus. Den Globalismus definierte Gerichtshofs für Menschenrechte haben. Zudem be- sie dabei wie folgt: fürwortete sie in ihrer Wahlwerbung eine Annäherung an Russland,6 die Entwicklung Afrikas als Gegenleistung für «Ideologie, die hauptsächlich darin besteht, den Nutzen die Kontrolle über Migrationsflüsse sowie den Verzicht auf der Nationen zu bestreiten, diese an die ›postmoderne‹ die »Schengen-Logik«. Als Entschädigung für »das Einver- Welt anzupassen und einen neuen Menschen zu schaf- ständnis zur Zollunion«, der die Partei plötzlich zustimmte, fen, eine Art Homo globalis, der keinem bestimmten sollten französische Unternehmen bei »Aufträgen der öf- Land zugeordnet ist und als einzige Identität die eines fentlichen Hand« prioritär behandelt werden. Nicht zuletzt globalen Verbrauchers besitzt […], um den Menschen unterstrich Le Pen, der Euro diene »in seiner aktuellen Form aus der Geschichte verschwinden zu lassen.« den Interessen Deutschlands«. Er solle aber beibehalten und im Gegenzug der Anteil der Staatsschulden erhöht Aus dieser Betrachtungsweise heraus rief Le Pen zu einem werden, die von den Zentralbanken der einzelnen Länder umfassenden Souveränismus auf, der sich auf Demografie, gehalten würden.7 Kultur, Wirtschaft und Politik erstrecken sollte, um einen Schutzwall gegen diese Einflüsse zu schaffen.4 Im Gegensatz zu den Einschätzungen der französischen Presse kann keineswegs behauptet werden, die RN habe Im Präsidentschaftswahlkampf 2017 warb sie für einen sich zur EU bekehrt. Vielmehr hat die Partei ihr Programm »Frexit«, über den per Referendum abgestimmt werden angepasst, weil die Mehrheit der französischen Wäh- solle. Weiterhin trat sie ein für die Abschaffung der doppel- ler_innen einen »Frexit« ablehnt. Zum Thema Euro haben ten Staatsangehörigkeit für Bürger_innen nichteuropäischer die Europaabgeordneten der RN im Jahr 2020 einen un- Länder und forderte, dass Aufträge der öffentlichen Hand beholfen wirkenden Bericht veröffentlicht. In diesem wird französischen Unternehmen vorbehalten sein sollten.5 Zwi- behauptet, Frankreich habe aufgrund der hohen Steuern 3 Reungoat, Emmanuelle (2015): « Le Front National et l’union eu- 6 Zur Russland-Orientierung der französischen Rechtsextremen ropéenne. La radicalisation comme continuité », in: Crépon, Syl- siehe: Lebourg, Nicolas (2018): The French Far Right in Russia’s vain / Dézé, Alexandre / Mayer, Nonna (Hrsg.): Les Faux-semblants Orbit, Carnegie Council for Ethics in International Affairs und du Front national, Presses de Sciences Po, Paris, S. 225–246. Foundation Open Society Institute, New York, 4 Le Pen, Marine (2012): Pour que vive la France, Jacques Grancher, https://www.carnegiecouncil.org/publications/articles_papers_ Paris. reports/the-french-far-right-in-russias-orbit/_res/id=Attachments/ 5 Rassemblement National (2017): Marine 2017. 144 engagements index=1/Lebourg-EN%20revised%203.pdf. présidentiels, 7 Rassemblement National (2019): Pour une Europe des nations et https://rassemblementnational.fr/pdf/144-engagements.pdf. des peuples, Projet – Élections européennes 2019, 2022 gab Marine Le Pen bekannt, auf eine Abschaffung der dop- https://rassemblementnational.fr/telecharger/publications/ pelten Staatsangehörigkeit verzichten zu wollen. programme-euro2019.pdf. 2
und der geringen Qualität der im Land hergestellten indus- gegenüber einem EU-Beitritt der Türkei erreichte er im Jahr triellen Produkte unter dem Euro gelitten, die negativen 2005 eine Überarbeitung der französischen Verfassung, Folgen der Einheitswährung aber dank der »Leistung meh- die nun vorschreibt, dass über den EU-Beitritt eines jeden rerer globalisierter Konzerne und des enormen Beitrags des Staates per Referendum entschieden werden oder einem Tourismus« bewältigen können.8 Mit den Reaktionen der solchen eine 60-Prozent-Mehrheit jeder der beiden parla- EU auf die Corona-Pandemie erklärten sich die beteiligten mentarischen Kammern zustimmen muss.13 Chirac, der Europaabgeordneten mehr oder weniger zufrieden. In von 1974 bis 2007 die Leitfigur der traditionellen, »repub- ihrem Bericht kamen sie zu dem Schluss, »die Aussetzung likanischen« französischen Rechten war, hinterließ also ein des Stabilitätspakts« und »die den Staaten erteilte Ge- Europa der Vernunft. nehmigung, nationale Beihilfen bereitzustellen«, zeigten, dass angesichts der Krise nur »die Thesen der souveränis- Sein Nachfolger im Präsidentenamt, Nicolas Sarkozy, legte tischen Kräfte« Bestand hätten.9 Im Januar 2022 kündigte in Bezug auf Europa zunächst eine gewisse Beflissenheit an Marine Le Pen am ersten Tag der französischen EU-Rats- den Tag. Besonders während der EU-Ratspräsidentschaft präsidentschaft an, sie werde als Staatspräsidentin ein Refe- Frankreichs im Jahr 2008 strebte er ein machtvolles Euro- rendum darüber vorschlagen, »den Vorrang des nationalen pa an, das in der Lage sein sollte, dort einzugreifen, wo Rechts vor dem europäischen Recht« in der Verfassung sich für einzelne Staaten Schwierigkeiten ergeben: in der zu verankern.10 Die praktischen Modalitäten ließ sie dabei Industriepolitik, Migrationskontrolle, Klimakrise, den Be- zwar offen. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, ziehungen zu Russland etc. Sarkozy wetterte während sei- dass sie eine Verallgemeinerung des Prinzips der konstitu- ner Präsidentschaft allerdings auch gegen die EU, welche er tionellen Identität Frankreichs meint, das in Reaktion auf für zu technokratisch und ordoliberal hielt. Er plädierte für die Verankerung des Vorrangs des EU-Rechts in Artikel 6 zwischenstaatliche Lösungen und wies die supranationalen des Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE) 2006 Organe zurück.14 durch eine Entscheidung des französischen Verfassungsrats als Reaktion eingeführt wurde und ermöglicht, die An- Sein ehemaliger Premierminister François Fillon, im Jahr wendung des Vorrangprinzips rechtlich abzulehnen.11 2017 Präsidentschaftskandidat der Republikaner, hatte bei der Entscheidung über den Maastrichter Vertrag mit Nein gestimmt. In seinem Wahlprogramm war fast ausschließ- DIE REPUBLIKANER lich von zwischenstaatlichen Beziehungen die Rede. An vier Stellen betonte er darüber hinaus, Frankreich müsse »die Die Haltung Jacques Chiracs zur Europafrage hat sich im größte europäische Macht« sein. Fillon schlug eine Fortent- Laufe seiner politischen Laufbahn gewandelt. Noch im No- wicklung der EU mithilfe verschiedener Gruppen vor: einem vember 1978 rief er die Französinnen und Franzosen auf, »Direktorium« der Länder der Eurozone zur Harmonisie- die Wahl zum Europäischen Parlament zu boykottieren. rung von Steuern sowie einem gemeinsamen militärischen 1992 unterstützte er dann den Vertrag von Maastricht und Engagement durch eine Zusammenarbeit zwischen Frank- 2005 den VVE. Als Frankreich im Jahr 2000 die EU-Rats- reich, Großbritannien und Deutschland. Ein wichtiger Punkt präsidentschaft übernahm, hielt Chirac eine Rede, die den in Fillons Wahlprogramm waren zudem die Beziehungen zu Begriff des »europäischen Aufbaus« zum Mittelpunkt hatte Russland. Hier vertrat er die Meinung, »Europa [habe] einen und in der er die Notwendigkeit unterstrich, Europa mit historischen Fehler begangen […], indem es die Ukraine un- einem diplomatischen Dienst sowie Streitkräften auszu- bedingt dem russischen Einfluss entziehen wollte«. Dieser statten.12 Angesichts der Ablehnung seiner Wähler_innen Fehler mache »jegliche Hoffnung zunichte, Russland als Mitglied eines großen europäischen Wirtschaftsraums zu gewinnen, um eine Vorherrschaft Asiens zu verhindern«.15 8 Délégation Rassemblement National du Groupe Identité et Démo- cratie (2020):« Zone euro: convergences, divergences et réalités », Die heutige Präsidentschaftskandidatin der Republikaner, in: Cahiers de la délégation Rassemblement National du Groupe Valérie Pécresse hat ihre politischen Ideen vor Kurzem in Identité et Démocratie, https://d3n8a8pro7vhmx.cloudfront.net/ idgroup/pages/551/attachments/original/1635180441/2020-11- einem Buch vorgestellt. In Bezug auf Europa unterscheidet livret-zone-euro-web-light.pdf?1635180441. sich ihre Haltung eindeutig von derjenigen Fillons. Sie be- 9 Rassemblement National – Delegation im Europäischen Parlament tont: »Ich bin an erster Stelle Patriotin, dann Europäerin, (2020): Livre noir. La gestion de la crise du coronavirus par l’Union obwohl ich davon überzeugt bin, dass europäische Ambi- Européenne, https://www.id-france.eu/wp-content/ uploads/2020/07/livre-noir-covid-def-web.pdf. 10 Le Pen, Marine in: France Inter via Twitter, 19.1.2022, https://twitter.com/i/status/1483708040750714882. et l’ensemble des moyens dont dispose l’Europe pour agir sur la scène internationale », in: Élysée, 30.5.2000, https://www.elysee. 11 Dubout, Édouard (2010): « Les règles ou principes inhérents à fr/front/pdf/elysee-module-9497-fr.pdf. l’identité constitutionnelle de la France: une supra-constitutionna- lité? », in: Revue française de droit constitutionnel 83 (3), 13 République Française (1958): Constitution du 4 octobre 1958. Ti- S. 451–482. tre XV: De l’Union européenne (Articles 88-1 à 88-7), in: Légif- rance, Version gültig seit dem 1.12.2009, https://www.legifrance. 12 Chirac, Jacques (2000): « Discours de M. Jacques Chirac, Président gouv.fr/loda/article_lc/LEGIARTI000018077285. de la République, sur la construction européenne, le rôle politique de l’Union européenne, la réduction des tensions intertationales, 14 Dehousse, Renaud (2012): « Nicolas Sarkozy l’européen », in: de le mantien de la paix en Europe et dans le monde, la réconcilia- Maillard, Jacques (Hrsg.): Politiques publiques 3. Les politiques pu- tion entre les peuples des Balkans, le désarmement, la défense eu- bliques sous Sarkozy, Presses de Sciences Po, Paris, S. 153–166. ropéenne, la création d’une force européenne de réaction r apide 15 Fillon, François (2015): Faire, Albin Michel, Paris. 3
tionen für Frankreich unerlässlich sind, auch wenn sie mit ministerien zur EU offenbart, dass die republikanische Rech- Souveränitätsübertragungen einhergehen«. Sie beteuert, te der Meinung ist, die zentrale Herausforderung für ihre dass sie den Euro unterstützt – »ein unentbehrliches Inst- Wähler_innenschaft bestünde aktuell darin, insbesondere rument für eine große Wirtschaftsmacht« – und auch den in Bezug auf Migration und Gesamtwirtschaft eine stärkere VVE –«eine wunderbare Kathedrale«. Den »Frexit« -Ver- nationale Souveränität zurückzugewinnen. fechter_innen, die sie als Lügner_innen bezeichnet, steht Pécresse eindeutig kritischer gegenüber als ihr Vorgänger. Gleiches gilt für illiberale Staaten: Sie unterstützt nicht nur RECONQUÊTE! ausdrücklich die Sanktionen gegen Viktor Orbán, sondern widersprach sogar vehement der Spitze ihrer Partei, als Éric Zemmour macht sich mit seiner neuen Partei Recon- sich ein Großteil ihrer Europaabgeordneten im Jahr 2018 quête! (R!) die komplizierte Lage der Republikaner zunutze, weigerte, den Sanktionen gegen Ungarn zuzustimmen. Des die zwischen Emmanuel Macron und der RN gefangen sind, Weiteren warnt Pécresse vor der russischen »Entschlossen- und versucht, eine »Union der Rechten« herbeizuführen. heit, die Europäische Union zu schwächen« und der »Wirk- Faktisch wäre diese »Union« nichts anderes als der bei den samkeit der Destabilisierung, die die russischen Netzwerke französischen Rechtsextremen seit 1934 diskutierte »na- über das Internet betreiben«. Die Nord-Süd-Beziehungen tionalistische Kompromiss«, also eine gemeinsame Platt- zählen ebenfalls zu ihren Prioritäten: Als Präsidentschafts- form der unterschiedlichen nationalistischen Strukturen kandidatin spricht sie sich sowohl für die »Harmonisierung« und Gruppen. Sein Europaprogramm muss daher sowohl des Asylrechts mit einer »gemeinsamen Liste der sicheren die ehemalige Nummer zwei der Republiknaer, Guillaume Länder« aus wie für die »Entwicklung Afrikas«, die sie zur Peltier, zufriedenstellen als auch Jérôme Rivière, der den »Priorität für Europa« erklärt.16 Europaabgeordneten der RN vorsaß, den katholischen, islamfeindlichen Souveränisten Philippe de Villiers, der bei Ihr Programm ist insgesamt nationaler im Ton. Sie spricht der Präsidentschaftswahl 2007 2,23 Prozent der Stimmen sich für eine CO2-Steuer an den EU-Außengrenzen aus, erhielt, genauso wie alle anderen Radikalen, die seitdem zu betont aber, die EU solle sich vor allem um Migrations- ihm gestoßen sind. Zu Zemmours Umkreis gehören auch kontrolle kümmern, u. a. durch die schnellere personelle Ideologen wie Jean-Yves Le Gallou, der das Prinzip der »na- Aufstockung bei Frontex und einen »Marshallplan für Afri- tionalen Präferenz« einführen will, indem u.a. Unternehmen ka«. Die französischen Beiträge zum Instrument für Heran- das Recht gegeben werden soll, nur Bewerber_innen mit führungshilfe (bspw. im Falle der Türkei) will sie anderen französischer Staatsangehörigkeit einzustellen oder priori- Zwecken widmen. Angesichts vermeintlicher »Übergriffe tär ausländische Arbeitnehmer_innen zu entlassen.17 Éric der europäischen Rechtsprechung« betonte sie, dass sie Zemmour will dieses Prinzip auf die Gewährung von Sozial- »ohne zu zögern die ›konstitutionelle Identität‹ Frankreichs leistungen anwenden. geltend machen« wolle. Gegenüber ihrer ursprünglichen Position hat sie ihre Haltung in Bezug auf den VVE also Zemmours Programm zur EU ist sehr knappgehalten. Ledig- eindeutig geändert. Offenbar hat sich die republikanische lich die Themen der strikten Subsidiarität, des Vorrangs Rechte in europapolitischen Fragen den Souveränist_innen des französischen Rechts vor dem europäischen und der angenähert. Vergabe eines bestimmten Anteils öffentlicher Aufträge an französische Unternehmen greift er darin auf.18 Weiter- In Wirtschaftsfragen spricht Pécresse von der Harmoni- gehende europapolitische Positionen werden aus seinen sierung der Besteuerung, der Bevorzugung europäischer Veröffentlichungen sichtbar, in denen er klar für einen illibe- Unternehmen bei öffentlichen Ausschreibungen, dem ralen Souveränismus eintritt. Seiner Meinung nach diene die Green Deal (mit einer CO2-Steuer auf Importe) und der EU ausschließlich den wirtschaftlichen Interessen Deutsch- Unterstützung des Aufbaus europäischer Konzerne in so- lands und der Invasion durch Einwanderer. Zemmour zeigt genannten zukunftsträchtigen Sektoren. Des Weiteren sich durchgängig deutschlandfeindlich. So kommentierte er legte sie den Mitgliedstaaten nahe, als Ausgleich dafür, dass beispielsweise die Aufnahme von Geflüchteten in Deutsch- Frankreich »den größten Teil der europäischen Verteidigung land mit folgenden Worten: »Die Deutschen haben inner- sichere«, die französische Rüstungsindustrie bevorzugt zu halb eines einzigen Jahrhunderts dreimal entscheidend beauftragen. Schließlich hat sie einen originellen Vorschlag zum europäischen Selbstmord beigetragen: 1914, 1939, auf institutioneller Ebene unterbreitet, der zwischen euro- 2015.«19 päischer Koordination und einer wahrgenommenen Rivali- tät zwischen Nationalstaat und EU angesiedelt ist: »Jeder meiner wichtigsten Minister bekommt einen Staatssekretär zur Seite gestellt, der die Interessen seines Ministeriums in Brüssel vertreten soll.« Die systematische Betonung des Prinzips der konstitutionellen Identität gemeinsam mit der 17 Le Gallou, Jean-Yves (1985): La préférence nationale. Réponse à ambivalenten Darstellung der Beziehungen der Schlüssel- l’immigration, Albin Michel, Paris. 18 Zemmour, Éric (2022): « Europe: Le programme d’Éric Zemmour », in: Éric Zemmour 2022, https://programme.zemmour2022.fr/europe. 16 Pécresse, Valérie / Van Renterghem, Marion (2019): Et c’est cela 19 Zemmour, Éric (2016): Un quinquennat pour rien, Albin Michel, qui changea tout, Robert Laffont, Paris. Paris. 4
Seinen Wahlkampf läutete Zemmour auf der Lesereise für FAZIT sein neuestes Buch ein, in dem er sein Wahlprogramm vorstellt. In diesem nennt er sich einen »Franzosen der Im französischen Präsidentschaftswahlkampf werden zwei Erde und der Toten«. Er nimmt dabei Bezug auf den na- Übereinstimmungen zwischen den rechten Kandidat_innen tionalistischen Ideologen Maurice Barrès und stellt dieses deutlich. So akzeptieren sie erstens wohl oder übel die Konzept einer EU gegenüber, die an den amerikanischen Zugehörigkeit zur EU und zur Eurozone. Zweitens haben Imperialismus verkauft werde. Er radikalisiert die Linie von alle die Absicht, das europäische Recht dem französischen François Fillon, indem er das »deutsch-französische Paar« unterzuordnen. Pécresse schreckt mit Sicherheit vor einer als Mythos bezeichnet, da die EU dazu diene, »es Deutsch- Orbánisierung Frankreichs zurück, während Le Pen und land zu ermöglichen, seinen 1945 verlorenen Rang zurück- Zemmour den ungarischen Ministerpräsidenten in seinem zugewinnen«. Angela Merkel bezeichnete er als »amerika- Land besucht haben und dieses von ihnen als Vorbild an- nische Gauleiterin«. gesehen wird. Im Gegenzug gratulierte Zemmour Russland dafür, dass es Die Kandidat*innen der extremen Rechten sind sich darin dem »Imperialismus« der NATO standhalte. Illiberalismus einig, dass sie die EU auf ein »Europa der Nationen« re- und die Ablehnung der EU bilden hier ein dialektisches duzieren wollen. Jedoch machen beide Europa nicht zum Ganzes. So lehnt Zemmour den »Verfassungsrat, Staatsrat, Thema ihrer Wahlkampagnen, da sie darum wissen, dass Kassationsgerichtshof, Europäischen Gerichtshof und den europakritische Positionen sich gegenwärtig nur sehr Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte« ab, die sich schwer stimmgewinnend eingesetzt werden können. Zwar seiner Meinung nach »für oberste Gerichte nach amerika- haben sie ihre Ideen in Bezug auf nationale Präferenz und nischem Vorbild halten und im Namen der Menschenrechte Trennung von Europa abgemildert, doch wurde dies durch die Handlungsfreiheit der Regierungen einschränken«. Er die Vertiefung ethnizistischer Darstellungen und eine Aus- betont: »Rechtsstaatlichkeit und Europäische Union seinen weitung des autoritären Programms aufgewogen. keine Ziele, sondern Mittel.« Paradoxerweise ist er genau deshalb nicht für einen »Frexit«. Unter seinen potenziellen Auf der anderen Seite tut sich Valérie Pécresse schwer Wähler_innen sind viele Senior_innen und Bürger_innen damit, sich zwischen Emmanuel Macron und der extremen der wohlhabenden Gesellschaftsschichten, die Marine Le Rechten zu positionieren. Deshalb richtet sie die Republika- Pen aufgrund ihres Wirtschafts- und Europaprogramms ner auf eine Unterstützung der EU aus, möchte aber, dass nicht wählen wollen. Einem EU-Austritt zieht Zemmour Frankreich bei wichtigen europäischen Fragen mehr Einfluss daher die Neugestaltung der EU vor. Dabei widersprechen hat. Im Vergleich zu 2017 ist die Haltung der Republikaner seine grundlegenden politischen Ideen den europäischen gegenüber Deutschland heute ge mäßigter; auch hat sich Texten: Pécresse von der »Ostorientierung« François Fillons ab- gesetzt. »Es wäre höchste Zeit, dass unser Land aus der Europäi- schen Menschenrechtskonvention austritt, um ein Zei- Obwohl bei den rechten Parteien die Entschlossenheit, die chen zu setzen, dass es das Schicksal seiner Nation nicht Vorherrschaft des nationalen Rechts erneut einzuführen, länger der schädlichen Ideologie der Menschenrechte in sehr unterschiedlichem Maße vorhanden ist, bremst die überlässt. Wir müssen das Pleven-Gesetz von 197220 Fragmentierung der extremen Rechten ihre Fähigkeit, ein und alle Gesetze abschaffen, die in dessen Folge ein- politisches Angebot vorzulegen, das in der Lage sein könn- engende Vorschriften zur Nichtdiskriminierung erlassen te, die aktuelle Rolle der Europäischen Union wirklich zu haben. Den Krieg der Kulturen, der auf unserem Boden hinterfragen. stattfindet, können wir nur durch eine kulturelle Revolu- tion gewinnen. Eine Art Kulturkampf.«21 20 Das Pleven-Gesetz bestraft die Aufforderung zu Diskriminierung, Hass oder Gewalt aufgrund der Herkunft, ethnischen Abstam- mung, Nationalität bzw. Religion sowie rassistische Beleidigungen und Diffamierung. 21 Zemmour, Éric (2021): La France n’a pas dit son dernier mot, Rubempré, Paris. 5
AUTOR KONTAKT Nicolas Lebourg ist Historiker und Wissenschaftler am Fondation Friedrich-Ebert Zentrum für Sozial- und Politikwissenschaft (CEPEL) der 41 bis, bd. de la Tour-Maubourg 75007 | Paris | France Universität Montpellier und Experte für Rechtsextremis- mus. Er ist am Projekt »Transnational History of the Far Tel. +33 (0)1 45 55 09 96 Right« des Instituts für Europäische, Russische und Eura- Fax: +33 (0)1 45 55 85 62 sische Studien (Universität George Washington) beteiligt. https://paris.fes.de fes@fesparis.org Weitere Publikationen des Pariser Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung: Tiberj, Vincent Stern, Verena Rechtswende in Frankreich Die Profiteure der Angst? Europa Gibt es sie wirklich? Rechtspopulismus und die COVID-19- (Frankreich vor den Wahlen 2022) Krise in Europa ; Ein Überblick Paris, Februar 2022 Berlin, 2021 Peltier, Jérémie IPSOS-Studie für die Jean-Jaurès-Stiftung Müde Gesellschaft und die Friedrich-Ebert-Stiftung Ein psychisches und politisches Porträt Europäische Souveränität: Fokus Frankreich (Frankreich vor den Wahlen 2022) Paris, Februar 2021 Paris, Februar 2022 Nicolas Leron Lefebvre, Maxime Regionale Ungleichheit in Frankreich Europäische Souveränität: Kommentar zu den Debatten und politische Empfehlungen Ergebnissen der Umfrage in Frankreich Paris, Januar 2021 Berlin, 2022 Bruno Ducoudré, Mathieu Plane, Raul Europäische Souveränität Sampognaro und Xavier Timbeau Analysen zu einer Umfrage Frankreichs Recovery-Strategie Paris, Juli 2021 Auf dem Weg in eine klimaneutrale und digitale Zukunft? Andolfatto, Dominique Gewerkschaften und sozialer Dialog Borgnäs, Kajsa; Kellermann, Christian Frankreichs Erfahrungen während der Pandemie Deutschlands Recovery-Strategie Paris, Juni 2021 Auf dem Weg in eine klimaneutrale und digitale Zukunft? Maaß, Gero Rolle vorwärts nach Corona Hadrien Clouet und Catherine Vincent Können die europäischen Wiederaufbauprogramme Home Office in Frankreich in eine Fortschrittskultur münden? Erfahrungen während der Pandemie Paris, 2021 Paris, November 2020 Kollektiv OPD2020 Camus, Jean-Yves Deliberative Demokratie und Ökologie Die Profiteure der Angst? Frankreich Eine Bestandsaufnahme des französischen Paris, November 2020 Bürger_innenkonvents zum Klimaschutz Paris, April 2021 Simon, Edouard Die deutsch-französischen Beziehungen Schreiber, Benjamin Eine Wiederbelebung in schwierigen Zeiten Gewerkschaftsmonitor Frankreich Paris, November 2020 Paris, März 2021 Finchelstein, Gilles Caroline Roussy Sozial-ökologischer Block in Frankreich Frankreich im Sahel Neue Perspektiven für die Präsidentschaftwahl Warten auf die Europäische Union? Paris, Oktober 2020 Paris, März 2021 6
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