Individuelle Lösungen statt festgelegter Therapieschemata

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Individuelle Lösungen statt festgelegter Therapieschemata
Fortbildung

                                                              S3-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, -­dysphorie und Trans-Gesundheit

                                                              Individuelle Lösungen statt festgelegter
                                                              Therapieschemata
                                                              Lange gefordert, endlich umgesetzt: 97 Statements und Empfehlungen sowie umfassende Hintergrundtexte
                                                              enthält die neue S3-Leitlinie zur ­Diagnostik, Beratung und Behandlung bei Geschlechtsinkongruenz,
                                                              ­Geschlechtsdysphorie und ­Trans-Gesundheit, die unter der Federführung der Deutschen Gesellschaft für
                                                               ­Sexualforschung entwickelt w­ urde. Die Leitlinie stellt umfassende inhaltliche Informationen zur Verfügung
                                                                und gibt zudem klare O
                                                                                     ­ rientierungspunkte für die psychiatrische Praxis.

                                                              PE T ER- CH R I S T IA N VO G EL

                                      D
                                                                      as Phänomen Transsexualität,        ner sowie die Entpathologisierung des        In einer kürzlich von Wiepjes veröf-
                                                                      nach neuer wissenschaftlicher       Phänomens insgesamt berichtet.            fentlichten Studie der Amsterdamer
                                                                      Terminologie als Geschlechtsin-        Aufsehen erregten Trends einer mas-    Rijs-Universität wurde eine erhebliche
                                                              kongruenz oder Geschlechtsdysphorie         siven Zunahme geäußerter Wünsche          Zunahme der Prävalenz transsexueller
                                                              bezeichnet, hat in den letzten Jahren in-   nach Geschlechtswechsel, insbesondere     Personen in den Niederlanden festge-
                                                              tensiv nicht nur Fachleute, sondern auch    bei Jugendlichen. So berichtete aktuell   stellt [2]. Åhs et al. teilten 2018 als Ergeb-
                                                              den öffentlichen Diskurs bewegt. In al-     Zeit online, dass in Schweden die Zahl    nisse einer in der städtischen Region von
                                                              len Medien wurden Situation und Le-         der Trans*-Jungen – also Jugendlicher,    Stockholm durchgeführten Kohorten-
                                                              benswege Betroffener dargestellt, und es    die als Mädchen geboren wurden – zwi-     studie mit, dass 2014 in den Fragenkata-
                                                              wurde kontrovers über die medizinische      schen 2008 und 2018 um 1.500 % gestie-    log, der circa 50.000 Personen zwischen
                                                              und psychologische Begleitung Betroffe-     gen ist [1].                              18 und 84 Jahren vorgelegt wurde, drei

                                                              Schon in sehr jungen
                                                                Jahren können sich
                                                                  ­Störungen in der
                                                              ­Geschlechtsidentität
                                                                        offenbaren.
© Ekaterina / stock.adobe.com (Symbolbild mit Fotomodellen)

                                                              NeuroTransmitter   2021; 32 (1-2)                                                                                              45
Individuelle Lösungen statt festgelegter Therapieschemata
Fortbildung         Neue S3-Leitlinie für Trans-Gesundheit

Fragen zur Geschlechtsidentität aufge-         Leitlinie unter methodischer Begleitung        Es wird zu beobachten sein, inwiefern
nommen wurden [3]. Dabei fand sich             durch die Arbeitsgemeinschaft der Wis-       die Kategorie der Geschlechtsinkongru-
eine Prävalenz für den Punkt „I would          senschaftlichen Medizinischen Fachge-        enz sozialrechtlich noch eine Basis für
like to chance my body with hormones           sellschaften e. V. (AWMF) begonnen.          Krankenbehandlung nach § 27 SGB V
or surgery to be more like someone of a          Die in dieser Leitlinie ausgesproche-      auslösen wird.
different sex“ von 0,5 %, mit einem Wert       nen Empfehlungen wurden im Rahmen
von 1,0 % für die Kohorte 22 bis 29 Jahre      des Konsensusprozesses nach systemati-       Zentrale Empfehlungen und ihre
und 0,6 % für die Kohorte 45 bis 66 Jah-       scher Recherche auf empirischer Evi-         Relevanz für die Praxis
re. Den Punkt „I feel like someone of a        denz entweder als evidenz- oder als kon-     Die Leitlinie ist in neun Kapitel mit Un-
different sex“ bejahten 2,3 %, mit einem       sensbasierte Empfehlung formuliert.          terkapiteln gegliedert. Sie enthält insge-
Schwerpunkt von 4,0 % bei den 22- bis            Moderiert wurde die Erarbeitung der        samt 97 Statements und Empfehlungen,
29-Jährigen. Den Punkt „I would like to        Leitlinie durch die AWMF, koordiniert        in zwei Drittel der Fälle mit starkem
life as or be treated as someone of a dif-     durch Dr. T. Nieder vom Universitätskli-     Konsens (95 % der beteiligten Fachge-
ferent sex“ bejahten 2,8 %, auch hier mit      nikum Eppendorf, Hamburg, und Prof.          sellschaften, ansonsten mit Konsens
einem Schwerpunkt von 6,3 % bei den            Dr. B. Strauß von der Universität Jena       75 %). Neben den Empfehlungen enthält
22- bis 29-Jährigen. Entsprechende Zah-        [6]. In der Konsensgruppe waren unter        die Leitlinie umfassende Hintergrund-
len liegen für die Prävalenz in Deutsch-       anderem auch der BVDN und der BVDP           texte, die die wesentlichen Ergebnisse
land nicht vor.                                vertreten.                                   der wissenschaftlichen Literaturrecher-
   Zu den aus Schweden zitierten Zahlen                                                     che darstellen. In den Hintergrundtex-
ist zu beachten, dass es sich hier um eine     Paradigmenwechsel hin zur                    ten werden auch unterschiedliche Ergeb-
innerstädtische Bevölkerung mit einem          individualisierten Vorgehensweise            nisse und Bewertungen verschiedener
Anteil von 49,6 % Hochschulabsolventen         Die am 9. Oktober 2018 nach methodi-         Autoren diskutiert.
handelte.                                      scher Prüfung von der AWMF veröffent-           Ziele bei der Erstellung der Leitlinie
                                               lichte Leitlinie wird oft mit dem Begriff    waren evidenzbasierte Empfehlungen
Entstehung und Entwicklung                     Paradigmenwechsel assoziiert. Dies           hinsichtlich Beratung, Diagnostik, Psy-
der Leitlinie                                  kennzeichnet im Wesentlichen zutref-         chotherapie und somatischer Behand-
Eine Neuformulierung der Behandlungs­          fend die Abkehr von der bisherigen, an       lung zur Geschlechtsmodifizierung, ein
standards beziehungsweise die Erarbei-         Zeiträume gebundenen Kaskade von Di-         erleichterter Zugang zur medizinischen
tung einer Leitlinie wurde in Deutsch-         agnostik und Therapie hin zu einer indi-     Versorgung, die Unterstützung, um das
land seit Jahren gefordert. Bis zum Zeit-      vidualisierten Vorgehensweise, fallbezo-     individuell empfundene Geschlecht
punkt der Veröffentlichung der neuen           gen entwickelt in einem Entscheidungs-       selbstbestimmt leben zu können, die Er-
S3-Leitlinie zur Geschlechtsinkongru-          prozess zwischen behandlungssuchen-          leichterung individueller Lösungen statt
enz, Geschlechtsdysphorie und Trans-           den Personen und Behandlern.                 festgelegter Behandlungsschemata und
Gesundheitsversorgung [4] galten die              Bei der Diagnostik bezieht sich die S3-   die Vermeidung von Fristen und festge-
Standards der Behandlung und Begut-            Leitlinie inhaltlich auf die Kategorien      legten Wartezeiten für bestimmte Be-
achtung von Transsexuellen der Deut-           des DSM-V und des zu erwartenden             handlungsverfahren.
schen Gesellschaft für Sexualforschung         ICD-11. Sie ist formuliert auch für Be-
(DGfS), der Akademie für Sexualmedi-           handlungssuchende, die sich als non-­        Empfehlung zur therapeutischen
zin und der Gesellschaft für Sexualwis-        binär definieren.                            Haltung
senschaft [5].                                                                              Zur therapeutischen Haltung wurde fol-
   Im Bereich der gesetzlichen Kranken-        Reaktionen und Auswirkung                    gende, konsensbasierte Empfehlung ge-
versicherung beurteilt der Medizinische        Die bisherigen Reaktionen auf die            geben: „Entscheidungen über die Not-
Dienst, regional etwas unterschiedlich in      Schwerpunktsetzung der Leitlinie waren       wendigkeit und die Reihenfolge der Be-
der Auslegung, Anfragen zur Kosten-            unterschiedlich. In einer Stellungnahme      handlungsschritte sollten partizipativ
übernahme somatischer Behandlungen             kritisierte die Deutsche Gesellschaft für    im Sinne einer Übereinstimmung zwi-
immer noch nach der Begutachtungs-             Sexualmedizin, Sexualtherapie und Se-        schen Behandlungssuchenden und Be-
leitlinie des Medizinischen Dienstes des       xualwissenschaft e. V. (DGSMTW) eine         handelnden getroffen werden. Sollte im
Spitzenverbandes Bund der Kranken-             fehlende „medizinisch-notwendige Bin-        Einzelfall eine Übereinstimmung nicht
kassen (MDS) von 2009. Darin wird wei-         nendifferenzierung“ und den „Verzicht        herstellbar sein, so sollten die Gründe
terhin ein sogenannter Alltagstest in der      auf jegliche Alltagserprobung“. Zur Ver-     dafür transparent dargelegt werden.“
Regel von mindestens zwölf Monaten so-         unsicherung führte auch die Öffnung          Dieser Empfehlung konnte der Bundes-
wie eine Phase von Diagnostik und Be-          für non-binäre Behandlungssuchende.          verband Trans* (BVT), der in der Kon-
handlungsplanung sowie Psychothera-            Hier spielen möglicherweise auch durch       sensusgruppe vertreten war, nicht zu-
pie von 18 Monaten Dauer für die Kos-          die dahinterstehende veränderte Kons­        stimmen und beantragte ein Sondervo-
tenübernahme gefordert. Vor diesem             truktion des Begriffs der Geschlechter       tum mit folgendem Wortlaut: „Wenn
Hintergrund wurde auf Initiative der           ausgelöste Gegenübertragungsphäno-           eine Trans*-Person einwilligungsfähig
DGfS 2012 mit der Entwicklung der              mene eine Rolle.                             ist und den Umfang und die Konsequenz

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Neue S3-Leitlinie für Trans-Gesundheit                Fortbildung

der Behandlung verstanden hat, sollte
die informierte Entscheidung im Sinne          Auszüge aus der MDS-Begutachtungsanleitung (MDS-BGA) vom 31. August 2020
eines Informed Consents über die Not-         „Geschlechtsangleichende Maßnahmen bei Transsexualismus“
wendigkeit und die Reihenfolge der Be-         Wesentliche Grundsätze der MDS-BGA 2020:
handlungsschritte allein bei ihr liegen.“
                                               — Die MDS-BGA trifft keine Regelungen für die Begutachtung bei Kindern und Jugendlichen.
Mit diesem Sondervotum fordert der             — Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften bestimmen nicht den Umfang der Leistungen
Bundesverband Trans*, dass die Ent-              gesetzlicher Krankenkassen (BSG-Urteil vom 30.6.2009, B1 KR 5/09 R).
scheidungshoheit ausschließlich bei den        — Aus den Gutachten nach dem TSG lassen sich keine medizinischen Indikationen herleiten.
Behandlungssuchenden selbst liegt. Hier        — Der Krankheitsbegriff der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erfordert einen Leidens-
kommt ein Dissens zum Ausdruck, der              druck (BSG-Urteil vom 6.8.1987, 3 RK 15/86).
sich bisher nicht hat lösen lassen.            — Die Diagnose Transsexualismus nach ICD-10 ist weiterhin sozialrechtlich bindend.
                                               — Eine non-binäre Geschlechtsidentität gilt nicht als Transsexualismus im Sinne der MDS-BGA.
                                               — Geschlechtsangleichende Behandlungen werden weiterhin als „ultima ratio“ und nicht als
Empfehlung zum diagnostischen                    Mittel der ersten Wahl angesehen.
Vorgehen
                                               Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen sind weiterhin verpflichtend. Sie
Zum diagnostischen Vorgehen wird in            werden nicht eingesetzt, um die Geschlechtsidentität zu ändern, sondern um die bestmögli-
der Leitlinie folgende, konsensbasierte        che Lebensqualität zu erreichen. Geschlechtsangleichende Maßnahmen bedürfen stets einer
Empfehlung gegeben: „Im Rahmen der             psychiatrisch-psychotherapeutischen Indikation (durch Fachärztinnen und Fachärzte oder
Diagnostik und individuellen Behand-           Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten).
lungsplanung soll eine Anamneseerhe-           Bevor geschlechtsangleichende Behandlungen eingeleitet werden, sind entweder
bung erfolgen, die die psychosexuelle          — eine mindestens 6-monatige Psychotherapie mit 12 Sitzungen à 50 Minuten (KZT) oder
Entwicklung, Sozialanamnese, biografi-         — eine psychiatrische/psychosomatische Facharztbehandlung beziehungsweise eine Behand-
sche Anamnese und medizinische Ana-              lung in einer spezialisierten Hochschuleinrichtung mit vergleichbarem Umfang erforderlich.
mnese umfasst, sowie der psychische Be-        Hormonbehandlungen setzen keinen 12-monatigen Alltagstest mehr voraus.
fund erhoben werden.“                          Stimmtherapie (Logopädie) kann wie bisher im Rahmen der Heilmittel-Richtlinie verordnet
  Evidenzbasiert mit Evidenzgrad III           werden.
wird folgende, weitere Empfehlung gege-
                                               Epilationsbehandlungen können ohne vorgeschaltete Hormonbehandlungen durchgeführt
ben: „Geschlechtsinkongruenz vor der
                                               werden. Es wird auf die Behandlungsmöglichkeiten im Rahmen der vertragsärztlichen Versor-
Pubertät, Pubertätsentwicklung, Ge-            gung verwiesen.
schlechtsidentität, Partnerschaften, Fin-
                                               Eine Mastektomie ist bei entsprechender Begründung nach 6-monatiger Psychotherapie
den von Selbstbezeichnungen, Coming-
                                               möglich.
out, Erfahrungen von Stigmatisierung
und Diskriminierung, familiäre und ge-         Ein operativer Brustaufbau erfordert eine mindestens 2-jährige feminisierende Hormonthera-
                                               pie und wird nur dann finanziert, wenn Körbchengröße A nach DIN nicht erreicht wurde.
sellschaftliche Einflüsse, bisherige Er-
fahrungen im Gesundheitswesen, selbst          Genitalangleichende Operationen setzen Alltagserfahrungen mit therapeutischer Begleitung
angestrebte Maßnahmen zur Reduktion            im Umfang von mindestens 12 Monaten voraus.
der Geschlechtsdysphorie, Ressourcen“          Andere geschlechtsangleichende Maßnahmen (zum Beispiel Kehlkopfverkleinerung, opera­
sollten enthalten sein.                        tive Stimmlagenkorrektur, Rippenresektion, Gesichtsfeminisierung) sind nicht grundsätzlich
  Des Weiteren wird konsensbasiert             von der Leistungspflicht ausgeschlossen, erfordern jedoch eine eingehende Begründung so-
                                               wie eine Abgrenzung zu kosmetischen Behandlungen.
empfohlen: „Es sollte erfasst werden, ob
die Geschlechtsinkongruenz und/oder            Als technische Hilfsmittel kommen Haarersatz/Perücken sowie Brustbandagen und Brustgür-
die Geschlechtsdysphorie konstant zu-          tel nach Brustoperationen gemäß Hilfsmittelverzeichnis der GKV in Frage. Die Kostenübernah-
mindest seit einigen Monaten bestehen,         me für Penis-Hoden-Epithesen bedarf einer Einzelfallbegründung.
vorübergehend oder intermittierend ist.“       Obligate Unterlagen für den Kostenübernahmeantrag:
                                               — konkrete Benennung der beantragten Maßnahme(n),
Hinweise zur Differenzialdiagnose              — psychiatrisch-psychotherapeutische Indikation unter anderem mit Angaben hinsichtlich
                                                 psychosozialer Stabilität und der Fähigkeit zur realistischen Einschätzung der angestrebten
An die Empfehlungen zur Diagnostik
                                                 Behandlung(en),
schließen sich Hinweise zur Differenzi-
                                               — somatische Indikation einschließlich Nachweis der Aufklärung,
aldiagnose an. In diesen Empfehlungen          — ausführlicher psychiatrischer/psychotherapeutischer Befund- und Verlaufsbericht ein-
kommt zum Ausdruck, dass – im Gegen-             schließlich Anamnese, Diagnostik, Differenzialdiagnostik, Angaben zu begleitenden psychi-
satz zu bisherigen Vorgehensweisen –             schen Störungen, konkreter Schilderung des krankheitswertigen Leidensdrucks und Anga-
andere psychische Störungen, zum Bei-            ben zu Alltagerfahrungen,
spiel eine Borderline-Persönlichkeits­         — Befundberichte zu somatischen Untersuchungsergebnissen (endokrinologische und geneti-
                                                 sche, gegebenenfalls auch gynäkologische und urologische Befunde).
störung, nicht mehr als Ausschlusskri­
terium für Geschlechtsinkongruenz/             Die MDS-BGA ist hier zu finden: https://www.mds-ev.de/fileadmin/dokumente/Publikationen/
Geschlechtsdysphorie gelten. Dies              GKV/Begutachtungsgrundlagen_GKV/BGA_Transsexualismus_201113.pdf
kommt zum Ausdruck in folgendem,                Dr. W. Ettmeier/Dr. P.-C. Vogel, Kompetenzzentrum Transsexualität München (www.qz-ts-muc.de)
konsensbasiertem Statement: „Bei jeder

NeuroTransmitter   2021; 32 (1-2)                                                                                                          47
Fortbildung         Neue S3-Leitlinie für Trans-Gesundheit

infrage kommenden Differenzialdiagno-          den als unbedingt notwendige Voraus-         gen gesehen werden. Die Indikation ist
se besteht die Möglichkeit, dass es sich       setzungen für den Beginn somatischer         nach den Vorgaben der Psychotherapie-
lediglich um eine zusätzliche Diagnose         Therapien gefordert. In der Leitlinie        Richtlinie zu stellen.“
handelt. Sie schließt insofern nicht auto-     wird bewusst auf zeitliche Fristen ver-         Des Weiteren folgt das evidenzbasier-
matisch eine Geschlechtsinkongruenz            zichtet. Dies gilt sowohl für Hormonthe-     te Statement mit Evidenzgrad III: „Psy-
und/oder Geschlechtsdysphorie aus.“ Es         rapie, als auch für geschlechtsanpassen-     chotherapie kann zur Minderung der
wird, nach Literaturrecherche evidenz-         de Operationen.                              Geschlechtsdysphorie, zum Beispiel
basiert, davon ausgegangen, dass ein be-          Zu den Alltags-/Transitionserfahrun-      durch eine Förderung der Selbstakzep-
deutsamer Anteil der Behandlungssu-            gen werden folgende, konsensbasierte         tanz, der Bewältigung negativer Gefühle
chenden keine weiteren psychischen Stö-        Empfehlung mit starkem Konsens gege-         und eine Unterstützung bei der Identi-
rungen hat.                                    ben: „Alltagserfahrungen mit dem             tätsentwicklung beitragen.“
  Sollten allerdings in Komorbidität           Wechsel von der bisherigen Geschlechts-         Ausführlich werden die Ziele beglei-
psychotische Störungen vorliegen, so           rolle in eine andere stellen keine notwen-   tender Psychotherapie umschrieben:
sind folgende, evidenzbasierte Empfeh-         dige Voraussetzung für den Beginn Kör-       „Psychotherapie soll Trans*-Personen
lungen mit Evidenzgrad III von Bedeu-          per modifizierender Behandlungen zur         im Bedarfsfall angeboten werden. Ziele
tung: „Bei nicht diagnostizierten oder         Unterstützung einer Transition dar“.         einer Psychotherapie können sein: För-
nicht adäquat behandelten psychischen          Gleichzeitig wird aber auf den potenziel-    derung von Selbstakzeptanz, Selbstwert-
Störungen kann es zum Bedauern der             len Nutzen von Alltags-/Transitionser-       gefühl und Selbstsicherheit, Bewältigung
Entscheidung für modifizierte Behand-          fahrungen hingewiesen: „Alltagserfah-        von Scham- und Schuldgefühlen sowie
lungen der körperlichen Geschlechts-           rungen, bei denen sich Behandlungssu-        von internalisierter Trans*-Negativität,
merkmale kommen.“ Deshalb wird emp-            chende in der gewünschten Rolle erfah-       Unterstützung der Identitätsentwick-
fohlen: „Psychotische Störungen sollen         ren, können aufschlussreich für die          lung, Reflexion und Bearbeitung mögli-
zunächst einer adäquaten Therapie zu-          weitere Transition, für Entscheidungen       cher Erfahrungen und Konflikte in einer
geführt werden, bevor Geschlechtsin-           für oder gegen transitionsunterstützen-      anderen Geschlechtsrolle, Unterstüt-
kongruenz und/oder Geschlechtsdys-             de Behandlungen sowie für die Wahl der       zung des Coming-out-Prozesses, insbe-
phorie diagnostiziert wird.“                   geeigneten Zeitpunkte sein“ (konsensba-      sondere bei familiären und partner-
  Für begleitende psychische Störungen         sierte Empfehlung).                          schaftlichen Problemen, Unterstützung
wird folgende, konsensbasierte Behand-            Ein gewisser Dissens zu den konsens-      bei anderen familiären oder partner-
lungsempfehlung gegeben: „Sowohl re-           basierten Empfehlungen kommt in dem          schaftlichen Problemen, Unterstützung
aktive, als auch unabhängige psychische        folgenden, evidenzbasierten Statement        bei Problemen im Zusammenhang mit
Störungen sollten bis zur Remission pa-        Evidenzgrad III mit zum Ausdruck:            der eigenen Elternrolle, Bearbeitung der
rallel zur Behandlung der Geschlechts-         „Für eine voll informierte soziale und       Auswirkungen der Reaktionen anderer
dysphorie adäquat psychotherapeutisch          medizinische Transition sind möglichst       (Trans*-Negativität und Trans*-Feind-
und/oder psychopharmakologisch be-             vielfältige Alltagserfahrungen zu emp-       lichkeit), Unterstützung bei einer Ent-
handelt werden.“                               fehlen. Es sollte sich um ein individuali-   scheidung über körpermodifizierte Be-
                                               siertes Vorgehen handeln, das bei Vorlie-    handlungen, Unterstützung nach kör-
Voraussetzungen für somatische                 gen einer Indikation mit Beginn bei-         permodifizierten Behandlungen, Unter-
Behandlungen                                   spielsweise einer Hormonbehandlung,          stützung andauernder Geschlechtsdys-
Zentral sind die Änderungen bei den            einer Entfernung einer Gesichtsbehaa-        phorie.“
Voraussetzungen für den Beginn soma-           rung oder einer Mastektomie einherge-           Als therapeutisches Ziel körpermodi-
tischer Behandlungen. Während bisher           hen kann. Rücksicht genommen werden          fizierender Behandlungen wird die Lin-
nach den geltenden Standards Zeitraster        sollte auf Diskriminierungspotenziale.“      derung des Leidensdrucks genannt. Für
erfüllt werden müssen, was im Rahmen                                                        alle körpermodifizierenden Behandlun-
der Beurteilung durch den medizini-            Bedeutung der Psychotherapie                 gen gilt, dass die Diagnose gesichert sein
schen Dienst der Krankenkassen immer           Eine wesentliche Rolle spielt die psycho-    muss, andererseits wird für alle körper-
noch gilt, werden in der vorliegenden          therapeutische Begleitung der Behand-        modifizierenden Behandlungen keine
Leitlinie konsensbasiert individualisier-      lungssuchenden, die nach aktuellem           Verpflichtung zur Psychotherapie for-
te Behandlungspfade empfohlen, die wie         wissenschaftlichem Standard affirmativ       muliert, und Alltags-/Transitionserfah-
folgt formuliert sind: „Modifizierende         durchgeführt wird, das heißt, die selbst     rungen werden nicht gefordert.
Behandlungen       körperlicher      Ge-       definierte Geschlechtsidentität nicht per       Neben feminisierenden und maskuli-
schlechtsmerkmale sind für Trans*-Per-         se infrage stellt, jedoch durchaus Dif­      nisierenden operativen Eingriffen wer-
sonen, die körpermodifizierte Behand-          ferenzialdiagnostik erlaubt. Dazu wur-       den in der Leitlinie auch die Vorausset-
lungen in Anspruch nehmen wollen, die          den folgende, konsensbasierte Empfeh-        zungen für Phonochirurgie, Adamsap-
Therapie der ersten Wahl“ (konsensba-          lungen formuliert: „Psychotherapie soll      felkorrektur und gesichtsfeminisierende
sierte Empfehlung).                            nicht ohne spezifische Indikation ange-      Operationen definiert. Für die Indikati-
   Weder Psychotherapie noch Alltagser-        wandt und keinesfalls als Voraussetzung      on Letzterer besteht aber noch ein erheb-
fahrungen/Transitionserfahrungen wer-          für körpermodifizierende Behandlun-          licher Bedarf an Forschung und Konkre-

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Neue S3-Leitlinie für Trans-Gesundheit           Fortbildung

  tisierung, sowohl die Indikation als auch      BGA weicht in einigen Punkten deutlich
  die Durchführung betreffend.                   von der AWMF-S3-Behandlungsleitlinie
     Offen ist hier auch, inwieweit solche       ab, beruft sich weiterhin auf ICD-10 so-
  Behandlungsschritte sozialrechtlich als        wie die World Professional Association
  Krankenbehandlung eingestuft werden.           for Transgender Health Standards of
                                                 Care (WPATH SoC) 2012 und berück-
  Schlussfolgerung für den                       sichtigt nicht die diagnostischen Katego-
  praktizierenden Psychiater                     rien des DSM-5. Die wesentlichen Grund-
  Die vorliegende Leitlinie stellt durch ih-     sätze der MDS-BGA 2020 sind in der
  ren psychosozialen Schwerpunkt und             Übersicht auf Seite 47 zusammengefasst.
  die Besonderheiten der Kategorie Ge-              Spannend wird sein, welche Folgen die
  schlechtsinkongruenz/Geschlechtsdys-           diagnostische Kategorisierung im kom-
  phorie im Hinblick auf deren Krank-            menden ICD-11 sozialrechtlich haben
  heitswert eine Besonderheit im Kanon           wird.
  der Leitlinien dar. Es ist zweifellos gelun-
  gen, einerseits umfassend die zur Verfü-       Literatur
  gung stehende wissenschaftliche Litera-        1. Spiewak M. Transsexualität. Vom Recht,
                                                    anders zu sein. Zeit online 2020 Mai 19;
  tur zu berücksichtigen, andererseits              https://www.zeit.de/2020/22/transsexuali­
  auch die gesellschaftliche Dimension im           taet-­lgtbq-geschlechtswechsel-gender;
  Auge zu behalten. Wie oben beschrie-              abgerufen am 16.12.2020
  ben, kommen die in diesem Spannungs-           2. Wiepjes CM et al. The Amsterdam cohort of
                                                    gender dysphoria study (1972–2015), trends
  feld auftretenden Dissensen in der Leit-          in prevalence, treatment and regrets. J Sex
  linie zum Ausdruck.                               Med 2018;15:582–90
     Inhaltlich stellt die Leitlinie – insbe-    3. Åhs JW et al. Proportion of adults in the ge-
  sondere auch in den Hintergrundtexten             neral population of Stockholm country who
                                                    want gender-affirming medical treatment.
  – umfassende Informationen zur Verfü-             PLoS One 2018;13:e0204606
  gung, zudem gibt sie aber auch klare           4. Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdys-
  Orientierungspunkte für die psychiatri-           phorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie
                                                    zur Diagnostik, Beratung und Behandlung.
  sche Praxis. Die Langfassung ist auf je-          AWMF-Register-Nr. 138-001. Stand: 22.2.2019;
  den Fall für Kollegen zu empfehlen, die           Version: 1.1; https://www.awmf.org/uploads/
  im Rahmen ihrer Sprechstundentätig-               tx_szleitlinien/138-001l_ ­­S3_
  keit auch sexualmedizinisch orientiert            Geschlechtsdysphorie-Diagnostik-­
                                                    Beratung-Behandlung_2019-02.pdf;
  arbeiten, die inzwischen auch zur Verfü-          abgerufen 17.12.2020
  gung stehende Kurzfassung für diejeni-         5. Becker S et al. Standards der Behandlung
  gen, die sich zunächst informieren wol-           und Begutachtung von Transsexuellen der
  len oder in ihrer Sprechstunde mit einer          Deutschen Gesellschaft für Sexualfor-
                                                    schung, der Akademie für Sexualmedizin
  Behandlung suchenden Person konfron-              und der Gesellschaft für Sexualwissenschaft.
  tiert sind, die die Frage der Geschlechts­        Z Sexualforsch 1997;10:147–56
  identität thematisiert.                        6. Nieder TO, Strauß B. S3-Leitlinie zur Diagnos-
                                                    tik, Beratung und Behandlung im Kontext
     Zu berücksichtigen sind Limitationen
                                                    von Geschlechtsinkongruenz/Geschlechts-
  dahingehend, dass sich die Leitlinie              dysphorie/Trans*-Gesundheit. Hintergrund,
  nicht zur Technik somatischer Therapi-            Methode und zentrale Empfehlungen.
  en äußert, was Aktivitäten der entspre-           Z Sexualforsch 2019;32:70–9
  chenden Fachgesellschaften überlassen
  wird (z. B. Deutsche Gesellschaft für
  Urologie, Deutsche Gesellschaft der
                                                  AUTOR
  plastischen, rekonstruktiven und ästhe-
  tischen Chirurgie).
     Limitierungen ergeben sich auch dar-         Dr. med. Peter-
                                                  Christian Vogel
  aus, dass beispielsweise im Rahmen der
  gesetzlichen Krankenversicherung noch           Facharzt für Psychiatrie
  andere Standards gelten, als die in der         und Psychotherapie
  Leitlinie formulierten.                         Agnesstraße 14
     Am 31. August 2020 veröffentlichte           80798 München
  der MDS eine neue Fassung der Begut-            E-Mail: praxcvogel@
  achtungsanleitung (MDS-BGA) bei                 aol.com
  Transsexualität. Diese aktuelle MDS-

  NeuroTransmitter   2021; 32 (1-2)                                                          49
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