Inklusion und Bildung: FÜR ALLE HEISST FÜR ALLE 2020 - Deutsche UNESCO-Kommission
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W E LT B I L D U N G S B E R I C H T – K U R Z F A S S U N G 2020 Inklusion und Bildung: FÜR ALLE HEISST FÜR ALLE Organisation Ziele für der Vereinten Nationen nachhaltige für Bildung, Wissenschaft Entwicklung und Kultur
W E LT B I L D U N G S B E R IC H T – K U R Z FA S S U N G 2020 Inklusion und Bildung: FÜR ALLE HEISST FÜR ALLE Deutsche UNESCO-Kommission, Bonn 2020
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 Gemäß der Incheon-Erklärung und dem Aktionsrahmen zur Agenda Bildung 2030 lautet das Mandat des Weltbildungs berichts: „Der Weltbildungsbericht GEMR wird der Mechanismus für das Monitoring und die Berichterstattung über SDG 4 sowie über Bildung in den anderen SDGs sein. […] Er wird auch über die Implementierung nationaler und internationaler Strategien berichten, um dazu beizutragen, alle relevanten Partner anzuhalten, Rechenschaft über ihre Verpflichtungen als Teil des gesamten SDG-Follow-Up und deren Überprüfung abzulegen.“ Er wird durch ein unabhängiges, von der UNESCO eingerichtetes Team erstellt. Die verwendeten Bezeichnungen und die Präsentation der Inhalte in dieser Publikation stellen keinerlei Meinungs äußerung seitens der UNESCO hinsichtlich des Rechtsstatus eines Landes, eines Territoriums, einer Stadt, eines Gebietes, deren Behörden oder hinsichtlich von Grenzverläufen dar. Das Global Education Monitoring Report Team trägt die Verantwortung für die Auswahl und Präsentation der in dieser Publikation enthaltenen Fakten und die darin zum Ausdruck gebrachten Meinungen, die nicht unbedingt denen der UNESCO entsprechen und die Organisation in keiner Weise verpflichten. Die Gesamtverantwortung für Ansichten und Meinungen im Bericht liegt beim Direktor des Teams. Das Global Education Monitoring Report Team Direktor: Manos Antoninis Daniel April, Bilal Barakat, Madeleine Barry, Nicole Bella, Erin Chemery, Anna Cristina D’Addio, Matthias Eck, Francesca Endrizzi, Glen Hertelendy, Priyadarshani Joshi, Katarzyna Kubacka, Milagros Lechleiter, Kate Linkins, Leila Loupis, Kassiani Lythrangomitis, Alasdair McWilliam, Anissa Mechtar, Claudine Mukizwa, Yuki Murakami, Carlos Alfonso Obregón Melgar, Judith Randrianatoavina, Kate Redman, Maria Rojnov, Anna Ewa Ruszkiewicz, Will Smith, Laura Stipanovic, Morgan Strecker, Rosa Vidarte und Lema Zekrya. Fellows: Madhuri Agarwal, Gabriel Badescu, Donny Baum und Enrique Valencia-Lopez Der Global Education Monitoring Report (GEMR) ist eine unabhängige jährliche Veröffentlichung. Er wird durch mehrere Regierungen, multilaterale Organisationen und private Stiftungen finanziert und durch die UNESCO unterstützt und gefördert: MINISTÈRE DE L’EUROPE ET DES AFFAIRES ÉTRANGÈRES Organización Objetivos de de las Naciones Unidas Desarrollo para la Educación, Sostenible la Ciencia y la Cultura 4
W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG Diese Publikation steht unter der Lizenz CC-BY-SA 3.0 IGO. Diese Lizenz gilt ausschließlich für den Textinhalt der Publikation. Durch Nutzung der Inhalte dieser Publikation akzeptiert der Nutzer die Nutzungsbedingungen des UNESCO Open Access Repository (http://www.unesco.org/open-access/terms-use-ccbysa-en). Vor der Nutzung von Inhalten dieser Publikation, die nicht klar als zur UNESCO gehörig identifiziert werden können, sollte unter folgender Adresse um Erlaubnis gefragt werden: publication.copyright@unesco.org oder UNESCO Publishing, 7, place de Fontenoy, 75352 Paris 07 SP France. Global Education Monitoring Report 2020. Bibliographische Informationen der Deutschen Inclusion and education: All means all. Summary. Nationalbibliothek: Deutsche Übersetzung Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; Herausgegeben von detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet abrufbar unter: http://dnb.d-nb.de United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) Weitere Informationen zum Global Education Monitoring 7, place de Fontenoy, 75352 Paris 07 SP Report 2020 erhalten Sie über: Global Education Monitoring Report Team und UNESCO, 7, place de Fontenoy 75352 Paris 07 SP, France Deutsche UNESCO-Kommission e. V. (DUK) Email: gemreport@unesco.org Martin-Luther-Allee 42, 53175 Bonn Tel.: +33 1 45 68 07 41 www.unesco.org/gemreport Verantwortlich: https://gemreportunesco.wordpress.com Dr. Philipp Disselbeck (DUK) © UNESCO, 2020 Redaktion: Erste Auflage Dr. Philipp Disselbeck, Dr. Carolin Butler Manning, Philip Schimpf (DUK) Titelfoto: Jenny Matthews (Panos) Illustrationen: FHI 360 und Anne Derenne Übersetzung: Hella Rieß, www.hellariess.de Grafikdesign: FHI 360 Die deutsche Kurzfassung ist online zugänglich unter: Auf dem Titelfoto sind seilspringende Schülerinnen und Schüler http://www.unesco.de/bildung/weltbildungsbericht.html an der Grundschule St. Pius in Sierra Leone zu sehen. Mit zusätzlichem Material ist die englische Kurzfassung online zugänglich unter: http://bit.ly/2020gemreport Dort werden alle nach dem Druck festgestellten Fehler oder Auslassungen korrigiert. Soweit möglich wurden im Text gender-neutrale Begriffe verwendet. Wenn dies nicht möglich war, wurde aus Gründen der Lesbarkeit die maskuline Form gewählt. ISBN: 978-3-947675-00-5 5
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W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG Vorwort Noch nie war es so wichtig, Bildung zu einem universellen Recht und zu einer Realität für alle zu machen. Unsere sich rasch verändernde Welt steht vor anhaltenden großen Herausforderungen – von technologischer Disruption bis hin zu Klimawandel, Konflikten, erzwungenen Wanderungsbewegungen, Intoleranz und Hass –, die die Ungleichheiten weiter vergrößern und sich auf Jahrzehnte hinaus auswirken. Die COVID-19-Pandemie hat diese Ungleichheiten weiter verstärkt und die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaften neuerlich offengelegt. Mehr denn je haben wir eine kollektive Verantwortung, die am meisten benachteiligten Menschen zu unterstützen, um dazu beizutragen, dass gesellschaftliche Bruchlinien abgebaut werden, die seit langer Zeit bestehen und die unsere gemeinsame Humanität bedrohen. Im Lichte dieser Herausforderungen sind die Botschaften des Weltbildungsberichts 2020 zur Inklusion in der Bildung umso eindringlicher. Der Bericht warnt davor, dass die Bildungschancen nach wie vor ungleich verteilt sind. Die Barrieren für eine hochwertige Bildung sind für zu viele Lernende noch immer zu hoch. Bereits vor COVID-19 war unter Kindern und Jugendlichen 1 von 5 von Bildung vollkommen ausgeschlossen. Stigmatisierung, Stereotypisierung und Diskriminierung führen dazu, dass Millionen weitere Kinder und Jugendliche in ihren Klassenräumen ausgegrenzt werden. Die derzeitige Krise wird die verschiedenen Formen der Exklusion weiter verstetigen. Mehr als 90 Prozent der Lernenden weltweit sind aufgrund von COVID-19 von Schulschließungen betroffen – damit befindet sich die Welt inmitten einer historisch beispiellosen Erschütterung der Bildung. Durch die soziale und digitale Spaltung sind jene Menschen, die am stärksten benachteiligt sind, dem Risiko von Lernverlusten und Schulabbrüchen ausgesetzt. Vergangene Erfahrungen – wie z. B. im Zusammenhang mit Ebola – haben gezeigt, dass Gesundheitskrisen viele Menschen zurücklassen können, insbesondere die ärmsten Mädchen, von denen viele vielleicht nie wieder in die Schule zurückkehren werden. Die zentrale Empfehlung dieses Berichts an alle Bildungsakteure, ihr Verständnis von inklusiver Bildung zu erweitern, um alle Lernenden zu inkludieren, unabhängig von ihrer Identität, ihrem Hintergrund oder ihren Fähigkeiten, kommt nun, da die Welt versucht, die Bildungssysteme bei ihrem Wiederaufbau inklusiver zu gestalten, zu einem passenden Zeitpunkt. Dieser Bericht identifiziert verschiedene Formen der Exklusion, wie sie verursacht werden und was wir dagegen tun können. Er ist ein Aufruf zum Handeln, den wir befolgen sollten, wenn wir den Weg ebnen für resilientere und gleichberechtigtere Gesellschaften in der Zukunft. Ein Aufruf, bessere Daten zu sammeln, ohne die wir das wahre Ausmaß des Problems nicht verstehen oder messen können. Ein Aufruf, politische Vorgaben weitaus inklusiver zu gestalten, und zwar auf der Grundlage von Beispielen effektiver Vorgaben, die bereits in Kraft sind, sowie durch Zusammenarbeit, um intersektionelle Benachteiligungen anzugehen, so wie wir gesehen haben, zu welcher Zusammenarbeit Ministerien und Regierungsstellen in Bezug auf COVID-19 fähig waren. Nur wenn wir aus diesem Bericht Lehren ziehen, können wir verstehen, welchen Weg wir in Zukunft einschlagen müssen. Die UNESCO ist bereit, den Staaten und der Bildungsgemeinschaft zu helfen, so dass wir gemeinsam die Bildung entwickeln können, die die Welt so dringend benötigt und die gewährleistet, dass Lernen niemals aufhört. Um den Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen, ist die Umsetzung des Ziels einer zunehmend inklusiven Bildung nicht verhandelbar – Untätigkeit ist keine Option. Audrey Azoulay Generaldirektorin der UNESCO 7
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W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG Vorwort Bildung leistet einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau inklusiver und demokratischer Gesellschaften, in denen unterschiedliche Meinungen frei geäußert werden können und das breite Spektrum an Stimmen gehört werden kann – im Streben nach sozialem Zusammenhalt und in Wertschätzung der Vielfalt. Der diesjährige Weltbildungsbericht erinnert uns daran, dass Bildungssysteme immer nur in dem Maße inklusiv sind, wie sie von ihren Machern erschaffen werden. Benachteiligung kann durch diese Systeme und ihre Kontexte erzeugt werden. Sie besteht dort, wo die Bedürfnisse von Menschen nicht berücksichtigt werden. Inklusion in der Bildung bedeutet sicherzustellen, dass sich jede und jeder Lernende wertgeschätzt und respektiert fühlt und ein unmissverständliches Zugehörigkeitsgefühl genießen kann. Diesem Ideal stehen jedoch viele Hürden im Weg. Durch Diskriminierung, Stereotypisierung und Entfremdung werden viele Menschen ausgeschlossen. Diese Ausgrenzungsmechanismen sind im Wesentlichen identisch, unabhängig von Geschlecht, Wohnort, Wohlstand, Behinderung, ethnischer Zugehörigkeit, Sprache, Migrations- oder Vertriebenenstatus, sexueller Orientierung, Haft, Religion oder anderen Überzeugungen und Einstellungen. Der Bericht erinnert uns an anhaltende und bestürzende Disparitäten in der Bildung, auch bei der Gewährleistung des Zugangs zu Bildung für alle Menschen, was die Grundlage von Inklusion sein sollte. Der Ansatz „Für alle heißt für alle“ bedeutet aber auch, auf stigmatisierende Etikettierungen, mit denen Kinder gekennzeichnet werden, zu verzichten. Der Einsatz von Lernansätzen, die auf solchen Etikettierungen beruhen, beschränkt das Potenzial der Lernenden und ignoriert die Vorteile, die unterschiedliche Lernansätze für alle Kinder mit sich bringen können. Deshalb ist es entscheidend, wie Bildungssysteme konzipiert werden. Dabei können die Länder selbst entscheiden, was bei der Bewertung der Frage zählt, ob ihre Bildungssysteme auf dem richtigen Weg sind oder nicht. Sie können sich dazu entschließen, Inklusion scheibchenweise anzugehen, oder sie können alle Herausforderungen frontal anpacken. Das Ideal einer vollkommenen Inklusion zu erreichen, bringt Schwierigkeiten und Spannungen mit sich. Der Übergang von dem heutigen Zustand hin zu Systemen, die den Bedürfnissen aller Lernenden gerecht werden, einschließlich jener mit schweren Behinderungen, ist keine kleine Leistung und unter Umständen sogar unmöglich. Dieser Bericht leugnet nicht, dass das Ideal einer vollkommenen Inklusion auch Nachteile haben kann. Gut gemeinte Anstrengungen für mehr Inklusion können in einen Konformitätszwang umschlagen, Gruppenidentitäten verringern, Sprachen verdrängen. Eine ausgeschlossene Gruppe im Namen der Inklusion anzuerkennen und ihr zu helfen, könnte sie gleichzeitig marginalisieren. Es gibt darüber hinaus Herausforderungen bezüglich der Entscheidung über die Geschwindigkeit der Veränderungen – sei es für reichere Länder, die von Systemen abkehren wollen, die ursprünglich auf Segregation beruhten, oder für ärmere Länder, die ein inklusives System von Grund auf neu schaffen wollen. Ungeachtet der Anerkennung dieser Herausforderungen, hinterfragt der Bericht die Notwendigkeit einer Recht fertigung für das Anliegen einer inklusiven Bildung. Er argumentiert, dass eine Debatte über die Vorteile inklusiver Bildung zu führen, als gleichbedeutend mit einer Debatte über die Vorteile der Abschaffung der Sklaverei oder der Apartheid betrachtet werden kann. Inklusive Bildung ist ein Prozess, kein Endpunkt. Viele Veränderungen auf diesem Weg sind kostenlos: in Bezug auf das Handeln von Lehrkräften, das Leitbild, welches Schulleiterinnen und Schulleiter für ihre Lernumgebungen schaffen, die Schulwahl durch Familien und unsere Entscheidung, was wir als Gesellschaft für unsere Zukunft wollen. Inklusion ist nicht nur ein Thema für politische Entscheidungsträger. Inklusion wird niemals funktionieren, wenn sie von oben herab verordnet wird. Deshalb wird Ihnen als Leserinnen und Leser im Weltbildungsbericht 2020 die Frage gestellt, ob Sie bereit sind, gegenwärtige Denkmuster zu hinterfragen und anzuerkennen, dass Bildung für jeden einzelnen Menschen da ist und dass sie danach streben muss, für alle Menschen inklusiv zu sein. Helen Clark Vorsitzende des Advisory Boards des Weltbildungsberichts 9
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KERNAUSSAGEN Identität, Herkunft und Befähigung bestimmen Bildungschancen. In allen Ländern, außer denen mit hohem Einkommen in Europa und Nordamerika, schließen im Verhältnis zu 100 der reichsten Jugendlichen nur 18 der ärmsten die Sekundarschule ab. In mindestens 20 Ländern, vorrangig in Subsahara-Afrika, schließt kaum eine arme und junge Frau aus dem ländlichen Raum überhaupt die Sekundarschule ab. Von Exklusion bedrohte Lernende sind in ähnlicher Weise von Diskriminierungs-, Stereotypisierungs- und Stigmatisierungsmechanismen betroffen. Zwar verfügen 68% der Länder über eine Definition von inklusiver Bildung, doch nur 57% dieser Definitionen beinhalten mehrere marginalisierte Gruppen. Trotz Fortschritten erheben, melden oder nutzen viele Länder noch immer keine Daten zu jenen, die zurückgelassen werden. Seit 2015 haben 41% der Länder, in denen 13% der Weltbevölkerung leben, noch keine öffentlich verfügbare Haushaltserhebung durch- geführt, um disaggregierte Daten1 zu den zentralen Bildungsindikatoren zu erlangen. Nordafrika und Westasien ist dabei die Region mit der geringsten Datenverfügbarkeit. Neueste Daten aus 14 Ländern, die mit dem Kurzfragebogen der „Washington Group on Disability Statistics“ arbeiteten, ergeben, dass Kinder mit Behinderungen 15% all jener Kinder ausmachen, die keine Schule besuchen. Millionen haben keine Bildungschancen. In Ländern mit mittlerem Einkommen besuchen nur drei Viertel der 15-Jährigen noch die Schule, trotz eines Anstiegs um 25 Prozentpunkte in den vergangenen 15 Jahren. Davon erlangt nur die Hälfte Grundkenntnisse – diese Quote hat sich im gesamten Zeitraum nicht verändert. Zudem überschätzen viele Erhebungen die Fähigkeiten der Lernenden: In einer regionalen Erhebung von 15 lateinamerikanischen Ländern wurde drei Vierteln der Lernenden, die auf Multiple-Choice-Fragen nur zufällig geratene Antworten geben konnten, Lesekompetenz bescheinigt. Ein wesentliches Hindernis für Inklusion in der Bildung ist die mangelnde Überzeugung, dass sie möglich und wünschenswert ist. 2018 berichtete ein Drittel der Lehrkräfte in 43 Ländern mit mehrheitlich höherem mittlerem und hohem Einkommen, dass sie ihren Unterricht nicht an die kulturelle Vielfalt von Schülerinnen und Schülern anpassen. Obwohl sich einige Länder auf den Weg machen hin zu einem inklusiven Bildungssystem, überwiegt nach wie vor Segregation. In Fall von Lernenden mit Behinderungen ist in 25% der Länder (allerdings über 40% in Asien sowie in Lateinamerika und der Karibik) Bildung in getrennten Lernumgebungen gesetzlich vorgeschrieben, in 10% der Länder Integration und in 17% Inklusion. Alle übrigen entscheiden sich für Kombinationen aus Segregation und gemeinsamem Unterricht. In den OECD-Ländern besuchen mehr als zwei Drittel aller Lernenden mit Migrationshintergrund Schulen, in denen mindestens die Hälfte der Lernenden einen Migrationshintergrund hat. Finanzierung muss den Bedürftigsten zugutekommen. In 32 OECD-Ländern besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass an sozioökonomisch benachteiligten Schulen geringer qualifizierte Lehrkräfte zum Einsatz kommen. In Lateinamerika wurde der Bildungsstand seit 1990 durch Conditional Cash Transfer-Programme (CCT) um 0,5 bis 1,5 Jahre gesteigert. Ein Viertel der Länder verfügt über irgendeine Art von Förderprogrammen für benachteiligte Gruppen, um marginalisierte Menschen beim Zugang zu tertiärer Bildung zu unterstützen. Etwa 40% der Länder mit niedrigem und niedrig-mittlerem Einkommen haben während der COVID-19-Krise keine Maßnahmen zur Unterstützung der von Exklusion bedrohten Lernenden ergriffen. Lehrkräfte, Lehrmaterialien und Lernumgebungen ignorieren häufig die Vorteile von Vielfalt. Etwa 25% der Lehrkräfte in 48 Bildungssystemen berichten von einem hohen Bedarf an beruflicher Weiterbildung im Bereich des Unterrichts für Lernende mit besonderen Bedürfnissen. Nur 41 Länder weltweit erkennen die Gebärdensprache als offizielle Sprache an. In Europa thematisieren 23 von 49 Ländern sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht explizit in ihren Lehrplänen. 1 Disaggregation bezeichnet die Aufschlüsselung von statistischen Daten nach bestimmten Merkmalen in unterschiedliche Einzelgrößen. 10
W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG A B B IL DU NG 1 : D ie Verpflichtung des vierten Zieles für nachhaltige Was wir alle gemeinsam haben, sind unsere Unterschiede Entwicklung (Sustainable Development Goal 4, SDG 4), Von 100 Kindern … „inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildung” zu gewährleisten sowie „lebenslanges Lernen für alle“ zu fördern, Haben diese eventuell eine Behinderung. ist Teil der Forderung der Globalen Nachhaltigkeitsagenda 2030 der Vereinten Nationen (UN), niemanden zurückzulassen. Die Agenda verspricht eine „gerechte, faire, tolerante, offene Von den übrigen sind diese und sozial inklusive Welt, in der für die Bedürfnisse der am vielleicht arm. stärksten Benachteiligten gesorgt wird“. Soziale, ökonomische und kulturelle Faktoren können das Erreichen von Chancengerechtigkeit und Inklusion in der Von den übrigen haben diese eventuell Bildung begünstigen oder ihm zuwiderlaufen. Bildung kann besondere Lernbedürfnisse. ein entscheidender Faktor für inklusive Gesellschaften sein, wenn die Vielfalt Lernender nicht als Problem, sondern als Herausforderung verstanden wird: um alle möglichen Formen individueller Talente zu erkennen und Bedingungen für ihre Entfaltung zu schaffen. Leider werden benachteiligte Von den übrigen sind diese vielleicht LGBTI. Gruppen durch mehr oder weniger subtile Entscheidungen von Bildungssystemen ferngehalten oder daraus verdrängt. Dies führt zur Exklusion von Lehrplänen, zu irrelevanten Lernzielen, Stereotypisierung in Lehrbüchern, Diskriminierung bei der Ressourcenverteilung und der Leistungsbeurteilung, Von den übrigen könnten diese Migranten, im Heimatland zur Tolerierung von Gewalt sowie zu einer Vernachlässigung Vertriebene oder Flüchtlinge sein. von Bedürfnissen. Kontextabhängige Faktoren – wie Politik, Ressourcen und Kultur – können den Anschein erwecken, dass die Herausfor Von den übrigen gehören diese eventuell einer derungen bei der Inklusion je nach Land oder Gruppe variieren. ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheit oder einer indigenen Gruppe an. In Wirklichkeit ist die Herausforderung jedoch dieselbe, unab hängig vom Kontext. Bildungssysteme müssen jede Lernende und jeden Lernenden mit Würde behandeln, um Barrieren zu überwinden, höhere Abschlüsse zu erreichen und den Lernpro Von den übrigen leben diese vielleicht zess zu verbessern. Die Systeme müssen damit aufhören, in abgelegenen ländlichen Gebieten. Lernende zu etikettieren – eine Praxis, die unter dem Vorwand der Erleichterung von Planung und Zielerfüllung im Bildungs bereich angewandt wird. Inklusion kann nicht erreicht werden, wenn jeweils nur eine Gruppe angesprochen wird (Abbildung 1). Von den übrigen könnten Lernende haben zahlreiche, sich überschneidende Identitäten. diese einer anderen marginalisierten Gruppe angehören, Zudem gibt es kein Einzelmerkmal, das mit einer prädeter zum Beispiel einer Ethnie oder Kaste. minierten Lernfähigkeit verbunden ist. INKLUSION IN DER BILDUNG IST IN Von den übrigen sind diese vielleicht Mädchen. ERSTER LINIE EIN PROZESS Inklusion meint alle. Inklusive Bildung wird gemeinhin mit den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen und dem Zusammenhang von allgemeinem Unterricht und besonderer Von den übrigen sind diese möglicherweise übergewichtig, Förderung assoziiert. Seit 1990 haben die Anliegen von depressiv, müssen nach der Schule arbeiten, haben ihre Menschen mit Behinderungen die globale Sicht auf Inklusion Schulbildung unterbrochen, sind Waisen, straffällig geworden, in der Bildung geprägt, was zur Anerkennung des Rechts Linkshänder, leiden an Asthma oder Allergien… auf inklusive Bildung in Artikel 24 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK) von 2006 geführt hat. Inklusion umfasst jedoch Und das letzte Kind? Hallo! Das ist neu hier!
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 mehr, wie 2016 in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 zu diesem Artikel anerkannt wurde. Dieselben Mechanismen schließen nicht nur Menschen mit Behinderungen aus, sondern auch andere Menschen – aufgrund von Geschlecht, Alter, Wohnort, Armut, ethnischer Zugehörigkeit, Indigenität, Sprache, Religion, Migrations- oder Vertriebenenstatus, sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität, Haft, Überzeugungen und Einstellungen. Es sind das System und der Kontext, welche die Diversität und die Vielfalt von Bedürfnissen nicht berücksichtigen, wie auch die COVID-19-Pandemie offenbart hat. Es sind die Gesellschaft und die Kultur, die Regeln bestimmen, Normalität definieren und Unterschiede als Abweichungen wahrnehmen. Das Konzept der Barrieren für Teilhabe und Lernen sollte das Konzept der besonderen Bedürfnisse ablösen. Inklusion ist ein Prozess. Inklusive Bildung ist ein Prozess, der zum Erreichen des Ziels der sozialen Inklusion beiträgt. Um chancengerechte Bildung zu definieren, muss zwischen „Gleichberechtigung“ und „Chancengerechtigkeit“ unterschieden werden. Gleichberechtigung ist ein Zustand (was): Ein Resultat, das anhand von Inputs, Outputs und Effekten festgestellt werden kann. Chancengerechtigkeit ist ein Prozess (wie): Es geht um Maßnahmen, die zum Ziel haben, Gleichberechtigung zu gewährleisten. Inklusive Bildung zu definieren ist komplizierter, da Prozess und Resultat miteinander verschmolzen sind. Dieser Bericht tritt dafür ein, Inklusion als Prozess zu denken: Maßnahmen, die Vielfalt in positiver Weise annehmen und ein Gefühl der Zugehörigkeit entstehen lassen, das in der Überzeugung wurzelt, dass jeder Mensch Wert und Potenzial hat und respektiert werden sollte – unabhängig von seiner Herkunft, Fähigkeit oder Identität. Doch Inklusion ist auch ein Zustand, der von der UN-Behindertenrechtskonvention und der Allgemeinen Bemerkung Nr. 4 nicht präzise definiert worden ist, wahrscheinlich aufgrund verschiedener Ansichten darüber, wie das Resultat aussehen sollte. INKLUSION IN DER BILDUNG ALS RESULTAT: DER ANFANG LIEGT BEI BILDUNG FÜR ALLE Armut und Ungleichheit stellen bedeutende Hemmnisse dar. Trotz Fortschritten bei der Reduktion extremer Armut, besonders in Asien, sind 1 von 10 Erwachsenen und 2 von 10 Kindern davon betroffen – in Subsahara-Afrika sogar 5 von 10 Kindern. Die Einkommensungleichheit nimmt in Teilen der Welt zu, und selbst wenn sie sinkt, bleibt sie im Ländervergleich AB B I LD UN G 2 : Eine Viertelmilliarde Kinder und Jugendliche gehen nicht zur Schule a. Anteil an Kindern und Jugendlichen im Grundschul- und b. Anzahl der Kinder und Jugendlichen im Grundschul- und Sekundarstufenalter, die keine Schule besuchen, 1990-2018 Sekundarstufenalter, die keine Schule besuchen, 1990-2018 Welt, 258 Welt, 258 Millionen Millionen Subsahara-Afrika, Subsahara-Afrika, 31 31 Zentral-/Südasien, Zentral-/Südasien, 21 21 Subsahara-Afrika, Subsahara-Afrika, 97 97 Welt, 17 Welt, 17 Nordafrika/Westasien, Nordafrika/Westasien, 15 15 Lateinamerika/Karibik, Lateinamerika/Karibik, 10 10 Zentral-/Südasien, Zentral-/Südasien, 94 94 Ozeanien, 9 Ozeanien, 9 Ost-/Südostasien, Ost-/Südostasien, 9 9 Ost-/Südostasien, Ost-/Südostasien, 33 33 Europa/Nordamerika, Europa/Nordamerika, 3 3 Nordafrika/Westasien, Nordafrika/Westasien, 17 17 GEM StatLink: http://bitly/GEM2020_Summary_fig2 Quelle: UIS-Datenbank. 12
W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG und innerhalb der Länder unvertretbar hoch. Auch sind die zentralen Errungenschaften gesellschaftlicher A B B IL DU NG 3 : Entwicklungen ungleich verteilt. In 30 Ländern mit Abhängig vom Wohlstand herrschen starke Disparitäten bei Anwesenheit, Abschluss und Lernergebnissen niedrigem und mittlerem Einkommen waren 41% der Wohlstandsparitätsindex bei Anwesenheit, Abschluss und Kinder unter fünf Jahren aus den ärmsten 20% der Mindestkompetenzen in Lesen und Mathematik, nach Haushalte mangelernährt. Dieser Anteil ist mehr als Bildungsstufe, ausgewählte Länder, 2013-2017 doppelt so hoch wie bei den reichsten 20%, was ihre Chancen, von Bildung zu profitieren, stark beeinträchtigt. Parität Die Entwicklung bei der Beteiligung an Bildung stagniert. Geschätzte 258 Millionen Kinder, Heranwachsende und Jugendliche besuchen keine Schule – das entspricht einem Gesamtanteil von 17% (Abbildung 2). Abhängig vom Wohlstandsparitätsindex Niveau des Wohlstands sind die Ungleichheiten bei den Anwesenheitsraten groß: In 65 Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen betrug der durchschnittliche Unterschied bei den Anwesenheitsraten zwischen den ärmsten und den reichsten 20% der Haushalte bei Kindern im Grundschulalter 9 Prozentpunkte, bei Heranwachsen den im unteren Sekundarstufenalter 13 und bei Jugend lichen im oberen Sekundarstufenalter 27 Prozentpunkte. Da die Wahrscheinlichkeit, Klassenstufen zu wiederholen und die Schule früh zu verlassen, für die Ärmsten höher Anwesenheit Abschluss Lernergebnisse: Lernergebnisse: ist, sind die Unterschiede abhängig vom Wohlstand bei Lesen Mathematik den Abschlussraten noch höher: 30 Prozentpunkte beim Abschluss der Primarstufe, 45 in der unteren und 40 in der Primarstufe Untere Sekundarstufe Obere Sekundarstufe oberen Sekundarstufe. GEM StatLink: http://bitly/GEM2020_Summary_fig3 Anmerkung: Die Auswahl bezieht Länder mit hohem Einkommen in Europa Armut wirkt sich auf Anwesenheit, Abschluss und und Nordamerika nicht ein. Lernchancen aus. In allen Regionen, außer Europa Quelle: Analyse des Global Education Monitoring Report Teams, basierend auf Haushaltserhebungen (Anwesenheit und Abschluss) und UIS-Datenbank und Nordamerika, besuchten im Vergleich zu (Lernergebnisse). 100 Heranwachsenden aus den reichsten 20% der Haushalte 87 aus den ärmsten 20% der Haushalte die untere Sekundarstufe; 37 schlossen sie ab. Von denjenigen, die die untere Sekundarstufe abgeschlossen haben, erreichten im Vergleich zu 100 Heranwachsenden aus den reichsten 20% der Haushalte etwa 50 aus den ärmsten 20% Mindestkompetenzen in Lesen und Mathematik (Abbildung 3). Häufig überschneiden sich Benachteiligungen. Diejenigen mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, von Bildung ausgeschlossen zu werden, sind auch aufgrund von Sprache, Wohnort, Geschlecht und Ethnizität benachteiligt. In mindestens 20 Ländern, zu denen Daten vorliegen, schloss kaum eine arme und junge Frau aus dem ländlichen Raum die obere Sekundarstufe ab. DIE AUSWIRKUNGEN INKLUSIVER BILDUNG SIND MÖGLICHERWEISE NICHT LEICHT ZU BESTIMMEN, SIE SIND ABER KEINE ILLUSION, SONDERN REAL Es besteht Einigkeit, dass der universelle Zugang zu Bildung eine Vorbedingung für Inklusion ist. Weniger Einigkeit besteht jedoch in Bezug auf die Frage, was es darüber hinaus bedeutet, Inklusion in der Bildung zu erreichen – für Lernende mit Behinderungen sowie für andere benachteiligte Gruppen, die von Exklusion bedroht sind. Inklusion von Lernenden mit Behinderungen bedeutet mehr als nur die Gewährung eines Schulplatzes im allgemeinen Bildungssystem. Der Fokus der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Gewährung eines Schulplatzes im allgemeinen Bildungssystem stellte nicht nur einen Bruch mit der historischen Tendenz dar, Kinder mit Behinderungen von Bildung auszuschließen oder sie in speziellen Schulen zu segregieren, sondern auch mit der Praxis, sie für einen langen Zeitraum oder die meiste Zeit in separaten Klassen unterzubringen. Inklusion umfasst jedoch viele weitere Veränderungen sowohl in Bezug auf schulische Unterstützung als auch im Hinblick auf schulische Leitbilder. Obwohl die Konvention nicht argumentierte, dass Sonderschulen gegen die Konvention verstoßen, weisen jüngste Berichte des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zunehmend in diese Richtung. Die UN-Konvention ließ den Regierungen 13
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 freie Hand hinsichtlich der Ausgestaltung eines inklusiven Bildungssystems und erkannte damit implizit die Hindernisse an, die einer vollständigen Inklusion im Wege stehen. Während einerseits die exkludierenden Praktiken vieler Regierungen offengelegt werden sollten, die im Widerspruch zu ihren sich aus der Konvention ergebenden Verpflichtungen stehen, müssen andererseits auch die Grenzen hinsichtlich der Flexibilität allgemeiner Schulen und Bildungssysteme anerkannt werden. Inklusive Bildung trägt zu einer Vielzahl von Zielen bei. Zwischen den wünschenswerten Zielen einer Maximie rung der Interaktion mit anderen (alle Kinder unter einem Dach) und der Ausschöpfung von Lernpotenzialen (dort, wo die Lernenden am besten lernen) bestehen potenzielle Spannungen. Andere Bedenken beziehen sich auf die Geschwindigkeit, mit der Systeme sich einem Idealzustand annähern können, die Prozesse während einer Übergangsphase sowie den Konflikt zwischen einer frühen Bedarfsfeststellung und dem Risiko der Etikettierung und Stigmatisierung. Die gleichzeitige Verfolgung unterschiedlicher Ziele kann komplementär oder widersprüchlich sein. Politische Entscheidungsträger, Gesetzgeber und das pädagogische Personal stehen vor heiklen und kontextspezifischen Fragen im Zusammenhang mit Inklusion. Sie müssen sich zum einen möglicher Widerstände aufseiten derjenigen bewusst sein, die für den Erhalt segregierender Strukturen im Bildungssystem stehen. Zum anderen müssen sie sich bewusst sein, dass schnelle Veränderungsprozesse möglicherweise nicht nachhaltig sind, was wiederum dem Wohlergehen gerade derjenigen schaden könnte, denen das System dienen soll. Kinder mit Behinderungen in allgemeine Schulen aufzunehmen, die darauf nicht vorbereitet sind, keine Unterstützung erfahren oder nicht rechenschaftspflichtig in Bezug auf das Erreichen von Inklusion sind, kann Erfahrungen der Exklusion verstärken und Gegenreaktionen in Bezug auf die inklusivere Gestaltung von Schulen und Systemen provozieren. Vollständige Inklusion kann unter bestimmten Umständen auch Nachteile mit sich bringen. In einigen Kontexten kann Inklusion unbeabsichtigt den Druck in Richtung Konformität verstärken. Identitäten, Praktiken, Sprachen und Überzeugungen bestimmter Gruppen könnten abgewertet, gefährdet oder beseitigt werden, wodurch wiederum ein Gefühl der Zugehörigkeit geschwächt würde. Das Recht einer Gruppe, ihre Kultur zu schützen, sowie das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstvertretung werden zunehmend anerkannt. Widerstand gegen Inklusion kann in Vorurteilen begründet sein oder aber in der Erkenntnis, dass Identität nur dann erhalten und soziale Stärkung nur dann erreicht werden können, wenn eine Minderheit in einem bestimmten Gebiet eine Mehrheit darstellt. Statt positive gesellschaftliche Partizipation zu bewirken, können politische Vorgaben zur Inklusion unter bestimmten Umständen soziale Exklusion verschärfen. Die Exponierung einer Minderheit gegenüber der Mehrheit kann herrschende Vorurteile verstärken und die Benachteiligung von Minderheiten intensivieren. Eine gezielte Unterstützung kann auch zu Stigmatisierung und Etikettierung bestimmter Gruppen oder unwillkommenen Formen der Inklusion führen. Zur Lösung von Problemen bedarf es wirkungsvoller Teilhabe. Inklusive Bildung sollte auf Dialog, Partizipation und Offenheit basieren. Zwar sollten politische Entscheidungsträger und pädagogisches Personal das lang fristige Ideal von Inklusion nicht kompromittieren, geringschätzen oder aus den Augen verlieren, sie sollten sich jedoch nicht über die Bedürfnisse und Präferenzen der Betroffenen hinwegsetzen. Fundamentale Menschenrechte und Prinzipien geben zwar moralisch und politisch die Richtung vor für Entscheidungen im Bildungssystem, dennoch ist die Realisierung eines inklusiven Idealzustandes nicht trivial. Die Bereitstellung ausreichend differenzierter und individualisierter Unterstützung erfordert Ausdauer, Widerstandsfähigkeit und eine langfristige Perspektive. Die Abkehr von einem Bildungssystem, das sich für einige Kinder eignet und andere zur Anpassung verpflichtet, kann nicht einfach per Dekret erfolgen. Vorherrschende Einstellungen und Vorstellungen müssen hinterfragt werden. Inklusive Bildung kann sich als unlösbare Aufgabe erweisen, selbst bei bestem Willen und höchstem Engagement. Daher plädieren manche dafür, die Ambitionen inklusiver Bildung zu begrenzen. Der einzige Weg nach vorn besteht jedoch im Erkennen der Barrieren und in deren Abbau. Inklusion bringt Vorteile. Die sorgsame Planung und Bereitstellung inklusiver Bildung kann zur Verbesserung akademischer Leistungen, der sozialen und emotionalen Entwicklung, des Selbstwertgefühls und der Akzeptanz bei Gleichaltrigen führen. Die Inklusion unterschiedlicher Lernender im gemeinsamen Unterricht und in allgemeinen Schulen kann Stigmatisierung, Stereotypisierung, Diskriminierung und Entfremdung verhindern. Darüber hinaus bestehen potenzielle Effizienzgewinne durch die Abschaffung paralleler Strukturen und 14
W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG die effizientere Nutzung von Ressourcen in einem einzigen inklusiven Bildungssystem. Die ökonomische Rechtfertigung für inklusive Bildung ist zwar von Bedeutung für die Planung, insgesamt jedoch nicht aus reichend. Wenige Systeme kommen dem Idealzustand inklusiver Bildung nahe genug, um eine Schätzung der Gesamtkosten zu ermöglichen. Zudem lassen sich die Vorteile eines inklusiven Bildungssystems nur schwer quantifizieren, da sie sich über Generationen erstrecken. Inklusion ist ein moralischer Imperativ. Die Diskussion über die Vorteile inklusiver Bildung gleicht der Diskussion über die Vorteile der Menschenrechte. Inklusion ist eine Grundvoraussetzung für nachhaltige Gesellschaften. Sie ist eine Voraussetzung für die Bildung in einer und für eine Demokratie, die auf Fairness, Gerechtigkeit und Chancengerechtigkeit aufbaut. Sie bietet einen systematischen Rahmen zum Abbau von Barrieren nach folgendem Prinzip: Jeder Lernende und jede Lernende zählt und zwar in gleichem Maße. Zudem wirkt Inklusion Tendenzen in Bildungssystemen entgegen, wonach Ausnahmen und Exklusion möglich sind, wie z. B. in Fällen, in denen Schulen anhand einer einzigen Dimension bewertet werden und die Zuteilung von Ressourcen an ihre Leistung gekoppelt ist. Inklusion verbessert das Lernen aller. In den vergangenen Jahren hat das Narrativ einer „Lernkrise“ die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Mehrheit der Kinder im Schulalter in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen in den Grundfähigkeiten keine Mindestkompetenzen erreicht. Dieses Narrativ übersieht in den am weitesten zurückliegenden Ländern jedoch möglicherweise Dysfunktionen der Bildungssysteme – wie Exklusion, Elitarismus und Ungleichheit. Es ist kein Zufall, dass SDG 4 die Länder ausdrücklich dazu auffordert, inklusive Bildung zu gewährleisten. Mechanische Lösungen, die sich nicht mit den tiefer liegenden Gründen für Exklusion auseinandersetzen, können nur begrenzt zur Verbesserung von Lernergebnissen führen. Inklusion muss die Grundlage von Lehr- und Lernkonzepten darstellen. Der Weltbildungsbericht 2020 wirft im Kontext inklusiver Bildung Fragen auf, die im Zusammenhang stehen mit zentralen politischen Lösungsansätzen, Umsetzungshindernissen, Koordinierungsmechanismen, Finanzierungskanälen und dem Monitoring. Soweit möglich, untersucht der Bericht, wie sich diese Fragen und ihre Beantwortung im Laufe der Zeit verändert haben. Ein so komplexes Themengebiet wie die Inklusion ist jedoch bislang auf globaler Ebene nicht gut dokumentiert. Dieser Bericht sammelt Informationen dazu, wie jedes Land – von Afghanistan bis Zypern – den Herausforderungen von Inklusion in der Bildung begegnet. Die Informationen sind auf einer neuen Website unter dem Titel „PEER“ (education-profiles.org) verfügbar. Länder können diese Website nutzen, um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen – insbeson dere auf regionaler Ebene, wo Kontexte eine Ähnlichkeit aufweisen. Die Länderprofile können als Ausgangsbasis für die Überprüfung qualitativer Fortschritte bis 2030 dienen. Der Bericht identifiziert die unterschiedlichen Kontexte und Herausforderungen, vor denen Länder bei der Bereitstellung inklusiver Bildung stehen. Er identifiziert die verschiedenen Gruppen, die vom Ausschluss aus der Bildung bedroht sind, und die Barrieren, die sich einzelnen Lernenden in den Weg stellen, besonders wenn sich Merkmale überschneiden. Der Bericht zeigt auch, dass Exklusion in physischer, sozialer (in Beziehungen zwischen einzelnen Personen und Gruppen), psychologischer und systemischer Form auftreten kann. Diese Herausforderungen adressiert der Bericht anhand von sieben Themenfeldern, die in entsprechenden Kapiteln behandelt werden – ein kurzer Abschnitt beleuchtet zudem, welche Rolle diese Herausforderungen im Kontext von COVID-19 spielen. 15
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 Recht und Politik Bindende Rechtsinstrumente und nicht bindende Erklärungen sind Ausdruck des internationalen Strebens nach Inklusion. Das UNESCO-Übereinkommen gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen von 1960 und die Erklärung „Bildung für alle“ der UNESCO-Weltkonferenz 1990 von Jomtien, Thailand, forderten die Länder auf, Maßnahmen zu ergreifen, um „Gleichbehandlung auf dem Gebiet des Unterrichtswesens“ zu gewährleisten und keine „Diskriminierung beim Zugang zu Bildungsmöglichkeiten“ für „benachteiligte Gruppen“ zuzulassen. Die Erklärung und der Aktionsrahmen, die 1994 in Salamanca verabschiedet wurden, stellten das Prinzip auf, dass jedes Kind in die Schule gehen sollte, „die es besuchen würde, hätte es keine Behinderung“ – dies wurde 2006 als Rechtsanspruch bestätigt. Diese Texte haben nationale Gesetzgebungen und politische Vorgaben beeinflusst, die entscheidend sind für Fortschritte auf dem Weg zu Inklusion. Nationale Definitionen von inklusiver Bildung basieren tendenziell auf einem breit gefassten Verständnis von Inklusion. Analysen für diesen Bericht ergaben, dass 68% der Länder inklusive Bildung in Gesetzen, politischen Vorgaben, Plänen oder Strategien definieren. 57% der Länder haben Definitionen, die alle marginalisierten Gruppen abdecken. In 17% der Länder bezieht sich die Definition von inklusiver Bildung ausschließlich auf Menschen mit Behinderungen oder besonderen Bedürfnissen. Gesetze zielen für gewöhnlich auf spezifische Gruppen ab, die von Exklusion in der Bildung bedroht sind. Das breit gefasste Verständnis von Inklusion, welches alle Lernenden in Bildung einbezieht, ist in nationalen Gesetzgebungen kaum präsent. Nur bei 10% der Länder beinhalten die Gesetze zu allgemeiner und inklusiver Bildung umfassende Regelungen für alle Lernenden. Häufiger beziehen sich Gesetze der Bildungsministerien auf spezifische Gruppen. Von allen Ländern verfügten 79% über Gesetze mit Bezug auf Bildung für Menschen mit Behinderungen, 60% für sprachliche Minderheiten, 50% für Geschlechtergleichberechtigung und 49% für ethnische und indigene Gruppen. Politische Vorgaben weisen in der Tendenz eine umfassendere Sicht auf Inklusion in der Bildung auf. Etwa 17% der Länder verfügen über politische Vorgaben, die umfassende Regelungen für alle Lernenden enthalten. Die Tendenz ist in weniger bindenden Texten deutlich ausgeprägter: So erklären 75% der nationalen Bildungspläne und -strategien die Absicht, alle benachteiligten Gruppen einzubeziehen. Ungefähr 67% der Länder verfügen über Strategien zur Inklusion von Lernenden mit Behinderungen, wobei die Verantwortung dafür zwischen Bildungsministerien und anderen Ministerien nahezu gleich verteilt ist. Gesetze und politische Vorgaben beantworten die Frage, ob Lernende mit Behinderungen allgemeine Schulen besuchen sollten, unterschiedlich. In 25% der Länder schreibt das Gesetz Bildung in getrennten Lernumgebungen vor, wobei dieser Anteil in Asien sowie in Lateinamerika und der Karibik 40% übersteigt. Etwa 10% der Länder schreiben Integration vor und 17% Inklusion, die verbleibenden entscheiden sich für Kombinationen aus Segregation und gemeinsamem Unterricht. Im Kontext politischer Vorgaben lässt sich eine größere Tendenz zur Inklusion feststellen: 5% der Länder verfügen über politische Vorgaben für Bildung in getrennten Lernumgebungen, während sich 12% für Integration und 38% für Inklusion entscheiden. Trotz der guten Absichten, die sich in Gesetzen und politischen Vorgaben wiederfinden, gewährleisten die Regierungen häufig nicht deren Umsetzung. Politische Vorgaben müssen für alle Altersklassen und Bildungsstufen konsistent und kohärent sein. Der Zugang zu frühkindlicher Förderung und Erziehung ist extrem ungleich gestaltet und ist bedingt durch Wohnort und sozioökonomischen Status. Inklusion wird auch bestimmt durch Qualität, insbesondere Interaktionen, Integration und kindzentrierte Ansätze auf spielerischer Basis. Die frühe Identifikation der Bedürfnisse von Kindern ist für die Konzeption der richtigen Maßnahmen von entscheidender Bedeutung. Gleichwohl ist eine Etikettierung von Differenzen im Namen der Inklusion unter Umständen wenig zielführend. Eine disproportionale Zuordnung von benachteiligten Gruppen zu Kategorien besonderer Bedürfnisse kann ein Hinweis auf diskriminierende Verfahren sein. Dies zeigen beispielsweise erfolgreiche juristische Verfahren bezüglich des Rechts auf Bildung von Lernenden, die der Minderheit der Roma angehören. 16
W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 KURZFASSUNG Um vorzeitige Schulabbrüche zu verhindern, bedarf es politischer Vorgaben an mehreren Fronten. Bildungssysteme stehen vor einem Dilemma. Nichtversetzungen führen anscheinend zu mehr Schulabbrüchen, doch automatische Versetzungen erfordern systematische Ansätze für unterstützende Maßnahmen, die viele Länder zwar proklamieren, an deren Umsetzung sie jedoch scheitern. Gesetze und politische Vorgaben stehen möglicherweise im Widerspruch zu Inklusion, z. B. in Ländern mit niedrigen Altersgrenzen für Kinderarbeit oder Eheschließungen. Bangladesch gehört zu den wenigen Ländern, die umfassend in „Second-Chance“-Programme investieren, die für das Erreichen von SDG 4 unerlässlich sind. Regierungen streben nach einer inklusiveren Gestaltung von Bildung nach der allgemeinen Schulpflicht sowie von Erwachsenenbildung. Berufliche Bildung kann die Inklusion von benachteiligten Gruppen in den Arbeitsmarkt begünstigen, insbesondere im Fall junger Frauen und von Menschen mit Behinderungen. Um Potenziale zu wecken und zu nutzen, müssen Lernumgebungen sicherer und zugänglich gestaltet werden, wie beispielsweise in Malawi. Inklusionsorientierte Maßnahmen im Bereich der tertiären Bildung legen tendenziell den Schwerpunkt auf einen besseren Zugang für benachteiligte Gruppen, entweder durch Quoten oder indem der Zugang bezahlbarer gemacht wird. Dennoch verfügten nur 11% von 71 Ländern über umfassende Strategien zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit; weitere 11% arbeiteten nur Ansätze für bestimmte Gruppen aus. Digitale Inklusion, insbesondere von älteren Menschen, stellt eine große Herausforderung für diejenigen Länder dar, die zunehmend von Informations- und Kommunikationstechnologie abhängen. In den Reaktionen auf die COVID-19-Krise, von der 1,6 Milliarden Lernende betroffen waren, wurde nicht genügend auf die Inklusion aller Lernenden geachtet. Während sich 55% der Länder mit niedrigem Einkommen für Online-Fernunterricht in der Primar- und Sekundarstufe entschieden haben, verfügen nur 12% der Haushalte in den am wenigsten entwickelten Ländern zu Hause über einen Internetzugang. Selbst solche Ansätze, die nur einfache Technologie erfordern, können die Kontinuität des Lernens nicht gewährleisten. Von den ärmsten 20% der Haushalte besaßen in Äthiopien nur 7% ein Radio, keiner der Haushalte besaß einen Fernseher. Insgesamt haben etwa 40% der Länder mit niedrigem und niedrig-mittlerem Einkommen Lernende, die von Exklusion bedroht sind, nicht unterstützt. In Frankreich hatten bis zu 8% der Lernenden nach drei Wochen der pandemiebedingten Ausgangssperre den Kontakt zu den Lehrkräften verloren. Daten Daten über und für Inklusion in der Bildung sind essenziell. Daten zur Inklusion können Unterschiede in den Bildungschancen und -erfolgen zwischen Gruppen von Lernenden deutlich machen, indem sie sowohl diejenigen identifizieren, die Gefahr laufen, zurückgelassen zu werden, als auch das Ausmaß der Barrieren erfassen, denen sie ausgesetzt sind. Anhand solcher Informationen können Regierungen Strategien zur Inklusion entwickeln und weitere Daten zur Umsetzung dieser Strategien sowie zu weniger leicht erfassbaren qualitativen Effekten erheben. Die Formulierung geeigneter Fragen zu Merkmalen, die mit Benachteiligung verbunden sind, kann sensibel sein. Daten zu Bildungsdisparitäten in der Bevölkerung, die durch Zensusdaten und Erhebungen ermittelt werden, schaffen in Bildungsministerien ein Bewusstsein für Ungleichheiten. Abhängig von ihrer Formulierung können Fragen zu Merkmalen wie Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, sexueller Orientierung und Geschlechts identität jedoch sensible persönliche Identitäten berühren, aufdringlich sein und Verfolgungsängste schüren. Die Formulierung von Fragen zu Behinderungen hat sich verbessert. Die Einigung auf ein allgemein anerkanntes Messverfahren von Behinderung war das Ergebnis eines langen Prozesses. Die „Washington Group on Disability Statistics“ der UN-Statistikkommission schlug 2006 einen Kurzfragebogen für Zensusdaten und Erhebungen vor, der kritische funktionale Beeinträchtigungen der Fähigkeiten und Aktivitäten von Erwachsenen erfasst. Ein kinderspezifisches Modul wurde in Zusammenarbeit mit UNICEF entwickelt. Die Fragen bringen behin derungsbezogene Statistiken in Einklang mit dem sozialen Modell von Behinderung und lösen ernste Vergleich barkeitsprobleme. Die Übernahme dieser Fragen geschieht allerdings nur langsam. 17
KURZFASSUNG W E LT B I L D U N G S B E R I C H T 2 0 2 0 Die gegenwärtige Datenlage zu Behinderungen ist zwar qualitativ hochwertig, aber nach wie vor lückenhaft. Eine Analyse von 14 Ländern im Rahmen der „Multiple Indicator Cluster Surveys (MICS)“ 2017-2019 und die Nutzung des breiter angelegten kinderspezifischen Moduls zeigen eine Prävalenz von Behinderungen von 12% infolge hoher Angst- und Depressionsraten, innerhalb einer Bandbreite von 6% bis 24%. In all diesen Ländern machten Kinder und Jugendliche mit Behinderungen 15% derjenigen aus, die keine Schule besuchten. Im Vergleich zu ihren Altersgenossen im Grundschulalter sowie im unteren und oberen Sekundarstufenalter stieg die Wahrscheinlichkeit, dass diejenigen mit einer Behinderung nicht zur Schule gingen, um jeweils 1, 4 und 6 Prozentpunkte. Bei denjenigen mit einer sensorischen, körperlichen oder geistigen Behinderung stieg die Wahrscheinlichkeit um 4, 7 und 11 Prozentpunkte. Einige Befragungen an Schulen ermöglichen tiefere Einsichten in Bezug auf Inklusion. Bei der Internationalen Schulleistungsstudie der OECD (PISA) 2018 berichtete jede/r fünfte 15-Jährige, sich an der Schule als Außenseiter/ in zu fühlen. In Brunei Darussalam, der Dominikanischen Republik und den Vereinigten Staaten lag der Anteil sogar bei über 30%. In allen teilnehmenden Bildungssystemen war die Wahrscheinlichkeit, sich zugehörig zu fühlen, bei Schülerinnen und Schülern mit niedrigerem sozioökonomischem Status geringer. Administrative Daten können wirksam eingesetzt werden, um qualitative Evidenz zur Inklusion zu sammeln. Neuseeland überprüft systematisch weiche Indikatoren auf nationaler Ebene, unter anderem ob Schülerinnen und Schüler das Gefühl haben, dass sich um sie gekümmert wird, ob sie sich sicher und geborgen fühlen und inwiefern sie in der Lage sind, positive Beziehungen aufzubauen und zu erhalten, die Bedürfnisse anderer zu respektieren und Empathie zu zeigen. Fast die Hälfte der Länder mit mittlerem und niedrigem Einkommen erhebt keine administrativen Daten zu Lernenden mit Behinderungen. Die Daten zeigen, wo nach wie vor Segregation stattfindet. In Brasilien stieg durch eine Anpassung politischer Vorgaben der Anteil der Lernenden mit Behinderungen, die allgemeine Schulen besuchen, von 23% im Jahr 2003 auf 81% im Jahr 2015. In Asien und der Pazifikregion gingen fast 80% der Kinder mit Behinderungen in allgemeine Schulen, wobei der Anteil von 3% in Kirgisistan bis zu 100% in Timor-Leste und Thailand reichte. Vereinzelte Daten dokumentieren Schulen, die sich um bestimmte Gruppen kümmern, z. B. um Mädchen, sprachliche Minderheiten und religiöse Gemeinschaften. Ihr Beitrag zur Inklusion ist zwiespältig: So können indigene Schulen zum einen ein Umfeld bieten, wo Traditionen, Kulturen und Erfahrungen respektiert werden, zum anderen können sie jedoch auch dazu beitragen, Marginalisierung aufrechtzuerhalten. Schulische Erhebungen wie die PISA-Studie zeigen ein hohes Niveau an sozioökonomischer Segregation in Ländern wie Chile und Mexiko, wo die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler einer anderen Schule zugewiesen werden müsste, um eine einheitliche sozioökonomische Durchmischung zu erreichen. Diese Art der schulischen Segregation hat sich im Zeitraum 2000-2015 kaum verändert. Die Feststellung besonderer Bedürfnisse ist ein strittiges Thema. Die Feststellung von Lernbedürfnissen versetzt Lehrkräfte in die Lage, die Förderung und Umgebung der Lernenden gezielt zu gestalten. Andererseits könnten Kinder durch Gleichaltrige, Lehrkräfte und Verwaltungspersonal auf ihre Bedürfnisse reduziert werden, was wiederum stereotypes Verhalten ihnen gegenüber auslösen und eine rein medizinisch-diagnostische Herangehensweise fördern könnte. Portugal verordnete kürzlich einen flexiblen Ansatz zur Feststellung besonderer Bedürfnisse. Geringe Erwartungen, die durch eine Etikettierung ausgelöst werden können, z. B. die Feststellung von Lernschwierigkeiten, können selbsterfüllend werden. In Europa reichte der Anteil der Lernenden mit besonderen Lernbedürfnissen von 1% in Schweden bis zu 20% in Schottland. In den Vereinigten Staaten stellte Lernschwäche die größte Kategorie im Bereich der besonderen Bedürfnisse dar, in Japan hingegen war sie unbekannt. Solche Abweichungen erklären sich vorrangig durch länderspezifische Unterschiede in der Ausgestaltung solcher Kategorien: Anforderungen an Institutionen, Finanzen und Ausbildung variieren ebenso wie politische Vorgaben. 18
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